Brudergeheimnis - Emiel de Wild - E-Book

Brudergeheimnis E-Book

Emiel de Wild

0,0

Beschreibung

Schweigen. Ausweichen. Umziehen. Das ist die Reaktion seiner Eltern. Aber Juri kann und will es nicht akzeptieren, dass sein Bruder aus ihrer Familie verschwunden sein soll. Was ist der Grund? Wo lebt Stefan jetzt? Warum darf er ihn weder sehen noch sprechen? – Juri fängt an, Briefe an seinen Bruder zu schreiben …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 206

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Mittwoch, 28. September

Lieber Stefan,

hier ist ein Brief von Juri. Ich kann sehr gut verstehen, wenn du dieses Blatt Papier schon jetzt in tausend Stücke reißt. Viel- leicht bist du ja böse auf mich. Und wenn nicht, dann wirst du es bestimmt. Aber ich hoffe, du liest bis zum Schluss weiter. Es ist vier Uhr nachts. Ich sitze im Schlafanzug an meinem Schreibtisch. Ich habe dir so viel zu erzählen. Hoffentlich kann ich die Augen lange genug offen halten. Ich habe mir unten einen Becher Kaffee gemacht. Schon allein von dem Geruch stehen mir die Haare zu Berge; das heißt, er hilft bestimmt.

In dem Paket, das ich dir geschickt habe, steckt ein Stapel Briefe. Liest du die bitte zuerst? Den obersten habe ich dir vor mehr als einem Jahr geschrieben.

In dem Stapel befinden sich hässliche Briefe. Solche, in denen ich böse bin und schlimme Sachen schreibe. Aber damals war es mir ernst damit. Wenn du sie liest, willst du vielleicht nichts mehr mit mir zu tun haben. Aber diese schlimmen Sachen muss ich dir einfach erzählen. Du musst wissen, was geschehen ist.

Erst wenn du den ganzen Stapel durchgelesen hast, darfst du den Brief nehmen, den ich gleich schreibe. Auf den Umschlag werde ich in großen, fetten Buchstaben schreiben: DREI.

Und jetzt öffne den ersten Umschlag, der mit dem Brief von vor einem Jahr beginnt.

Bis gleich, Stefan.

Ich habe immer an dich gedacht.

Juri

Inhalt

EINS: MITTE JULI - MITTE AUGUST

ZWEI: MITTE AUGUST - ENDE SEPTEMBER

DREI: SEPTEMBER, EIN JAHR SPÄTER

VIER: ENDE SEPTEMBER

FÜNF: ANFANG OKTOBER

IMPRESSUM

LESEPROBE

Sonntag, 18. Juli

Hallo Stefan,

Es ist merkwürdig, dir zu schreiben. Wer schreibt schon seinem eigenen Bruder einen Brief? Ich sehe dich jeden Tag. Ich kenne dich mein ganzes Leben lang. Schon elf Jahre! Papa und Mama kenne ich natürlich auch seit immer, aber das ist anders. Ich bin nicht ihr Bruder. Und ihre Namen habe ich nicht als Erstes gesagt.

Bist du darauf nicht stolz? Dass mein allererstes Wort nicht „Mama“ oder „Papa“ war, sondern dein Name. Na ja … dein Name … Mama meint zwar, es hat sich eher wie „Hee-han“ als wie „Stefan“ angehört, aber doch: für ein Baby eine ziemliche Leistung.

Wir sind Brüder. Das ist kein Geheimnis. Selbst wenn wir wollten, könnten wir es nicht verheimlichen. Aber das wollen wir auch nicht. Oder?

Du fragst dich vielleicht, wo ich bin. Das will ich dir erzählen: bei Oma. Oma Bos. Papa und Mama haben mich gestern in aller Frühe hierher gebracht. Warum, weiß ich nicht.

Ich wollte zeitig aufstehen, weil ich mich schon die ganze Woche auf den Samstag gefreut hatte. Endlich Sommerferien! Für mich jedenfalls, denn du hast schon seit zwei Wochen schulfrei. Ich wollte zusammen mit dir Pläne schmieden. Und ich wollte ans Wasser. Schön zusammen mit dir schwimmen und Schlauchboot fahren. Aber Mama hat mich noch vor dem Wecker geweckt. Im Dunkeln stand sie da und stopfte Papas Sporttasche mit meinen Anziehsachen voll. Als ich sie fragte, warum sie das tat, sagte sie, ich solle leise sein. Du lägst noch im Bett und ich dürfte dich nicht aufwecken. Und in dein Zimmer kommen durfte ich auch nicht. Deine Tür war verschlossen.

