Breaking free - Rina Meadow - E-Book

Breaking free E-Book

Rina Meadow

0,0

Beschreibung

Liz Tallys Welt steht Kopf, als ihre Mutter ihr eröffnet, dass sie umziehen werden. Vom beschaulichen Cornwall gelangt sie in die Großstadt London. Vom geordneten Leben mit den Eltern gerät sie in ein Beziehungsgeflecht, in dem drei Frauen versuchen, sie zu erziehen und dabei vollkommen vergessen, was wichtig für Liz ist. In der Schule lernt sie drei Jungen kennen und steigt als Pianistin in deren Band ein – wobei einer von ihnen die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu Jazzmusik tanzen lässt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 295

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rina Meadow

Breaking free

Roman

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Mai 2022

Autorin: Rina Meadow

Bildquelle Titel: Watercolor_Concept / stock.adobe.com

Cover/Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Heike Funke

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-349-3

ISBN E-Book: 978-3-95716-368-4

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Für meine Oma, der ich viel verdanke

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Kapitel 1

Zugegeben, in Cornwall regnete es häufiger und länger als im restlichen vereinigten Königreich. Doch trotzdem wäre Elizabeth Tally, kurz Liz, nie aus Penzance weggezogen, der kleinen Stadt, in der sie mit ihrem Vater Jim Tally und ihrer Mutter Maleena Tally, geborene Postels, eine heruntergekommene Mietwohnung bewohnte. Nicht einmal ins entfernte Schottland, das sie aus Erzählungen kannte und liebte, seit sie ein kleines Mädchen war.

Diese Einsicht sollte sich am 22. November schlagartig ändern, genauer gesagt am Donnerstag, den 22. November 1951 um 09:26 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie normalerweise in der Schule sein sollen, und während sie in ihrem Bett lag und auf die rot-weiß gestreifte Tapete sah, wunderte sie sich, warum ihre Mutter sie nicht geweckt hatte. Es kam selten vor, dass Maleena etwas vergaß, sei es ein Geburtsdatum, der Name einer alten Kameradin oder eben die Zeit, da ihre Tochter in die Schule gehen sollte. Sehr selten. Der Zeiger der Wanduhr im Wohnzimmer war bereits auf 09:27 Uhr gerückt, was sie sehen konnte, da die Zimmertür offen war und sie somit einen recht guten Blick ins Wohnzimmer hatte. Eigentlich gefiel es ihr im Bett eh besser als auf der Schulbank, doch trotzdem sorgte sie sich zunehmend um ihre Mutter und das, was zwangsläufig geschehen sein musste. Um 09:48 Uhr krabbelte sie aus dem Bett, ging barfuß in die Küche und erschrak, denn um den Küchentisch saßen drei Männer in Latzhosen, die in gedämpftem Ton mit Maleena diskutierten. „Nur 40 für den Schrank? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen“, keifte sie in dem Augenblick, da Liz die Küche betrat. „Aber, verehrte Mrs. Tally, 40 Pfund für den Schrank sind wirklich mehr als genug“, sagte ein Mann mit Schnauzbart. „Gemäß Ihrer momentanen Situation“, näselte ein anderer, „sollten Sie um jeden Penny froh sein.“ „Beachten Sie bitte auch“, sagte der dritte Mann, „dass wir Ihnen für die Abholung nichts berechnen. Der Schrank kommt kostenlos weg, und von dem Geld können Sie die nächste Miete bezahlen.“ Es war offensichtlich, dass keiner der drei ihre Mutter besonders ernst nahm – sie versuchten es nicht mal, redeten nur weiter darüber, wie großzügig sie seien, den Schrank sogar abzubauen. Liz hatte genug gehört, darum machte sie sich bemerkbar, indem sie sich laut räusperte. Sofort wurde sie von Maleena sowie den drei Männern angesehen. „Guten Morgen“, sagte sie steif. „Darf ich erfahren, warum der Schrank wegkommen soll?“ Die Arbeiter sahen Maleena an, wohl wissend, dass sie die Einzige war, die Liz es erzählen konnte.

„Pack einen Koffer mit den wichtigsten Sachen“, sagte Maleena. „Den Rest erkläre ich dir später.“ Auch wenn ihr eine ganze Menge Fragen im Hals kitzelten, war Liz gut genug erzogen, dass sie wusste: Vor den Männern eine Szene zu machen, wäre unklug. Deswegen drehte sie sich weg und ging in ihr Zimmer, einen kleinen Raum, der nicht mehr als ein Bett, einen Stuhl und eine Kommode beinhaltete, die gleichzeitig als Schreibtisch diente. Unter dem Bett lag der braune Reisekoffer, den sie hervorzerrte, auf das Bett legte und aufschnappen ließ. Dann wandte sie sich um und öffnete die Kommode. Der recht bescheidene Inhalt würde problemlos in den Koffer passen: zwei Jeanshosen, ein grauer Rock, zwei Blusen und ein zitronengelbes Petit Coat, das ihre Großmutter ihr vor zwei Jahren zum 13. Geburtstag geschickt hatte. Dazu kamen drei Paar Socken, die Maleenas Schwester Margaret gestrickt hatte. Mit Unterwäsche und Nachthemd war die Garderobe vollständig.

