BRIDGEREISE - Elsbeth Wiederkehr - E-Book

BRIDGEREISE E-Book

Elsbeth Wiederkehr

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Beschreibung

In einem Mix aus Krimi und Historie verbringen Bridgespieler aus halb Europa gemeinsam ihre Ferien in einer alten Villa zwischen Mosel und Hunsrück. Auf dem ehemaligen Herrenhaus lastet eine düstere Vergangenheit, die Atmosphäre ist unheimlich und skurril. Die einsame Gegend bietet wenig Abwechslung und das trübe, neblige Wetter schlägt aufs Gemüt. Entsprechend angespannt ist die Stimmung, in der die ehrgeizigen Individualisten zum anspruchsvollen Kartenspiel antreten. Einer der Spieler dringt in das Labyrinth vergangener Ereignisse ein und versucht, die fatalen Verstrickungen zu entwirren. Als eine Bridgespielerin eines unnatürlichen Todes stirbt, manifestiert sich die Macht der Vergangenheit vollends.

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Seitenzahl: 202

Veröffentlichungsjahr: 2017

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ELSBETH WIEDERKEHR

***

BRIDGEREISE

Kriminalroman

© 2018 Elsbeth Wiederkehr

© 2018 Umschlagfoto Elsbeth Wiederkehr, Hand von Tamara

Technische Umschlaggestaltung

Venla Kevic

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:     978-3-7439-4350-6

Hardcover:     978-3-7439-4351-3

e-Book:          978-3-7439-4352-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Handlung dieses Kriminalromans sowie die darin vorkommenden Orte und Personen sind frei erfunden. Allfällige Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Grünwald, Freitag 1. November 2002, Allerheiligen

Linda und Alex kamen als Letzte im Gasthof Zur Blauen Traube an. Alle anderen Teilnehmer des neuntägigen Bridgekurses waren bereits eingetroffen. Um die Mittagszeit hatten die beiden das Flugzeug in München für den Flug nach Frankfurt bestiegen. Am Himmel braute sich ein Unwetter zusammen. Sie hätten auch mit dem Zug fahren können, aber Alex fand, dies würde zu lange dauern. Ausserdem feierten die Christen an diesem Tag Allerheiligen, und da waren die Züge stets überfüllt. Linda war schlecht, das Gewitter und die Turbulenzen hatten ihren empfindlichen Magen durcheinander gebracht. Sie war blass und fühlte sich elend. Als Kind war ihr auf Autofahrten übel geworden, obwohl sie auf dem Vordersitz neben dem Vater sitzen durfte. Die sonntäglichen Familienausflüge mit dem Wagen und insbesondere die lange Fahrt in die Sommerferien waren damals eine Qual für sie. Erst seit sie selber einen Wagen lenken konnte, war das Problem verschwunden.

Am Flughafen in Frankfurt hatte Alex einen Mietwagen reserviert und sie fuhren damit Richtung Trier. Der Gasthof Zur Blauen Traube lag in einem abgelegenen Weiler am Ende der Welt zwischen Mosel und dem Mittelgebirge Hunsrück. Es gab dort weder eine andere Gaststube noch irgendein Geschäft, nur weite Felder, dunkle Wälder und ein paar verstreute Bauernhöfe. Zuerst begegnete ihnen in dieser einsamen Gegend ein Rudel Wölfe. Kläffend und hechelnd rannten die Tiere hinter ihrem Wagen her und kratzten an der rückwärtigen Stossstange. Die Augen waren rot unterlaufen und aus den halb geöffneten Mäulern triefte der Speichel. Es war ein verstörender Anblick wie aus einem Horrorfilm. Alex trat aufs Gas. Eine Abgaswolke hüllte die keuchenden Bestien ein. Ihr wütendes Heulen drang durch Mark und Bein und mit hängender Zunge machten sie sich davon. Doch keine fünf Minuten später musste Alex abrupt abbremsen. Im Schein der Nebellampen tauchte plötzlich ein riesiger, weisser Elch auf und blieb in der Mitte der schmalen Landstrasse stehen. Alex hupte mehrmals, aber das Tier schaute ihn verwundert an, bis es sich schliesslich gemächlichen Schrittes auf die Wiese zu bewegte und dort die letzten Grashalme abknabberte.