Mama zog mich aus meinem Bett. Sie trug eine Sonnenbrille! Sie nahm mich an der Hand. Alles ging sehr schnell. Zu duschen brauchte ich nicht. Einmal mit dem kalten Waschlappen übers Gesicht war genug. Und frühstücken würden wir später, sagte sie.

Unten schmierte Papa Brötchen mit Erdnussbutter und packte sie in eine Tüte. Mama schob mich in den Flur, holte noch einige Sachen aus dem Wohnzimmer, und bevor ich wusste, wie, standen wir schon beim Auto.

Es war sehr still auf der Straße.

„Kommt Stefan nicht mit?“, fragte ich.

Mama war zu sehr damit beschäftigt, die Sachen im Auto zu verstauen. Papa schaute mich an und sagte nichts. Seine Augen waren röter als sonst. Hatte er geweint?

Also setzte ich mich nach hinten. Allein.

Papa ließ den Motor an und wir fuhren zur Straße hinaus. Es war schon warm draußen und Papa öffnete sein Seitenfenster. Eine Brise wehte ins Auto. Ich fragte, wohin wir fuhren. Mama drehte sich um und schaute mit einer kläglichen Miene an ihrer Kopfstütze vorbei. Sie antwortete, ich würde eine Weile bei Oma Bos bleiben. Ich fragte sofort, wann du kämst. Mama sagte, darüber würden wir uns später unterhalten.

Da saß ich also ganz allein hinten im Auto. Die Sonne schien mir in die Augen. Das hier war der Anfang unserer Sommerferien. Aber ich fühlte mich merkwürdig. Es war, als würde ein fremdes, wildes Tier in meinen Nabel kriechen, sich unten in meinen Bauch legen und dort Gestank verbreiten.

Mama gab mir ein Brötchen, noch immer mit diesem Gesicht, als hätte sie gerade einen kleinen Welpen einschläfern lassen. Ich wollte fragen, warum ich zu Oma Bos musste und ob Papa und Mama auch dort blieben und wo du dann wärst. Aber ich traute mich nicht. Bestimmt denkst du jetzt: Wieso nicht, du Waschlappen? Das will ich dir schreiben: Im Auto hing eine eigenartige Spannung. Ganz so, als würde ein falsches Wort von mir ein Donnerwetter hervorrufen. Also hielt ich den Mund und sagte mir, bei Oma Bos wäre es bestimmt auch schön.

Ich liege jetzt auf Omas Gästebett und schreibe. Papa und Mama sind gestern gleich wieder weggefahren, nachdem sie mich abgesetzt hatten. Mama hatte noch versprochen, meine Fische zu füttern. Warum muss ich hierbleiben? Bestimmt sitzt du jetzt zu Hause und lachst dir einen, weil du es weißt. Vielleicht ist es eine große Überraschung oder so.

Oma Bos gibt sich sehr viel Mühe. Sie hat eigens für mich Papier im Supermarkt gekauft.

„Weil du so gern malst, Junge“, sagte sie.

Aber dann kam sie mit einem Notizblock an: das Papier zu dünn und mit Linien. Darauf kann ich nicht malen. Aber gut Briefe schreiben schon!

Wie lieb Oma Bos auch ist, ich vermisse Papa. Und ich vermisse Mama. Und dich vermisse ich auch. Sicher sollte ich das jetzt nicht sagen, und bestimmt wirst du mir deswegen noch einen Tritt verpassen, aber so ist es. (Mach dieses Stück doch lieber mit dem Edding weg, nachdem du es gelesen hast.)

Aber warum schreibe ich dir einen Brief? Es ist so: Mama erlaubt nicht, dass du ans Telefon kommst. Sie hat schon oft angerufen, und jedes Mal habe ich gefragt, ob ich mit dir sprechen dürfte. Dann blieb es am anderen Ende der Leitung erst mal still, und dann sagte sie, du wärst nicht zu Hause. Ich war das schnell leid und fragte Oma, ob ich dich kurz anrufen dürfte. Aber nein, das durfte ich nicht. Also bin ich nach draußen gegangen, um dich von meinem Handy aus anzurufen.