Schnell verschloss sie die Tür und zog sich eine Jeans sowie eine Bluse an, den Rest faltete sie und legte alles ordentlich in den Koffer, der zur Hälfte gefüllt war. Der freie Platz wurde von den zwei Büchern, die nichts mit Schule zu tun hatten (Die Drehung der Schraube von Henry James und Dracula von Bram Stoker) sowie der Lester-Young-Platte (sie besaß keinen Plattenspieler, aber sie liebte die Jazzmusik) belegt. Vielleicht könnte sie in nicht allzu ferner Zukunft die Platte hören können. In einem eigenen kleinen Wohnzimmer. Vielleicht in Plymouth. So sehr sie Penzance liebte – ihr ganzes Leben wollte sie dort nicht verbringen. Dann war da noch ein Karton übrig. Bevor sie ihn in den Koffer legte, lächelte sie und klappte ihn auf. Zwei Päckchen Zigaretten, ein hellgrüner Plastikkamm und eine schwarze Haarschleife lagen darin. Es war die Schatzkiste ihrer Kindheit, und obwohl sie kein Kind mehr war, hatte sie die Kiste behalten. Maleena wusste nichts davon, was gut war. Das machte es zu ihrem Geheimnis, und davon hatte sie weiß Gott nicht viele. Jetzt, da Klamotten und Bücher nicht mehr zu sehen waren, wirkte der eh schon kahle Raum noch leerer. Das Bettzeug und der Schulrucksack waren noch da. Im Badezimmer nahm sie ihren Waschbeutel, steckte ihn in den Rucksack und ging ins Wohnzimmer, wo Maleena, bereits mit Mantel und Hut bekleidet, neben ihrem eigenen Koffer stand.

„Fertig?“, fragte sie. Auf Liz’ Nicken hin half sie ihrer Tochter in die Jacke und stapfte ohne ein weiteres Wort aus der Tür. Liz folgte mit ihrem viel zu leichten Koffer. „Warte“, rief sie, da sie mit dem strammen Tempo ihrer Mutter nicht mithalten konnte. „Wohin gehen wir?“ Maleena presste die Lippen zusammen und ging noch schneller, immer geradeaus, bis sie am Bahnhof ankamen. „Was machen wir hier?“, fragte Liz, obwohl sie es sich vorstellen konnte. Sie würden Penzance verlassen. „Zwei Tickets nach London, bitte“, sagte Maleena zu dem Mann am Ticketschalter. Liz zuckte zusammen. London. Die Hauptstadt. Was wollten sie dort? Ihres Wissens nach lebte dort ihre Großmutter, Belisha Postels. Halt, nein, so hieß sie nicht mehr. Nachdem ihr Mann gestorben war, hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen: Belisha Wilder. „Fahren wir zu Granny Wilder?“, fragte sie, wobei es ihr zu ihrem eigenen Erstaunen gelang, die Stimme ruhig zu halten, obwohl sie innerlich sehr aufgewühlt war. „Frag nicht so viel“, entgegnete Maleena unwirsch und führte sie zum Gleis.

Die Bahnhofsuhr zeigte 10:28 Uhr an, als der Zug einfuhr. In dem Abteil, in dem ihre Plätze lagen, waren bereits drei Plätze belegt. Maleena schob die beiden Koffer in das Gepäcknetz über ihnen und setzte sich. Sie saßen sich gegenüber, direkt neben der Tür.

Ein paar Minuten lang beobachtete Liz fasziniert, wie vor der Tür Menschen auf und ab gingen. Dann besann sie sich darauf, dass sie immer noch nicht wusste, warum sie hier waren. „Mum?“, fragte sie zögerlich. Maleena, die sich gerade eine Zigarette angesteckt hatte, sah auf. „Was ist denn?“ „Was machen wir?“ Der weiche Gesichtsausdruck Maleenas wich einem ärgerlichen, fast traurigen. „Wir fahren für eine unbestimmte Zeit zu deiner Großmutter. Und jetzt keine Fragen mehr.“ Sie nickte und die Bahn begann sich zu bewegen.

Zwar saß sie zwei Plätze vom Fenster entfernt, doch trotzdem konnte sie die Umrisse der Stadt erkennen, die sich langsam entfernte. Es war ein eigenartiges Gefühl, die Stadt zu verlassen, sehr eigenartig. Fast sofort hatte sie Heimweh, was nicht mal durch die Vorfreude auf die Großstadt vertrieben werden konnte. Nach einer halben Stunde ließ das dumpfe Gefühl in ihrer Magengegend langsam nach, und sie begann, ihre Mitreisenden zu studieren.

Neben Maleena saß ein dicker Mann. Hut, Mantel und Backenbart hatten denselben gräulich-schwarzen Farbton, aus dem Mundwinkel hing ihm eine braune, polierte Pfeife. Das wabbelige Doppelkinn lag auf seiner Brust, die Hände hatte er friedlich vor dem Bauch verschränkt. Er schlief. Bei jedem Schnarcher wackelte die Pfeife ein wenig, und fast hätte Liz gekichert.

