Broken Souls and Bones - Feind. Beschützer. Geliebter. - LJ Andrews - E-Book

Broken Souls and Bones - Feind. Beschützer. Geliebter. E-Book

LJ Andrews

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Beschreibung

Was ist tödlicher: ihre Magie oder seine Liebe?
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Das Knochenwirken ist eine Kunst, die im Königreich Estra nur wenige beherrschen. Denn der magiebesessene König hat es auf alle abgesehen, die Knochen heilen – oder zerstören – können, und zwingt sie in seinen Dienst. Lyra ist es gelungen, sich vor den Schergen des Königs zu verbergen. Bis Roark, der Meuchelmörder der Krone, sie entlarvt. Lyra muss aus der Gefangenschaft entkommen, und das gelingt nur, wenn sie den Mann für sich gewinnt, der sie hinter Gittern gebracht hat. Doch warum spricht Roark kein einziges Wort? Zusammen werden Lyra und Roak das Reich heilen oder zerstören ...

Enemies-to-Lovers trifft auf nordisch inspirierte Mythologie: Der neue Romantasy-Roman von SPIEGEL-Bestsellerautorin LJ Andrews!

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Seitenzahl: 659

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Das Knochenwirken ist eine Kunst, die in den drei Königreichen nur wenige beherrschen. Denn der magiebesessene König hat es auf alle abgesehen, die Knochen heilen – oder zerstören – können, und zwingt sie in seinen Dienst. Lyra ist es gelungen, sich vor den Schergen des Königs zu verbergen. Bis Roark, der Meuchelmörder der Krone, sie entlarvt. Lyra muss aus der Gefangenschaft entkommen, und das gelingt nur, wenn sie den Mann für sich gewinnt, der sie hinter Gitter gebracht hat. Doch warum spricht Roark kein einziges Wort? Zusammen werden Lyra und Roak das Reich heilen oder zerstören …

Autorin

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin LJ Andrews ist bekannt für ihre düsteren Romantasy-Sagas »The Broken Kingdoms«, »The Ever Seas« und »Broken Souls and Bones«, die auf TikTok zum Bestseller-Phänomen geworden sind und millionenfach gelesen werden. LJ Andrews liebt dunkle Welten, die von unbeugsamen Love-Interests bevölkert werden. Wenn LJ Andrews nicht schreibt, hält sie ihre vier Kinder im Zaum, verbringt Zeit mit ihrem heißen Ehemann oder wandert durch die Berge von Utah.

Von LJ Andrews bereits erschienen

The Broken Kingdoms: Curse of Shadows and Thorns · Court of Ice and Ash · Crown of Blood and Ruin

LJ ANDREWS

Broken Souls and Bones

Feind. Beschützer. Geliebter.

Roman

Deutsch von Maike Claußnitzer

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Broken Souls and Bones« bei Ace, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2025 by LJ Andrews

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Ace, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München. All rights reserved.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Susanne Kregeloh

Umschlaggestaltung: Designomicon nach einer Vorlage von Adam Auerbach und unter Verwendung von Bildmaterial von Tomasz Majewsk und Shutterstock/55th

Karte: Alexis Seabrook

BL · Herstellung: fe

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33051-4V002

www.blanvalet.de

Für diejenigen, die nicht zugeben wollen, dass sie sich jedes Mal wünschen, der Angebetete wäre der Schurke. Ich sehe euch.

Prolog

DASWILDEGEBELLDERJAGDHUNDE des Königs riss sie aus dem Nichts. Nebelschwaden schlängelten sich um knorrige Äste, und der Schmerz der nachwirkenden Hitze der Flammen brannte noch in ihren Augen.

»Halt sie geschlossen.« Lederumwickelte Finger strichen über ihre Wimpern. »Lass niemanden das Silber in deinen Augen sehen, Mädchen. Verstanden?«

Die Stimme war heiser und rau, älter als ihre, aber nicht so tief wie die ihres Vaters.

»Wenn wir geschnappt werden, sind wir tot. Vielleicht hätten wir es nicht tun sollen.« Eine neue Stimme, die eines Jungen, die noch so unreif war, dass sie brach und quietschte, unsicher, ob sie schon die Tonlage eines Mannes oder noch die eines Kindes haben sollte.

»Still. Wir sind jetzt hier, und wir ziehen es durch«, blaffte die erste Stimme. »Ab mit dir in die verdammten Schatten und mach dich klein. Los. Los.«

Ein bockiger Protest der zweiten Stimme folgte, aber am Ende verklang das Scharren von Stiefeln zwischen dem Dorngestrüpp des Waldes und verlor sich im Nebel. Das Mädchen verlagerte seine Haltung und wimmerte. Die Muskeln taten vom Laufen weh. Ihre Mutter hatte ihr gesagt – nein, sie angeschrien –, dass sie weglaufen und nicht zurückblicken sollte.

Stricke hielten sie fest, als sie sich bewegte und versuchte, sich loszureißen, auf einmal verzweifelt darauf bedacht, ihre Familie zu finden.

Durch die Benommenheit in ihrem Verstand hindurch erinnerte sie sich an das grausame Geräusch der Tür, die gegen die Wand krachte, die eisernen und bronzenen Klingen, die die Luft durchschnitten, nach Fleisch suchten, das sie zertrennen konnten. Sie erinnerte sich an die Schreie und an Blut.

So viel Blut.

»Hör auf zu zappeln, götterverdammt.«

Sie erstarrte. Die Stricke, die sie gefesselt hielten, waren Arme. Und ihre Wange war an kaltes Leder gepresst, das nach Asche und Schweiß und dem beißenden Waldnebel stank.

Unter einer dunklen Kapuze verborgen, konnte sie ein stoppelbärtiges Kinn ausmachen. Nicht mit langen Doppelzöpfen und Knochenperlen wie bei ihrem Vater, aber der Schatten eines Barts war da.

Sie wollte schreien, den Mann anflehen, ihr nichts anzutun. Er trug Lederriemen für Messer und Waffen über den Schultern, ganz so wie die Plünderer, die ihr Dorf niedergebrannt hatten. Die Angst erstickte ihr Flehen zu nichts als einem heiseren Wimmern.

»Kein Wort, Mädchen«, flüsterte er, und sie spürte, dass sie auf den Waldboden gelegt wurde. Brombeerranken und kleine Kieselsteine stachen ihr in den Rücken. Sie versuchte, sich anders hinzulegen, aber die lederumwickelten Finger schlossen sich um ihr Kinn, drückten ihren Kopf in den Nacken. »Das hier wird brennen, aber es wird nicht lange dauern. Gib keinen Laut von dir.«

Ein Zischen drang zwischen den Zähnen des Mädchens hervor, als ein heftiger, brennender Schmerz über seine Kehle zuckte. Durch gesenkte Wimpern beobachtete sie, wie der gesichtslose Mann ein Messer zurückzog. Er murmelte seltsame Worte und strich mit seinen Fingern durch etwas Heißes und Nasses an ihrem Hals.

Sie zitterte, hielt still und hatte Angst, dass er die Schneide der Klinge benutzen könnte, um ihr den Garaus zu machen.

Beim nächsten Atemzug senkten sich ihre Augenlider schwer vor Müdigkeit, und seine kräftigen Arme hoben sie wieder hoch.

Die Furcht, die in ihren Adern brannte, verblasste zu etwas Sanfterem, etwas Ruhigem. Stark genug, dass das Mädchen glaubte, in einen tiefen Schlaf fallen zu können.

Bis sie spürte, dass sie weitergereicht wurde, in andere Arme, dicker und übelriechender.

»Wird sie reden?« Das rauchverbrannte, heisere Raunen einer neuen Stimme durchbrach die Dunkelheit.

»Ich habe sichergestellt, dass sie sich an kaum etwas aus dieser Nacht erinnern wird. Sorge du dafür, dass sie von anderen vergessen wird.«

»Für das, was du zahlst, begrabe ich sie auch im Reich der Seelen, wenn du willst. Die hier wird nicht gefunden werden. Du hast mein Wort.«

Ihr Puls raste, ihr Verstand geriet in Panik, aber ihr Körper hielt still, als schwere Schritte über Holz stapften. Irgendwo unter allem lagen das Anbranden der Gezeiten, der Geruch von Salzwasser und verfaulenden Schuppen.

Mit einem Ächzen und einem nach Rauchkräutern riechenden Ausatmen in ihr Gesicht wurde sie neben Tauwerk und feuchte Stoffe gelegt.

»Du bist vom Glück begünstigt, kleines barnon.« Der Mann sprach in der gemeinen Zunge, einem Dialekt, der überall in den drei Königreichen und jenseits der Nachtklippen, wo wilde Leute keinen König hatten, geläufig war. Bestimmt war er ein Gezeitenläufer, eine Seele, die kein Land hatte, das sie ihr Eigen nennen konnte. »Sie hätten dir die dürre kleine Kehle herausreißen können.«

Seine dumpfen Schritte stapften über Holzplanken – ein Langschiff – sie war auf einem Schiff.

Nein, sie konnte nicht fort. Es gab Leute, die sie zurückließ. Aber … wen?

Als würden ihr die dichten Nebel des Waldes in den Schädel dringen, konnte sie sich nicht an die verblassenden Gesichter in ihrem Geist erinnern. Es war nur ein Gefühl, eine Empfindung, dass sie etwas – jemanden – vergaß.

Bevor die Last der Erschöpfung sie wieder in einen tiefen Schlaf fallen ließ, sah sie einen dunkel gekleideten Mann am Rand des Wassers stehen und hinter ihm Flammenschein.