„Die Leute sollten besser auf ihre Haustiere achten“, sagte Linda.

„Welche Haustiere?“

„Na, zuerst diese zwei Hunde und jetzt noch eine Kuh mitten auf der Strasse, das geht doch nicht.“

„Eine Kuh?“ fragte Alex verdutzt.

„Ein Einhorn war es jedenfalls nicht!“ lachte Linda.

„Ich dachte, es war ein Elch.“

„Alex, du bist völlig überarbeitet, höchste Zeit, dass du endlich einmal Ferien machst.“

„Ja, mag sein“, murmelte Alex.

Linda und Alex waren Bridge-Anfänger und die unzähligen Regeln zum Lizit, Ausspiel, Alleinspiel und Gegenspiel waren für sie noch immer verwirrend. Vor allem das Lizit bereitet den wenig geübten Spielern Schwierigkeiten. Wie auf einer Auktion geben die Spieler Gebote ab und kämpfen dabei nicht um ein Bild oder einen anderen Kunstgegenstand, sondern um den Kontrakt. Die Gebote können mit einer Sprache verglichen werden, jedoch eine Sprache ohne Worte. Es sind auch keine Gesten, wie bei der Gehörlosensprache, vielmehr erfolgt die Kommunikation mittels Lizitkarten, welche in einer Bietbox stecken. Jede Lizitkarte zeigt eine Spielfarbe mit einer Skala von eins bis sieben und gibt dem Partner Informationen über Spielstärke und Spielkartenverteilung. Bei einer Sprache kann die Betonung den Sinn eines Wortes verändern. Beim Lizit hingegen geben die Reihenfolge und die Höhe der Nummernskala der Lizitkarten nuancierte Informationen. Aber nur wenn sich die Partner optimal verständigen und die gegenseitigen Gebote richtig verstehen, kommt der korrekte Kontrakt zustande und damit das Versprechen, eine gewisse Anzahl Stiche zu erzielen. Der Bridgekurs klang vielversprechend, und wenn die beiden auch nicht erwarteten, danach als Bridge-Profis nach Hause zurückzukehren, denn dazu brauchte es etliche Jahre Bridge-Erfahrung, so hofften sie doch, dass sie in diesen neun Tagen ihre Technik merklich verbessern könnten.

Es war grau und nieselte, als Linda und Alex am späten Nachmittag endlich den Gasthof Zur Blauen Traube erreichten und ihre Fahrt auf dem breiten Parkplatz hinter dem Gebäude beendeten. Ein Kiesweg führte zum Backsteinhaus, einer düsteren Villa aus einer Mischung von neugotischem und neubarockem Stil. Über einem markanten Erdgeschoss mit grossen, von Pilastern umrahmten Fenstern folgte das erste Obergeschoss mit schmaleren Fenstern und hölzernen Fensterkreuzen. Aus dem darüber liegenden Kranzgesims ragten steinerne Fratzen heraus mit fletschenden Reisszähnen und spitzen Hörnern wie die geflügelten Dachreiter auf der Notre-Dame in Paris. Fehlt nur noch der Glöckner, dachte Linda bei sich. Über dem vorspringenden Dach, wo früher die Dienstboten wohnten, bildete das Mansardengeschoss den Abschluss. Schmale, eckige Türmchen und Schornsteine ragten wie feindselige Spiesse aus der Dachlandschaft, dazu bereit, jeden Angriff aus der Höhe abzuwehren. Über der breiten Eingangstüre ragte eine riesige, steinerne Maske aus der Mauer hervor. Fleischige Nasenflügel, langgezogene Ohren und grimmige Augen mit wulstigen Augenbrauen starrten dem Besucher entgegen. Der runde Bogen über dem Eingangsportal bildete den Mund des Ungetüms, welches jeden Eintretenden erbarmungslos verschluckte. Die Villa wirkte in dieser abgelegenen Einöde geheimnisvoll und verwunschen, beinahe irreal. Alex holte das Gepäck aus dem Kofferraum, und die beiden gingen hinüber zum Haus. Die Rollen der Koffer blieben immer wieder an den Kieselsteinen hängen und schlitterten eher über den Boden als dass sie rollten. Linda blieb abrupt vor dem Eingangsportal stehen.

