Britta und die Pferde - Lisbeth Pahnke - E-Book

Britta und die Pferde E-Book

Lisbeth Pahnke

5,0

Beschreibung

Dieser Sammelband enthält gleich drei der beliebten Geschichten über Britta und ihre beiden Ponys Silber und Siboney: "Britta rettet ein Pferd", "Brittas Herz gehört den Pferden" und "Britta reitet in den Sommer". Wie immer erlebt die pferdebegeisterte Titelheldin jede Menge spannender Abenteuer mit ihren vierbeinigen (und zweibeinigen) Freunden – denn ein Leben mit Pferden ist garantiert nie langweilig!-

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Lisbeth Pahnke

Britta und die Pferde

SAGA Egmont

Britta und die Pferde

Aus dem Schwedischem von Herta Weber-Stumfohl nach

Copyright © 1988, 2018 Lisbeth Pahnke und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711520833

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Britta rettet ein Pferd

Ein lustiger Ritt im Schnee

„Britta! Hilfe! Ich stürze …“

Typisch, dachte ich. Immer wieder müssen wir wegen Pia den schönsten Galopp unterbrechen. „Halte wenigstens die Zügel fest“, warnte ich sie und brachte mein Pony widerwillig zum Stehen. Ich drehte mich im Sattel um. Im Gestrüpp entdeckte ich Pia, die mit ihrer Nase mitten im weichen Schnee steckte.

Wie jeden Sonntag ritt ich als Reitlehrerin mit meiner Gruppe aus. Es war Dezember. Die Luft war mild und feucht. Sie schien in uns hineinzukriechen. Ich hatte einen viel zu warmen Pullover angezogen. Es tropfte von den Tannen, und halbgeschmolzene Schneebrocken fielen sanft auf uns und unsere Pferde.

„Was für ein ekelhaftes Wetter“, schimpfte Pia, als sie endlich wieder auf den Weg stapfte. Wütend befreite sie ihr sommersprossiges Gesicht von dem weißen Schnee. „Ein riesiger Schneeklumpen traf mein Pferd mitten im Galopp genau auf sein Hinterteil. Klatsch! Kein Wunder, daß es sich furchtbar erschreckt hatte.“

Pia schüttelte sich wie eine nasse Katze und krabbelte dann wieder auf ihr kleines, braunes Pony hinauf, das sie wie immer ohne Sattel ritt.

„Du lieber Himmel, bin ich naß geworden“, jammerte sie. „Na, macht nichts. Oder wißt ihr etwas Schöneres, als wenn einem eiskaltes, nasses Wasser langsam den Rücken hinunterrinnt …?“

Wir ritten weiter. Mein Pferd holte weit und schnell aus. Ich mußte es immer wieder zügeln, damit die anderen folgen konnten.

„Wie fühlst du dich auf Rauhbein?“ fragte ich Ann, die auf dem kräftigen Fjordpferd neben mir ritt.

„Ein bißchen ungewohnt“, antwortete sie. „Schließlich habe ich fast immer nur Silber geritten. Hoffentlich geht es ihm bald wieder besser!“

„Das hoffe ich auch“, erwiderte ich besorgt. „Es ist eine Qual, Billy zu reiten, wenn ich gleichzeitig auf euch aufpassen muß. Du siehst ja, wie er sich aufführt, wenn er auch nur einen Augenblick auf die anderen Pferde warten muß. Er beißt auf die Trense, schüttelt ungeduldig den Kopf und stampft verdrossen auf der Stelle.“

„Das stimmt. Ich möchte nicht mit dir tauschen“, erklärte Ann.

Sie klopfte liebevoll den Pferdehals mit ihren weichen Handschuhen. Ihr Pferd spielte mit den Ohren und trottete zufrieden weiter.

Billy blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Er mußte irgend etwas Merkwürdiges gesehen oder gehört haben. Ein leichtes Zittern lief über seinen Körper. Er hob den Kopf und spitzte die Ohren. Dann machte er ein paar schnelle Schritte vorwärts und wollte lostraben. Aber weil ich ihn zurückhielt, schüttelte er mißmutig seine dichte, unbändige Mähne. Billy war ein ausgesprochen kräftiges Pony. Ich konnte ihn kaum halten.

„Hallo!“ Kicki kam uns überraschend im Schrittempo entgegen.

„Donnerwetter! Sie reitet ja auf Lord Peter“, staunte Pia.

Kicki ritt den schwarzen Vollbluthengst am langen Zügel. Als sie uns sah, straffte sie die Zügel und hielt an.

„Hoffentlich habe ich euch nicht zu sehr erschreckt“, begrüßte sie uns und sah besorgt auf Billy, der versuchte, mit mir einen wahren Affentanz aufzuführen. Lord Peter neigte vornehm seinen Kopf ein wenig und wirkte natürlich im Vergleich zu den Ponys zierlich und elegant.

„Nein, nein“, beruhigte ich Kicki. „Aber ich bin dir doch dankbar, daß du nicht im Galopp auf uns zukamst …“

„Thomas hat mir für heute das Galoppieren verboten“, antwortete Kicki und spielte vielsagend mit ihrem rechten Zopf. „Er meint, daß Lord Peter Rückenschmerzen hat. Ich habe also strengste Anweisung, nur im Schritt zu reiten. Von wegen Rückenschmerzen. Lord Peter tänzelt und wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich in einen befreienden Galopp zu fallen. Stimmt’s nicht, alter Junge?“ flüsterte sie dem Pferd sanft schmeichelnd ins Ohr.

Dann blickte Kicki verwundert auf Billy und mich. „Das sind doch nicht Billys Zügel, oder?“

„Nein, ich habe die von Silber ausgeliehen“, antwortete ich. „Billys Zügel können jeden Augenblick reißen. Ich muß sie heute abend flicken.“

„Ja, ich möchte Billy auch nicht mit abgerissenen Zügeln reiten“, lachte Kicki. „Aber warum reitest du eigentlich nicht Silber?“

„Er hustet“, sagte ich bekümmert. „Dabei ist Silber sonst nie krank. Siboney geht es noch viel schlechter. Ich mache mir ernste Sorgen um sie. Sie hat Nasenausfluß und ist völlig teilnahmslos. Wahrscheinlich hat sie Silber angesteckt.“

„Du mußt unbedingt den Tierarzt anrufen“, mahnte Kicki.

„Das werde ich auch tun“, beteuerte ich. „Es ist nur … na ja, du weißt doch, Siboney, sie …“

Ich schwieg und sah meine Freundin hilfesuchend an. „Ich glaube“, fuhr ich leise fort und wich Kickis Blicken aus, „ich glaube, es geht jetzt nicht mehr länger. Siboney …“

Nein. Ich konnte nicht darüber sprechen. Auch nicht mit meiner besten Freundin. Das war einzig und allein mein Problem. Und ich mußte es lösen. Ich mußte die Entscheidung fällen. Ich ganz allein.

„Du, Kicki, sei mir nicht bös, aber ich muß jetzt mit den Kleinen weiterreiten“, sagte ich schnell. „Sonst gerät Billy noch außer Rand und Band. Außerdem müssen wir in einer Viertelstunde wieder zurück zur Reitschule.“

Kicki sah mich mit großen Augen an und schüttelte verwundert den Kopf. „Nun, wir sehen uns nachher“, sagte sie nur und ritt auf dem schwarzen Hengst davon.

