Brief einer Unbekannten - Zweig Stefan - E-Book

Brief einer Unbekannten E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Stefan Zweig: Brief einer Unbekannten (Novelle) | Neu editierte 2020er-Ausgabe in aktualisierter Rechtschreibung. | "Ich hätte nie gedacht, dass mich ein Buch jemals so berühren wird." Das sind die Worte einer überwältigten Rezensentin. Zu Recht. Diese Novelle ist ein Meisterwerk, wie es seinesgleichen sucht. | Der erfolgreiche Wiener Schriftsteller R., man erfährt den vollen Namen nicht, erhält den Brief einer Unbekannten. Früher war sie ein Mädel aus der Nachbarschaft, das sich unsterblich in ihn verliebte. Er, in seiner schnelllebigen und hedonistischsten Art, ahnt nichts davon, obwohl sie ihm nachspürt, beobachtet, vor seiner Wohnung angstvoll zaudernd wartet. Nachdem sie mit ihrer Mutter wegzog, kommt sie zurück in die Stadt, eine blühende Schönheit von 18 Jahren, und diesmal nimmt er sie wahr, als sie vor seinem Haus steht ... Doch er sieht sie nur als schnelles Abenteuer, erkennt sie nicht einmal. Für sie ist es weit mehr. Und es soll nicht die letzte Begegnung der beiden sein ... Diese Novelle ist eine Geschichte von bedingungsloser Liebe auf der einen, und gnadenloser Ignoranz auf der anderen Seite; ein erzählerisches Kleinod von erlesener Sprache und schmerzenden psychoanalytischen Einblicken, wie sie nur Zweig zustande bringt. Ein Buch, an das man noch lange, lange nach der Lektüre denkt.

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— INHALT —

Innentitel

Vorbemerkung

Brief einer Unbekannten

Über den Autor

Impressum

Fußnoten

Vorbemerkung

»Ich hätte nie gedacht, dass mich ein Buch jemals so berühren wird.« – Das sind die Worte einer überwältigten Rezensentin. Zu Recht. Denn diese Novelle ist ein Meisterwerk, wie es seinesgleichen sucht.

Der erfolgreiche Wiener Schriftsteller R., man erfährt den vollen Namen nicht, erhält den Brief einer Unbekannten. Früher war sie ein Mädel aus der Nachbarschaft, das sich unsterblich in ihn verliebte. Er, in seiner schnelllebigen und hedonistischen Art, ahnt nichts davon, obwohl sie ihm nachspürt, ihn beobachtet, vor seiner Wohnung angstvoll zaudernd wartet. Nachdem sie mit ihrer Mutter wegzog, kommt sie zurück in die Stadt, eine blühende Schönheit von 18 Jahren, und diesmal nimmt er sie wahr, als sie vor seinem Haus steht. Nimmt sie wahr wie eine Fremde, geht mit ihr aus wie mit einer Fremden, schläft mit ihr und vergisst sie nach ein paar Nächten ... wie eine Fremde. Für sie ist es weit mehr, und es soll nicht die letzte Begegnung der beiden sein. – Eine Geschichte von bedingungsloser Liebe auf der einen, und gnadenloser Ignoranz und Oberflächlichkeit auf der anderen Seite; ein erzählerisches Kleinod von erlesener Sprache und schmerzenden psychoanalytischen Einblicken, wie sie nur Zweig zustande bringen kann. Ein Buch, an das man noch lange, lange nach der Lektüre denkt. © Redaktion eClassica, 2020

Lesen Sie mehr über den Autor im Anhang

Brief einer Unbekannten

Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum dass er das Datum überflog, erinnernd gewahr, dass heute sein Geburtstag sei. Der einundvierzigste, besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und nicht weh. Flüchtig überblätterte er die knisternden Seiten der Zeitung und fuhr mit einem Mietautomobil in seine Wohnung. Der Diener meldete aus der Zeit seiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Telefonanrufe und überbrachte auf einem Tablett die angesammelte Post. Lässig sah er den Einlauf an, riss ein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absender interessierten; einen Brief, der fremde Schriftzüge trug und zu umfangreich schien, schob er zunächst beiseite. Inzwischen war der Tee aufgetragen worden, bequem lehnte er sich in den Fauteuil, durchblätterte noch einmal die Zeitung und einige Drucksachen; dann zündete er sich eine Zigarre an und griff nun nach dem zurückgelegten Brief.