„Kennst du den Palazzo Zuccari in Rom?“ fragte sie Alex.

„Keine Ahnung, noch nie davon gehört. Warum?“

„Dieses Portal ist eine Kopie der Eingangstür des Palazzo Zuccari. Er steht oberhalb der Spanischen Treppe bei der Piazza della Trinita dei Monti. Der Palast stammt aus dem 16. Jahrhundert. Federico Zuccari, ein italienischer Maler, liess ihn erbauen. Ist dir Angelika Kaufmann ein Begriff?“

„Ja, auch eine Malerin, soviel ich weiss?“

„Richtig! Sie war eine bekannte Porträtmalerin im Achtzehnten Jahrhundert und wohnte gegenüber dem Palazzo Zuccari. Man sagt, ihr Wohnhaus war durch eine Passage mit dem Palazzo verbunden. Übrigens, auch Goethe ging bei Angelika Kaufmann ein und aus als er in Rom weilte.“

„Hatte sie ein Verhältnis mit Goethe?“

„Ich weiss nicht, ich glaube nicht. Obwohl, er soll ein häufiger Gast in ihrem Hause gewesen sein. Und ihr zweiter Ehemann war vierzig Jahre älter als sie. Ihr erster Mann war ein Heiratsschwindler und hat sich mit all ihren Ersparnissen davon gemacht. Im Palazzo Zuccari soll zudem ein Freund von ihr gewohnt haben.“

„Daher die Verbindungspassage! Undurchsichtige Verhältnisse im Achtzehnten Jahrhundert in Rom!“ lachte Alex. „Wer weiss, was uns hier in der Kopie jenes Palastes erwartet! Dann lass uns mal durch das grausige Maul den Palazzo Zuccari im Hunsrück betreten. In Rom wäre das Klima allerdings bedeutend angenehmer als in dieser Gegend!“

Die Eingangshalle mit der Rezeption war menschenleer. Das Licht war gedämpft. Auf der Schranke neben der Tür stand eine Vase mit künstlichen Blumen, daneben eine Tischklingel mit einem Schild Bitte läuten. Linda drückte die Klingel. Aus dem Nebenraum kam eine junge Frau mit blondem, gelocktem Pferdeschwanz. Sie war sehr mager und trug enge Jeans und eine weite, lilafarbene Bluse. Das Gesicht war hübsch mit grossen, braunen Augen und geschwungenen Augenbrauen, aber die Lippen waren sehr schmal und wirkten ein wenig verkniffen.

„Sie wünschen?“ fragte die junge Frau misstrauisch.

„Linda Behrend und Alex Silberschmid, wir sind für den Bridgekurs angemeldet.“

Die Frau blätterte in einem Ordner und holte eine Liste hervor.

„Sie sind die beiden letzten Teilnehmer, die anderen haben bereits eingecheckt. Mein Name ist Petra. Ich bin hier für alles zuständig ausser fürs Kochen. Wenn Sie irgendwelche Wünsche haben, wenden Sie sich an mich.“

Petra erwähnte nicht, dass sie ihr Jurastudium abgebrochen hatte und daher seit einem Jahr hier im Gasthof arbeitete. Ihr Vater war ausser sich, als er es erfuhr. Er hatte eine Anwaltspraxis in Trier und hatte gehofft, seine einzige Tochter würde bei ihm einsteigen und die Praxis nach seiner Pensionierung weiterführen. Er war zwar ein sogenannter Wald- und Wiesenanwalt, nicht auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert, und er übernahm auch Pflichtverteidigungen. Trotzdem, die Praxis lief nicht schlecht und er hatte einen soliden Ruf. Petra langweilte das Studium mit der trockenen Paragraphenbüffelei und noch mehr hatte sie die ewigen Belehrungen ihres Vaters satt, ebenso die vorwurfsvollen Blicke ihrer Mutter. Sie zog aus dem Elternhaus aus und suchte sich einen Job. Mit Hermann, dem Gasthofbesitzer, verstand sie sich sehr gut. Der Job war abwechslungsreich, sie war für die Rezeption zuständig, bediente die Gäste beim Essen und abends arbeitete sie an der kleinen Bar im Salon. Auch die Buchhaltung von Hermann hatte sie übernommen, denn diese befand sich in einem desolaten Zustand. Für die Reinigung der Zimmer hatten sie eine Frau angestellt, welche im nahe gelegenen Trübenbach wohnte und stundenweise arbeitete. Hermann war zwar etliche Jahre älter als Petra und ausser Kochen hatte er kaum andere Interessen, aber er war ein ruhiger Typ und akzeptierte sie so, wie sie war, und nörgelte nicht ständig an ihr herum.