Neben ihm am Fenster saß eine genauso alte Dame, die angestrengt in ein Shakespeare-Buch sah und hin und wieder umblätterte. Dennoch glaubte Liz nicht, dass sie wirklich las. Ihre Augen bewegten sich nicht, vielmehr starrte sie auf einen unbestimmten Punkt jenseits der Buchseite. War sie mit dem Schlafenden verheiratet? Liz schielte auf ihren Ringfinger und tatsächlich trugen beide die gleichen schmalen Ringe. Wahrscheinlich waren sie aus Silber und Liz konnte sich gut vorstellen, wie die Frau damit vor anderen Leuten angab. Fast bildlich konnte sie sich vorstellen, wie die Frau einer anderen die Wurstfinger unter die Nase hielt. „Ja, ja. Ganz silbern. Er hat ihn mir zur Verlobung geschenkt, fast zwei Jahre musste er schuften, um ihn bezahlen zu können. Nein, anprobieren darfst du ihn nicht, ist ja ein Verlobungsring. Wo kämen wir denn hin, wenn alle die Ringe der anderen anzögen?“

Sie wurde durch Maleena in ihren Gedankengängen unterbrochen. „Starr die Dame nicht so an, Kind“, zischte sie. „Das ist unhöflich.“ Also wandte sie ihren Blick von der Frau ab.

Der andere Fensterplatz war unbesetzt. Wahrscheinlich würde ihr Vater in Saint Austell zusteigen, dort verlegte er gerade ein Gleis. Die letzte Person saß neben ihr, eine Frau, etwa 25 Jahre alt. Sie trug modische Hosen und eine mintgrüne Bluse mit roten Kirschen, die sie knapp über dem Nabel zusammengeknotet hatte – etwas, das Liz sich nie getraut hätte. Die Frau sah aus dem Fenster, dann grinste sie und wandte sich Liz zu. „Guten Tag. Fährst du das erste Mal aus der Stadt?“, fragte sie. Für einen Moment vergaß Liz ihre Erziehung und stammelte nur: „Öh …“ Die Frau lachte. „Du siehst aus, als wärst du noch nicht oft in einem Zug gesessen, deswegen frage ich.“ „Das ist das erste Mal“, sagte Liz, froh, dass sich der Knoten in ihrer Zunge gelöst hatte. „Wohin fahrt ihr denn? Falls das deine Mutter ist“, wollte die Frau wissen und nickte in Maleenas Richtung, die mit hochgezogenen Augenbrauen dem Gespräch folgte. „London. Und Sie?“, fragte Liz. Sie lächelte. „Eigentlich nach Birmingham, dafür muss ich in Reading aussteigen. London, das ist interessant. Warst du auf Besuch hier?“ Liz schüttelte den Kopf. „Nein, ich wohne hier. Dad steigt wohl in Saint Austell zu, wir fahren zu Granny … zu meiner Großmutter. Was machen Sie in Birmingham?“

Maleena sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, und Liz wollte fragen, was los war. Die Frau sprach weiter, darum richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Fremde. „Familientreffen, ähnlich wie du. Meine Schwester wird heiraten, und wir, ihre Freundinnen, die Brautjungfern und ich, müssen das Fest planen. Sieh mal, was ich ihr mitbringen werde.“ Sie kramte in der Tasche zu ihren Füßen und holte eine Schachtel hervor, die sie offenbar aus Zeitungspapier gebastelt hatte. Diese Schachtel öffnete sie und zum Vorschein kam ein winziges Violoncello. „Ist es nicht hübsch? Das können sie sich in der Wohnung aufstellen.“

Erst bei genauerem Betrachten entdeckte Liz, dass das Instrument selbst gemacht war. „Meine Schwester spielt das Violoncello ganz reizend. Ich mag das Klavier mehr“, erzählte die Frau. „Haben Sie das selbst gemacht?“, fragte Liz staunend. Ihre Gesprächspartnerin nickte. Bis sie in Reading ankamen hatten sie sich angefreundet. Die Frau, die sich als Cherilyn Walters vorstellte, hatte ihr in Saint Austell einen fragenden Blick zugeworfen, als Jim Tally nicht zugestiegen war, hatte aber nichts gesagt, wofür Liz ihr sehr dankbar war. Sie konnte Mitleid nicht ausstehen – es war wie eine Bestätigung dafür, dass man sich gerade in einer blöden Situation befand.

Nachdem Miss Walters weg war, wurde es still im Abteil, außer gelegentlichen Schnarchern war nichts zu hören. Die Stille brachte Liz zum Nachdenken, und sie fragte sich, warum ihr Vater noch nicht da war. Sie traute sich nicht, Maleena zu fragen, die mittlerweile schon die achte Zigarette rauchte – sie sah aus, als wäre sie in ihren Gedanken versunken. Also ließ sie sich zurück in den Stuhl sinken und spielte mit einer Strähne ihrer blonden Haare, die sie etwas länger als schulterlang trug. Meistens hatte sie zwei hohe Zöpfe, doch heute hatte sie sie aus Zeitmangel auf Schulterhöhe mit zwei schwarzen Schleifen locker zusammengebunden. Zwillingszöpfe hieß es, wenn Miss Walters sich nicht vertan hatte. Sie hatte Liz’ Frisur gelobt.

Mittlerweile hatten sie Watford Slough passiert und die Landschaft zog an ihnen vorbei. Sie kamen London näher, doch die anfängliche Freude war vergangen. Liz war schlecht. Der Zug ruckelte, Maleenas Rauch verpestete die Luft, und sie kannte ihre Großmutter nicht einmal. Sie schloss die Augen und versuchte, auf den letzten Meilen einzuschlafen, was ihr nicht gelang. „London, Endhaltestelle. Dieser Zug fährt weiter nach Edinburgh.“ Am liebsten wäre sie sitzen geblieben. Maleena drückte die Zigarette an der Armlehne aus und stand auf. „Komm“, forderte sie Liz auf, während sie die Koffer aus dem Gepäcknetz nahm. Liz stand ebenfalls auf und schulterte den Rucksack. Das ältere Ehepaar verließ das Abteil noch vor ihnen. Maleena gab Liz den kleineren Koffer, dann kletterten sie aus dem Zug.