Und ja, ich weiß auch, dass ich es nur benutzen darf, um zu sagen, wann ich nach Hause komme. Und in Notfällen. Aber das hier war ein Notfall. Auf jeden Fall ein kleiner.

Ich war schnell fertig. Dein Handy ist ausgeschaltet.

Als Mama wieder anrief, sagte ich, das nächste Mal sollte sie doch anrufen, wenn du auch zu Hause wärst. Du errätst es schon: Sie hat es nicht gemacht. Also fragte ich, ob du mich anrufen könntest. Mama sagte, sie würde es dir ausrichten. Aber du hast dich nicht gemeldet. Das letzte Mal, als Mama anrief, wollte ich wieder davon anfangen, aber noch bevor ich deinen Namen zu Ende gesprochen hatte, sagte Mama, ich sollte damit aufhören. Sie meinte, es würde allmählich etwas nervig. Da habe ich nicht mehr nach dir gefragt. Mama sagte, es hätte den Anschein, als würde ich mich gar nicht darüber freuen, dass sie anrief. Das tat ich wohl, denn ich langweilte mich schon den ganzen Tag zu Tode. Was soll ich hier ganz allein anfangen? Oma Bos hat kein Spielzeug, noch nicht mal einen Fußball. Und ihre Comics sind so alt, dass Donald Duck erst ein Entenbaby ist, gerade aus dem Ei geschlüpft. (Kleiner Scherz. Du hast die Donald Ducks selbst auch gelesen. Darin ändert sich nie etwas. Jede Woche ist Donald genauso alt und hat auch dieselben Sachen an. Und wenn sie Streit haben, dann ist der in der Woche danach von selbst wieder beigelegt. Schön einfach!)

Ich will einfach nur wissen, wie es dir geht. Ob du Neues zu erzählen hast und was du Schönes machst, ob du Spaß hast in deinen Ferien. Ich glaube auf gar keinen Fall, dass du mich nicht sprechen willst. Wir haben überhaupt keinen Streit oder so. Also: Ruf mich an! Oder schreib einen Brief, das geht natürlich auch.

Bis bald, ja?

Viele Grüße,

Juri

PS RUF MICH AN!

PPS Nicht vergessen, das eine Stück mit einem dicken schwarzen Stift durchzustreichen, ja?

Mittwoch, 21 . Juli

Hallo Stefan,

ich habe nichts von dir gehört. Du wirst mich also nicht anrufen, sondern mir einen Brief schreiben. Auch gut. Vielleicht ist es sogar besser. Dann können Papa und Mama nicht wieder meckern, du würdest zu viel telefonieren.

Mein Handyguthaben ist alle, das heißt, ich kann dich nicht mehr anrufen. Deine Mailbox-Ansage kenne ich inzwischen auswendig. Zum Glück kann ich dir ja schreiben.

Ich kann deinen Brief kaum erwarten. Die Post kommt hier jeden Tag gegen elf Uhr. Du verstehst sicher, dass ich dann neben dem Briefkasten stehe. (Angeblich, um die Post für Oma Bos zu holen, aber heimlich, um sie zu durchsuchen, haha.)

Warum bin ich hier? Mir fällt nicht wirklich was dazu ein. Wenn ich Mama danach frage, sagt sie, ich soll die Zeit hier genießen. Das versuche ich ja auch. Aber wie macht man das, wenn man lieber zu Hause ist? Oma Bos hat heute ein neues Donald-Duck-Heft gekauft. Das hatte ich schon vor dem Mittagessen durch. Zum Glück hat sie auch weißes Papier ohne Linien mitgebracht, und so habe ich jetzt selbst angefangen, einen Donald-Duck-Strip zu zeichnen. Das klappt ganz gut. Nur redet mein Donald zu viel. Es passt nicht alles in die Sprechblasen. Er hat Ähnlichkeiten mit dir, bis auf die Federn und den Schnabel.

Und was machst du gerade? Sicher bist du unterwegs mit Pim, Dennis und Jirika und ihr amüsiert euch zu viert in der Stadt. Nicht zu viel aus den Fächern im Süßigkeitenregal futtern, hörst du? Und nicht alle feinen Düfte ausprobieren. Dann wird man nämlich weggeschickt.