„Sie können noch zwischen drei Zimmern auswählen“, informierte sie die neuen Gäste. „Ein Zimmer befindet sich im Haupthaus, die anderen beiden im Nebengebäude. Wollen Sie die Zimmer zuerst sehen?“

Linda nickte. Sie folgten Petra eine breite, geschwungene Treppe hinauf in die obere Etage. An den Wänden im Treppenhaus hingen Zeichnungen und Aquarelle. Durch einen Gang gelangten sie zu den Zimmern. Der hölzerne Fussboden knarrte. Petra öffnete eine Tür auf der linken Seite.

„Dies ist das Rote Zimmer, das einzige Zimmer im Haupthaus, welches noch frei ist. Wie gesagt, die anderen Kursteilnehmer haben ihre Zimmer bereits gewählt.“

Die Wände des Zimmers waren mit Holztäfer verkleidet und in einem dunklen Rot gestrichen. Auch die Decke war rot und die schweren, dunkelbraunen Sichtbalken drückten die Zimmerdecke hinunter. Neben dem Fenster hing eine Kohlezeichnung. Eine ausgemergelte Frau hielt ein totes Kind in ihren Armen. Linda schaute sich befremdet um, sie fühlte sich unbehaglich in diesem Raum, die Balken erinnerten sie an einen Galgen.

„Gibt es Internet im Zimmer?“ erkundigte sich Alex. Er hatte sich zwar zum ersten Mal seit Jahren neun Tage freigeschaufelt, aber seine Geschäfte waren allgegenwärtig. Er würde auch zwischen Bridgeunterricht und Bridgeturnieren mit seinen Kunden und Angestellten kommunizieren. Ein Treffen mit einem Geschäftsführer war ebenfalls geplant und sobald der Bridgekurs zu Ende war, würde er nach Luxemburg zu einer Konferenz fahren, danach ging es weiter nach Indien und dann nach Japan.

„Wir haben Internet in den Zimmern im Haupthaus“, antwortete Petra, „im Nebengebäude nicht, da müssten Sie den Laptop herüberbringen und in der Bibliothek im Ostflügel der Villa arbeiten.“

Alex murmelte etwas Unverständliches und schaute sich kritisch im Zimmer um. Er prüfte die Härte der Matratze und warf einen Blick ins Badezimmer.

„Ich zeige Ihnen nun noch die beiden anderen Zimmer und dann können Sie entscheiden, wo Sie wohnen möchten.“

Die drei gingen zurück durch den Flur, die Treppe hinunter und über den Hof zu einem Fachwerkhaus.

„Das war einst das Gesellenhaus. Es gab hier früher ein Sägewerk. Der Patron und seine Familie wohnten in der Villa, die Angestellten des Werks hier drüben im Gesellenhaus.“

Die Treppe war ausgetreten und schief. Ein gemusterter Läufer kaschierte das billige Holz von Treppe und Diele.

„So, das wäre das Blaue Zimmer und daneben sehen Sie das Grüne Zimmer.“ Petra öffnete zwei Türen nebeneinander.