Ich wandte mich meinen jungen Schülern zu und fragte: „Habt ihr Lust auf einen kleinen Galopp?“

„Jaa!“ riefen Cilla, Pia, Lillan und Ann begeistert.

Die Ponys freuten sich genauso wie wir und stürmten mit ausgelassenen Sprüngen davon. Ich mußte mich andauernd umdrehen um zu prüfen, ob auch noch alle im Sattel saßen. Pia war schon wieder fast neben die Ohren von Lillebror gerutscht und kreischte um Hilfe. Zugegeben, das sah wahnsinnig komisch aus. Die anderen konnten sich vor Lachen kaum noch auf ihren Pferden halten. Ich mußte das Tempo drosseln und wir ritten im Schritt weiter.

Die Kinder lachten und kicherten und schienen sich herrlich zu amüsieren.

Ich hörte ihnen nur mit halbem Ohr zu. Meine Gedanken kreisten um Silber und Siboney … Aber ich mußte mich zusammenreißen. Ich durfte Billy nicht eine Sekunde unbeobachtet lassen. Er würde das sofort ausnutzen, und dann konnte es mir passieren, daß ich zu Fuß nach Hause gehen mußte.

In den letzten Tagen hatte ich so oft an die beiden Ponys gedacht, daß ich auch nachts wach lag und grübelte. Am nächsten Morgen war ich dann wie gerädert. Obgleich ich blaß und traurig war, schien niemand zu bemerken, daß mit mir irgend etwas nicht in Ordnung war.

Ich gab mir alle Mühe, mich auf Billy zu konzentrieren. Aber der Kloß in meinem Hals wuchs, und meine Augen brannten. Ich wollte nicht weinen. Nicht jetzt. Ich mußte immer wieder an heute morgen denken, als ich die Stalltür öffnete: Silber, mein fröhliches, graues Waliser Pony hustete und krächzte. Ihn schien das weniger zu stören als mich, denn er machte sich mit ungemindertem Appetit über den Hafer her. Aber Siboney. Rundlich war sie nie gewesen. Im Gegenteil. Ich kannte kein knochigeres Fohlen als Siboney. Aber sie gehörte mir. Ich liebte sie. Ich hoffte immer … Und nun stand sie da mit hängendem Kopf. Sie sah erbärmlich aus. Der Husten erschütterte ihren abgemagerten Körper. Nahrung verweigerte sie. Ich durfte die Entscheidung nicht länger hinausschieben …

Wir waren gleich zu Hause. Zu Hause auf der Reitschule. Billy überquerte gerade einen kleinen Graben.

„Hilfe, mein Sattel!“ schrie Cilla plötzlich. Ich wandte mich blitzschnell um und sah gerade noch, wie sie mit dem Kopf voran im Graben landete. Sessan drehte sich mit dem Sattel, der ihm um die Ohren schlackerte, aufgeregt im Kreis. Das passierte leider nicht zum erstenmal … Sessans Sattelgurt konnte man so fest wie möglich schnallen, und nach einer Weile war er auf unerklärliche Weise wieder locker. „Ist das gemütlich im Schnee“, lachte Cilla und kletterte als Schneemann aus dem Graben.

„Kannst du den Sattel selber wieder in Ordnung bringen?“ fragte ich.

„Klar“, erwiderte Cilla seelenruhig wie immer.

„Pia“, rief ich erschrocken. Lillebror streckte die Vorderbeine in die Luft und ließ sich genüßlich in den Schnee fallen. Pia lachte aus vollem Hals. Es sah ulkig aus, aber mir war heute nicht zum Lachen zumute. Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Ihr mit euren Streichen habt mir gerade noch gefehlt. Falls du Lillebror höflich bittest, sich zu erheben, können wir vielleicht weiterreiten.“

„Bist du heute komisch“, kicherte Lillan.

Pia kletterte immer noch lachend auf ihr Pony, und wir schritten über die Wiesen heimwärts. Man konnte die Reitschule jetzt sehen: den Stall, das Wohngebäude, das uns als Klubhaus diente, und das kleine Häuschen, in dem ich wohnte.

Auf einer der Koppeln galoppierte Lord Peter mit wehender Mähne und begrüßte uns wiehernd. Auf dem Übungsplatz ritt Hasse Organdie in kurzem Galopp. Vor dem Stall standen wie immer viele Neugierige herum. Es waren immer dieselben. Kicki schleppte einen Sack Sägespäne, und Thomas bastelte an seinem Auto herum.

All das spielte sich vor meinen Augen ab. Aber ich sah es nicht. Jeder war mit irgend etwas beschäftigt – genau wie immer. Aber zum erstenmal, seit ich vor ungefähr fünf Monaten als Reitlehrerin nach Dalen gekommen war, schien es mich nichts anzugehen, schien ich nicht dazuzugehören. Wie einsam ist man doch, wenn niemand die Sorgen kennt, die einen erdrücken.

Ich ritt auf den Hof. Ich hatte einen Entschluß gefaßt. Einen sehr schweren Entschluß.

Was soll aus Siboney werden?

Wir hielten vor der Stalltür und stiegen von unseren Ponys. Automatisch schnallte ich die Steigbügel hoch und brachte Billy zu seinem Platz.

Der Stall besaß nur vier Boxen, ansonsten Verschläge. Aber er war sehr originell und gemütlich. Wir hatten in dem ehemaligen Kuhstall alles selber gemacht.

Sonst kam ich gern in den Stall und redete lange mit den Pferden. Aber heute sattelte ich Billy so schnell wie möglich ab, überprüfte routinemäßig seine Hufe und wusch mit einem Schwamm die Sattellage aus. Billy versuchte nach mir zu schnappen, aber ich merkte es kaum. Er sah sehr lustig aus: außer einem braunen Kopf mit einer weißen Blesse und einem großen braunen Fleck auf der einen Seite war er schneeweiß.

„Kommst du in die Sattelkammer, wenn du fertig bist?“ fragte mich Kicki, während sie Lord Peter in seine Box führte. „Wir wollen über das Luciafest reden.“

„Kann ich, ja“, antwortete ich ohne große Begeisterung. Ach ja, das traditionelle Vorweihnachtsfest kam immer näher. Und ich hatte gar keine Lust für den Trubel, den Festumzug mit Lichterkranz und Schellengeläut.

In der Sattelkammer roch es nach Pferden und Leder. Heute duftete es zusätzlich verlockend nach warmem Kakao, den eines der Mädchen in einer Thermosflasche mitgebracht hatte. Kicki und ich platzten mitten in eine lebhafte Diskussion hinein.

„Natürlich muß sie reiten“, behauptete Martin, der Besitzer von Billy. „Lucia hoch zu Pferd. Etwas anderes kommt gar nicht in Frage.“

„Ich finde, sie sollte im Schlitten sitzen“, mischte sich Cilla vorsichtig ein. „Dann können einige von uns als Heinzelmännchen mitfahren und Fackeln tragen.“

„Nein, sie soll reiten“, widersprach Martin energisch. „Ich überlasse ihr sogar Billy …“

„Dann scheide ich als Lucia aus“, rief Agneta. „Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mich auf deinen verrückten Billy setze? Wenn ich Lucia werde, reite ich nur Kurre.“

Darüber mußten alle furchtbar lachen und Thomas sagte: „Als ob das weniger verrückt wäre. Wir wollen doch keine Lucia haben, die auf einem Pferd sitzt, das mit ihr durchgeht. Das Vernünftigste ist wirklich, Lucia fährt mit dem Schlitten. Zwei reiten mit Fackeln voran und …“

„Wer?“ riefen alle gleichzeitig.

