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Selbst nach 30 Jahren fragt sich Laura immer noch, ob Bobby umgebracht wurde ... weshalb er in den Van stieg ... und wer der Mann hinter dem Lenkrad war. An ihrem 14. Geburtstag erhält sie den ersten Brief von X. Er behauptet, er habe ihren Freund Bobby mitgenommen und wisse, was aus ihm geworden ist. So beginnt ein bizarres Spiel. X beobachtet sie und sendet Laura Jahr für Jahr an ihrem Geburtstag einen Brief. Und in jedem verrät er etwas mehr über Bobbys Schicksal. Doch für jeden Hinweis verlangt X etwas von Laura ... böse, persönliche und verletzende Dinge. Eine dunkle und irre Geschichte über Besessenheit und Schuldgefühle. Herzzerreißend, tragisch. Die Realität ist voller Grauen. Denn in unserer modernen Welt lauern keine untoten Geister, sondern die Monster aus der Nachbarschaft.
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Seitenzahl: 106
Veröffentlichungsjahr: 2021
Aus dem Englischen von Markus Mäurer
Impressum
Die englische Originalausgabe Dear Laura erschien 2019.
Copyright © 2019 by Gemma Amor
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-915-2
www.Festa-Verlag.de
Für meine Leserinnen und Leser, die mich aufrecht gehalten, mich angespornt und mein Leben verändert haben.
Ein schlechtes Gewissen muss gestehen.
Ein Kunstwerk ist ein Geständnis!
Albert Camus
1
Die Frau mit dem braunen Haar lief eine gerade Linie zwischen den Bäumen, das geistige Auge fest auf ihr Ziel gerichtet. Während sie ging, auf direktem Weg so schnell wie möglich ihrem Ziel entgegen, überprüfte sie alle paar Schritte den Kompass, der um ihren Hals hing. Dabei fühlte sie sich so winzig, müde und ausgelaugt wie ein kleiner Vogel, der beharrlich nach Norden fliegt. In ein Land wandernd, das sie noch nicht sehen konnte. Es verweilte in ihr, dieses Ende der Reise. Ein Fixpunkt. Ein Grund weiterzugehen.
Rotbraunes Haar, inzwischen mit grauen Strähnen durchzogen und von zahlreichen Regentropfen benetzt, fiel ihr immer wieder über die Augen. Mit kalten Fingern schob Laura es wieder und wieder aus dem Gesicht, zunächst noch gedankenlos, dann wütend. Ihr Haarband war vor vier Kilometern gerissen. Sie hatte daran gedacht, das Taschenmesser zu ziehen und die Haare an den Wurzeln abzuschneiden. Doch dafür blieb ihr keine Zeit. Ihr machte der Gedanke Angst, sie könne ihr Ziel nicht zur gewünschten Zeit erreichen. Und so machte sie weiter, strich sich die Haare aus den Augen und setzte einen Fuß vor den anderen, während sie den Kompass überprüfte, der bei jedem Schritt gegen ihre Brust schlug. Nur was am Ende des Weges lag, bedeutete ihr noch etwas. Alles andere stellte eine Unannehmlichkeit dar, die es zu überwinden galt.
Der Regen fiel stetig, mit großen Schritten bewegte sie sich durch das dichte Gestrüpp, überhängende Farnwedel, von der Feuchtigkeit ganz schwer, und Brombeersträucher, die ihr die Fußgelenke aufrissen. Über Baumstümpfe stolpernd, während die Müdigkeit ihren Körper allmählich in festem Griff hielt. Wasser bahnte sich seinen Weg unter den Kragen ihrer Jacke und kroch ihr von oben in die Schuhe. Eine Hand hielt sie frei, um beim Laufen das Gleichgewicht halten zu können, die andere steckte tief in ihrer linken Jackentasche, zusammengekrümmt wie eine Klaue, und umklammerte etwas.
In dieser Hand ruhte ein zerknitterter, durchweichter Brief. Einer von vielen, die sie über die Jahre erhalten hatte. Sie dachte, dies könnte der letzte sein. Er war ganz breiig vom Regenwasser, die Schrift verblasst, die Tinte fortgewaschen. Jetzt unlesbar. Es spielte keine Rolle. Jedes Wort aus diesem Brief hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, jede einzelne Formulierung, jedes Satzzeichen, jeder Fehler, jeder mit dem Stift aufs Papier gebrachte elaborierte Schnörkel, die der Autor so schätzte.