Auf der Brust seines Lederwamses prangte ein doppelköpfiger Rabe. Das Emblem von Dravenmoor – dem feindlichen Königreich. Dem Land, das die Plünderer geschickt hatte.

Bei den Göttern, sie hatten sie gefunden, und der Fluch in ihren Augen hatte schließlich ihre ganze Welt zerstört.

1  Roark

DERTODDESJUNGENWARMEINESCHULD.

Uther wurde vor Anbruch der Morgendämmerung unweit der Steinmauern der königlichen Festung mit dem Gesicht nach unten im Fluss gefunden. Ein neuer Stav-Gardist in der Einheit, die meiner Obhut anvertraut war, bloß ein Junge von achtzehn Jahren. Die Leiche war in der Mitte aufgerissen, die Brust zerfleischt, die Rippen geborsten wie ein aufgesprungenes Gänseei.

Man hatte ihn zu früh in die Halle der Götter in Salur geschickt.

Der flache Karren, auf dem der Leichnam des jungen Gardisten lag, rollte an einer Reihe reglos verharrender Stav vorbei. Die Palastheilerin hatte sein zu Brei zerschlagenes Gesicht, das von der Nacht im Wasser blau gefärbt war, mit einem Tuch bedeckt, doch als ein Rad über einen Stein im Weg holperte, verrutschte der Stoff.

Ich ballte die Fäuste; meine Fingernägel drangen in meine schwieligen Handflächen.

Uthers blasse Augen standen weit offen, zu starr, um geschlossen zu werden, und stierten mit einem Ausdruck von Furcht die Mittagssonne an. Blutspritzer bedeckten seinen Hals, seine Lippen, seine zerfetzte schwarze Stav-Tunika.

»Dravener«, flüsterte ein schlaksiger Stav-Gardist einem anderen zu. »So muss es sein. Uther war Knochenwirker.«

Ich schloss die Augen und verabscheute die Wahrheit, die in diesen Worten lag.

Geschichten über verschiedene Arten magischen Wirkens fanden sich in den Sagas über den ersten König, den Wanderer, der eine Tochter der Götter gerettet hatte. Zur Belohnung hatte der Wanderer einen Anteil an den drei Mitteln der Macht der Götter erhalten, um sein neu gegründetes Königreich zu stärken: Knochen, Blut und Seele.

Die meisten in den Reichen Stìgandr hielten die Geschichten für bloße Märchen, aber das magische Wirken gab es tatsächlich.

Knochenwirken formte Knochen zu Klingen, die so gut wie unzerbrechlich waren. Es stellte Heilelixiere aus Pulver und Gifte aus ausgekochtem Knochenmark her. Blutwirken nutzte Blut für Zaubersprüche und Runenmagie. Seelenwirken entzog den Toten Kraft und war in Dravenmoor, dem Königreich jenseits der Schluchten, die gängigste magische Veranlagung.

Die Dravener verabscheuten König Damir aus dem Hause Oleg, den König von Jorvandal, und behaupteten, er würde auf Zauberwirken zurückgreifen, um seine Krieger und Rüstkammern auf verwerfliche und verbotene Art zu stärken.

Ich hätte nicht unbedingt behauptet, dass sie unrecht hatten, aber das linderte nicht den in meinem Blut tobenden Zorn darüber, dass ein Junge allein dafür abgeschlachtet worden war, dass er seine Pflicht erfüllt hatte.

»Wenn ich könnte, würde ich jeden verdammten Dravener auf einem Spieß verbrennen«, verkündete der Gardist.

Der andere Stav zischte ihm zu, still zu sein, und sein Blick suchte mich – ein Dravener und ihr Vorgesetzter.

Meine Blutlinie entstammte dem feindlichen Königreich, aber meine Treue gehörte Jorvandal, seit ich vor den Toren der Festung vor einem Dutzend Winter vermeintlich tot zurückgelassen worden war.

Aber für einige, sogar für meine eigenen Männer, würde ich immer ihr Feind bleiben.

Meine Schritte knirschten im Kies, als ich durch den Türbogen der Stav-Quartiere eilte, eines Langhauses, das darauf ausgelegt war, Dutzenden von Männern Platz zu bieten.

Im großen Saal erstarben die Flammen in der Feuerstelle im Winkel schon zu glühenden Kohlen, und Trinkhörner mit dünnem Honigmet lagen noch aus den letzten Nächten voller Ausschweifungen unbeachtet herum. Stav in Ausbildung hatten die kalten Monate in Steintor verbracht, aber nach dem Feiern waren sie zu ihren Familien und in ihre Dörfer überall im Königreich zurückgekehrt, um auf Befehle des Königs zu warten.

Ein paar jüngere Stav kamen schwankend auf die Beine und versuchten, Haltung anzunehmen, um mich zu grüßen. Ich hätte sie tadeln können, weil sie nicht für ihren gefallenen Bruder Spalier gestanden hatten, aber nach dem Hauch von Grün in ihren Gesichtern und ihren geröteten Augen zu urteilen, hätten sie es vielleicht einfach nicht ertragen können.

Ich ignorierte ihre gemurmelten Grüße und ging weiter in die größeren Gemächer, die den Stav-Offizieren vorbehalten waren. Mein Quartier war eher ein ganzer Gebäudeflügel: eine Bibliothek mit Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und ein Waschraum. Ich verriegelte die Tür hinter mir und legte den Weg zum Waschraum in zehn langen Schritten über den Webteppich zurück.

Längs der gezackten Narbe, die über meine Brust und meine Kehle bis zu meinem Kiefergelenk verlief, spürte ich einen tosenden Schmerz, als hätte ich den heulenden Zorn des Meeres verschluckt.

Galle stieg in meinem Oberkörper hoch, und ein grausiger Schatten legte sich über meinen Blick.

Ich umklammerte die tönerne Waschschüssel und atmete scharf und tief durch.

Gewalt war mir nicht fremd, aber es wurde immer schwieriger, den Blutdurst in Zaum zu halten. Ich war der Wächter von Steintor, und der Wächter sollte das unerschütterliche Maß aller Dinge in Sachen Beherrschung sein.

In diesem Moment wollte ich ein schrecklicheres Monster sein als diejenigen, die Uther abgeschlachtet hatten.

Die Hitze verging allmählich, und der Sturm in meinem Kopf ließ nach. Ich schöpfte mit der hohlen Hand eiskaltes Wasser aus der Schüssel und spritzte es mir ins Gesicht; dann kehrte ich ins Zimmer zurück.

»Du, mein Freund, hast einen ganz erbärmlichen Magen. Der Anblick von Tod und Blut bringt dich zum Kotzen? Also wirklich, was für einen Königlichen Leibgardisten habe ich mir da ans Bein gebunden?«

So erschrocken ich auch war, dass jemand in meinem Zimmer war, ich ließ es mir nicht anmerken.

Da drüben, auf meinem Bett lümmelnd, die Knöchel übereinandergeschlagen, grinste Prinz Thane der Kühne mich an und war sich höchstwahrscheinlich bewusst, dass ich mich gerade selbst gescholten hatte. In meiner Hast, den Waschraum zu erreichen, war ich so töricht gewesen, mein Gemach nicht zu überprüfen.

Ich runzelte die Stirn, was sein Grinsen nur noch breiter werden ließ.

Du bist ein Arsch und gehörst in eine der Höllen. Meine Finger bewegten sich zur Antwort schnell, aber Thane konnte sogar meinen hastigsten Gebärden folgen, seit er mich vor der Festung gefunden hatte, blutüberströmt und gebrochen, meine Stimme genauso aus mir herausgeschnitten wie mein Platz in meinem Clan.

»Wirklich?« Der Prinz lachte leise. »In welche, die geschmolzene oder die gefrorene?«

Beide. Was, wenn ich ein Messer in der Hand hätte?

»Roark, mein ältester, liebster, furchterregendster Freund, die bessere Frage ist doch, warum du dein Messer nicht in der Hand hattest. Du wirst nachlässig, Wächter.«

Ich schüttelte den Kopf und ging zu einem Servierwagen, auf dem ein Krug mit altem Wein neben einigen Trinkhörnern stand. Ich füllte nur eines der Hörner, als Thane mit einer Hand abwinkte und mein Angebot ausschlug.

»Spaß beiseite«, sagte Thane und schwang die Beine über die Bettkante. »Du nimmst dir diesen Todesfall zu sehr zu Herzen.«

Er war mir anvertraut.

»Roark.« Thane seufzte. »Mach dir keine Vorwürfe wegen der Taten dieser Dreckskerle. Es ist nicht deine Schuld.«

Das war es aber. In vielerlei Hinsicht war der Tod des jungen Stav allein meine Schuld.

Wir wissen nicht, warum er getötet worden ist, sagte ich.

»Wir werden es herausfinden, und der Schuldige wird dafür bezahlen.«

Ich nutzte eine Hand, um zu antworten. Warum bist du hier? Zwingt deine Mutter dich nicht, deine Hochzeit zu planen?

»Wahrscheinlich wird es keine Hochzeit geben, wenn Stav-Gardisten abgeschlachtet werden.« Thane zuckte zusammen. »Entschuldige, du bist verzweifelt, und ich gehe so achtlos mit meinen Worten um! Gestatte mir, es noch einmal zu versuchen. Ja, es ist mir gelungen, meiner Mutter zu entkommen, aus dem Palast zu fliehen wie ein ängstliches Kind und stattdessen dich zu besuchen.«

Ich stieß einen Atemzug aus, ein leises Lachen.