Kicki und ich fragten: „Und wer zieht den Schlitten?“

„Welche Ponys dürfen denn überhaupt dabeisein?“ wollte Cilla wissen.

„Wir nehmen doch keine Ponys für den Luciazug“, antwortete Thomas entrüstet. Aber sein Gesicht sah so verschmitzt aus, daß wir nicht wußten, ob er das ernst meinte.

„Was? Überhaupt keine Ponys?“ Cilla war beleidigt. „Das ist wohl das Dümmste, was ich je gehört habe. Ein Luciazug nur mit vier Pferden!“

Ich muß zugeben, daß mich die Sache jetzt doch interessierte.

„Silber und Billy sollten nebeneinander hinter dem Schlitten laufen“, schlug ich vor. „Anschließend Lillebror und Sessan. Als letzter Scheck. Jemand sollte, als Heinzelmännchen verkleidet, ihn führen und eine Fackel in der Hand halten …“

„Ich will das Heinzelmännchen sein“, meldete sich Lillan.

„Du bist doch viel zu klein, um Scheck zu führen“, wandte ihre älteste Schwester Mia sofort überlegen ein. „Ich brauche dich wohl nicht daran zu erinnern, was passierte, als du im Sommer Lillebror von der Weide holen solltest und …“

„Das war doch Lillebror, und das war im Sommer, und der Sommer ist schon furchtbar lange vorbei. Jetzt bin ich viel größer.“

„Du bist aber immer noch nicht groß genug“, behauptete ihre große Schwester.

„Das bin ich doch“, rief Lillan wütend. „Vielleicht erinnerst du dich mal, wer beim Sprungwettbewerb am besten war.“

„Hier geht es nicht um einen Sprungwettbewerb, sondern um einen Luciazug, du Dummerchen.“ Mia war ziemlich sauer.

An dieses Springturnier wollte sie nicht gern erinnert werden. Alle zogen sie damit auf. Als ob sie etwas dafür konnte, daß Lillebror ausgerechnet an diesem wichtigen Tag nur zu Streichen aufgelegt war und so lange an ihrem Hosenbein zerrte, bis sie auf den Boden plumpste. Lillan und Scheck dagegen waren ohne einen einzigen Fehler über den Parcours gekommen.

„In welcher Reihenfolge sollen wir reiten?“ wollte Kicki wissen.

„Wieso wir?“ neckte Thomas sie. „Worauf gedenkst du denn zu reiten?“

„Auf Rauhbein natürlich. Wie immer.“

Thomas schüttelte den Kopf.

„Entschuldige, aber Rauhbein ist der einzige, der den Schlitten ziehen kann.“

Kicki machte ein langes Gesicht.

„Wieder mal typisch“, sagte sie und zuckte mit den Schultern.

Thomas fuhr fort: „Ich denke mir das so: Zwei reiten mit Fackeln vorweg. Hinter dem Schlitten mit Lucia folgen zwei große Pferde und daran anschließend alle Ponys. Britta, du als Reitlehrerin kannst am besten beurteilen, welche Kinder auf den Ponys reiten dürfen. Ich kümmere mich um die großen Pferde.“

Die Vorfreude auf das Luciafest und auf Weihnachten hatte uns gepackt. Einige fingen an, „Kling, Glöckchen“ zu singen. Und so kamen wir auf die Idee, daß es wunderbar wäre, wenn wir einen Schellenkranz hätten.

Einige der Mädchen, die auf alten Bauernhöfen lebten, versprachen, in jeder Scheune und in jedem Winkel unter den Dächern danach zu suchen.

In der warmen Sattelkammer hatte ich für kurze Zeit vergessen, was mich bedrückte und welch schweren Entschluß ich heute gefaßt hatte. Als ich wieder auf den Hof hinaustrat, war die vorweihnachtliche Stimmung wie weggewischt, wurden die Pläne für das Luciafest belanglos. Es goß in Strömen. Ich zitterte vor Kälte und wagte kaum an morgen zu denken. Es war Abend geworden und schon ganz dunkel. Ich mußte meine Pferde noch füttern. Ich selbst hatte auch noch nichts gegessen. Und dann schlafen – falls ich es konnte.

Früh am nächsten Morgen klingelte ich an Kickis Tür. Sie wohnte nicht weit entfernt von der Reitschule. In Hausschuhen und einem knallroten Morgenrock öffnete sie verschlafen die Tür.

„Hei! Entschuldige bitte, daß ich dich so früh störe“, begann ich leise, „aber ich muß sofort den Tierarzt anrufen.“

„Macht nichts“, antwortete Kicki. „Ich mußte sowieso aus den Federn. Du weißt ja, wo das Telefon steht. Auf dem Notizblock daneben findest du die Nummer vom Tierarzt.“

Ich wählte, ohne genau zu wissen, was ich sagen wollte. Kicki bürstete unterdessen ihre kastanienbraunen Haare.

„Bitte rufen Sie die Auskunft unter der Nummer 90120 an. – Bitte rufen Sie die Auskunft unter der Nummer 90120 an. – Bitte rufen Sie …“

Eine teilnahmslose Stimme wiederholte diesen stupiden Satz immer wieder.

„So was Dummes“, murmelte ich und legte den Hörer auf. „Was hat das denn zu bedeuten?“

Irritiert wählte ich die neue Nummer.

„Der Tierarzt Dr. Andersson ist verzogen. Den neuen Tierarzt Dr. Södergren erreichen Sie unter der Nummer …“

„So ist das meistens“, seufzte Kicki. „Das reinste Versteckspiel, wenn man mal einen Tierarzt braucht.“

Unsicher wählte ich die Nummer von Dr. Södergren. Was sollte ich ihm sagen? Es ging ja nicht nur darum, daß meine beiden Pferde Husten und Schnupfen hatten …

Guten Tag. Ich habe ein kleines Fohlen, das nicht wachsen will. Jetzt hat es auch noch einen furchtbaren Husten, und ich glaube, es gibt keine Hoffnung mehr …

Konnte ich das so kalt sagen, als ginge es mich nichts an? Wieder spürte ich einen großen Kloß in meinem Hals. Ich schluckte und schluckte und versuchte verzweifelt, die Tränen zu unterdrücken, die über meine Wangen rannen.

„Bitte, Kicki“, schluchzte ich und reichte ihr den Telefonhörer. Dann sank ich auf einen Stuhl und verbarg mein Gesicht in den Händen. Ich hatte mich noch nie so elend gefühlt.