Es waren etwa zwei Dutzend hastig beschriebene Seiten in fremder, unruhiger Frauenschrift, ein Manuskript eher als ein Brief. Unwillkürlich betastete er noch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein Begleitschreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Umschlag war leer und trug so wenig wie die Blätter selbst eine Absenderadresse oder eine Unterschrift. Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wieder zur Hand. »Dir, der Du mich nie gekannt«, stand oben als Anruf, als Überschrift. Verwundert hielt er inne: galt das ihm, galt das einem erträumten Menschen? Seine Neugier war plötzlich wach. Und er begann zu lesen:

*

Mein Kind ist gestern gestorben – drei Tage und drei Nächte habe ich mit dem Tode um dies kleine, zarte Leben gerungen, vierzig Stunden bin ich, während die Grippe seinen armen, heißen Leib im Fieber schüttelte, an seinem Bette gesessen. Ich habe Kühles um seine glühende Stirn getan, ich habe seine unruhigen, kleinen Hände gehalten Tag und Nacht. Am dritten Abend bin ich zusammengebrochen. Meine Augen konnten nicht mehr, sie fielen zu, ohne dass ich es wusste. Drei Stunden oder vier war ich auf dem harten Sessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn genommen. Nun liegt er dort, der süße, arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz so wie er starb; nur die Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen, dunkeln Augen, die Hände über dem weißen Hemd hat man ihm gefaltet, und vier Kerzen brennen hoch an den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht hinzusehen, ich wage nicht mich zu rühren, denn wenn sie flackern, die Kerzen, huschen Schatten über sein Gesicht und den verschlossenen Mund, und es ist dann so, als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen, er sei nicht tot, er würde wieder erwachen und mit seiner hellen Stimme etwas Kindlich-Zärtliches zu mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot, ich will nicht hinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nicht noch einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weiß es, mein Kind ist gestern gestorben – jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und den ich immer geliebt.

Ich habe die fünfte Kerze genommen und hier zu dem Tisch gestellt, auf dem ich an Dich schreibe. Denn ich kann nicht allein sein mit meinem toten Kinde, ohne mir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ich sprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zu Dir, der Du mir alles warst und alles bist! Vielleicht kann ich nicht ganz deutlich zu Dir sprechen, vielleicht verstehst Du mich nicht – mein Kopf ist ja ganz dumpf, es zuckt und hämmert mir an den Schläfen, meine Glieder tun so weh. Ich glaube, ich habe Fieber, vielleicht auch schon die Grippe, die jetzt von Tür zu Tür schleicht, und das wäre gut, denn dann ginge ich mit meinem Kinde und müsste nichts tun wider mich. Manchmal wirds mir ganz dunkel vor den Augen, vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal zu Ende schreiben – aber ich will alle Kraft zusammentun, um einmal, nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Du mein Geliebter, der Du mich nie erkannt.

Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum ersten Mal alles sagen; mein ganzes Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du nie gewusst. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin, wenn Du mir nicht mehr Antwort geben musst, wenn das, was mir die Glieder jetzt so kalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muss ich weiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werde weiter schweigen, wie ich immer schwieg. Hältst Du ihn aber in Händen, so weißt Du, dass hier eine Tote Dir ihr Leben erzählt, ihr Leben, das das Deine war von ihrer ersten bis zu ihrer letzten wachen Stunde. Fürchte Dich nicht vor meinen Worten; eine Tote will nichts mehr, sie will nicht Liebe und nicht Mitleid und nicht Tröstung. Nur dies eine will ich von Dir, dass Du mir alles glaubst, was mein zu Dir hinflüchtender Schmerz Dir verrät. Glaube mir alles, nur dies eine bitte ich Dich: man lügt nicht in der Sterbestunde eines einzigen Kindes.

Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben, das wahrhaft erst begann mit dem Tage, da ich Dich kannte. Vorher war bloß etwas Trübes und Verworrenes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte, irgendein Keller von verstaubten, spinnverwebten, dumpfen Dingen und Menschen, von denen mein Herz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich dreizehn Jahre und wohnte im selben Hause, wo Du jetzt wohnst, in demselben Hause, wo Du diesen Brief, meinen letzten Hauch Leben, in Händen hältst, ich wohnte auf demselben Gange, gerade der Tür Deiner Wohnung gegenüber. Du erinnerst Dich gewiss nicht mehr an uns, an die ärmliche Rechnungsratswitwe (sie ging immer in Trauer) und das halbwüchsige, magere Kind – wir waren ja ganz still, gleichsam hinabgetaucht in unsere kleinbürgerliche Dürftigkeit – Du hast vielleicht nie unseren Namen gehört, denn wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstür, und niemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auch schon so lange her, fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Du weißt es gewiss nicht mehr, mein Geliebter, ich aber, oh, ich erinnere mich leidenschaftlich an jede Einzelheit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, die Stunde, da ich zum ersten Mal von Dir hörte, Dich zum ersten Mal sah, und wie sollte ichs auch nicht, denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde, Geliebter, dass ich Dir alles, alles von Anfang erzähle, werde, ich bitte Dich, die eine Viertelstunde von mir zu hören nicht müde, die ich ein Leben lang Dich zu lieben nicht müde geworden bin.