Insbesondere befand sich ein Code auf dem Brief oder besser gesagt eine Reihe von Codierungen, mit zittriger Hand zwischen das ausschweifende Geschwafel des Mannes gekritzelt, der ihr jedes Jahr an ihrem Geburtstag schrieb. Die Codes hatten sich ihrem geistigen Auge eingebrannt, lockten sie mit einer langen Reihe aus Nummern und Symbolen. Sie sah sie, wo immer sie ging: in den Bäumen, am Himmel, auf dem Boden zwischen den Farnen wie Gräser hervorsprießend, um sie herumsummend wie Moskitos.
Die anderen Briefe, die sie vom gleichen Absender erhalten hatte, enthielten ähnliche Codes. Sie wusste, worum es sich dabei handelte. Richtungsangaben. Und sie wusste, worum es sich bei den Briefen handelte: Schuldeingeständnisse.
Bekenntnisse.
Ich habe etwas Furchtbares getan, sagten sie.
Und deshalb war sie hier. Es spielte keine Rolle, dass der Autor einen miserablen Wortschatz besaß, dürftige Orthografie- und Grammatikkenntnisse. Es spielte keine Rolle, dass er arrogant war, gewalttätig und von sich selbst besessen. Es spielte nicht einmal eine Rolle, dass er grausam war, und das schon seit vielen Jahren, und dass sie schon ihr gesamtes Leben lang als Hauptziel seiner Grausamkeit diente.
Wichtig war nur, dass sie Antworten hatte.
Wichtig war nur, dass sie wusste, wo Bobby sich befand.
Wichtig war nur, dass sie alles zu einem Ende gebracht hatte.
Laura lief weiter.
2
Der erste Brief traf an Lauras 14. Geburtstag ein, genau ein Jahr und einen Tag nach Bobbys Verschwinden.
In diesem Jahr war sie sehr schnell erwachsen geworden. Auch physisch, aber auf andere Weise noch viel mehr. Bis dahin hatte sie alle Hoffnung verloren, dass man Bobby noch lebend finden würde. Sich dies einzugestehen hatte eine tiefgreifende Wirkung auf das Kind, das sie gewesen war. Und so durchlief sie im Eiltempo die letzten turbulenten Unbeholfenheiten der Pubertät, wie ein flacher Stein, der übers Wasser sprang. Beinahe über Nacht wurde sie eine stille und ernsthafte junge Frau, die mit beiden Beinen in der Realität stand. Ihr bester Freund war fort und würde niemals zurückkehren. Die Bande, die man knüpfte, hielten nicht immer fest genug. Er war ihrem Griff entschlüpft. Und indem er das tat, hatte er ihr eine Lehre erteilt, eine harte, unabänderliche Wahrheit: Nichts ist für immer. Alles kann sich verändern. In der Zeit, in der man die Hand von jemandem loslässt, kann sich das Leben schon bis zur Unkenntlichkeit wandeln.
Seine Hand in ihrer war ihre letzte Erinnerung an Bobby. Noch immer spürte sie seine Finger auf ihren, jeden Tag. Heiß, geschmeidig und merkwürdig. Sie stellten sich unbeholfen miteinander an, wie Teenager halt. Sie war 13, er 15. Am Tag zuvor hatte er sie geküsst, an ihrem Geburtstag, ganz leicht auf die Lippen. Und jetzt »gingen sie miteinander«, wie Kids es damals taten.
Sie hatten sich angewöhnt, zusammen zur Bushaltestelle zu gehen, und an diesem Tag, ihrem Geburtstag, war es nicht anders gewesen. In zueinanderpassenden Schuluniformen trödelten sie, damit sie mehr Zeit miteinander verbringen konnten, bevor der Bus eintraf. Sie erinnerte sich daran, wie sie errötete und stammelte, als sie sprach, unsicher, was sie einander hätten sagen sollen, jetzt, wo sie seine Freundin und er ihr Freund war. Sie hatten sich schon so lange gekannt, dass es sich wie ihr ganzes Leben anfühlte – ihre Eltern waren alte, enge Freunde und Nachbarn –, doch das hier fühlte sich nach unbekanntem Gebiet an, und sie war jämmerlich schlecht vorbereitet, um sich dort zurechtzufinden. Außerdem spürte sie ein gewisses Zögern bei Bobby, als wäre er sich nicht sicher, wie die Regeln lauteten, jetzt, wo sie angefangen hatten, sich auf andere Weise gegenseitig zu erkunden.