„Guten Morgen. Hier spricht Kicki Berggren von der Reitschule in Dalen. Zwei unserer Pferde husten. Eins davon ist noch ein Fohlen, und wir glauben, daß ihm noch etwas anderes fehlt. Es wächst nicht und entwickelt sich nicht wie ein normales Pferd. Vielleicht könnten Sie vorbeikommen und sich die Pferde ansehen … Gut. Vielen Dank. Bis dann.“

Kicki legte den Hörer auf und wandte sich zu mir: „Er kommt heute nachmittag. Er muß erst noch einige andere Krankenbesuche machen. Kopf hoch! Ich koche uns jetzt erst einmal eine Kanne heißen Tee.“

Der Vormittag zog sich in die Länge. Ich ging in den Stall. Silber begrüßte mich wie immer freudig wiehernd. Ich nahm Striegel und Kardätsche vom Regal und ging in seine Box. Ich redete leise mit ihm, während ich sein dichtes, graues Fell striegelte, das jetzt im Winter matter glänzte.

„Was hast du nur für einen dicken Pelz bekommen, alter Junge. Du siehst ja aus wie ein Eisbär. Ob ich wohl deinen Bauch bürsten darf, ohne daß du protestierst? Oder bist du heute kitzlig?“

Silber spielte mit den Ohren. Das bedeutete, daß er gern gebürstet werden wollte. Ich kämmte seinen strähnigen Schopf, bis er in weichen Wellen über die Stirn fiel und bürstete vorsichtig Mähne und Schweif, die fast weiß waren. In diesem Winter war Silber nicht so dunkel geworden wie im vorigen Jahr. Im Sommer wird er sicher wieder ganz weiß werden. Ich dachte daran, wie edel sein Kopf aussah ohne diesen „Winterbart“ und ohne diese ulkigen Büschel in den Ohren.

Silber hustete kaum noch. Aber was ich von Siboney hörte, klang so furchtbar, daß ich es einfach nicht länger aushielt. Ich zäumte Silber und ritt mit ihm in den Wald. Ich nahm mir gar nicht erst die Zeit, ihn zu satteln. Ich wollte nur im Schritt reiten. Sicherlich machte ich keine gute Reiterfigur. Aber das war mir im Augenblick egal. Ich saß traurig und zusammengesunken, mit Tränen in den Augen, auf meinem Pony.

Eine unerwartete Hilfe

„Aber Silber, was hast du denn?“

Ich wäre beinahe heruntergepurzelt, weil mein Pony völlig überraschend stutzte und sich quer stellte. Silber war bisher ruhig und an langen Zügeln durch den Wald getrottet und hatte nur hier und da, ohne seine sonstige Begeisterung, nach ein paar Tannenzweigen geschnappt. Meine Stimmung hatte sich wohl auf ihn übertragen. Aber jetzt blähte er die Nüstern und schnaubte aufgeregt. Ich wußte nicht warum, bis ich den Hund sah.

Ein ungewöhnlich großer und kräftiger Schäferhund mit schwarzer und goldbrauner Zeichnung blinzelte uns an und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Er war so urplötzlich vor uns aufgetaucht, daß mein armes Pony völlig überrumpelt wurde.

Im gleichen Augenblick hörten wir das Stampfen eines galoppierenden Pferdes, und wenige Sekunden später kam uns ein Reiter auf einem stolzen Fuchs entgegen.

„Goldie, komm sofort her!“

Der Schäferhund wedelte noch einmal kurz mit seinem Schwanz und lief dann gehorsam zu seinem Herrn zurück.

Ich traute meinen Ohren nicht. Die Stimme kannte ich gut, aber die Stute hatte ich noch nie gesehen.

Der Reiter schaute mich genauso verblüfft an wie ich ihn.

„Lasse!“, rief ich erstaunt. „Was machst du denn hier?“

„Reiten“, antwortete Lasse und lachte.

„Typisch. Du mußt einen immer auf den Arm nehmen. Ich meine: wieso bist du hier?“

„Lernen. In der Stadt. Ich wohne bei meinem Onkel. Er hat einen Hof hier in Dalen gekauft.“

Silber tänzelte und wollte das fremde Pferd begrüßen. Ich warnte Lasse: „Komm lieber nicht näher. Silber ist erkältet und hustet.“

Lasse schaute belustigt von seinem hohen Fuchs auf mein kleines Pony hinunter: „Du hältst dich immer noch an das kleinere Format, wie ich sehe.“

Ich mußte lachen. Nein, Lasse hatte sich nicht verändert. Und dabei hatte ich ihn eine Ewigkeit nicht gesehen.

„Was ist eigentlich aus dieser Schimmelstute geworden, die du zusammen mit Madeleine gekauft hast?“

Das Lachen blieb mir im Hals stecken. Ich hatte mich riesig gefreut, Lasse so unerwartet im Wald zu treffen, und ich hatte für einen Augenblick alles andere vergessen. Aber nun wurde ich wieder an Siboney erinnert, denn sie war das Fohlen „dieser Schimmelstute“. Ich brachte kein Wort heraus.

„Hier in der Gegend scheinen noch andere Pferde erkältet zu sein“, meinte Lasse. „Heute morgen rief jemand meinen Onkel an und sagte, sie hätten zwei kranke Pferde auf dem Hof …“

Ich konnte Lasse nicht ansehen, weil ich dann sofort wie ein kleines Kind losgeheult hätte. Aber ich war ihm eine Erklärung schuldig: „Wir haben heute morgen angerufen. Kicki und ich. Oh, Lasse, wenn du wüßtest, wie furchtbar alles ist.“

Wir ritten Seite an Seite durch den Wald. Lasse kannte ich fast mein ganzes Leben lang. Wir besuchten als Kinder dieselbe Reitschule. Mein Onkel Magnus war dort Reitlehrer.

Eines Tages wurde die Reitschule geschlossen. Alle, die ich gern hatte – Menschen und Pferde –, wurden in alle Winde zerstreut.

Lasse hatte sich kaum verändert. Nur seine dunklen Haare waren etwas länger und seine Augen hatten etwas von ihrem schelmischen Glanz verloren, waren ein wenig ernster geworden.

Merkwürdig! Plötzlich konnte ich über alles sprechen. Ich erzählte von Siboney, und wie alles angefangen hatte, damals vor zwei Jahren, als Lasse mir einen Job auf dem Hof seines Bruders verschafft hatte …

Ich berichtete über Gazelle, die Schimmelstute, und wie Madeleine und ich uns nach dem Fohlen gesehnt hatten.

„Dieses Fohlen ist Siboney. Du hättest sie sehen müssen, als sie auf die Welt kam. Das knochigste Häufchen Elend, das man sich vorstellen kann. Sie war dunkelbraun, fast schwarz. Sie hatte übergroße, lange Ohren und sah furchtbar mürrisch aus. Wahrscheinlich war sie das häßlichste Fohlen der Welt. Aber ich war überglücklich. Ich liebte sie vom ersten Augenblick an.“

Lasse schwieg, und ich fuhr fort: „Du kannst dir meine Träume, meine Hoffnungen und Pläne vorstellen. Ich dachte immer daran, daß sie groß wird und ich sie eines Tages reite …“

„Und was passierte dann?“ fragte Lasse.

„Das ist es ja gerade. Es passierte nichts. Ich gab ihr Heu und Kraftfutter und Vitamine. Ich tat alles für sie. Aber sie wuchs nicht. Ich wollte es zuerst nicht wahrhaben, daß mit ihr etwas nicht in Ordnung sei. Jetzt muß ich es wohl einsehen … Und seit sie diesen Husten hat, frißt sie gar nichts mehr. Sie steht nur da und läßt den Kopf hängen.“

Ich schwieg. Ich hatte alles gesagt. Lasse schwieg auch. Aber ich spürte, daß er mich verstand und fühlte mich ein bißchen erleichtert.