Die Kälte Londons schlug ihnen ins Gesicht und Liz begann zu zittern, obwohl sie eine Jacke trug. Es regnete. „Zum St. James’s Park“, sagte Maleena mehr zu sich selbst, straffte die Schultern und stiefelte los. Wieder musste Liz sich beeilen, Schritt mit ihr zu halten, wobei sie schnell aus der Puste kam. Als sie etwa eine halbe Stunde durch den Regen gegangen waren, blieb Maleena stehen. Sie standen vor einem roten Backsteinhaus, aus dessen Dach eine verbogene Antenne ragte: Canon Row 32. „Wir sind da.“ Maleenas Stimme klang belegt. Sie atmete tief ein, dann klingelte sie. Im Haus waren Schritte zu hören, die der Tür näherkamen, und es wurde geöffnet. Belisha Wilder hatte ihre Enkeltochter erst dreimal gesehen, woran Liz sich nur schemenhaft erinnern konnte, da sie ein Kleinkind gewesen war. Sie kannte ihre Großmutter größtenteils aus Erzählungen und dem Satz: „Granny Wilder würde das nie dulden.“ Und ganz so sah sie auch aus: Die Lippen waren zu einem Strich zusammengekniffen und trotz ihres Alters rosa angemalt. Die grünen Augen wurden zunehmend trüber. Die einst braunen langen Haare waren jetzt grau, ockten sich über den Ohren und waren teilweise von einem schwarzen, mit floralen Mustern verzierten, Topfhut bedeckt – offenbar trug sie ihn sogar im Haus. Außerdem hatte sie ein schwarzes Hauskleid und braun karierte Filzschuhe an.

„Maleena“, schnarrte sie. Ihre Stimme passte zu ihrem Auftreten: herrisch, aber gebrechlich. „Guten Tag, Mutter“, sagte Maleena und senkte den Kopf. „Und du bist …?“, fragte Granny Wilder in Richtung Liz. „Ich bin Liz, äh, Elizabeth“, korrigierte sie sich nach einem warnenden Blick ihrer Mutter. Granny Wilder trat zurück und bedeutete ihnen, das Haus zu betreten.

Die Tür führte direkt ins Wohnzimmer, das Liz teils staunend, teils kritisch musterte. Es musste ungefähr so groß sein wie die ganze Wohnung in Penzance. Direkt vor ihr stand ein Hutständer, um den eine Schürze sowie ein Mantel hingen. Sie durften ihre Jacken dort aufhängen. Dahinter, auf einem hohen, schmalen Tisch, stand eine Lampe, deren Griff wie eine Blume geformt war (Liz besaß nicht genug Wissen über Pflanzen, um sie benennen zu können), daneben ein hellblauer Telefonapparat. Eine Uhr, ein Gemälde mit spanischer Landschaft und zwei aus Kupfer gegossene Tauben schmückten das Treppenhaus, ein dunkelroter Teppich bedeckte die Steinstufen. Das Fernsehgerät stand unter der Treppe neben einer ähnlich blumenförmigen Stehlampe und einem Spiegel, die Couch und ein Sessel merkwürdigerweise mit dem Rücken dazu. Liz dachte, dass das nicht viel brachte, doch irgendwo konnte sie verstehen, dass Granny Wilder lieber aus dem Fenster sah, auf das die Couch zeigte. Unter dem Fenster standen ein Tisch und drei Stühle, der vierte Stuhl war an die Wand gelehnt und auf fünf Bücher gestützt, da ein Bein abgebrochen war. Auf dem Glastisch zwischen Esstisch und Couch lagen ein paar Broschüren, der Clarion vom Vortag und ein Aschenbecher. Das würde Maleena freuen. Die restlichen Zeitungen waren in einem metallenen Zeitungshalter neben der Küchentür gelagert.

Neugierig ging Liz in die Küche und verzog das Gesicht. Die halb gepunktete, halb karierte, beige Tapete des Wohnzimmers war ja schon scheußlich, aber die mit Vögeln und Bäumen verzierte Tapete auf der Stirnseite der Küche war noch grässlicher. Und dass beide Tapeten längst verwaschen waren, machte sie auch nicht schöner. Die anderen drei Wände waren blau angestrichen, jedoch war es ein stumpfes, langweiliges Blau. Liz’ Meinung nach sollte Blau lebendig und aufregend sein, aber ihre Großmutter sah das offenbar anders. Was an der Küche schön war, waren die Vorhänge, die das Fenster über der Arbeitsfläche verhängten, direkt zwischen ein paar moosgrün-braunen Bäumen, was in etwa aussah wie ein Schloss in einem Tümpel. Wie der Rest der Küche war das Büfett aus weißem Plastik und mit roten Griffen versehen. Selbst der Kühlschrank und ein Stuhl an einem Anrichtetisch hatten dieses Muster, der Tisch hingegen war aus Holz, und somit eine nette Abwechslung im Zimmer.