Thane war ein Kriegerprinz durch und durch, von dem goldenen Haarkamm, der geflochten über die Mitte seines Kopfes verlief, bis zu den Knochen, die er durchs Ohr gestochen trug. Er war unwesentlich größer als ich; dabei war ich kein kleiner Mann. Aber die knochige Königin Ingir und ihre endlosen Feste waren genug, um jeden Mann in die Flucht zu schlagen, wenn er nicht in den Wahnsinn rund um importierte Satin- und Seidenstoffe und die verschiedenen Geschmacksrichtungen der Füllungen mit Zuckerguss überzogener Kuchen hineingeraten wollte.

»Ich komme aus einem bestimmten Grund.« Thane griff in seine Hosentasche und zog ein zerfleddertes, gefaltetes Pergament daraus hervor. »Du hast von Jarl Jakobson gehört, oder?«

Dem Jarl, der besessen davon ist, die Gunst des Königs zu erlangen?

Thane stieß mit dem gefalteten Papier in die Luft zwischen uns. »Genau dem. Er hat eine recht interessante Entdeckung gemacht.«

Der Prinz reichte mir die Nachricht. Ich las sie einmal, dann ein zweites Mal. Thane lächelte nicht mehr.

Meine Finger gestikulierten schnell. Jakobson ist sich sicher?

»Anscheinend haben die Blutzauber meines Vaters endlich gewirkt.«

König Damir konnte nicht behaupten, dass die Blutaufspürzauber sein Verdienst waren, denn die Blutwirkerin in der Burg war die Königin. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte.

Vor vielen Jahresläufen hatte König Damir im Haus der vermissten Wirkerin vergossenes Blut einsammeln lassen. Kam nun eine Seele aus derselben Blutlinie in die Nähe, spürten die Blutwirker es. Die Zauber des Königs zwangen jedes Dorf, einen von ihm eingesetzten Blutwirker innerhalb seiner Grenzen zu dulden.

All das, um das Kind zu finden, das verschwunden war. Ein Kind war den Überfällen entkommen, ein Kind, wegen dessen magischer Kraft sich drei Königreiche gegen ein kleines Dorf in den Hügeln gestellt hatten.

Von dem jetzt nichts mehr übrig war.

»Aber es gibt eine Schwierigkeit«, riss Thane mich aus meinen Gedanken und ging vor meiner Tür auf und ab. »Jarl Jakobsons Blutwirkerin hat die Frau an Kundschafter der Dravener Düsterwache verraten.«

Also erwähnen die Nachrichten eine Frau? Das Kind, das hatte entkommen können, war angeblich ein Mädchen gewesen, ein Grund mehr für Könige und Königinnen, aus Gier und Blutdurst nach ihm zu suchen. Irgendeine Haussigille?

In den Königreichen war es üblich, einem Kind spätestens in seinem ersten Sommer unter dem linken Ohr ein Mal zu tätowieren, ein Symbol der Abstammung und der Heraldik der Häuser und Clans.

Eine von Thanes Augenbrauen wölbte sich. »Die wurde angeblich manipuliert. Einige der Runen sind später hinzugefügt worden, damit sie ein Mal der Namenlosen ergeben. Merkwürdig, findest du nicht auch?«

Wenn man ein seltenes Wirken verbergen wollte, wäre es das Klügste gewesen, einer Haussigille Tinte hinzuzufügen, bis sie wie das Symbol für Waisen und Wanderer aussah – Leute ohne Clans oder Hausabstammung.

»Der Jarl hat die Korrespondenz zwischen der Blutwirkerin und dem Kundschafter entdeckt«, erklärte Thane. »Natürlich will Jakobson jetzt eine Belohnung dafür, dass seine Siedlung diejenige ist, die das verlorene Zauberwirken wieder ans Tageslicht geholt hat.«

Der Prinz ging zu dem hohen Bogenfenster und sah auf den fernen Wald, der sich jenseits der Mauern erstreckte. »Mein Vater hat immer vermutet, dass die Meldung vom Tod des Mädchens eine List war. Du weißt, dass er deshalb jede Jarlschaft gezwungen hat, einen Blutwirker seine Zauber wirken zu lassen. Nach all der Zeit erweist sich nun, dass er recht hatte. Eine Vereinigerin ist vor dem König versteckt worden. Eine Frau.« Thane schüttelte den Kopf. »Die erste seit fünfhundert Wintern, Roark. Du weißt, wozu das führen wird.«

Krieg, war alles, was ich mit einer Gebärde zur Antwort gab.

Wenn dieser Bericht tatsächlich der Wahrheit entsprach, würden neue Schlachten von den Roten Schluchten von Dravenmoor bis zu den kleinen Meeren des Königreichs Myrda toben.

Damir würde niemandem gestatten, ihm seine Beute wieder zu nehmen, und die Königin von Dravenmoor würde zurückkehren, um Vergeltung für den Verlust zu üben, den sie während jener Überfälle vor so langer Zeit erlitten hatte.

Einen Vereiniger zu finden, gelang vielleicht einmal pro Generation, und noch seltener fand sich dessen Kraft im Blut einer Frau. Es war ein Zusammenfließen aller drei Arten des Wirkens – gefährlich, begehrt und durch Verträge, die vor langer Zeit geschlossen worden waren, im Besitz der jorvanischen Könige.

»Ein Kriegsrisiko besteht in der Tat. Deshalb wirst du in dieses Dorf Skalfirth gehen.« Thane lachte leise, als ich den Mund zusammenpresste. »Der König hat bereits in die Wege geleitet, dass Baldur dich begleitet. Was hast du Bastard für ein Glück.«

Ein leises Stöhnen entschlüpfte meiner Kehle. Baldur der Fuchs war so gerissen wie sein Name, brutal, aber ein verdammt tüchtiger Stav.

Wir hatten uns schon als Jungen gemeinsam im Waffengebrauch geübt, aber seit ich ihn in der Beherrschung der Klinge überflügelt hatte, hegte er einen Groll gegen mich. Mein Rang in der Stav-Garde als Thanes Wächter machte mich zur Klinge des Prinzen, zu seinem Beschützer. Er verlangte mir ab, alles zu tun, um zu verhindern, dass das königliche Blut in seinen Adern vergossen wurde – sogar, zum Mörder in den Schatten zu werden. Der Wächter war kein echter Anführer der Stav des Königs, wenn nötig eher ein Meuchelmörder und Schläger. Dennoch unterstand ich aufgrund meiner Stellung Thanes Befehl und nicht dem des Königs.

Baldur hatte den Abend nach meiner Rangerhöhung damit zugebracht, mich betrunken zu verspotten, als hätte ich enttäuscht sein sollen.

Als wäre ich nicht genau dort eingesetzt worden, wo ich sein wollte.

»Ich wünschte, ich könnte dabei sein«, sagte Thane. »Aber angesichts der Angriffe bezweifle ich, dass man mir je wieder gestatten wird, Steintor zu verlassen. Nicht, solange mein Vater keinen weiteren Sohn zeugt, aber leider müsste meine Mutter ihren Ehemann in ihr Bett lassen, damit das geschieht.«

Sobald die Worte aus seinem Mund heraus waren, hielt der Prinz inne und schauderte.

Was erwartet der König von uns, falls sich bestätigt, dass die verlorene Vereinigerin am Leben ist? Ich gebärdete die Frage langsam und ahnte schon die Antwort.

»Kümmere dich erst um die Verräterin, die sie denunziert hat, und wende dann deine bewährten Methoden an, um die Vereinigerin nach Hause zu bringen, Roark.« Thane senkte die Stimme. »Mir ist bewusst, dass du das Wirken der Vereiniger nicht immer zu schätzen weißt, aber du musst zugeben, dass sie ihren Nutzen haben, um die Sicherheit unseres Volkes besser zu gewährleisten.«

Fraglich. An meinem Kiefer zuckte ein Muskel.

Thane lachte leise und ließ eine Hand auf meiner Schulter ruhen. »Der König plant, die Patrouillen zu verstärken und seine Zeremonien an privateren Orten abzuhalten. Und das ist das andere, worauf es ankommt: Nur handverlesene Stav werden dich begleiten, Gardisten, die Stillschweigen geschworen haben. Sie werden nicht über das sprechen, was ihr in diesem Dorf vorfindet.«

Es spielte keine Rolle, wie sehr der König das Wirken hinter den Mauern der Festung verborgen zu halten versuchte. Blut und Tod fanden Vereiniger immer.

Die Magie, die durch die Adern eines Vereinigers strömte, brachte Gräuel hervor, die Seelen und Körper verdorben, verwandelt und böse zurückließ.

Zur letzten Erntezeit war Fadey, der persönliche Vereiniger des Königs, abgeschlachtet worden. Sein Tod hatte bei mir nichts als Erleichterung ausgelöst. Ich hatte geglaubt, es könnte endlich einmal Frieden herrschen, wenn es das Vereinigungswirken nicht mehr gab.

Bei den Göttern, fast hatte ich mir sogar gestattet, die letzten Kriege zu vergessen, den Gedanken an die Leben zu verdrängen, die der Versuch gekostet hatte, eines kleinen Mädchens mit Silber in den Augen habhaft zu werden. Vielleicht hatte ich gehofft, die Nornen des Schicksals hätten schon dessen Lebensfäden abgeschnitten und es nach Salur gesandt.

Oder vielleicht in eine der beiden Höllen, damit es dort verbrannte oder erfror.

Jetzt würde zweifelsohne wieder Blut vergossen werden.

»Wir gehen diskret vor, solange wir können. Wir wollen nicht noch einen Überfall«, sagte Thane sanft und leise.