Seine Finger strichen über ihre Hand, sie liefen beide rot an und scharrten in gemeinsamer Verlegenheit mit den Füßen. Sie fragte sich, ob er noch einmal versuchen würde, sie zu küssen, bevor der Bus ankam. Doch er wirkte nervös, seine Augen konzentrierten sich auf die Straße unter ihnen, weshalb sie nicht nachfragte.
Und dann fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte. Heute konnte sie sich kaum noch erinnern, was es gewesen war: ein Mäppchen, ihre Hausaufgaben, Essensgeld … etwas sehr Kleines, aber doch Wichtiges, etwas, wegen dem sie Ärger bekommen würde, wenn sie es vergaß. Also ließ sie seine Hand los.
»Ich lauf kurz zurück«, hatte sie gesagt.
»Nur fünf Minuten. Warte auf mich«, hatte sie gesagt.
Sie rannte die Straße hinauf zu ihrem Haus, die Schultasche schlug ihr schwer gegen die Hüfte, Bobby stand auf dem Bürgersteig und blickte mit einem leicht düsteren Ausdruck auf seinem langen, blassen Gesicht in die Ferne.
Nie wieder würde sie seine Hand halten.
3
30 Jahre später kletterte Laura vorsichtig eine steile, matschige Böschung hinab, als ihr Fuß wegrutschte und sie heftig mit hilflos rudernden Armen hinfiel wie ein Vogel ohne Flügel und jetzt abstürzte wie ein Stein mitten im Flug. Der Aufprall am Fuße der Böschung erschütterte sie. Alle Luft wich ihr aus dem Körper. Sie sah Sterne, die vorübergehend den Code vor ihren Augen ersetzten. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Fußgelenk.
So lag sie für eine Weile mit ausgebreiteten Armen und Beinen in einem Bett aus Wegerich, Nestfarn und Moos und versuchte wieder Luft in ihre Lunge zu saugen. Die skelettierten Überreste längst verfallener Bäume stachen sie wie eine alte, ungehaltene Frau, die sie mit spitzen Fingern pikste, und alles, was Laura denken konnte, war: Wenn eine Frau im Wald umfällt, und niemand ist da, um sie zu hören … erzeugt sie dann ein Geräusch?
Der gleichgültige Regen fiel weiter und durchtränkte den Boden direkt neben ihrem Gesicht. Ein intensiver, reichhaltiger Geruch erfüllte ihre Nase: der Wald, übersättigt mit Regenwasser, der ein starkes Laubaroma ausrülpste, während der aufgeschwemmte Boden heimtückisch wurde. So lag sie keuchend da und versuchte, nicht in Panik auszubrechen wegen des schwindenden Lichts; der Zeit, die ihr davonlief; und dem Gedanken, wie viel langsamer sie jetzt mit ihrem verletzten Knöchel sein würde, in dem ein heftiger, schriller Schmerz pochte. Sie spürte, dass hier unten etwas völlig falsch lief.
Schließlich hatte sie genügend Kraft zurückgewonnen, um mit zitternden Händen nach unten und dem Problem zu tasten, der Quelle des Schmerzes. Es dauerte nicht lange, sie zu finden: Anstelle von Fleisch entdeckte sie ein zersplittertes, spitzes Stück Holz. Es bohrte sich in einen weichen Teil ihres Fußgelenks, direkt über ihrer Ferse in der Lücke zwischen Fußknöchel und Achillessehne, rechts über ihrem Lederschuh. Frisches, glitschiges Blut strömte ihren Fuß hinab. Versuchsweise wackelte sie an dem Stock und keuchte. Der Schmerz, der das gesamte Bein hinaufschoss, war unglaublich und ging ihr bis in die Backenzähne. Sie wusste, dass das Holzstück rausmusste, sonst würde das Bein verkrüppelt und unbrauchbar bleiben. Und wenn sie verkrüppelt sein würde, würde sie nicht mehr rechtzeitig ihr Ziel erreichen. Der Tag näherte sich bereits dem Ende, die Baumstämme um sie herum sahen weniger solide aus und der Himmel senkte sich weiter herab, um sich mit dem Boden zu treffen. Ihr Zeitfenster schloss sich unaufhaltsam. Zeit zu handeln.