Dann fiel mir etwas ein: „Sagtest du nicht, daß wir heute morgen mit deinem Onkel telefoniert haben?“

„Hmhm“, antwortete Lasse lächelnd. „Der neue Tierarzt ist mein Onkel.“

Wir näherten uns jetzt der Reitschule.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich mit dir komme und auf meinen Onkel warte?“ fragte Lasse.

„Glaubst du vielleicht, es ist schöner allein zu warten?“

Lasse brachte seinen Fuchs auf eine der Koppeln und folgte mir in den Stall. Siboney lag in ihrer Box. Als wir mit Silber hereinkamen, raffte sie sich mühsam hoch. Den Hafer hatte sie nicht angerührt.

Eine Stunde später kam der Tierarzt. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und war noch nicht so schrecklich alt. Zuerst untersuchte er Silber.

„Das Pony ist in guter Verfassung“, meinte er und schrieb nur eine Flasche Hustensaft auf.

Dann gingen wir zu Siboney.

„Ist das Pferd versichert?“ lautete die erste Frage des Tierarztes, nachdem er sich das Fohlen eine Weile angeschaut hatte. Das wirkte so kalt und nüchtern auf mich, daß ich mit Mühe und Not ein schwaches „Ja“ stammeln konnte.

„Ist sie schon immer so mager gewesen?“

Ich erklärte ihm, daß das gerade das Problem sei. Der Tierarzt murmelte irgend etwas Unverständliches und untersuchte Siboneys Zähne gründlich. Daß sie einen Unterbiß hatte, wußte ich. Aber der andere Tierarzt hatte gesagt, das sei nicht von Bedeutung.

„Lasse, sei so nett und hole mir aus meiner Tasche im Auto eine Mundklammer und eine Taschenlampe.“

„Wollen Sie Siboneys Zähne feilen?“ fragte ich vorsichtig. Dr. Södergren machte ein besorgtes Gesicht. „Ich fürchte, das würde in diesem Fall nichts nützen. Aber ich will mir ihr Gebiß doch noch genauer ansehen.“

Die Klammer hielt Siboneys Kiefer auseinander. Der Tierarzt leuchtete lange mit seiner Taschenlampe in das Maul meines Fohlens.

„Tja! Das habe ich befürchtet. Ein Unterbiß bedeutet, daß die Kaufläche verschoben ist. Das allein ist schon schlimm genug. Aber hier kommt noch ein anderer Fehler hinzu, den man Scherenbiß nennt. Ihr könnt selbst sehen, daß Oberund Unterkiefer sich kaum berühren. Die Kaumöglichkeit ist minimal. Dieses Pferd kann sein Fressen nicht verdauungsgerecht zerkleinern. Die Zähne beißen nicht aufeinander …“

Ich wollte nichts mehr hören. In meinem Kopf schien sich alles zu drehen.

„Kann man denn nichts machen?“ stammelte ich verzweifelt.

Doktor Södergren schaute mich teilnahmsvoll an und sagte: „Man soll ein Tier nicht unnötigen Qualen aussetzen. Die Antwort auf deine Frage – und ich weiß, daß das sehr hart klingt – ist, daß dieses Pferd verhungern muß. Es leidet schon lange. Das siehst du ja selbst. Es gibt keinen Grund, das arme Tier noch länger zu quälen.“

Am nächsten Tag sollte ein Auto kommen und Siboney abholen.

Ich wußte nicht mehr ein noch aus. Ich führte mein Fohlen ein letztes Mal über den Hof. Ich stolperte, und fiel hin. Meine Knie bluteten. Aber das merkte ich erst später.

Das Auto kam. Der Fahrer tauschte Siboneys weiches Lederhalfter mit geübter Hand gegen eine Kette aus. Eine kalte Eisenkette, wie Kühe sie haben. Dann zerrte er mein kleines Fohlen über die Ladebrücke in das Dunkel seines Wagens.

Eine Kette als Halfter. Ich glaube, das war das Schlimmste. Ich stand noch lange auf dem Hof. Endlich ging ich mit schweren Schritten zu meiner Wohnung.

Mit Lasse und Goldie auf vier Rädern

Am nächsten Nachmittag kurz nach vier Uhr klopfte es an meiner Tür.

„He“, sagte Kicki und steckte vorsichtig ihren Kopf herein. „Wie geht es dir?“

Meine Wohnung bestand aus einem gemütlichen Zimmer, einer riesengroßen Küche und einem winzigen Bad. Nebenan befand sich der Stall für meine Pferde – das heißt, jetzt besaß ich nur noch ein Pferd.

„Wie soll es mir schon gehen“, antwortete ich. Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke.

„Hast du etwas gegessen?“ wollte Kicki wissen.

„Ich habe keinen Hunger.“

Kicki setzte sich auf einen Stuhl neben mich: „Soll ich deinen Reitunterricht heute abend übernehmen?“

„Wieso? Ach ja, Reitunterricht …“ Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich hatte auch nichts vorbereitet. „Willst du das? Das ist sehr lieb von dir“, sagte ich dankbar. „Das Reitbuch mit den Namen liegt auf dem Küchentisch.“

Kicki schloß die Tür hinter sich. Ich war wieder allein.

Ich hörte Autos, die ankamen und wieder wegfuhren: Eltern brachten ihre Kinder. Abends wimmelte es immer von Menschen in der Reitschule. Ich dachte an meine kleinen Schüler, deren Reitunterricht jetzt begann. Ich stellte mir vor, wie sie anschließend sorglos und glücklich ihre Lieblingspferde verwöhnten …

Wieder knarrte meine Tür. Ehe ich aufstehen konnte, sprang Lasses Schäferhündin herein und leckte mir vor Freude das Gesicht.

„Hör auf! Das kitzelt.“

Lasse stiefelte in die Küche.

„Aufstehen! Wir wollen etwas Eßbares für dich machen!“

„Sieh mich bitte nicht an“, murmelte ich verlegen und flüchtete ins Badezimmer. Meine Haare waren zerzaust und meine Augen rotgeweint.

„Ich kann nichts essen“, rief ich und bürstete meine Haare.

„Unsinn“, widersprach Lasse. „Ich brate jetzt Eier, Wurst und Kartoffeln mit Kümmel. Dazu trinken wir Hagebuttentee.“

„Ist das meine oder deine Küche?“ brummte ich.

„Jemand muß sich schließlich um dich kümmern“, meinte Lasse und stellte die Bratpfanne auf den Herd.

Es schmeckte herrlich. Erstaunlicherweise fühlte ich mich viel besser, nachdem ich etwas gegessen hatte.

„Du kannst richtig gut kochen“, gab ich neidvoll zu.

„Ich habe eine Idee“, antwortete Lasse. „Wir fahren jetzt zu mir. Dann kannst du Cayenne näher kennenlernen.“

„Meinetwegen“, sagte ich. Es war wunderbar, daß Lasse sich so um mich kümmerte. Aber das könnte ich ihm nie sagen. „Heißt dein Fuchs Cayenne? Hatte dein Bruder nicht vor ein paar Jahren ein braunes Vollblut, das so hieß?“

„Ja“, nickte Lasse. „Das wird jetzt auf Jägersruh trainiert. Mir gefiel der Name so gut.“

Draußen war es kalt und stürmisch.