Linda hatte sich bereits entschieden. Das Blaue Zimmer war zwar klein, aber freundlich eingerichtet mit einer niedrigen Kommode neben dem Schrank und einem ovalen Wandspiegel darüber, eingefasst mit einem verschnörkelten Holzrahmen. Neben dem kleinen Fenster stand ein altmodischer, blauer Samtsessel und an der Wand hing eine Kopie von einem Bild des österreichischen Malers Gustav Klimt, eine leuchtende Sonnenblume vor einem blauen Hintergrund. Blau war Lindas Lieblingsfarbe. Auch zu Hause hatte sie in ihrem Schlafzimmer blaue Vorhänge und einen blauen, chinesischen Teppich mit einem Blumenmuster in sanften Rosa- und Grüntönen. Sie hatte den Teppich von ihrem Onkel geerbt. Die Räume im Gasthof und im Nebengebäude wirkten nicht wie Hotelzimmer, sondern waren individuell eingerichtet, wie in einem Privathaus.

„Alex, ich brauche kein Internet, und wenn doch, kann ich in die Bibliothek hinübergehen. Wenn du das Zimmer im Haupthaus willst, ist das für mich in Ordnung. Ich würde gerne das Blaue Zimmer nehmen.“

„Wirklich, Linda? Ich bin dir so dankbar. Macht es dir wirklich nichts aus, im Nebengebäude zu wohnen? Ich brauche das Internet dringend, du weisst schon, die Videokonferenzen mit China und den USA und die Familie.“

„Kein Problem“, lächelte Linda.

Noch am selben Abend, nach dem gemeinsamen Nachtessen, fand das erste Bridgeturnier statt. Alle Kursteilnehmer sassen zu viert an den mit grünem Filz überzogenen Bridgetischen. Wie bei anderen Kartenspielen sitzen die Partner einander gegenüber. Jeder Spieler hat neben sich die Bietbox mit den Lizitkarten, jeder Tisch hat eine Nummer und ebenso jedes Bridge-Paar. Luise, die Bridgelehrerin, verteilte die Boards mit den Bridgekarten. Sie ging von einem Tisch zum anderen, legte die Boards in die Mitte des Tisches und erklärte, welches Paar jeweils am Ende einer Runde den Tisch wechseln musste. Die Atmosphäre war ruhig und gleichzeitig angespannt. Linda liess ihren Blick über die anwesenden Spieler gleiten. Insgesamt zwölf Personen nahmen an dem Kurs teil, die meisten aus Deutschland, zwei Frauen kamen aus Holland, eine Frau aus Österreich, eine andere aus Tschechien und ein Mann aus Polen. Linda und Alex sassen mit den beiden Holländerinnen am selben Tisch. Zwei ältere, sympathische Damen, beide mit blond gefärbten, kurz geschnittenen Haaren, hellblauen Kaschmirpullovern und grauen Flanellhosen. Sie waren Schwestern, Lieke und Fenna aus Den Haag. Nur der Schnitt der Pullover unterschied die beiden voneinander. Fennas Pullover hatte einen Rollkragen, darüber trug sie eine doppelreihige Perlenkette. Lieke mochte lieber Pullover mit V-Ausschnitt und darunter eine Bluse. Der Rand des Ausschnitts und auch der Abschluss der Ärmel waren mit einer feinen, gehäkelten Bordüre in derselben Farbe wie der Pullover verziert. Die zwei Schwestern waren in Indonesien geboren und spielten seit ihrer Jugend Bridge. Nach der Unabhängigkeit des Landes kehrten ihre Eltern mit ihnen nach Holland zurück. Sie hatten nie in einem Club gespielt, sondern immer nur im privaten Rahmen mit Freunden und Bekannten. Sie spielten nicht schlecht, aber in den letzten Jahrzehnten hatten sich die Spielregeln im Bridge stark verändert und so hatten sie beschlossen, sich in diesem Kurs auf den neusten Stand zu bringen. Am Nebentisch klapperte die einzige Österreicherin, Anja, eine Witwe aus Wien, nervös mit ihren diamantbesetzten Armreifen. Ihr rechtes Augenlid hing leicht hinunter. Sie trug ein elegantes, doppelreihiges Kostüm von Christian Dior. Schwere Perlen wanden sich träge um ihren faltigen Hals und breite Goldringe mit Rubinen und Smaragden zierten mindestens sechs ihrer knochigen Finger. Ihr polnischer Bridgepartner, Drago - er vertrat während mehreren Jahren Polen bei den internationalen Bridgemeisterschaften -musterte kritisch die anderen Teilnehmer, abschätzend ob eine ernstzunehmende Konkurrenz darunter sei. Er war bezahlt für seine Dienste und die gnädige Frau erwartete von ihm, dass sie jeden Abend als Sieger aus dem Turnier hervorgingen, auch wenn sie selber noch so viele Fehler machte und ihn damit manchmal zur schieren Verzweiflung trieb. Bekleidet war er mit einem dunkelblauen Blazer, darunter trug er ein weisses Hemd ohne Krawatte, am Handgelenk eine Rolex aus Edelstahl und Gelbgold. Er begegnete dem Blick von Linda und zwinkerte ihr zu, wobei sein rechter Mundwinkel leicht zuckte. An seinem Tisch sass zudem ein älteres Ehepaar, Gerlinde und Arik aus Heidelberg. Am Tisch links von Linda und Alex erkannte Linda die Biologin aus Mainz, Angelika. Sie hatte beim Abendessen neben Alex gesessen und die ganze Zeit mit ihm geschäkert. Gerne hätte sie das Turnier mit Alex gespielt, aber da war diese dämliche Linda. Obwohl die beiden scheinbar nur befreundet waren, wich er kaum einen Schritt von ihrer Seite. Zu schade, gegen ein kleines Bridge-Abenteuer wäre nichts einzuwenden, dachte sie. Sie hatte sich in ihre engsten Leopardenhosen gezwängt und trug ein tief ausgeschnittenes, schwarz-goldenes T-Shirt, das ihre prächtige Oberweite bemerkenswert betonte. Ihr Mann hockte ständig auf irgendwelchen Berggipfeln und starrte durch sein Teleskop auf die Sterne. Für sie hatte er nur wenige Blicke übrig. So hatte sie sich eben dem Bridge zugewandt und hielt Ausschau nach einem netten Bridge and Breakfast Partner, wie sie es nannte. Luise, die Bridgelehrerin und Turnierleiterin, verkuppelte die schwarz-goldene Mainzerin mit einer magersüchtigen, alten Ärztin aus Berlin, welche katastrophal spielte, aber trotzdem alles besser wusste. Angelika rollte mit den Augen und nahm schicksalsergeben gegenüber von dem Klappergestell mit dem germanischen Namen Heidrun Platz. An ihrem Tisch sassen zudem Gabriela und Edmund Becker aus Hamburg, ein Ehepaar. Die beiden wirkten neureich und leicht überheblich.