Gut, ich mache jetzt Schluss, mir fällt nichts mehr ein, was ich schreiben soll. Du musst mir aber zurückschreiben, ja?! (Oder anrufen.) Bestimmt tust du das schnell.

Viele Grüße,

Juri

PS Wenn mein Donald-Duck-Strip fertig ist, schicke ich ihn dir.

Samstag, 24. Juli

Hallo Stefan,

GEH AUS DEM ZIMMER UND SETZ DICH IRGENDWOHIN, WO PAPA UND MAMA DICH NICHT SEHEN KÖNNEN!

Warum höre ich nichts von dir? Falls das hier ein Witz ist, dann hör bitte damit auf. Ich finde das nicht lustig.

Donnerstag bin ich in die Bibliothek gegangen und habe da mein Taschengeld für mehrere Viertelstunden Internet verbraucht. Das Herz schlug mir bis zum Hals während der ganzen Zeit, die ich vor dem Computer saß. Wenn Oma das herauskriegen und Mama stecken würde, wäre die sicher wütend. Mamas Stimme hallte mir durch den Kopf: „An den Computer nur für die Schule!“ Aber ich dachte stattdessen: Was, wenn ich dir maile oder etwas für dich auf Hyves poste? Ich habe ein E-Mail-Konto eingerichtet (dauerte Stunden, hunderttausend Fragen) und dir eine Mail geschickt. Dann habe ich mich auf Hyves angemeldet, und was glaubst du? Ich kann immer noch nichts für dich posten! Erst müssen wir Freunde werden! Ich will ja. Aber dir reicht es offenbar, dass wir Brüder sind, denn ich höre nichts von dir. Und auf meine Mail reagierst du auch nicht.

Heute Nacht im Bett habe ich lange nachgedacht. Meiner Meinung nach haben Papa und Mama dir dein Handy abgenommen und deinen Computer irgendwo weggesperrt. Hast du dir wieder mal eine Strafe eingehandelt, Stefan Sterk?

Mit den Briefen kann es zweierlei auf sich haben:

1. Irgendwas ist bei der Post schiefgelaufen. (Du weißt ja selbst, wie dumm unser Briefträger ist. Er kreischt wie ein Mädchen, wenn man die Post aus dem Schlitz zieht und dabei wie ein Hund bellt.)

2. Mama und Papa haben die Briefe gefunden und vor dir versteckt.

Ich denke, es ist das zweite. Sie müssen sie gefunden haben. Das ist unfair. Was geht sie das an? Aber ich bin schlau gewesen. In Opas altem Schreibtisch habe ich einen Füller gefunden und dann mit links (aber schön ordentlich) deinen Namen und unsere Anschrift auf den Umschlag für diesen Brief geschrieben. Sieht überhaupt nicht wie meine Handschrift aus. Das erkennen sie nie.

Wenn sie darauf reinfallen und dir diesen Brief geben, musst du sofort aus dem Zimmer gehen (darum habe ich das gleich als Erstes geschrieben). Sie dürfen nicht wissen, dass auch dieser Brief von mir kommt. Wenn sie das herausfinden, kann ich dich überhaupt nicht mehr erreichen. ICH BIN BEI OMA BOS UND WEISS NICHT, WARUM. SCHREIB MIR ODER RUF MICH AN. Nicht vergessen! Es ist wichtig.

Bis ganz bald!

Viele Grüße,

Juri

PS Insgeheim finde ich es doch auch spannend. Wenn ich dich bald wiedersehe, müssen wir es noch mal machen, nur umgekehrt. Dann bleibe ich zu Hause und du musst zu Oma Bos. Oder schlimmer: zu Oma Sterk!

(Und melde dich, ja?)

PPS Der Strip wird langsam echt gut.

Dienstag, 27. Juli

Hey Stefan,

Du bist ein Arsch. Du hast nicht geschrieben. Und nicht angerufen. Vielleicht darf ich nicht sagen schreiben, dass du ein Arsch bist, aber so ist mein Gefühl. Außerdem, was macht das schon? Wenn du meine Briefe bekommen hast und dich trotzdem nicht meldest, dann bist du ein Arsch. Und wenn du meine letzten drei Briefe nicht bekommen hast, ist die Wahrscheinlichkeit, dass du den hier trotzdem bekommst, eins zu hundert Millionen. Also: Arsch, Arsch, Arsch! Das erleichtert (aber nicht wirklich). Arsch.

