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Briefe sind ebenso Mittel zur Selbsterkenntnis wie ein Weg zum Gedankenaustausch mit anderen. Nur wenige waren sich dessen so tief bewusst wie der leidenschaftliche Briefeschreiber Rainer Maria Rilke. In seinen zehn »Briefen an einen jungen Dichter«, die er in den Jahren 1903/04 und 1908 an den literarisch begabten Offizier Franz Xaver Kappus schrieb, spiegeln sich Empfindsamkeit und Weitsicht, unverbrüchliches Mitgefühl und lebendige Weisheit. Mit ihrer bewundernswerten Offenheit gehören diese Briefe zum Eindrucksvollsten und Schönsten, was je in deutscher Sprache geschrieben wurde. Ergänzt werden sie in dieser Schmuckausgabe mit Kupferprägung von den ebenso kunstsinnigen und mitfühlenden »Briefen an eine junge Frau«.
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Seitenzahl: 92
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rainer Maria Rilke
Briefe an einen jungen Dichter
Briefe an einejunge Frau
Anaconda
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Briefe an einen jungen Dichter: Der Text folgt der Erstausgabe Leipzig: Insel 1929.Einleitung und Sonett von Franz Xaver Kappus, dem Empfängerder Briefe Rilkes, wurden aus urheberrechtlichen Gründen nicht übernommen.
Briefe an eine junge Frau: Der Text folgt der Ausgabe Zürich: Diogenes 1997.Orthografie und Interpunktion wurden unter Wahrung von Lautstand undgrammatischen Eigenheiten für diese Ausgabe auf neue Rechtschreibung umgestellt.
© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
Umschlagmotiv: Adobe Stock / Vector Tradition(Schriftrolle und Feder und Tintenfass)
Adobe Stock / Denys (Briefumschlag)
Adobe Stock / Roberto Castillo (Ornament)
Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus
ISBN 978-3-641-33678-3V001
www.anacondaverlag.de
Inhalt
Briefe an einen jungen Dichter
Briefe an eine junge Frau
Briefe an einen jungen Dichter
Paris, am 17. Februar 1903
Sehr geehrter Herr,
Ihr Brief hat mich erst vor einigen Tagen erreicht. Ich will Ihnen danken für sein großes und liebes Vertrauen. Ich kann kaum mehr. Ich kann nicht auf die Art Ihrer Verse eingehen; denn mir liegt jede kritische Absicht zu fern. Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Missverständnisse heraus. Die Dinge sind alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.
Wenn ich diese Notiz vorausschicke, darf ich Ihnen nur noch sagen, dass Ihre Verse keine eigene Art haben, wohl aber stille und verdeckte Ansätze zu Persönlichem. Am deutlichsten fühle ich das in dem letzten Gedicht ›Meine Seele‹. Da will etwas Eigenes zu Wort und Weise kommen. Und in dem schönen Gedicht ›An Leopardi‹ wächst vielleicht eine Art Verwandtschaft mit diesem Großen, Einsamen auf. Trotzdem sind die Gedichte noch nichts für sich, nichts Selbstständiges, auch das letzte und das an Leopardi nicht. Ihr gütiger Brief, der sie begleitet hat, verfehlt nicht, mir manchen Mangel zu erklären, den ich im Lesen Ihrer Verse fühlte, ohne ihn indessen namentlich nennen zu können.
Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher andere gefragt. Sie senden sie an Zeitschriften. Sie vergleichen sie mit anderen Gedichten, und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre Versuche ablehnen. Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen, und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muss ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ›Ich muss‹ dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muss ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange. Dann nähern Sie sich der Natur. Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren. Schreiben Sie nicht Liebesgedichte; weichen Sie zuerst denjenigen Formen aus, die zu geläufig und gewöhnlich sind: sie sind die schwersten, denn es gehört eine große, ausgereifte Kraft dazu, Eigenes zu geben, wo sich gute und zum Teil glänzende Überlieferungen in Menge einstellen. Darum retten Sie sich vor den allgemeinen Motiven zu denen, die Ihnen Ihr eigener Alltag bietet; schildern Sie Ihre Traurigkeiten und Wünsche, die vorübergehenden Gedanken und den Glauben an irgendeine Schönheit – schildern Sie das alles mit inniger, stiller, demütiger Aufrichtigkeit und gebrauchen Sie, um sich auszudrücken, die Dinge Ihrer Umgebung, die Bilder Ihrer Träume und die Gegenstände Ihrer Erinnerung. Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen Sie sich, dass Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen, gleichgültigen Ort. Und wenn Sie selbst in einem Gefängnis wären, dessen Wände keines von den Geräuschen der Welt zu Ihren Sinnen kommen ließen – hätten Sie dann nicht immer noch Ihre Kindheit, diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen? Wenden Sie dorthin Ihre Aufmerksamkeit. Versuchen Sie die versunkenen Sensationen dieser weiten Vergangenheit zu heben; Ihre Persönlichkeit wird sich festigen, Ihre Einsamkeit wird sich erweitern und wird eine dämmernde Wohnung werden, daran der Lärm der anderen fern vorüber geht. – Und wenn aus dieser Wendung nach innen, aus dieser Versenkung in die eigene Welt Verse kommen, dann werden Sie nicht daran denken, jemanden zu fragen, ob es gute Verse sind. Sie werden auch nicht den Versuch machen, Zeitschriften für diese Arbeiten zu interessieren: denn Sie werden in ihnen Ihren lieben natürlichen Besitz, ein Stück und eine Stimme Ihres Lebens sehen. Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wusste ich Ihnen keinen Rat als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen. Nehmen Sie sie, wie sie klingt, an, ohne daran zu deuten. Vielleicht erweist es sich, dass Sie berufen sind, Künstler zu sein. Dann nehmen Sie das Los auf sich, und tragen Sie es, seine Last und seine Größe, ohne je nach dem Lohne zu fragen, der von außen kommen könnte. Denn der Schaffende muss eine Welt für sich sein und alles in sich finden und in der Natur, an die er sich angeschlossen hat.