Das Turnier hatte kaum begonnen, als es zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen der Wienerin und dem Ehepaar Gerlinde und Arik Heimer kam. Die gnädige Frau beschuldigte Gerlinde, dass sie ihrem Mann Zeichen gäbe. Gerlinde hatte während des Spiels mit dem rechten Zeigefinger ihren Ehering, der mit einem hochkarätigen Diamant verziert war, berührt, und ihr Mann hatte darauf den König von Karo, „King of Diamonds“, ausgespielt. Die Wienerin hielt dies für einen untrüglichen Hinweis auf die Spielfarbe Karo und war überzeugt, dass die beiden schummelten und sich durch Zeichen verständigten. Gerlinde, eine eher rundliche Frau mittleren Alters, schrie mit schriller Stimme, sie hätten solche Mätzchen nicht nötig. Im Übrigen sei es lächerlich, dass eine Anfängerin mit blau lackierten Fingernägeln einen Bridgekurs zusammen mit einer bezahlten Bridge Koryphäe besuche. Die langen Fingernägel von Gerlinde waren rosa lackiert. Drago grinste, Arik lief rot an und rückte seine schwere Hornbrille zurecht. Die Wienerin warf die Karten auf den Tisch und weigerte sich, unter diesen Umständen weiterzuspielen.