„Ist das dein Auto?“ fragte ich.

„Nein“, Lasse schüttelte entrüstet den Kopf. „Glaubst du vielleicht, ich bin über Nacht Millionär geworden? Ich verbrauche fast mein ganzes Geld für Cayenne. Das Auto gehört meinem Onkel. Er wollte es mir eigentlich nicht geben. Ich mußte ihm versprechen, so schnell wie möglich zurückzukommen. Hoffentlich hat inzwischen niemand angerufen, daß ein Schwein niest, eine Kuh kalbt oder ein Schaf sich nicht scheren lassen will. Komm, wir müssen uns beeilen. Ich habe nur einen uralten Volkswagen. Aber der hatte heute keine Lust anzuspringen.“

Goldie kletterte auf den Rücksitz, und ich setzte mich neben Lasse.

„Warum heißt sie Goldie?“ wollte ich wissen. „Das klingt so sanft für einen Schäferhund.“

„Schäferhunde sind sanft“, wandte Lasse ein. „Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber leider glauben viele Menschen, alle Schäferhunde seien unzuverlässig und bissig.“

„Ich mag Schäferhunde sehr“, antwortete ich und kraulte Goldie hinter den Ohren.

Wir bogen in eine Allee mit alten knorrigen Bäumen ein. Ich konnte nicht erkennen, was es für Bäume waren. Es war dunkel und die Äste waren laublos.

Rechts vor uns tauchte im Scheinwerferlicht ein Warnschild auf: „Vorsicht Wildwechsel!“

Lasse fuhr langsamer. Die mächtigen Baumstämme zogen wie stumme, geisterhafte Zeugen einer längst vergangenen Zeit an uns vorüber.

„Im Sommer muß die Allee wunderschön aussehen“, sagte ich verträumt zu Lasse.

Ehe Lasse antworten konnte, versuchte plötzlich etwas Dunkles unmittelbar vor uns über die Straße zu laufen. Lasse trat voll auf die Bremse. Aber der Asphalt bot den Reifen keinen Widerstand: Der beißende Wind mußte die nasse Straße in eine spiegelglatte, verhängnisvolle Eisbahn verwandelt haben. Der rechte Straßengraben schien drohend auf uns zuzukommen. Plötzlich traf ein dumpfer Schlag den rechten, vorderen Kotflügel, und der Wagen wurde in die andere Richtung geschleudert. Ich klammerte mich verzweifelt an das Armaturenbrett, um mich irgendwo festzuhalten. Im gleichen Augenblick stieß ich mit dem Kopf gegen eine kalte und harte Kante.

Das Auto wurde zu einem Karussell, das sich in wahnsinniger Geschwindigkeit um die eigene Achse drehte. Es drehte sich immer schneller, bis es vom Boden abhob und sich den Baumkronen näherte, über sie hinausstieg und schließlich – langsamer werdend – über den Wald schwebte.

„Britta! Britta! Ist dir etwas passiert?“

Was war das für eine Stimme? Befand sich noch jemand in meinem Karussell?

„Bitte, liebe Britta, mach doch endlich die Augen auf!“

So ein Unsinn. Meine Augen waren doch offen: Ich sah ganz deutlich den dunklen Wald tief unter mir. Warum klang die Stimme eigentlich so aufgeregt?

„Nicht doch! Was soll denn das?“ schimpfte ich. Etwas Nasses und Kaltes bedeckte plötzlich mein Gesicht. Dieses nasse und kalte Etwas hüllte auch mein Karussell ein, so daß es die Balance verlor und zur Erde stürzte.

Ich schrie und – schlug die Augen auf. Lasse beugte sich über mich und rieb mein Gesicht mit einem Stückchen Eis ab …

„Lasse“, flüsterte ich.

„Britta! Gott sei Dank! Du lebst!“

„Ich friere. Warum hast du mich denn mit Eis eingerieben?“ fragte ich verwundert.

„Weil du ohnmächtig warst“, erklärte Lasse. „Oder wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dir ein paar Ohrfeigen verabreicht, um dich wieder zur Besinnung zu bringen?“

Wir mußten beide lachen.

„Was ist denn eigentlich passiert?“ wollte ich wissen und richtete mich auf.

„Ich mußte plötzlich scharf bremsen“, berichtete Lasse. „Ich hatte keine Ahnung, daß die Straße hier vereist war, und kam ins Schleudern. Ich habe natürlich durch Gegenlenken versucht, das Schlimmste zu verhüten. Aber viel konnte ich nicht ausrichten. Es war spiegelglatt. Der Wagen drehte sich im Kreis und rutschte schließlich auf einen dicken Baumstamm zu, der ihn zum Stehen brachte. Du bist offenbar mit dem Kopf aufgeschlagen. Hast du Kopfschmerzen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Aber mir ist schrecklich kalt“

Während Lasse auf dem Rücksitz nach einer Decke suchte, hörte ich plötzlich ein leises Winseln und eine warme, feuchte Zunge leckte mein kaltes Gesicht.

„Goldie“, rief ich glücklich und kraulte sie hinter den Ohren. „Wie geht es dir?“

„Sie scheint den Unfall gut überstanden zu haben“, antwortete Lasse und hüllte mich in eine warme Wolldecke ein. „Ist es so besser?“

„Wunderbar“, nickte ich dankbar. Ich kuschelte mich in die Decke und versuchte, meine Gedanken und die vielen Eindrücke der letzten Minuten zu ordnen. Lasse, Goldie und ich schienen wohlauf zu sein. Das war das Wichtigste.

„Was ist mit dem Wagen?“ fragte ich erschrocken. „Er gehört doch deinem Onkel und …“

„Du darfst dich jetzt nicht aufregen“, unterbrach mich Lasse. „Ich hoffe, das Auto ist noch fahrtauglich. Ich sehe gleich einmal nach.“

Nachdem Lasse den Wagen mit Hilfe einer Taschenlampe gründlich untersucht hatte, kam er wieder herein und setzte sich neben mich auf den Fahrersitz.

„Sieht schlimmer aus, als ich dachte“, berichtete er und runzelte die Stirn. „Hinten ist alles in Ordnung. Aber die beiden vorderen Kotflügel … Der linke ist so eingedrückt, daß er das Rad blockiert. Wir können nicht fahren.“

Ich stellte mir das Auto als total verbeultes Wrack vor, und vor meinen Augen erschien Lasses Onkel überlebensgroß: er schimpfte wild und drohte wütend mit dem Zeigefinger.

Ich mußte ein ziemlich entsetztes Gesicht machen, denn Lasse fragte: „Siehst du Gespenster?“

„Nein, nur deinen Onkel“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Tja, erfreut wird er nicht gerade sein“, seufzte Lasse. „Ich muß eben versuchen, die Reparaturkosten von meinem Taschengeld abzustottern.“

„Dabei helfe ich dir“, erklärte ich sofort. „Reich bin ich nicht, aber …“

„Kommt gar nicht in Frage“, protestierte Lasse. „Schließlich habe ich den Unfall verursacht. Du kleines Küken besitzt ja noch nicht einmal den Führerschein“, hänselte er mich.