Vielleicht aber müssen Sie auch nach diesem Abstieg in sich und in Ihr Einsames darauf verzichten, ein Dichter zu werden (es genügt, wie gesagt, zu fühlen, dass man, ohne zu schreiben, leben könnte, um es überhaupt nicht zu dürfen). Aber auch dann ist diese Einkehr, um die ich Sie bitte, nicht vergebens gewesen. Ihr Leben wird auf jeden Fall von da ab eigene Wege finden, und dass es gute, reiche und weite sein mögen, das wünsche ich Ihnen mehr, als ich sagen kann.
Was soll ich Ihnen noch sagen? Mir scheint alles betont nach seinem Recht; und schließlich wollte ich Ihnen ja auch nur raten, still und ernst durch Ihre Entwicklung durchzuwachsen; Sie können sie gar nicht heftiger stören, als wenn Sie nach außen sehen und von außen Antwort erwarten auf Fragen, die nur Ihr innerstes Gefühl in Ihrer leisesten Stunde vielleicht beantworten kann.
Es war mir eine Freude, in Ihrem Schreiben den Namen des Herrn Professor Horacek zu finden; ich bewahre diesem liebenswürdigen Gelehrten eine große Verehrung und eine durch die Jahre dauernde Dankbarkeit. Wollen Sie ihm, bitte, von dieser meiner Empfindung sagen; es ist sehr gütig, dass er meiner noch gedenkt, und ich weiß es zu schätzen.
Die Verse, welche Sie mir freundlich vertrauen kamen, gebe ich Ihnen gleichzeitig wieder zurück. Und ich danke Ihnen nochmals für die Größe und Herzlichkeit Ihres Vertrauens, dessen ich mich durch diese aufrichtige, nach bestem Wissen gegebene Antwort ein wenig würdiger zu machen suchte, als ich es, als ein Fremder, wirklich bin.
Mit aller Ergebenheit und Teilnahme:
Rainer Maria Rilke
Viareggio bei Pisa (Italien), am 5. April 1903
Sie müssen es mir verzeihen, lieber und geehrter Herr, dass ich Ihres Briefes vom 24. Februar erst heute dankbar gedenke: ich war die ganze Zeit leidend, nicht gerade krank, aber von einer influenza-artigen Mattigkeit bedrückt, die mich unfähig machte zu allem. Und schließlich, als es gar nicht anders werden wollte, fuhr ich an dieses südliche Meer, dessen Wohltun mir schon einmal geholfen hat. Aber ich bin noch nicht gesund, das Schreiben fällt mir schwer, und so müssen Sie diese wenigen Zeilen nehmen für mehr.
Natürlich müssen Sie wissen, dass Sie mich mit jedem Briefe immer erfreuen werden, und nur nachsichtig sein gegen die Antwort, die Sie vielleicht oft mit leeren Händen lassen wird; denn im Grunde, und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen, sind wir namenlos allein, und damit einer dem andern raten oder gar helfen kann, muss viel geschehen, viel muss gelingen, eine ganze Konstellation von Dingen muss eintreffen, damit es einmal glückt.
Ich wollte Ihnen heute nur noch zwei Dinge sagen: Ironie:
Lassen Sie sich nicht von ihr beherrschen, besonders nicht in unschöpferischen Momenten. In schöpferischen versuchen Sie es, sich ihrer zu bedienen, als eines Mittels mehr, das Leben zu fassen. Rein gebraucht, ist sie auch rein, und man muss sich ihrer nicht schämen; und fühlen Sie sich ihr zu vertraut, fürchten Sie die wachsende Vertraulichkeit mit ihr, dann wenden Sie sich an große und ernste Gegenstände, vor denen sie klein und hilflos wird. Suchen Sie die Tiefe der Dinge: dort steigt Ironie nie hinab, – und wenn Sie so an den Rand des Großen führen, erproben Sie gleichzeitig, ob diese Auffassungsart einer Notwendigkeit Ihres Wesens entspringt. Denn unter dem Einfluss ernster Dinge wird sie entweder von Ihnen abfallen (wenn sie etwas Zufälliges ist), oder aber sie wird (so sie wirklich eingeboren Ihnen zugehört) erstarken zu einem ernsten Werkzeug und sich einordnen in der Reihe der Mittel, mit denen Sie Ihre Kunst werden bilden müssen.
Und das zweite, was ich Ihnen heute erzählen wollte, ist dieses:
Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters JensPeterJacobsen