Angelika neigte sich zu Alex hinüber, blickte ihm tief in die Augen und meinte, „wenn wir zusammen spielen würden und ich an mein Herz fasse, dann dürfen Sie raten, was das heisst.“

Luise, eine herzensgute Frau in einem bunten, selbstgestrickten Pullover, war von der Situation überfordert. Nervös trat sie von einem Bein auf das andere, blickte hilflos im Raum herum und wusste nicht, was sie tun sollte. Da erhob sich Alex. In seinem Betrieb mit unzähligen Angestellten stand er immer wieder vor schwierigen Situationen und hatte noch immer einen Ausweg gefunden.

„Meine Damen und Herren“, begann er mit ruhiger Stimme. „Ich schlage vor, wir alle mischen nochmals die Karten, tauschen die Plätze, und beginnen noch einmal von vorne. Und meine Damen, achten sie drauf, weder an Diamanten noch an ihr Herz zu fassen, auch wenn Diamanten die besten Freunde einer Frau sind!“ dabei zwinkerte er Frau Gerlinde Heimer schelmisch zu. „Bridge ist ein wunderbares Spiel, aber es ist nicht das Leben. Wir sind hier, um unsere Bridgekenntnisse zu vertiefen und uns zu amüsieren, nicht wahr Petra. Bitte öffnen Sie zwei Flaschen Weisswein und bringen sie allen Teilnehmern ein Glas, das geht auf meine Rechnung. Und nun schlage ich vor, dass sich die Nord-Süd-Spieler erheben und einen Tisch weitergehen, wie beim Sesseltanz!“

Die ganze Gesellschaft war beeindruckt und applaudierte. Luise fiel ein Stein vom Herzen. „Ein wunderbarer Mann“, hauchte Heidrun, Angelika verliebte sich definitiv in Alex und Drago grinste schon wieder und nickte anerkennend zu Linda hinüber. Plötzlich meldete sich Manfred, ein älterer, gepflegter Herr mit rosa Hemd und lindengrüner Fliege zu Wort. Er wohnte in Frankfurt und spielte zusammen mit Radka, einer energischen Tschechin, welche ihm beim Essen die Brösel vom Hemd wischte und seinen Schal oder die Krawatte zurechtrückte. Er erhob sein Glas, prostete den Bridge-Leuten kokett zu und charmant, wie einst Marilyn Monroe, sang er mit professioneller Stimme das bekannte Lied:

Diamonds are a girl’s best friend!

Alle lachten und spendeten Beifall. Manfred strahlte und verbeugte sich mehrmals. Arik streichelte die Hand seiner Frau. Die Situation war nun definitiv gerettet. Der Abend verlief ohne weiteren Zwischenfall und die gnädige Wienerin und Drago gewannen das Turnier mit Abstand.

Grünwald, Samstag 2. November 2002, Allerseelen

Am nächsten Morgen begann der Theoriekurs um zehn Uhr. Alex erschien spät zum Frühstück. Er war blass und wirkte zerstreut.

Hat wohl wieder die halbe Nacht gearbeitet, dachte Linda und goss sich die dritte Tasse Tee ein. Sie trank jeden Morgen drei Tassen Schwarztee und ass nur wenig. Wie sollen seine Söhne, die ebenfalls im Konzern arbeiten, erwachsen werden, wenn der Papa immer allgegenwärtig ist? Aber sein Vater hatte es genauso gemacht, er hatte bis zuletzt die Geschäftsleitung in den Händen gehalten. Erst nachdem er gestorben und Alex bereits mehr als fünfzig Jahre alt war, ging die Leitung der Firmen an ihn über. Alex hatte dies mit Gleichmut hingenommen, obwohl der Erfolg und die globale Expansion des Unternehmens ihm zu verdanken war. Alex und Linda kannten sich seit dem Studium. Alex war ein langsamer Student gewesen. Er hatte ständig Probleme mit dem Magen und Haarausfall. Trotz seiner reichen Eltern hauste er damals in einem kleinen, ebenerdigen Zimmer mit einer Herdplatte neben dem Klo. Seine Höhle war unter den Studienkollegen ein beliebter Treffpunkt für mitternächtliche Feten. Man sass auf dem Boden, hörte Musik und liess den Joint kreisen. Wenn allmählich die berauschende Wirkung nachliess, kam der grosse Hunger. Auf der kleinen Herdplatte neben dem Klo wurden Spaghetti gekocht. Es dauerte ewig, bis das Wasser endlich heiss genug war. Erst im Morgengrauen machten sich die Freunde jeweils still und leise auf den Heimweg, um die Hauseigentümer über dem Zimmer von Alex nicht zu verärgern. Das Ehepaar war schon älter und hatte wenig Verständnis für die feiernde Jugend. Niemand hätte damals gedacht, dass Alex der erfolgreichste Geschäftsmann von allen werden würde.