Ich schloss die Augen, um die Erinnerungen an ferne Schreie, Rauch und brennendes Fleisch loszuwerden.

Kein Königreich war ohne Verluste davongekommen. Thane hatte seine Onkel verloren. Das kleinere Königreich Myrda hatte seinen loyalen Seneschall und die Neffen der Königin verloren.

Ich – ich hatte mein Heimatland und meine Stimme verloren.

»Ihr sollt beim ersten Tageslicht aufbrechen«, sagte Thane und klopfte mir mit einer Hand auf die Schulter. »Sei vorsichtig, mein Freund. Diese Frau wird nicht Fadey sein. Es wäre mir zuwider, würde sie dein dunkles Herz bezaubern.«

Ich schnaufte spöttisch. Sollte sie das versuchen, würde ich ihr die Kehle durchschneiden. Ich habe für Vereiniger nichts übrig, und das wird sich nie ändern.

2  Lyra

MANHATTEMIREINSTERZÄHLT, DASSWIREINEANDERESEELE erst dann wirklich kennenlernen, wenn wir die Dunkelheit sehen, die sie in sich trägt. In diesem Moment sah ich in die Augen des Bösen.

Ich blinzelte und hoffte, dass der Dreckskerl einen Hauch der silbernen Narbe sehen konnte, die den dunklen Mittelpunkt meiner Augen verformte, eine Warnung, dass er sich seine nächsten Schritte lieber gut überlegen sollte. Pukki tat nichts weiter, als auf einem Grasklumpen herumzukauen.

»Beweg dich.« Ich zog an dem Strick, den der Ziegenbock um den Hals trug.

Ein lethargisches Meckern folgte, und er senkte den Kopf, um weiterzugrasen. Ich streckte eine Handfläche aus, als würde Pukki die Drohung verstehen, und flüsterte: »Ich könnte dich vernichten, du dummes Viech.«

Mehr Kauen, mehr Meckern.

Ich warf den Kopf in den Nacken und verfluchte den Himmel. »Na gut. Bleib hier, du verdammter Teufel, aber geh nirgendwohin, bis ich fertig bin.«

Ich stapfte den schmalen Pfad hinauf zu dem kleinen Obstgarten voller Sternpflaumen. Die Früchte hatten eine blasse Außenhaut, die im Licht des Sonnenaufgangs glänzte, und wenn man sie aß, war ihr Inneres scharlachrot, dunkler als Blut.

Unter den Bäumen stand ein Karren, auf dem sich Körbe stapelten – ohne Ziegenbock als Zugtier.

Ich starrte Pukki böse an. Er kaute träge, während er die Ohren spielen ließ, ein wenig neugierig, warum ich weggegangen war, aber auch wieder nicht neugierig genug, um mir zu folgen.

Ich zog ein Fläschchen aus der Tasche meines Sackleinenkittels. Ich hatte mir die Augen in der Absicht ausgespült, dem dummen Tier mit meinen Narben Angst zu machen, aber es hatte keinerlei Selbsterhaltungstrieb. Den Kopf schief gelegt, träufelte ich etwas von der tintenartigen Flüssigkeit in beide Augen und zuckte unter dem heißen Brennen zusammen.

Dornblüten waren wunderschöne Blumen, die an der Küste wuchsen und oft genutzt wurden, um Tuniken und Wolle zu färben. Bei mir verbarg der Saft der zerdrückten Blüten die silbernen Narben in meinen Augen hinter einer dunkelvioletten Lüge.

Schön, aber die Blütenfarbe brannte, als würde einem heiße Asche ins Gesicht geworfen.

Die Zeit, bevor die Narben erschienen waren, war in meinem Verstand in einem Nebel verloren, ein Leben, an das ich mich nicht recht erinnern konnte.

Es gab schwache, vage Erinnerungen an Gelächter und warme Arme und einen dichten, in zwei Zöpfe geteilten Bart. Manchmal träumte ich von der sanften Stimme einer Frau, die mir ein Lied über verlorene Seelen vorsang.

Wann immer ich von der Nacht voller Rauch und Schreie träumte, sah ich, unmittelbar bevor ich erwachte, Augen wie einen Sonnenaufgang die Schatten durchbrechen.

Die ersten Erinnerungen, von denen ich mit Gewissheit sagen konnte, dass sie echt waren, setzten zwischen den kalten Wänden eines Hauses ein, das für verlassene oder verwaiste Kinder bestimmt war. Holzlatten, die von goldenem Moos und seidigen Spinnweben in den Ecken überzogen waren, schenkten mir ein Dach über dem Kopf und ein Bett. Dort lernte ich, dass das Silber, das meine Augen spaltete, ein grausamer Fluch war.

Gammal, die runzlige Magd, deren Wirbelsäule sich wie ein abgerundeter Hügel wölbte, war die Erste, die etwas bemerkte. Ich werde nie vergessen, wie hektisch sie ihre knotigen, krummen Finger bewegt hatte, als sie mir beigebracht hatte, die Blütenblätter der Blumen zu zerstoßen, bevor sie mir deren Saft mit Gewalt auf meine Wimpern geträufelt hatte.

Sie hatte auf den Handgelenken schöne, verschlungene Tintentätowierungen, die durch die Sonne und über die Jahresläufe verblasst waren.

»Die Male des Ungebundenen Volks«, hatte sie mir erklärt. »Unsere Kleinen bekommen erste Zeichen, mit denen die Saga ihrer Verdienste einsetzt. Meine Clanangehörigen waren oft zur Gänze davon bedeckt, wenn sie dann bereit waren, ins Reich der Seelen einzugehen. Ein bisschen wie eure Hausrunen.«

Instinktiv strich ich mir mit einer Hand über die Tätowierung unter meinem Ohr. Gammal hatte mir geholfen, die Runenzeichen dessen zu verändern, was einst die Sigille eines Hauses namens Bien gewesen war.

Die Clans der Ungebundenen waren Leute jenseits der Felsen der Nachtklippen im Norden. Leute ohne König oder Königin und ohne magisches Wirken. Sie lebten in Hütten und jagten mit Speeren und Steinäxten. Manche behaupteten, dass die Ungebundenen ihre Zähne zu scharfen Spitzen zurechtfeilten.

Gammals Zähne sahen aus wie meine.

Die Frau ließ mich meine eigenen Muster auf ihre runzlige Haut zeichnen, wann immer wir mit unserer Arbeit fertig waren, und sie brachte mir bei, wie ich die silbernen Narben verstecken konnte.

»Nimm das Brennen hin oder den Tod, elskan«, flüsterte Gammal immer, wenn ich über den Schmerz durch die Farbe in meinen Augen jammerte. »Leute hier töten wegen dieser Narben.«

Drei Adern magischen Wirkens durchzogen den Boden der Reiche, alle auf ihre Art brutal und wunderschön zugleich. Aber das Silber in den Augen war der Beweis dafür, dass der Fluch des Wandererkönigs im Blut mit der Macht von allen dreien brannte. Einer Macht, die so begehrt war, dass sie Kriege auslöste.

Zweimal bekam ich den Vereiniger des Königs zu sehen, als die königlichen Karawanen ins Dorf kamen, fast so, als würden sie nach etwas suchen, ohne es jedoch jemals zu finden. Die Leute sagten immer, er werde so gut bewacht, weil er auch der Geliebte des Königs und nicht nur ein Zauberwirker sei.

Niemand wusste so recht, warum der Vereinigungszauber so heiß begehrt war, nur, dass Vereiniger nie wirklich frei waren.

Gammal führte mich zu dicken Büchern, in denen ich die Geschichte von Kriegen lesen konnte, in denen unser kleines Küstenkönigreich Jorvandal fast ein Jahrhundert lang mit den Landen von Myrda verbündet war, bis es siegreich die Oberhand über Dravenmoor gewann.

Zum Dank für Jorvandals Hilfe heirateten nicht nur gemäß Verträgen und Auflagen Myrdanertöchter stets jorvanische Könige, sondern das Wirken der Vereiniger würde immer Steintor, der königlichen Festung, gehören.

Ich erinnerte mich nicht an den letzten Überfall, bei dem eine neue Vereinigerin gejagt worden war, nur daran, dass er in meinem zehnten Sommer stattgefunden hatte, aber Haus Bien hatte im Zentrum des Blutvergießens gestanden. Ich war nicht töricht. Ich hatte die manipulierten Sigillenrunen, Narben in meinen Augen und reichlich Albträume über düstere Worte, Flammen und Schreie.

Immer Schreie im Dunkeln.

Ich tupfte ein paar Tropfen der Farbe ab, die mir über die Wangen liefen. Bald würden Stav-Gardisten eintreffen, und ihre Anwesenheit zerrte immer kräftig an meinen Nerven.

Ich schüttelte die Hände aus. In der Vergangenheit hatten die Stav der einfachen Frau mit den schmutzigen Fingernägeln und unordentlichen Zöpfen nie Beachtung geschenkt.

Diesmal würde es nicht anders sein.

Ich machte mich zum letzten Baum auf. Wegen ihrer gedrungenen Stämme gehörten die Sternpflaumenbäume zu den am einfachsten zu erreichenden Früchten im Obstgarten, aber jeder dünne, peitschengleiche Zweig war mit den anderen verwoben wie zu einem Spinnennetz, was es zu einem Kampf machte, die Kernfrüchte zu pflücken, ohne blutende Schrammen davonzutragen.