„Aber du hast den Unfall doch gar nicht verschuldet.“ Ich erinnerte mich wieder ganz genau an die Minuten vor dem Unfall. „Du hast das Warnschild beachtet und fuhrst langsam, als überraschend irgend etwas Dunkles über die Straße wollte …“

„Natürlich“, rief Lasse erschrocken. „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Wir müssen sofort nachsehen, ob jemand verletzt ist. Komm, Goldie.“

Wir kletterten alle drei aus dem Auto, und während Lasse und ich mit der Taschenlampe die Straße ableuchteten, rannte Goldie schnüffelnd und zielstrebig zum Straßenrand. Plötzlich blieb sie stehen und bellte ganz aufgeregt. Wir eilten zu ihr. Im Licht der Taschenlampe erblickten wir ein Rehkitz, das verzweifelt darum kämpfte, sich auf seine kleinen Läufe zu erheben. Nach kurzer Anstrengung sank es erschöpft zu Boden und sah uns aus großen, ängstlichen Augen hilfesuchend an.

„Ruhig, Goldie“, sagte Lasse und beugte sich über das Reh. „Die Hinterläufe sind blutig. Und wahrscheinlich auch gebrochen“, stellte er fest. „Es muß mit ihnen unter die Räder gekommen sein.“

Das Reh unternahm einen weiteren hoffnungslosen Versuch aufzustehen.

„Na, na, schon gut“, sagte Lasse mit sanfter Stimme und strich dem armen Tier beruhigend über das Fell. „Wir müssen es so schnell wie möglich zu meinem Onkel bringen. Aber wie? Mit bloßen Händen schaffe ich es unmöglich, den verbeulten linken Kotflügel so weit zurechtzubiegen, daß er das Rad nicht mehr behindert.“

„Liegt nicht vielleicht irgendein Stock oder eine Zange im Kofferraum?“ überlegte ich.

„Britta, du bist ein Genie“, lobte Lasse. „Warum bin ich darauf nicht selbst gekommen? Mit dem Wagenheber müßte es gehen.“

„Halt“, rief ich Lasse nach, der schon zum Auto zurücklaufen wollte. „Erst müssen wir uns um das Kitz kümmern. Oder hast du alles vergessen, was du im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hast?“

„Britta, du hast schon wieder recht“, staunte Lasse. „Ich hole schnell den Verbandskasten und versuche, das Auto etwas näher heranzuschieben, damit wir im Scheinwerferlicht besser sehen können.“

Ich kniete mich neben das Reh und streichelte den kleinen, hilflosen Körper. Dabei spürte ich, wie sein Herz unter meinen Händen noch aufgeregter klopfte.

„Du brauchst doch keine Angst zu haben“, flüsterte ich. „Ich bin nicht dein Feind. Ich tue dir nichts.“

Goldie schlich näher.

Zuerst beschnupperte sie das fremde Wesen neugierig, dann winselte sie leise und stupste es ganz vorsichtig. Als das Kitz daraufhin vor Schreck wieder zu entkommen versuchte, leckte Goldie es zart und sanft mit ihrer Zunge, um es zu beruhigen. Das kleine Reh hatte Goldies Mutterinstinkte geweckt.

Lasse traute seinen Augen nicht, als er im Scheinwerferlicht des Autos, das er auf der glatten Straße ohne allzugroße Mühe näherschieben konnte, diese zärtliche Hilfsbereitschaft erblickte.

„Ist Goldie nicht wunderbar?“ strahlte ich. „Sie hat das Kleine in wenigen Minuten so beruhigt, daß es nicht mehr zittert und beinahe eingeschlafen ist.“

„Dann wird es dir ja nicht mehr schwerfallen, deine Erste-Hilfe-Kenntnisse sachkundig und perfekt wie eine richtige Krankenschwester anzuwenden“, neckte Lasse mich und überreichte mir den Verbandskasten.

„Spotte nicht, sondern bring mir lieber vier kräftige Zweige, damit ich die Läufe schienen kann“, erwiderte ich.

Während Lasse gehorsam mit seiner Taschenlampe in den Wald stapfte, zerschnitt ich zwei Mullbinden in mehrere gleichlange Stücke.

Dank Goldie hatte sich das Kitz so weit entspannt, daß es sich kaum noch wehrte, als wir seine Läufe notdürftig schienten. Ich bildete mir ein, fast so etwas wie Zutrauen und Dankbarkeit in seinen immer noch ängstlichen Augen zu sehen.

„Ich messe jetzt meine Kräfte mit dem verbeulten Kotflügel“, meinte Lasse. „Gehe ich als Sieger hervor, betten wir das Reh in den Kofferraum und transportieren es so schnell wie möglich zu meinem Onkel.“

„Ich setze auf Sieg“, sagte ich zuversichtlich. Ich ging ebenfalls zum Wagen und richtete im Kofferraum ein behelfsmäßiges, aber weiches Lager ein. Goldie bewachte unterdessen unseren kleinen Patienten.

Lasse wurde rasch mit dem Kotflügel fertig. Aber als wir das Reh gemeinsam hochhoben, erwartete uns eine böse Überraschung: Das Tier blutete heftig aus einer offenbar tiefen Wunde am Oberlauf. Bisher hatte das Reh nur auf einer Seite gelegen und deshalb hatte ich diese Verletzung nicht gesehen. Vielleicht blutete die Wunde auch nur durch die Bewegung stärker.

„Desinfizieren und abbinden“, schlug Lasse vor. „So können wir nicht fahren.“

„Desinfizieren?“ rief ich entrüstet. „Man sollte nicht glauben, daß du der Neffe eines Tierarztes bist. Falls die Wunde so tief ist, daß sie genäht werden muß, kann der Arzt das nach Verwendung eines Desinfektionsmittels unter Umständen nicht mehr tun. Aber bring bitte schnell noch eine Mullbinde, und laß uns sicherheitshalber den Lauf oberhalb der Wunde abbinden.“

Endlich hatten wir es geschafft: Das Rehkitz lag in eine alte Decke gehüllt im Kofferraum. Neben ihm saß Goldie, die das Kleine nicht aus den Augen lassen wollte.

„Und nun?“ fragte ich ratlos. „Wir können den Kofferraum nicht offen lassen. Aber wir können ihn auch nicht schließen, weil die beiden Tiere dann keine Luft mehr bekommen.“

„Daran habe ich längst gedacht“, antwortete Lasse. „Wir ziehen das Abschleppseil einfach durch die beiden halb geöffneten Seitenfenster und schlingen es um den Kofferraumdeckel, damit er beim Fahren nicht zuklappen kann.“

„Diesmal bist du das Genie“, lobte ich ihn anerkennend.

Lasse und ich kletterten auf unsere Sitze.

„Wie viele Stunden sind eigentlich seit dem Unfall vergangen?“ fragte ich und merkte erst jetzt, wie erschöpft ich war.

Lasse sah auf die Uhr und grinste: „Genau zwanzig Minuten. Mit deinem Zeitgefühl scheint es nicht weit her zu sein.“

Ich schüttelte verwundert den Kopf. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber ich war zu müde, um noch weiter darüber nachzudenken.

Der Wagen rollte langsam und vorsichtig durch die Dunkelheit. Das leise, gleichmäßige Surren des Motors schläferte mich ein. Aber immer wieder zogen die Aufregungen der letzten Minuten an mir vorüber.