Liz drehte sich um und ging zurück ins Wohnzimmer, wo Granny Wilder auf dem Sofa Platz genommen hatte. Maleena, die auf dem Sessel saß, sprach angeregt, wobei sie mit großer Mühe versuchte, sich die Tränen zu verkneifen. „Setz dich“, sagte Granny Wilder und deutete auf die leere Fläche neben sich. Ihre Stimme war wärmer als zuvor, was wahrscheinlich daran lag, dass es ihrer Tochter offensichtlich schlecht ging. Liz ließ sich auf die Couch plumpsen. „Schön hast du’s hier“, sagte sie, weil sie wusste, dass es höflich war. Granny Wilder sah sie mit einem Anflug von Entsetzen an. „Deine Mutter pflegte es seinerzeit, mich zu siezen. Aber da du meine Enkeltochter bist und wir nicht mehr 1920 haben, erlaube ich dir, weiterhin Du zu sagen. Allerdings wäre es somit unangebracht, mich zeitgemäß mit ‚Frau Großmama‘ anzureden. Sag, wie nennst du mich, wenn du mit deiner Mutter über mich sprichst?“ Sie nahm an, dass man selbstverständlich über sie redete, was der Wahrheit entsprach. „Wir sagen ‚Granny Wilder‘“, sagte Liz. „Dann wirst du das fortführen.“ Granny Wilder lächelte kurz. „Ich bin sicher, du hast ein paar Fragen“, fuhr sie fort. Liz nickte. „Nun, du darfst jetzt drei stellen, nicht mehr und nicht weniger.“ Sie überlegte.

„Wo ist Dad?“, fragte sie und sah zu Maleena, die angestrengt aus dem Fenster sah. „Er“, Granny Wilder machte eine Pause, „ist auf dem Weg nach Ely.“ Liz atmete erleichtert auf. Jim Tally war in seiner Heimatstadt, und bald würden sie zurück nach Cornwall fahren.

„Warum hat Mum den Schrank verkauft?“, fragte sie. „Ihr braucht das Geld. Wofür denn sonst?“ Sie verschwieg ihrer Enkeltochter, dass nicht nur der Schrank, sondern die komplette Inneneinrichtung verkauft worden war.

„Und wofür brauchen wir das Geld?“, fragte Liz verwirrt. Bisher hatte das Gehalt, das ihr Vater beim Eisenbahnbau verdiente, gereicht. „Um zu überleben, natürlich. Wenn du dein Gehirn nur ein bisschen anstrengen würdest, dann wäre dir das auch selbst eingefallen. Das waren die drei Fragen. Ich zeige dir jetzt das Zimmer, in dem du schlafen wirst. Nimm den Koffer.“ Sie erhob sich und ging zur Treppe, Liz folgte ihr mit dem kleineren der beiden Koffer. Sie warf einen Blick zurück, ihre Mutter saß zusammengesunken in dem Sessel und biss die Zähne aufeinander. „Gute Nacht, Mum“, sagte sie leise, bekam jedoch keine Antwort.

Das Haus war ein normales englisches Stadthaus: im Erdgeschoss Küche und Wohnzimmer, im ersten Stock ein Schlafzimmer und ein Bad, doch Granny Wilder scheuchte sie die dritte und letzte Treppe nach oben. Dort gab es drei Türen und eine Luke, die wohl zum Dachboden führte. „Die linke Tür führt zum Zimmer deiner Tante Margaret, daneben Maleenas Zimmer und das Schreibzimmer, das aber in den letzten Jahren immer öfter zum Gästezimmer wurde. Ich habe ein Bett dort aufstellen lassen. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und ging mit energischen Schritten nach unten.

Liz stand im Gang und sah stumpf auf die weiße Tür. Sie öffnete sie langsam und stand in einem Raum, der ungefähr so groß war wie ihr Zimmer in Cornwall. An der linken Wand stand ein Bett, mit weißen Laken bezogen, gegenüber ein cremefarbener Schreibtisch mit geschwungenen Füßen und einer schmalen Schublade unter der Arbeitsfläche. Darauf standen eine Schreibmaschine (auch in Weiß, offenbar liebte Granny Wilder die Monochromie) und eine Lampe, die sie anknipste. Neben dem Schreibtisch stand ein Schrank, etwas kleiner als sie. Sie legte den Koffer auf das Bett und ließ ihn aufschnappen, der Schulrucksack landete unter dem Tisch.

Schweigend räumte sie die Kleider in den Schrank, Platte und Bücher legte sie neben die Schreibmaschine, wo sie vorerst liegen bleiben sollten. Die Pappschachtel schob sie unter das Bett, dann zog sie sich das Nachthemd an, löste ihre Zöpfe, löschte das Licht und krabbelte unter die Decke. Das Bett war hart, aber nicht so hart wie das in Penzance, weswegen sie schnell einschlief.

Spät in der Nacht wurde sie von einem Laut geweckt, der ein Schluchzen und ein Schrei gleichzeitig hätte sein können. Danach konnte sie nicht mehr schlafen. Also setzte sie sich auf, tapste zum Fenster und kletterte auf das Fensterbrett, von wo aus sie einen guten Blick über Westminster hatte. Gar nicht so weit entfernt sah sie die Westminster Abbey, dahinter das House of Parliament und den Glockenturm. Im trüben Licht des beleuchteten Uhrblatts las sie die Zeit: 20 Minuten nach elf Uhr. Sie rechnete, wie lange sie geschlafen hatte, und kam auf ungefähr drei Stunden. Das war wenig, sie sollte versuchen weiterzuschlafen, aber sie wusste: Würde sie sich jetzt ins Bett legen, könnte sie nicht zur Ruhe kommen. Zu viele Gedanken plagten sie. Das Ungesagte sprach nachts viel. Warum war sie hier? Ein Gedanke zuckte durch ihren Kopf und blitzschnell setzte sie sich gerade hin. Konnte es sein, dass ihre Eltern sich hatten scheiden lassen? Nein, das war nicht möglich. Jim und Maleena stritten sich zwar manchmal, aber nicht öfter als andere Paare auch. Liz wäre sogar so weit gegangen zu sagen, dass ihr Familienleben fast harmonisch war. Fast. Jim arbeitete, Liz ging zur Schule und Maleena warf den Haushalt. Sie hätten glücklich sein können, doch irgendwo wusste Liz, dass Maleena gerne anders leben würde. Selbstständiger. Vielleicht wollte sie arbeiten. Doch war das ein Scheidungsgrund? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Nein, sie waren nicht auseinandergegangen, dessen war sie sich sicher. Aber warum war Jim dann nach Ely gereist? Darauf fand sie bis halb eins keine Antwort und gab die Grübelei auf. Sie musste schlafen, sonst würde sie morgen den Tag über müde sein und abends wieder nicht schlafen können.