Kalter Nebel wand sich zwischen den hoch aufragenden Espen hindurch wie ein dunstiger Fluss. Es war schwer, jenseits der hohen Holztore des Dorfes viel zu erkennen, aber ich schmeckte, dass sich ein Sturm zusammenbraute: Salzwasser und Rauch mischten sich mit etwas Angstschweiß.

Der Farnwald hielt das Wasser der See zu gut fest, dicht und schwer, sodass ungeachtet der jeweiligen Jahreszeit ständige Feuchtigkeit in der Luft hing.

Prinz Thane der Kühne schickte sich an, die Prinzessin und Erbin von Myrda zu heiraten. Stav-Gardisten trieben sich schon seit Wochen in den Kleinkönigreichen und Dörfern herum, um die Grenzen für die Zeremonie zu sichern.

Skalfirth war ihr letzter Halt.

Die Aussicht ließ Selena, die oberste Köchin im Haushalt des Jarls, in eine Flut von Sprechgesängen und Segenswünschen ausbrechen. Vor der Morgendämmerung hatte sie rasch einen geschnitzten Talisman mit Schutzrunen um meinen Hals gehängt, überzeugt, dass sich, wenn die Garde auf der Landstraße war, Krieger der dravenischen Düsterwache im Wald verstecken würden.

Ich pflückte noch eine Pflaume und überprüfte, ob die Haut auch nicht von Würmern durchbohrt oder von Vögeln angepickt war. Ein Zweig knackte zwischen den Bäumen, sodass sich die Haare auf meinen Armen aufstellten. Das Geräusch von raschelnder Leinwand ging in das Scharren aus Schilfrohr geflochtener Körbe auf den Holzbrettern meines Karrens über.

Dort stand ein Mann, den Kopf von der Kapuze eines dicken wollenen Mantels verhüllt, und wühlte in allen Körben auf meinem unlängst noch von einem Ziegenbock gezogenen Karren herum.

Ich biss die Zähne zusammen, bis sie wehtaten. Er war kein Verheerer aus dem Clan, der dem gefürchteten Skul Drek folgte, einem dravenischen Meuchelmörder.

Manche hatten den Verdacht, dass Skul Drek hinter dem Tod von Vereiniger Fadey steckte.

Aber dieser Mistkerl bewegte sich nicht mit den Schatten oder hockte in den Bäumen, um sein Opfer mit dem Speer aufzuspießen wie ein Verheerer. Er trug eine ausgefranste Kapuze, abgenutzte Stiefel, und sein lautes, ungeschicktes Herumstöbern wies ihn als gewöhnlichen Dieb aus.

Gezwungen, das Geheimnis in meinen Augen seit meiner Kindheit zu verbergen, hatte ich gelernt, recht gut mit einer Klinge umzugehen.

Aus einer Schlinge an meinem Gürtel riss ich ein kleines Schälmesser und ließ es fliegen. Ein dumpfer Aufprall erschreckte den Dieb, als die Klinge in die Seite des Karrens drang. Sogar Pukki hob den gierigen Kopf, um herauszufinden, was das gewesen war.

Hastig sammelte ich eine aussortierte Pflaume vom Boden auf und warf sie. »Glaubst du etwa, du kannst uns bestehlen?«

Ein heiseres Ächzen ertönte unter der Kapuze hervor, als die Pflaume sie von der Seite traf.

In wahnwitziger Hast hob ich Pflaume um matschige Pflaume aus dem Gras auf und schleuderte sie eine nach der anderen auf den Dieb, wobei ich mich mit jedem Schritt dem Karren weiter näherte. Pflaumen mit Druckstellen trafen seine Schultern, seine Hüften, seine Beine und hinterließen süßlich riechende Streifen aus Säften und dünnem Fruchtfleisch überall auf seinem Umhang.

Der Dieb beschirmte seinen Kopf mit den Armen. Als er sich umwandte, bereit, zurück zwischen die Bäume zu flüchten, traf eine letzte Pflaume seine Stirn. Ein leises Zischen drang zwischen seinen Zähnen hervor.

Ich riss am Griff meines Messers, zog es aus der Seite des Karrens und war drauf und dran, es gegen den Bastard zu schwingen. Als ich herumwirbelte, war er schon zwischen die Bäume gestürmt.

Einen Atemzug lang hielt der Dieb neben einer moosüberwucherten Espe inne und beobachtete mich. Ich konnte seine Augen unter seiner weiten Kapuze nicht erkennen, doch sein Blick fuhr in meine Brust wie eine zu dicht herangehaltene brennende Fackel, bis er sich ins Dickicht des Farnwalds zurückzog.

Mit einem bösen Blick aus zusammengekniffenen Augen auf Pukki – der nichts tat, außer seine Wildblumen wiederzukäuen – inspizierte ich in aller Eile die Körbe. Der Truchsess des Hauses Jakobson war kein Mann, der davor zurückscheute, bei Fehlern die Rute zum Einsatz zu bringen.

Es hatte Aufseher im Jugendhaus gegeben, die ähnlich gedacht hatten, aber Gammal hatte immer auf mich aufgepasst, und dank ihrer Warnungen war mir manch eine Tracht Prügel erspart geblieben. Jeder Jarl in den verschiedenen Siedlungen herrschte wie ein König über sein Dorf. Er konnte entscheiden, wie seine Dienstboten behandelt wurden, und Jarl Jakobson sah oft darüber hinweg, wenn ihnen Schmerz zugefügt wurde, weil er glaubte, dass das stärkere Leute heranzog.

Ich zurrte mit wenigen Bewegungen die Schnüre fest, um die Körbe zu sichern, hängte mir das Ledergeschirr über die Schulter und ging daran, den Karren selbst bis zu dem störrischen Ziegenbock zu ziehen, als ein Rad mit etwas im Unkraut zusammenstieß.

»Zu den Höllen mit diesem Tag!« Der Fluch glitt mir von der Zunge, als ich mich hinkniete, um die Blätter rings um das Rad beiseitezuschieben.

Ein glatter, runder Stein mit einer verwitterten Kerbe in der Mitte hielt den Karren fest. Behutsam zeichnete ich die Sigille nach, die in den Stein geritzt war: eine brennende Axt. Ein altes Totem, wenn jemand zum Wandererkönig betete.

Ich fürchtete den Fluch meines Wirkens, aber die Saga über den ersten König hatte ich immer geliebt.

Einst ein wandernder Skalde, war er einem jungen Mädchen begegnet, das sich verlaufen hatte. Dafür, dass er ihr Zuflucht gewährt und seinen letzten Streifen Brathering überlassen hatte, hatte sie sich ihm als eine der geliebten Töchter des Gottes der Weisheit offenbart.

Aus Dankbarkeit wurde dem Wanderer das junge Mädchen zur Frau gegeben, und ihm wurde ein Mittel angeboten, um einen Teil der Magie der Götter festzuhalten, die er nutzen konnte, um sich ein neues Königreich aufzubauen.

Der Wandererkönig wählte als Erstes Knochen, denn an Knochen bestand kein Mangel, und bald hatte er das großartigste Heer mit Knochenklingen, die nicht zerbrechen konnten, und Rüstungen, die so viel wie ein Dutzend Schilde taugten.

Doch die Geschichte ging noch weiter: Dunklere Tage folgten und brachten andere Formen von Magie hervor.

Wegen der Gewalttätigkeit und des Wahnsinns, die aus den letzten Erzählungen über den Wanderer sprachen, verehrten weniger Leute als früher den ersten König, aber hier, in kleinen Küstensiedlungen oder in Walddörfern, gab es zahlreiche Totems.

Als hätte die Seele des Wandererkönigs sich überhaupt um irgendeines der kleinen, einfachen Leben in den Reichen von Stìgandr geschert.

Ich richtete einen der Körbe auf und erhaschte einen Blick auf ein mit Wasser geschriebenes Symbol, das rasch verblasste.

Ein schlichtes Wort, das der Dieb zurückgelassen hatte, aber der scharfe Stachel der Angst drang mir in die Knochen.

Lügnerin.

3  Lyra

MEINEHÄNDEHÖRTENEINFACHNICHTAUFZUZITTERN, als ich aufsammelte, was von den Pflaumen übrig war, und mich in den Kampf stürzte, Pukki vor den Karren zu spannen. Das feuchte Symbol war schon im Rohrgeflecht der Körbe versickert, aber in meinem Schädel pochte das Blut.

»Súlka Bien.« Ein Mann, etwas atemlos von seinem Marsch den Hang herauf, zog die Wollkapuze von seinen hellen, ungebändigten Locken.

Ich lachte leise vor Erleichterung. »Was für eine förmliche Begrüßung, Ser Darkwin.«

Kael grinste. »Man hat mich ausgesandt, um dich zu finden, und ich lasse dich hiermit wissen, dass Sel überzeugt ist, dass du von Dravenern oder vielleicht von einer wilden Hulda gefangen genommen worden bist.«

Ich schnaufte und schüttelte den Kopf.

Kael war in jeder Hinsicht mein Bruder, auch wenn wir nicht blutsverwandt waren. Erst wenige Tage zuvor war er nach Hause zurückgekehrt, nachdem er die verpflichtende Ausbildung abgeschlossen hatte, die jeder Sohn von Jorvandal bei der Stav-Garde absolvieren musste.

Als Knochenwirker würde Kael gewiss bald ein Sendschreiben erhalten, das ihm einen Offiziersrang in der Garde sicherte. Er würde eine Knochenklinge mit Onyxknauf überreicht bekommen und wieder abreisen.

Natürlich nur, wenn er sich entschloss, der Garde beizutreten.