„Lass uns nach dem Mittagessen ein wenig spazieren gehen und die einsame Gegend erkunden“, sagte Alex und rührte zerstreut in seinem Kaffee. „Ich verstehe nicht, warum Luise, unsere Bridgelehrerin, diesen abgelegenen Ort ausgewählt hat, und dies im November. Im Frühling ist es sicher ganz hübsch hier, wenn all die Obstbäume im Garten blühen, aber jetzt in dieser grauen Jahreszeit?“ Alex schüttelte den Kopf.

„Offenbar kennt sie den Besitzer, den Hermann. Er soll ein ausgezeichneter Koch sein. Ausserdem hat ihn seine Frau vor einem halben Jahr verlassen. Dies soll ihn sehr mitgenommen haben, sagte Luise, und sie will ihm mit diesem Kurs in seinem Gasthof ihre Unterstützung und Solidarität zeigen.“

„Ach wirklich, woher weisst du das?“

„Gestern Abend in der Bar war die Rede davon. Die Frau hat ihn plötzlich verlassen und niemand weiss, wo sie jetzt ist.“

„Und ist nie wieder aufgetaucht?“

„Anscheinend nicht.“

„Genau wie der erste Ehemann von Angelika Kaufmann im Palazzo Zuccari in Rom. Hat sie auch die Ersparnisse mitgenommen?“

„Davon hat Luise nichts gesagt. Mit dem ersten Ehemann wohnte Angelika Kaufmann aber in London.“

Alex kaute bedächtig auf einem Stück Brot herum. Angelika, die sinnliche Bridgespielerin aus Mainz, winkte ihm vom anderen Ende des Frühstücksaals zu. Er lächelte, verschluckte sich dabei und begann fürchterlich zu husten.

Linda rollte mit den Augen. „Du musst dich beeilen, der Bridgeunterricht fängt gleich an. Essen, nicht schäkern, und schon gar nicht mit dieser aufgetakelten Biologin!“

Alex grinste verlegen und ass ausnahmsweise etwas weniger und etwas schneller als üblich. Trotz seinem hektischen Geschäftsleben liess er sich gerne Zeit für das Essen. Jeden Bissen vierzigmal kauen, hatte seine Tante früher gesagt. Das regt die Produktion der Magensäure an und macht schneller satt. Sie wusste wovon sie sprach, sie war im Zweiten Weltkrieg beinahe verhungert.

Die beiden verliessen die Gaststube und gingen in das daneben liegende, niedrige Gebäude, wo jeweils am Morgen der Bridgeunterricht stattfand. Die Wände waren aussen mit Efeuranken überwuchert, und nur die kleinen Fenster mit den weissen Fensterrahmen blickten wie eckige Augen aus dem grünen Pflanzenmeer hervor. Dieses kleine Nebenhaus bestand aus einem einzigen, ebenerdigen Saal. Es war kühl dort drinnen, weder die Holzwände noch die Fenster waren isoliert. Linda beneidete Luise um ihren dicken Pullover. Sie strickte für ein Magazin und durfte die Modelle jeweils behalten. Dieses Exemplar glich einem Skipullover, blau, grau und weiss gestreift und in einem komplizierten Muster gearbeitet. Der weiche Rollkragen reichte ihr bis übers Kinn. Alle Kursteilnehmer sassen bereits zu viert an den Tischen. Nur bei dem Ehepaar aus Görlitz, Gerlinde und Arik, waren noch zwei Stühle frei, und Luise winkte Linda und Alex an diesen Tisch heran. Die beiden lächelten Alex erfreut an. Die Wienerin und Drago nahmen nicht am Unterricht teil, sie spielten nur am Abend das Turnier.