Leise rutschte sie vom Fensterbrett und krabbelte zurück ins Bett. Dort schloss sie fast protestartig die Augen und zwang sich, sie geschlossen zu lassen. Das kostete sie sehr viel Überwindung, da sie sich in dem fremden Zimmer fühlte, als kämen Schatten aus allen Richtungen auf sie zu. Sie hielt die Augen zu, bis sie ein Kratzen am Fenster hörte. Es war nicht Dracula, sondern ein Ast, aber sie hatte trotzdem keine Lust mehr zu schlafen. Es war mittlerweile vier Uhr – jetzt würde es eh nichts mehr bringen, denn in drei Stunden musste sie aufstehen. Darum begann sie, das Zimmer im schwachen Schein der Schreibtischlampe zu durchsuchen; vielleicht fand sie etwas, das sie ablenken konnte. Zu ihrer Enttäuschung gab es keinen Geheimgang in der Wand, nicht einmal eine lose Diele, unter der sie etwas hätte verstecken können.

Dafür fand sie im Schrank einen Karton, der für seine Größe erstaunlich schwer war. Sie stellte ihn neben die Schreibmaschine und öffnete ihn neugierig. Zum Vorschein kamen Bücher. Verwundert hielt sie eines unter den Lampenschirm und las den Titel: Das Sterben in Wychwood, von Agatha Christie. Ein Kriminalroman. Es waren insgesamt neun Bücher. Emma, Überredung und Stolz und Vorurteile von Jane Austen, Mrs. Dalloway und Die Fahrt zum Leuchtturm von Virginia Woolf, Frankenstein von Mary Shelley, sowie Jane Eyre und Sturmhöhe aus den Federn der Brontë-Schwestern.

Sie wollte die Kiste schon zurückstellen, da fiel ihr ein helles Bündel Papier auf. Es war mit Paketband verschnürt, darunter hing eine schwarze Samtschachtel in etwa der Größe eines Buches. Neugierig löste sie das Paketband. Zum Vorschein kamen ca. 70 eng mit der Maschine beschriebene Blätter. Sie nahm das erste Blatt vom Stapel und las ein paar Zeilen: „Hätte man Catelyn Jones gefragt, was der größte Fehler ihres Lebens war, so hätte sie zweifelsohne ihren Mann genannt …“ Da hörte sie Schritte. Schnell knipste sie die Lampe aus, warf die Manuskriptseiten zurück in den Karton und hüpfte ins Bett. Sie würde erst am frühen Morgen einschlafen können.

Kapitel 2

Belisha ließ ihre Enkelin im Gang stehen und ging ins Wohnzimmer, wo Maleena sich lautstark schnäuzte. Sie setzte sich auf die Couch. „Wann wirst du es ihr sagen?“ Ihre Tochter sah aus dem Fenster. „So spät wie möglich, aber früh genug. Sie soll es nicht von selbst herausfinden müssen.“ Sie nickte. „Das wäre das Schlimmste. Du siehst müde aus, bist du schon lange wach?“ Maleena sah sie stumpf an. „Ich bin vor fünf Uhr aufgestanden, um sie von der Schule abzumelden, die Wohnung zu kündigen, meinen Mädchennamen anzunehmen und die Einrichtung zu verkaufen. Ja, ich bin sehr lange wach.“ Sie gähnte.

Belisha sah aus dem Fenster. Es war dunkel, die beiden waren spät nach der Tea-Time angekommen. „Was wirst du…“ Sie wurde von der Türglocke unterbrochen. Es war keine laute Klingel, vielmehr gerade so laut, dass man sie im Wohnzimmer hören konnte. Maleena stand auf und öffnete. Im Regen stand Margaret Summer, Maleenas jüngere Schwester, sie war verheult und schleppte einen großen Koffer mit sich.