Aber warum hätte er das nicht tun sollen? Kael hatte mehr als Skalfirth verdient, und ich hatte den unguten Verdacht, dass er nur meinetwegen noch hier war.

Er blieb ein paar Schritte entfernt stehen und runzelte die Stirn. »Dir macht etwas Sorgen.«

Ich warf einen Blick über meine Schulter. »Es war ein Langfinger hier.«

»Ein Langfinger?« Kael kam zu mir und hob mein Kinn mit einem Finger an. »Geht es dir gut?«

»Ich habe ihn verjagt.«

»Natürlich hast du das.«

Ich warf einen Blick auf den Korb, der nicht länger das Zeichen trug. »Er hat geschrieben, ich sei eine Lügnerin.«

»Lyra, so bist du immer, wenn Stav in der Nähe sind. Lass mich dich ansehen.« Mit großer Geste neigte er meinen Kopf hin und her. »Wie ich mir schon dachte, sind deine Lügen wohlverborgen.«

Kael war die einzige Seele außer der sanften Gammal, die die Wahrheit kannte. Als er als Junge von zwölf Jahren von meinem Fluch erfahren hatte, hatte er mit einem Tropfen seines Bluts das Gelübde abgelegt, nie ein Wort darüber zu sagen.

Das hatte er auch nie getan.

Ich kniff Kael in den Arm. »Ich weiß, was ich gesehen habe, du Esel.«

»Was möchtest du denn tun? In den Wald fliehen? Verfolge diesen Langfinger und nimm ihm die Augen. Ich war schon in Versuchung, mit meinem Wirken ein paar brutalere Dinge anzustellen.«

Ich lachte leise. Knochenwirken konnte Wirbelsäulen brechen, wenn man es geschickt genug handhabte, aber Kael war zu gutherzig. »Lass uns einfach diesen verdammten Ziegenbock zurückbringen, bevor Selena wirklich noch glaubt, dass wir von Trollen entführt worden sind. Als du zurückgekehrt bist, dachte ich, du würdest einen Teil ihrer Aufmerksamkeit von mir ablenken. Aber du, Kael Darkwin, hast absichtlich Aufgaben übernommen, die dich von den Küchenräumen fernhalten.«

»Ich kann nichts dafür, dass ich so verehrt werde und die Leute ständig nach mir verlangen.«

Ich versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Du hältst zu viel von dir selbst.«

»Das ist aber nicht das, was Märta vorhin unter Keuchen gesagt hat.«

»Ach, schläfst du immer noch mit einer Frau, die deinen Namen quer über ihr Bett geschrieben hat, als wäre es ein Schrein?«

Kael zwinkerte, ging zum Karren und stützte einen Ellenbogen auf die Kante. »Vielleicht leidet sie unter leichter Besessenheit, aber in meinem Bett ist sie eine helle Freude.«

»Bett.« Ich schürzte die Lippen. »Du hast nie anderswo als im Farnwald mit ihr geschlafen.«

»Das nehme ich dir übel. Ich muss klarstellen, dass ich in den Ställen zwischen ihren Schenkeln war.«

»Du Arsch.«

Kael war im Winter, nachdem das Jugendhaus mich hergeschickt hatte, in die Dienerschaft im Haushalt des Jarls eingereiht worden. Als einsamer Junge und einsames Mädchen hatten wir uns angefreundet, unsere Geheimnisse miteinander geteilt und uns gegenseitig beschützt.

Wenn andere meinen Blick zu lange erwiderten, lenkte Kael sie ab. Versuchte jemand, etwas über eine Vergangenheit herauszufinden, um die ich selbst kaum wusste, fuhr Kael ihn an, sich um sein eigenes Leben zu scheren.

Er war meine einzige Familie.

»Wobei brauchst du Hilfe, damit wir zurück sind, bevor das ganze Dorf auf den Kopf gestellt wird?«

Ich zeigte auf Pukki. »Dieses garstige Biest muss wieder an seine Pflichten gehen und den verdammten Karren ziehen.«

Kael streichelte Pukkis krumme Hörner, schnalzte mit der Zunge, und der treulose Ziegenbock folgte ihm ohne Zögern.

»Ich hasse dich.« Mein Lächeln verflog, und ich sprach mit leiser Stimme weiter. »Wenn du heute in die Garde aufgenommen wirst, hoffe ich, dass du weißt, dass ich stolz auf dich bin. Allerdings komme ich nicht gegen das Gefühl an, dass es uns verändern wird. Ich werde ein Risiko für dich darstellen.«

»Ly, ich habe einen Eid geschworen. Das Geheimnis der Narben in deinen Augen ist bei mir sicher. Meine Loyalität ist nicht zwischen dir und dem Königreich zerrissen. Alles, worauf ich hoffe, ist, mein Wirken und mein Schwert dafür einzusetzen, dass du in Sicherheit bist.«

Kael trug sein Wirken voller Stolz, während er mir half, meines zu verbergen. Ich schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Du bist viel besser als ich, du Quälgeist.«

»Ich weiß, du Närrin.«

Mit Kaels Hilfe gelang es mir, Pukki vor den Karren zu schirren.

»Hast du etwas über den Mord an Vereiniger Fadey gehört?«, fragte ich.

Trotz der Kälte, die ich gesehen hatte, wann immer König Damirs Vereiniger das Dorf betreten hatte, stellten sich mir beim Gedanken an seinen plötzlichen Tod die Nackenhaare auf.

»Der Mörder muss erst noch gefunden werden«, sagte Kael.

»Du warst in Steintor. Wie hat König Damir darauf reagiert, seinen geschätzten Gefährten verloren zu haben?«

»Ich habe nicht viel vom König gesehen, aber ich bin mir sicher, dass er von Zorn und Rachedurst erfüllt ist.« Ein Muskel zuckte an Kaels Kiefer. »Fadeys Tod ist bedauerlich, und ich weiß zwar, dass du es dir gern einredest, aber dieses Leben steht dir nicht bevor, Ly.«

»Ach, bist du jetzt eine der Nornen des Schicksals?« Ich versetzte ihm noch einen Stoß gegen die Schulter.

Kael lachte leise. »Dein Schicksal ist es, ein langes Leben frei von steinernen Mauern zu führen.«

Ein Widderhorn ertönte von den fernen Toren und ließ Kael und mich auf dem Hang innehalten. Mein Puls pochte dumpf in meinem Schädel.

Wir rührten uns nicht, sondern starrten einfach, gelähmt vor Furcht, die im Seewind an den Kais flatternden Leinensegel zweier Langschiffe an.

»Die Stav.« Der Anblick ging mir durch Mark und Bein. »Sie sind hier.«

4  Lyra

ESGELANGUNS, PUKKIZUBESTECHEN, DENHÜGELHINUNTERZULAUFEN, ohne dabei die Körbe voller Kräuter, Wurzeln und Früchte umzuwerfen. Schließlich erreichten wir das Langhaus und betraten es durch eines der offen stehenden, schiefen Tore an dessen Rückseite.

Rauchwolken stiegen aus dem Loch im Grassodendach auf, und durch sie hindurch konnte ich die Geschäftigkeit der Wachleute überall auf den Dorftürmen sehen.

Ich beeilte mich, Pukki abzuschirren, und nahm einen der Pflaumenkörbe, während Kael sich ein Leinenbündel voll Distelwurzeln auf die Schulter schwang und dann einen Korb mit Kratzbeeren auf die Arme nahm.

Das Langhaus des Jarls lag den Außentoren am nächsten. Dort begrüßte uns Thorian, ein Ältester der Hausknechte.

Thorian hielt eine hölzerne Pfeife zwischen die Zähne geklemmt. Sein Körper bestand aus mehr Knochen als Fleisch, aber seine greisenhaften, knotigen Finger arbeiteten schnell, während er jeden Schweinekoben und Hühnerverschlag auf dem Gutshof des Jarls sicherte.

Der alte Mann hatte den Kopf gehoben, als er das Knarren der näher kommenden Räder hörte. »Es ist eine Weile her, dass du uns verlassen hast, isdotter. Anscheinend hat unser verlorener Junge dich gerade noch rechtzeitig aufgespürt.«

Ich grinste, als der alte Mann die Pfeife aus seinem Mund nahm und mir wie immer einen raschen Kuss auf die Wange gab. Thorian nannte mich eine Eistochter, weil ich einst im Winter ins Langhaus gekommen war.

Kael war der verlorene Junge, weil man ihm so viel zugemutet hatte, als er verstoßen worden war.

So treu der alte Mann dem Haus Jakobson auch ergeben war, Thorian teilte meine Meinung, dass Kael vom Jarl und seinem Haushalt arges Unrecht angetan worden war.

Thorian sog einen tiefen Zug aus seiner Pfeife ein und stieß den Rauch dann als Wolke wieder aus. »Seid auf der Hut, meine Süßen. Selena ist überzeugt, dass ein Fossegrim in den Teich eingedrungen ist, und ist bereit, den alten Pukki zu opfern, um den Wassergeist wieder zu vertreiben.«

»Pukki wäre kein angemessenes Opfer.« Ich richtete einen finsteren Blick auf den alten Ziegenbock, der schon wieder auf einem Grasbüschel herumkaute. »Er ist zu dumm.«

Thorian winkte mir weiterzugehen und unterhielt sich noch ein bisschen mit Kael, während sie die Spaten und Scheren vom Karren abluden.

Eine Tür zur Küchenseite des Langhauses flog krachend auf. »Lyra. Wo warst du? Mädchen, beeil dich. Hast du das Horn nicht gehört?«

Selena, die Hände in die runden Hüften gestemmt, bedachte mich mit ihrem garstigsten Blick. Aber sosehr sie sich auch bemühte, es reichte nie aus, um die Zärtlichkeit in ihrer Seele zu verbergen.