Alle Hindernisse waren nur da, um überwunden zu werden.
Schwerfällig ließ Laura ihren Rucksack von den Schultern gleiten, um ihre wunden Arme freizubekommen. Im Inneren suchte sie nach ihrem kleinen Erste-Hilfe-Set, dankbar, dass sie daran gedacht hatte, es mitzunehmen. Daneben befanden sich noch andere Dinge im Rucksack: ein kleines Handtuch, zwei große Flaschen Wasser, eine Taschenlampe, eine zusammengefaltete Plane, Energieriegel und eine Plastiktüte, die einen Stapel Briefe enthielt, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde.
Am Boden des Rucksacks befand sich noch etwas anderes, schwer und kompakt, doch darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Sie wühlte durch den Inhalt des Rucksacks, bis sie das harte grüne Kästchen mit dem weißen Kreuz gefunden hatte. Dann holte sie nach kurzem Überlegen auch eine der Wasserflaschen und die Taschenlampe hervor. Die Grundsätze der Ersten Hilfe, dachte sie benebelt. Schnell handeln, sauber halten und Druck ausüben. Vorsichtig legte sie die Gegenstände auf den Boden und griff nach ihrem Taschenmesser, das in der linken Hosentasche steckte. Sie klappte die Klinge auf, schaltete die Taschenlampe ein und klemmte sie zwischen die Zähne, damit der Lichtstrahl auf ihren Knöchel fiel. Noch war es nicht komplett dunkel, doch dämmrig genug, dass sie zusätzliches Licht benötigte, um das Ausmaß ihrer Verletzung zu sehen.
Die Taschenlampe enthüllte den spitzen, trockenen Ast einer Kiefer von der Art, deren Rinde abgeschält ist und eine natürliche tödliche Spitze wie bei einem Pfeil bildet. Er ragte in einem absurden Winkel aus ihrer Haut, fast fröhlich, sie triezend. Ihr Blut leuchtete hell im Licht der Taschenlampe auf.
Laura wimmerte und schloss die Augen, versuchte, die Übelkeit zurückzudrängen. Während sie das tat, schwamm eine Nummernfolge unterhalb ihrer Augenlider und lockte sie. Du bist so nah, sagte sie begeistert. Gib jetzt nicht auf! Vorsichtig drehte sie den Verschluss der Wasserflasche auf und stellte sie neben sich ab. Dann fand sie die Desinfektionstücher und eine Wundauflage im Verbandskasten und legte diese ebenfalls dorthin.
Denk an Bobby, sagte sie zu sich selbst, immer kleiner werdend angesichts der Aufgabe, die vor ihr lag.
Bobby.
Sie beugte sich vor, umfasste behutsam den Ast mit ihrer Hand und drückte die Messerklinge vorsichtig dagegen, mit der Absicht, ihn von ihrem Fußgelenk wegzuhebeln, da sie nicht die Kraft fand, ihn herauszuziehen.
Laura zählte bis zehn und biss so fest auf die Lampe, dass sie dachte, ihr würden die Zähne durchbrechen, sie presste die Augenlider zusammen und drückte.
Ihr Schrei schallte durch den Wald, Vögel, die sich in den Bäumen zusammengedrängt hatten, flogen davon.
4
Als die 13-jährige Laura zur Bushaltestelle zurückkehrte, sprach Bobby durch das offene Fenster eines ihr nicht bekannten dunkelblauen Lieferwagens mit einem Mann, den sie ebenfalls nicht kannte. Später würde sie das Modell als einen Ford Transit identifizieren, doch zu dieser Zeit war es einfach nur ein blauer Lieferwagen, der mit laufendem Motor in der Haltebucht parkte. Der Mann auf dem Fahrersitz sprach, und Bobby hörte zu und lachte etwas unsicher, wie es junge Leute tun, wenn sie Erwachsene bei Laune halten wollen. Bobby war wohlerzogen aufgewachsen. Er war ein netter, höflicher Junge. Sie stammten aus einer netten, höflichen Nachbarschaft.