„Maggie?“, fragte Maleena ungläubig und schloss die Tür hinter ihr. „Was machst du hier?“ Anstelle ihr zu antworten, fixierte Maggie Belisha. „Darf ich für eine Weile bei Ihnen wohnen, Mutter?“, fragte sie. Es war kaum zu glauben, aber Belisha lächelte schmal. „Du darfst. Bezieh doch dein altes Zimmer wieder. Maleena und Elizabeth sind, wie du unschwer erkennen kannst, ebenfalls hier.“ Maggie setzte sich neben ihre Mutter und fing an zu weinen. „Chris will die Scheidung.“ Maleena und Belisha sahen sich erschrocken an. Normalerweise waren Chris Summer und Maggie ein Traumpaar, wie es im Buche stand, nur ohne Kinder. „Wie kommt denn das?“, fragte Maleena und vergaß ihren Kummer kurz. „Ich weiß nicht. Es war alles wie immer, und heute Morgen kam er in die Küche und forderte den Ring seiner verstorbenen Mama wieder. Sagte, er habe die Scheidung eingereicht und ich müsse in 15 Minuten weg sein, sonst würde er die Polizei holen.“ Sie schluchzte und vergrub das Gesicht in den Händen. „Jetzt bin ich hier, bis ich was Neues gefunden habe.“ „Dieses Schwein“, flüsterte Maleena, obwohl sie Chris gut hatte leiden können. Jedenfalls bis jetzt. Belisha tätschelte unbeholfen das Knie ihrer Tochter und wies sie zurecht: „Na, na, na, wer wird denn gleich weinen …“

Maggie sah hoch. „Und warum bist du hier?“ Ein freudloses Lächeln kräuselte Maleenas Lippen. „Aus einem ähnlichen Grund wie du“, sagte sie. „Jim ist tot.“ Maggie entfuhr ein spitzer Schrei, gleichzeitig schluchzte sie. „Was? Wie das?“ Belisha antwortete für ihre Tochter, die die Worte nicht herausbrachte. „Er ist bei der Arbeit von der Bahn überfahren worden. Hat wohl nicht aufgepasst, der Gute.“ Sie seufzte und musterte ihre Töchter. „Aber lasst uns nicht über Probleme reden, sondern über Lösungen. Wie sieht die Zukunft aus?“ Beide wussten keine Antwort.

„Lasst uns vielleicht erst eine geeignete Schule für Elizabeth finden, ihr werdet sicher länger hier sein und das Schuljahr ist noch frisch“, schlug sie vor. „Wie wäre es mit der Schule, auf die wir gegangen sind? Die, äh, St. Margaret’s Church Girls Highschool?“, fiel Maggie ein, froh darüber, dass das Thema gewechselt wurde. Maleena schnaubte. „Auf keinen Fall. Die haben doch sicher noch den Hillsday als Direktor. Da erziehen die völlig falsch.“ Wahrscheinlich sind wir deshalb so geworden, fügte sie in Gedanken hinzu. „Gab es da nicht so eine gemischte Schule?“ Nun war es an Belisha, den Kopf zu schütteln. „Eine Schule mit Jungen? Mädchen, ich bitte euch, das ist doch der falsche Umgang. Eine reine Mädchenschule wäre mir lieber. Eure alte zum Beispiel hat vor ein paar Jahren eine ganz reizende Frau übernommen, Nancy O’Connell. Samuel Hillsday hat vor mehreren Jahren in den Ruhestand gewechselt.“ Es gab nur eine Mädchenschule, das wusste sie, und Maleena lehnte sie strikt ab. Trotzdem versuchte Belisha bis in den Morgen hinein, sie von der Qualität der Schule zu überzeugen, bis Maleena genervt rief: „Mutter, ich erinnere Sie, dass wir dieses Thema verworfen haben.“

Danach war sie still und etwas beleidigt. Man einigte sich schließlich auf eine gemischte Schule, die einen (mehr oder minder) guten Ruf hatte, was Belisha aufschnappen ließ. „Ich kenne den Direktor persönlich“, sagte sie. „Wenn ich mit ihm spreche, wird sie vielleicht schon am Montag anfangen können.“ Es war Freitag früh. „Die Schüler dort sollen, soweit ich sagen kann, ausschließlich klassische Musik kennen“, sagte Maggie begeistert. „Das wird ihr nicht gefallen, sie mag diesen westlichen Musikstil. Jazz oder Ähnliches“, warf Maleena ein –es blieb unbeachtet, denn die Entscheidung war gefallen. Liz würde, vielleicht schon am Montag, auf die St. James’s Park Highschool gehen. Ob es ihr gefallen würde oder nicht, stand offen. Jede der drei Frauen hatte etwas an der Schule auszusetzen, wobei die Vorteile jedoch überwogen. Es war die richtige Schule, dessen waren sie sich sicher. Und im Stillen gab sich jede das Versprechen, die Unannehmlichkeiten, die die Schule Liz anerziehen würde, wieder auszubügeln.

Ein Klopfen weckte Liz, keine zwei Stunden nachdem sie eingeschlafen war. „Mmh?“, machte sie verschlafen, aber laut genug, um gehört zu werden. „Komm nach unten“, sagte Maleena. Sie gähnte als Antwort laut und kletterte aus dem Bett. Müde sah sie sich um, als ihr Blick auf den Schreibtisch fiel. Die Bücher! Maleena sollte nicht wissen, dass sie sie gefunden hatte. Vielleicht war es etwas Geheimes. Sie legte die Bücher in die Kiste, die sie in den Schrank stellte, auf dem der Koffer lag. Da der Schlüssel steckte, sperrte sie ab und legte den Schlüssel auf die Typenhebel der Schreibmaschine, es war eine Urania. Dann beeilte sie sich, ins Wohnzimmer zu kommen, wobei ihr Nachthemd um sie herumflog. Zu Hause hätte es geheißen: „Granny Wilder würde das nie dulden.“ Nun, ob sie es dulden würde oder nicht, würde sich herausstellen. Da sie im Wohnzimmer kein Wort darüber verlor, dass Liz im Haus gerannt war, erlaubte sie es wohl. „Morgen, Mum und Granny Wilder. Und Tante Maggie?“ Maggie stand mit bunten Lockenwicklern vor dem Fernsehgerät und versuchte, einen einigermaßen klaren Ton herauszubekommen. „Vergiss die Kiste“, sagte Granny Wilder, die gerade den Telefonhörer zurück auf die Gabel hängte. Also ließ sie es bleiben und kam strahlend auf ihre Nichte zu. „Lizzy, hallo. Schön, dass wir uns treffen, nicht wahr?“ Liz nickte wie betäubt. „Ja, äh, schön. Ist Onkel Chris auch da?“ Schlagartig wurden die Mienen der drei Frauen steinern. „Nein“, sagte Maggie und wandte sich ab, Liz ließ sie stehen.