Selena war eine Witwe, die an alle Arten von Überlieferungen glaubte. Sie verbrachte ihre Tage damit, die Tafel des Jarls mit köstlichen Festessen zu füllen und jede Ecke sowie sämtliche Dachsparren zu segnen, um das Haus von Spuk und hinterlistigen Geschöpfen frei zu halten.

Abgesehen von Kael waren Selena und Thorian meine Lieblingsseelen. Gutherzig und willensstark. Sie kümmerten sich um uns beide wie ein wunderliches Ersatzelternpaar.

Wenn wir gute Ratschläge brauchten, gab Thorian sie uns.

Wenn wir krank waren, füllte Selena unsere Mägen mit ihren Tees und Kräutern, bis das Fieber nachließ.

»Thorian hat uns erzählt, dass du dir Sorgen wegen eines Fossegrims machst.«

»Ich habe dem alten Narren gesagt, dass ich die Kreatur die Saiten zupfen hören kann, um uns anzulocken.«

Ich lachte, ließ es aber verklingen, als ein Dienstbote in die Küchenräume geeilt kam, um Fleisch zu salzen oder Brot zu schneiden.

Instinktiv hielt ich das Gesicht abgewandt und stellte meinen Korb auf den Eichentisch. »Ich habe dir Disteln mitgebracht. Ich dachte, du könntest eines dieser Kräuterstärkungsmittel machen, um es beim Erntemarkt zu verkaufen.«

Selena tätschelte mir die Wange und nahm den Korb in Augenschein. »Vielen Dank, mein Mädchen. Du weißt ja, manch einer würde sagen, dass es den Göttern nicht angemessen erschien, mich mit Kindern zu segnen, aber ich sehe es so: Sie haben es bloß für recht und billig gehalten, mir auf anderem Weg ein schönes Mädchen und einen schelmischen Jungen zu schicken. Jetzt zieh dich um. Wir haben viel vorzubereiten. Ich brauche dein Händchen für die Honigkuchen.«

Selena schlüpfte durch den Vorhang aus aufgefädelten Knochenperlen, die manche Bereiche der Küchenräume vom großen Saal des Langhauses trennten. Sie rezitierte flüsternd ein paar Sprechgesänge, während sie daranging, Schutzzauber gegen eine lautlose Fossegrim-Fiedel ins Werk zu setzen.

Meine Brust brannte vor Zuneigung. So grausam das Leben auch sein konnte, überall, wohin mein Schicksal mich geführt hatte, hatte ich ein paar Seelen gefunden, die ich lieben konnte. Ich lebte mit einer Lüge, die manchmal schrecklich und eine schwere Bürde war, aber ich konnte nicht böse darüber sein, dass mein Weg mich zu Kael und einigen anderen freundlichen Leuten in diesem Haus geführt hatte.

Auch wenn das selbstsüchtig von mir war. Ich hätte nicht froh sein sollen, dass Kael ein Diener im Haus seiner Geburt war. In dem Haus, dessen Erbe er hätte sein sollen.

Die ersten zwölf Sommer über hatte Kael als Jarl Jakobsons ältester Sohn gelebt. Der ersten Ehefrau geboren, die nach seiner Geburt in Salur eingegangen war.

Als die zweite Ehefrau neidisch geworden war, dass der Sohn ihres Mannes mit Knochenwirken gesegnet war, ihre Kinder aber nicht, hatte sie gedroht, die neue Familie des Jarls aus Skalfirth fort ins Haus ihres Vaters zu bringen, wenn Kael nicht verstoßen und enterbt würde und die Jarlschaft dereinst an ihren erstgeborenen Sohn fiele.

Es war eine rückgratlose Tat, aber Kael wurde seines Erbes und seines Hausnamens beraubt. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als seinen eigenen Blutsverwandten als Stalljunge zu dienen – ohne Familie, ohne Titel.

Jakobson betrachtete es als Gnade, dass er seinem Sohn überhaupt erlaubte, im Haus zu bleiben.

Alle Leute, die an den Ufern des Grünen Fjords lebten, wussten um Kaels Geburtshaus.

Niemand sprach darüber.

Kael bekam den Namen Darkwin, einen Titel aus einer Skaldensaga über einen Prinzen, der von seinem Thron in die dunklen Wurzeln des Götterbaums gestürzt war und den Rest seiner Tage in den Schatten verbracht hatte.

»So ist das nun einmal, Ly«, hatte Kael einmal zu mir gesagt, als wir die Aufgabe hatten, eine Reihe von Fischnetzen im Auge zu behalten. Jakobson und Mikkal, sein zweiter Sohn, waren gerade vorbeigeritten, ohne uns auch nur einen Blick zu gönnen. »Er hat ohnehin kaum mit mir gesprochen. Thorian hat gesagt, ich erinnere ihn zu sehr an meine Mutter, und es tut ihm weh.«

»Das ist nichts als Schwäche«, stieß ich hervor.

Kael stupste meine Schulter an. »Lass die Sache ruhen und hege keinen Groll gegen den Mann. Sonst bleibt dein Gesicht noch ganz verzerrt.«

Ich sprach nicht wieder davon, aber ich war nie die Erste, die den Kopf vor Jarl Jakobson neigte.

In einem engen Alkoven in den Hinterzimmern, die sich die Diener teilten, riss ich mir den schmutzigen Kittel vom Leib, dann meinen Rock und meine Stiefel und warf sie auf die schmale Pritsche, auf der ich schlief.

In einer kleinen hölzernen Truhe durchwühlte ich meine mageren Habseligkeiten und griff zu einem schlichten Wollkleid.

Einfach. Langweilig. Unsichtbar.

Mit zitternden Fingern löste ich meinen Zopf und steckte mir die dunklen Haare dann im Nacken zu einem Knoten auf. Wieder erscholl ein Horn von den Wachtürmen.

»Scheiße.« Mittlerweile begrüßte der Jarl sicher schon die Stav-Garde, und man würde von uns anderen erwarten, das Gleiche zu tun.

Ich hüpfte auf einem Bein und versuchte, meine Zehen in dünne Lederschuhe zu zwängen.

Von dieser Seite des Langhauses aus konnte ich einen Teil der Hauptstraße sehen. Wie eine Seuche breiteten Stav-Gardisten sich auf dem inneren Markt aus, verströmten ihren Pesthauch überall auf unseren ungepflasterten Straßen und zerstörten allen Frieden, der noch vor wenigen Augenblicken hier geherrscht hatte.

Türen von Wohnhäusern öffneten sich, und Leute stolperten auf die Straßen. Einige sahen verwirrt aus, andere trugen Servierplatten mit Gaben und Krüge voller Honigmet für die Ankunft der Garde herbei.

Sobald ich angekleidet war, träufelte ich noch mehr brennende Farbe in meine Augen, umwickelte das Messer, mit dem ich den Plünderer beworfen hatte, mit einem Leintuch und nutzte ein dünnes Lederband, um mir die Klinge an den Unterschenkel zu schnallen. Kael würde die Augen verdrehen, aber die Vorstellung, in der Nähe der Stav-Garde unbewaffnet zu sein, ließ ungesunde Panik durch meine Adern strömen.

Draußen durchschnitt Sonnenlicht die frühmorgendlichen Nebel, Tautropfen perlten von Butzenscheiben ab, und die feuchte Seeluft drang mir bei jedem Atemzug tief in die Lunge. Als wollte Skalfirth, dass ich mich für immer an seinen Geschmack, seinen Geruch erinnerte.

Als wüsste es, dass dieser Tag alles verändern würde.

Kael und Selena nahmen schon mit dem Rest des Haushalts ihre Plätze unweit der Hintertore ein.

Ich nahm eine Handvoll Beeren aus einem Korb auf den Stufen des Hintereingangs auf und zerrieb sie auf meiner Handfläche, bis ein Teil des schillernden Safts mir zwischen den Fingern hindurchtropfte. Eine List, eine Ablenkung, die ich im Laufe der Zeit gut eingeübt hatte.

Wenn man die Stav dazu brachte, woanders hinzusehen, machten sie sich kaum die Mühe, solch einer gewöhnlichen Frau in die Augen zu schauen.

»Es sind sehr viele gekommen«, murmelte Selena.

Kael nickte. »Hauptmann Baldurs Einheit. Ich bin überrascht. Sie sind die Grimmigsten. Die Bedrohungen für die Verlobung des Prinzen müssen zugenommen haben.«

Es war kein Geheimnis, dass Dravenmoor keine echte königliche Ehe zwischen den Reichen wollte. Mitglieder des jorvanischen Königshauses heirateten myrdanische Adlige, aber das hier war die erste Verbindung seit fast hundert Wintern, bei der eine myrdanische Prinzessin im richtigen Alter war, um einen jorvanischen Prinzen zu heiraten, und noch dazu den passenden Titel trug.

Ich hatte den Prinzen bisher erst einmal gesehen, während meines vierzehnten Winters, als man mich damit betraut hatte, Thorian beim Fischhandel in einer nahen Siedlung zu helfen. Während wir dort waren, traf die Karawane des Königs ein, um einen Knochenwirker für die Stav zu rekrutieren.

Thorian führte mich zu den Kais, sobald unsere Geschäfte abgeschlossen waren, und als wir vom Ufer ablegten, erhaschte ich einen Blick auf den Prinzen. Nur ein paar Jahresläufe älter als ich selbst, war Prinz Thane in feine weiße Fuchspelze gehüllt und warf, umgeben von Stav-Gardisten, Kieselsteine ins Meer.