Wie hoch würde der Schaden am Auto wohl sein …? Wenigstens kein Totalschaden, es fuhr ja wieder. Und Lasses Onkel …? Wie würde er reagieren …? Mußte Lasse die Reparaturen von seinem Taschengeld bezahlen …? Wovon sollte er dann noch Cayenne ernähren …?

Ich habe Freunde gefunden

Der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor dem Haupteingang.

Doktor Södergren hatte den Hof erst vor kurzem gekauft. Die Nacht verschluckte das Haus, nur hinter den Fenstern leuchtete es hell und einladend. In der Diele roch es nach Kerzen und gebratenen Äpfeln. Lasses Onkel und Tante saßen in der Küche. Es war eine große, altmodische, urgemütliche Küche. Tisch und Stühle standen in der Mitte. An der Wand lud eine lange, weißgestrichene Bank mit rotweiß-karierten Baumwollkissen zum Sitzen ein. Kaffeeduft stieg in unsere Nasen.

„Euch treibt wohl der Hunger endlich nach Hause“, begrüßte uns Lasses Tante freundlich. „Setzt euch. Der Kaffee ist gerade fertig. Und Bratäpfel gibt es auch.“

„Ich wußte nicht, daß es so weit zur Reitschule ist“, sagte Doktor Södergren mit gespielter Überraschung und schaute von seiner Zeitung auf. „Gestern nachmittag kam mir der Weg ziemlich kurz vor.“

Lasse und ich blickten uns verstohlen an. Wie konnten wir ihm möglichst schonend von dem Unfall berichten?

„Ja …“, begann Lasse vorsichtig, „die Sache ist nämlich so … Wir wurden aufgehalten … Aber wir haben etwas mitgebracht …“

„Es liegt im Kofferraum und braucht dringend Hilfe.“

In meiner Stimme lag die Aufregung der letzten Stunde, und vor allem die Angst um das verletzte Reh.

Lasses Onkel legte sofort seine Zeitung zur Seite, stand auf und sah mich mit ernsten Augen an.

„Mir ist ein Reh ins Auto gelaufen“, erklärte Lasse. „Es lebt, aber …“

„Lasse konnte nichts dafür“, unterbrach ich ihn schnell. „Er drosselte nach dem Warnschild das Tempo und fuhr wirklich ganz langsam …“

„Und das soll ich euch glauben?“ fragte Doktor Södergren und schaute uns über den Rand seiner Brille mißtrauisch an. „Warum ist das Reh dann verletzt? Ihr hättet doch bremsen oder ausweichen können.“

„Das habe ich ja auch versucht“, erwiderte Lasse. „Aber der Wagen kam ins Rutschen, als ich auf die Bremse trat. Spiegelndes Glatteis.“

„Also doch zu schnell gefahren“, entschied der Tierarzt.

Er hatte natürlich recht.

Weitere Erklärungen waren zwecklos. Wir machten ein zerknirschtes Gesicht und gingen gemeinsam hinaus. Lasse und sein Onkel trugen das arme Reh behutsam in die Praxis.

„Die Wunde muß ich gleich nähen“, stellte Doktor Södergren fest, während er das Reh untersuchte. „Ihr habt die Arterie gut abgebunden. Auch die gebrochenen Läufe sind fast perfekt geschient. Unter den gegebenen Umständen hätte ich es nicht besser machen können. Wer von euch beiden war denn der Wunderdoktor?“

Ich errötete, als Lasse mich lobte, und murmelte etwas wie: … doch ganz einfach … selbstverständlich …

„Wird das Rehlein wieder laufen können?“ fragte ich dann und streichelte den kleinen, zitternden Körper.

„Das hoffe ich. Die beiden Brüche sind unkompliziert. Das Tier ist nur durch den Blutverlust ziemlich geschwächt. Aber wenn es Nahrung annimmt, kann es in zwei bis drei Monaten wieder durch die Wälder springen.“

Lasses Onkel zog zwei Spritzen auf. „Die eine ist gegen Wundstarrkrampf und die andere ist eine Betäubungsspritze“, erklärte er. „Und nun macht, daß ihr verschwindet. Ich kann euch hier nicht gebrauchen. Und nehmt vor allem Goldie mit.“

Goldie protestierte heftig, als Lasse sie am Halsband auf den Hof hinauszog.

„Komm, Goldie. Komm mit in den Stall“, sagte Lasse. „Ich muß Cayenne füttern.“

„Was für ein riesiger, alter Stall“, staunte ich. Ich erwartete mindestens zwanzig Pferde darin zu finden. Aber nur eine einzige Box war bewohnt. Cayenne wieherte zur Begrüßung. Ich sprach mit ihm und klopfte ihn freundlich, während Lasse Futter holte.

„Onkel Jonas hat sein ganzes Leben davon geträumt, auf dem Land zu leben“, erzählte Lasse und öffnete einen Ballen Heu. „Jetzt möchte er sich gern Pferde anschaffen. Er findet es jammerschade, daß der Stall so leer steht. Wer weiß, vielleicht kauft er im Frühjahr ein paar Stuten.“

Ich setzte mich auf einen alten Hocker und dachte wieder an Siboney, meine kleine Stute. Würde ich je ein eigenes großes Pferd besitzen?

„Was hast du, Britta?“ fragte Lasse besorgt und legte eine Hand auf meine Schulter. „Geht es dir nicht gut?“

„Doch, doch“, antwortete ich ausweichend. „Ich bin nur ein bißchen müde.“

„Wir gehen gleich zu meiner Tante und stärken uns mit Kaffee“, schlug Lasse vor.

„Wie alt ist eigentlich das Rehlein?“ fragte ich, um mich abzulenken und nicht mehr an Siboney zu denken.

„Soviel ich weiß, werden Rehe Anfang Juni geboren“, überlegte Lasse. „Es muß also ungefähr ein halbes Jahr alt sein.“

„Es sah noch so klein und hilflos aus“, seufzte ich. „Ich möchte oft kommen und euch bei der Pflege helfen.“

„Darüber wird sich mein Onkel bestimmt freuen. Ich natürlich auch“, lachte Lasse. „Und das Rehlein hat sich sowieso schon an dich gewöhnt.“

„Sicher gibt es eine Unmenge alter, aufregender Dinge auf diesem Hof“, überlegte ich.

„Und ob“, versicherte Lasse und brachte Cayenne frisches Wasser. „Du solltest nur den Wagenschuppen sehen. Er quillt über von abenteuerlichem Gerümpel. Ich zeige ihn dir mal bei Tageslicht.“

Das brachte mich auf eine Idee.

„Habt ihr vielleicht auch irgendwo einen alten Schellenkranz? So einen, wie man ihn früher den Pferden umhängte? Wir hätten so gern einen für unseren Luciazug.“

„Schon möglich“, meinte Lasse. „Ich werde morgen ein bißchen kramen. Vielleicht haben wir Glück …“

Der dampfende Kaffee erweckte uns zu neuem Leben, und die Bratäpfel schmeckten köstlich. Für einen Augenblick vergaßen wir sogar die Frage, die die ganze Zeit in unseren Köpfen spukte: Was würde Dr. Södergren zu seinem zerbeulten Auto sagen? Selbst im Stall hatten wir es vermieden, über dieses Thema zu sprechen.