„Die Schule hat übrigens zugestimmt“, sagte Granny Wilder und setzte sich aufs Sofa. „Am Mittwoch kann sie anfangen, es dauert noch so lange. Die O’Connell scheint Probleme zu machen.“ Maleena nickte. „Gut. Glücklicherweise ist die Schuluniform dieselbe, die wir früher anziehen sollten.“ Da die St. James’s Park Highschool und die St. Margaret’s Church Girls Highschool seit einigen Jahren Partnerschulen waren, hatte man sich auf dieselben Uniformen (jedenfalls für die Mädchen) geeinigt. Die Lehrpläne waren ebenfalls identisch, genauso wie die angebotenen Wahlfächer. Den Sportunterricht hatten sie gemeinsam, sprich, die Mädchen beider Schulen trafen sich im St. James’s Park und joggten dort zusammen. Da in der St. James’s Park Highschool mehr Jungen als Mädchen waren, fiel es nicht weiter auf, wenn die Jungensportklassen teils nur 22 anstelle der 27 üblichen Schüler hatten. „Unsere alten Sachen müssten noch in einer Kiste oben liegen, wahrscheinlich auf dem Speicher“, fiel Maggie ein. „Irgendwas davon wird sicher passen. Komm mit.“ Und schon hatte sie bessere Laune. Liz verstand diese Stimmungsschwankungen ihrer Tante nicht, folgte ihr aber. Als sie in den Dachboden geklettert war, kramte Maggie schon zwischen einem Stubenwagen und einem Schrank nach einer Kiste, die sie schließlich unter einem abgerissenen Stück Vorhang fand. „Das ist sie“, stellte sie lächelnd fest und drückte sie Liz in die Hand.

Sie bedankte sich zögernd und sah die Kiste an. Sie war etwas größer als die Bücherkiste und um einiges leichter. Im Wohnzimmer sah sie, dass zentimeterdicke Staubflusen auf dem Deckel lagen, Maggies und ihre Finger hatten Abdrücke hinterlassen. Mit verzogenem Gesicht wischte sie die Hand am Nachthemd ab. Maleena öffnete die Kiste und lächelte. „Ja, daran erinnere ich mich noch.“ Sie holte einen Strohhut hervor. „Weißt du noch, als Anna Gulch mal in ihren Hut gespuckt hat?“ Bei der Erinnerung an das Mädchen, das vergessen hatte, in ihren Hut gespuckt zu haben, und ihn danach aufsetzte, mussten Maggie und Maleena kichern.

Sie leerten den Inhalt der Kiste nach und nach auf den Wohnzimmertisch, und Liz zog ein paar Sachen an, um zu sehen, ob sie passten. Dann hatten sie eine passable Uniform, bestehend aus einer weißen Bluse, einem schwarzen Rock, weißen Strümpfen, einem Strohhut und einer Krawatte, die ein noch langweiligeres Gelb hatte als das Blau der Küche. Dazu kam, dass sie ein paar Salzflecken hatte – Gott wusste, woher die kamen. Bei den Schuhen gab es das Problem, dass nur noch einer da war; also beschloss man, sie solle einfach ihre Schnürstiefel anziehen, die zwar größer, aber genauso schwarz wie die Uniformschuhe waren.

Liz sah sich im Spiegel an und bemerkte nicht zum ersten Mal, wie wenig ähnlich sie ihren weiblichen Verwandten sah. Die ungefähre Statur ihrer Mutter hatte sie, doch da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Sie sah aus wie ihr Vater – als Mädchen, versteht sich. Zwar hatte Jim eine Glatze, doch er prahlte damit, früher mindestens so blondes Haar wie Liz gehabt zu haben. Relativ schwunglose Lippen, ein kleiner Mund, hellgraue Augen und eine fast krumme Nase waren auf seinem Mist gewachsen oder zumindest auf seinen Genen. Außerdem war sie pausbäckig, und genau wie bei ihm dachte jeder, ihre Augen wären blau. Die eigentliche Farbe erkannte man nur, wenn man direkt vor ihr stand. Liz straffte die Bluse über der Brust und drückte das Kreuz nach vorne. Ja, man sah, dass sie ein Mädchen war. Sie musterte die Uniform. Die Krawatte war wirklich nicht schön.

„Bist du fertig?“, rief ihre Mutter. Sie ging zurück ins Wohnzimmer. „Süß“, sagte Maggie, was Liz gut fand. Wenn sie süß aussah, würde man nicht sofort darauf kommen, dass sie zuschlagen konnte. Auch das war etwas, das sie von ihrem Vater hatte: der ständige Wunsch nach einer Schlägerei. Jim hatte ihr gezeigt, wie man schlug, als sie gerade mal laufen konnte nur um sich zu verteidigen, versteht sich.