Er wirkte vollkommen gelangweilt.

Thane fing meinen Blick auf, als unser Schiff aufs Meer hinausglitt, und rief: »Seht Euch an, wie ich ihn springen lasse, meine Dame.«

Ohne mich zu kennen, hatte der Prinz mich so angesprochen, als würde adliges Blut in meinen Adern fließen. Dann hatte er, wie alle Heranwachsenden in meinem Alter voller Arroganz, einen Kiesel geworfen und sich mit großer Geste verneigt, als der Stein viermal über das Wasser gehüpft war, bevor er in den Fluten versunken war.

Jetzt atmete ich aus und trat näher an Kael heran. Der Prinz war als Junge freundlich gewesen, aber die Stav heute sahen ganz und gar nicht danach aus.

In dunkle Tuniken gekleidet, die mit dem weißen Wolfskopf von Steintor bestickt waren, wirkten alle Männer ganz so, als müssten sie in vorderster Reihe in die Schlacht ziehen. Zwischen sie mischten sich Diener und Knechte, die Taschen und gepolsterte Lederbeutel trugen, um alle Waffen einzusammeln, die wir feilboten.

»Da ist Baldur.« Kael deutete mit dem Kinn auf den Mann an der Spitze des Zuges.

Baldur der Fuchs war breitschultrig und streng. Der Bart reichte ihm noch nicht bis auf die Brust, aber er trug ihn zu einem einzigen Zopf geknotet, der mit Knochenperlen gesichert war.

Der Hauptmann war für seine Treue und seine Kampfeslust bekannt, in der Schlacht wie im Leben. Jung für einen Stav-Offizier, bewegte er sich doch wie ein Mann, der schon seit Jahrhunderten lebte und keine Geduld mit den Leuten um ihn herum hatte.

Baldur machte halt, um Jarl Jakobson zu begrüßen. Kaels Vater, auf den er keinen Anspruch mehr erheben konnte, war ein gut aussehender Mann, stark und geschickt mit der Axt. Sein grau melierter Bart war gestutzt; das glatte Haar fiel ihm bis auf die Schultern.

Aber obwohl er den Hauptmann um einen halben Kopf überragte, schien Jakobson unter Baldurs höhnischem Lächeln zusammenzuschrumpfen.

»Komm«, sagte ich und drängte Kael, mir zu helfen, die Kuchen und Safranbrötchen für das Festmahl fertig zu machen. »Wir müssen nicht zusehen, wie Männer sich in die Brust werfen, um das, was ihnen an anderer Stelle fehlt, wettzumachen.«

Kael knuffte mein Ohr. »Niemand wird dich zur Frau nehmen wollen, wenn du so unverschämt daherredest.«

»Vielleicht will ich mir ja gar keinen Mann nehmen, wenn er der Herausforderung nicht gewachsen ist.«

»Wie du meinst.«

Dass ein paar Leute nach Luft schnappten und tuschelten, ließ mich stutzen.

»Bei den Göttern, der Wächter ist hier. Warum?« Kael sprach mit einem Anflug von Entzücken. »Ashwood kann unglaublich gut mit der Klinge umgehen, Ly. Unglaublich gut.«

Neben Baldur drängte sich ein anderer Mann durch die Menge.

Seine Kapuze und seine Schultern waren über und über mit scharlachroten Flecken bedeckt. Ich erkannte die Kapuze, den Gang des Langfingers aus dem Wald. Mir wurde flau im Magen. Nein. Bei den Göttern, nein. Der Dieb war überhaupt kein Dieb.

Manche nannten Roark Ashwood den Todbringer. Er und seine Klingen waren berüchtigt. Bekannt als der Wächter, war Roark in Jorvandal dank seiner einzigartigen Begabung für den Schwertkampf schon in jungen Jahren in eine Machtposition aufgestiegen. Als Kind aus Dravenmoor adoptiert, war er, wie manche glaubten, weniger Prinz Thanes stummer Leibwächter als vielmehr ein Meuchelmörder des Throns.

Ich hatte ihn nie gesehen, hatte nur die Gerüchte gehört, wie brutal er tötete, um sein Königshaus zu beschützen. Aber als ich beobachtete, wie er sich an die Spitze des Zuges drängte, war an dem Mann fast etwas Vertrautes. Ich spürte seine Macht, die auf meine Rippen drückte, an ihnen zerrte und sich in meiner Seele einnistete.

Und die Wahrheit war, dass ich den gefährlichsten Mann im ganzen Königreich angegriffen hatte.

5  Lyra

GEDANKENHÄMMERTENINRASCHERFOLGEDURCHMEINENSCHÄDEL.

Kaels Sturmwolkenaugen fanden mich. Er legte den Kopf schief, als wollte er die plötzliche Anspannung in meinen Gesichtszügen aufbrechen. Ich musste ihn warnen, musste ihm sagen, dass der Plünderer zweifelsohne Ashwood gewesen war.

Wenn ich bestraft wurde, würde es Kael und sein Temperament an ihre Grenzen treiben, sich vom Eingreifen abzuhalten.

Der Mann lachte viel, war aber durch und durch ein Beschützer, und sein Blut geriet ins Kochen, wenn er etwas sah, das er als Ungerechtigkeit wahrnahm.

Vella, die neue Seherin des Jarls, die ihm von Steintor zur Verfügung gestellt worden war, trat vor. Die Frau war Leuten wie mir und, seit er verstoßen worden war, sogar Kael gegenüber gleichgültig. Als Visionärin war sie ein Gewinn für den Jarl, der sie bitten und anflehen konnte, ihm zu sagen, was die Nornen durch ihre Runen und Vorahnungen über sein Schicksal enthüllen mochten.

Ich fand sie überspannt und anmaßend.

Vella trat Ashwood und seinen Klingen gegenüber. Ihre eisfahlen Zöpfe waren dicht und schwer, wie ein Nest auf ihrem Kopf hochgesteckt. Rissige weiße Schminke zierte ihre schlanken Gesichtszüge und fügte ihnen mehr Geheimnisvolles als Alter hinzu. Schwarze Runen verliefen von ihrem Haaransatz bis zur Unterseite ihres Kinns, und beide Nasenlöcher waren jeweils von einem Goldreif durchstochen.

»Wir heißen die ehrbare Stav-Garde des Hauses Oleg zu Steintor willkommen«, sagte Vella mit dünner Stimme. »Ein Festmahl ist für Eure Männer vorbereitet worden. Lasst uns zusammensitzen und die künftige Vereinigung der Königreiche feiern.«

Baldur wandte sich der alten Frau zu. Eine Spange aus silbernen Rabenschwingen hielt seinen Pelzumhang auf seiner Schulter geschlossen, ein Abzeichen seines Rangs. Blasse Narben verliefen entlang der Ränder seines Gesichts, und ein Schneidezahn war abgebrochen. »Nach Euch, Seherin.«

Ashwood trat von einem Fuß auf den anderen, schlug seine Kapuze aber nicht zurück. Ich blieb erstarrt stehen, wie gelähmt von einer gewissen Angst und Neugier.

Die Hand des Wächters zuckte. Nein – er bewegte die Finger in einem gezielten Muster. Götter, sprach er etwa mit den Händen? Der Mann war als stummer Wächter bekannt. Ich hatte das immer so aufgefasst, dass er einfach nicht viel mit anderen plauderte, aber … Vielleicht konnte er nicht sprechen.

Baldur nickte, beobachtete die Gebärden des Wächters und wandte sich dann wieder an Jarl Jakobson. »Unsere Wachen werden während unseres Aufenthalts Posten an den Toren beziehen. Sie werden nach Schwachpunkten und möglichen Bedrohungen Ausschau halten.«

Jakobson breitete die Arme aus. »Wir sind hier, um zu dienen. Tut, was Ihr tun müsst.«

Ashwood schlug seine Kapuze zurück. Windzerzaustes dunkles Haar – an den Seiten zurückgeflochten, um die wilden Strähnen aus seinen Augen herauszuhalten – flatterte um seine Stirn, auf der sich unmittelbar über seinem linken Auge eine deutlich zu erkennende Strieme gerötet hatte.

Ich grub die Finger in meine Handflächen und flehte stumm darum, dass er nicht …

Er sah mich an, den Kopf zur Seite geneigt, als könnte er meine verdammten Gedanken hören.

Der Goldton seiner Augen war entsetzlich leuchtend. Geschmolzene Teiche aus Erz, die einen verbrennen würden, wenn man sich zu nahe heranwagte.

Sein Blick durchdrang mich, zog mich in seinen Bann, fast so, als hätte ich solche Augen schon einmal gesehen und sie bloß wieder vergessen.

Aber das Gesicht des Wächters hätte niemand vergessen.

Roark Ashwood war womöglich der faszinierendste Mann, den ich je gesehen hatte. Hochgewachsen, nicht übermäßig breitschultrig, dunkle Augenbrauen, sonnengebräunte Haut und ein Hauch von dunklen Bartstoppeln, der die ebenmäßigen Linien seines Gesichts bedeckte. Eine erhabene Narbe führte von seinem linken Kiefergelenk über seine Kehle und endete über dem rechten Rand seines Schlüsselbeins.

Harte Züge, aber darunter lag eine unvollkommene Schönheit.

Roark kniff die Augen zu einem hasserfüllten, fast gewalttätigen Blick zusammen. Er wusste – musste wissen –, dass ich die Frau war, mit der er es im Farnwald zu tun bekommen hatte.