Okay, jetzt ist es eine Stunde später. Als ich an meinem Strip gearbeitet habe, kam mir eine gute Idee. Was sage ich? Eine geniale Idee! Was sage ich? Eine supergeniale Idee! Ich werde dich ohne Handyguthaben anrufen. (Bestimmt rufst du jetzt: „Das geht gar nicht, Juri-Schnurri. Ohne Guthaben kann man gar nicht telefonieren! Außerdem ist mein Handy ausgeschaltet.“) Aber es geht doch. Ich werde dich von dem Festnetztelefon von Oma Bos aus anrufen! „Aber das erlaubt sie dir doch nicht?“ Nein. Deshalb tue ich es heimlich.

Leicht wird das nicht. Oma Bos ist den ganzen Tag zu Hause und hört wirklich alles. Das ist einfach unheimlich. Gestern rief sie aus der Küche: „Juri Sterk, würdest du bitte die Füße vom Tisch nehmen?“ Dabei saß ich um die Ecke, am Esstisch vor dem Fenster! Da konnte sie mich gar nicht sehen! Aber ich bin schlau gewesen. (Bestimmt rufst du jetzt: „Nein, Juri-Schnurri, du bist NICHT schlau!“)

Seit dem Aufstehen gucke ich schon ganz mitgenommen und klage über Bauchweh. Oma hat großes Mitleid mit mir und versorgt mich mit Tee. Jetzt liege ich mit einer Wärmflasche auf dem Sofa. Und gleich geht Oma einkaufen. Dann kann ich natürlich nicht mit, denn ich bin ja krank (hust, hust!). Angenommen, ich müsste mich im Geschäft übergeben! Wenn sie fort ist, schaue ich heimlich durch die Gardine, bis sie um die Ecke gebogen ist. Dann nutze ich meine Chance. Und wenn sie wiederkommt, liege ich wieder brav und krank auf dem Sofa. Tatata-taaa!

Wenn du das hier liest: Ich bin also bei Oma Bos. Und du sieh zu, dass du zu Hause bist!

Viele Grüße an Stefan Hampelmann

von Juri-Schnurri

Donnerstag, 29. Juli

Hallo Stefan,

ich habe dich nicht gesprochen. Und etwas sehr Seltsames ist passiert.

Dienstag, nachdem Oma mit der leeren Einkaufstasche um die Ecke gebogen war, habe ich dich sofort angerufen. Aber abgehoben hat niemand. Nach dem Abendessen, Oma war kurz nach oben gegangen, rief ich noch mal an und bekam Mama an den Apparat. Ich habe sofort aufgelegt. Nicht wirklich die feine Art, aber es ging nicht anders. Mama darf nicht wissen, dass ich versuche, mit dir zu telefonieren. Mittwoch habe ich es drei Mal probiert (Oma immer wieder losgeschickt nach Lakritz und Eiskrem für meinen wehen Hals), und immer sind entweder Papa oder Mama rangegangen. Du musst dir mehr Mühe geben, Stefan!

Das letzte Mal, als ich anrief, ging zwar jemand ran, aber ohne einen Namen zu sagen. Es blieb totenstill. Am anderen Ende der Leitung hörte ich nur leises Atmen. Ich wurde sehr nervös und hielt die Luft an. Sie haben mich durchschaut, dachte ich, sie haben mich durchschaut! Dann sagte Mama plötzlich mit einer zittrigen Knacksstimme: „Stefan? Stefan, bist du das?“ Ich erschrak so, dass ich sagte: „Nein, nein, ich bin es nicht.“ Dann knallte ich den Hörer auf. Mein Herz stand auf Turbo.

Stefan, warum hat Mama das gesagt? Was ist ihrer Meinung nach mit dir los? Ich traue mich nicht zu fragen, auch nicht Oma Bos.

Anrufen ist wohl keine so gute Idee mehr. Das heißt, ich höre jetzt damit auf.

Juri

Freitag, 30. Juli

Hallo Stefan,

du bist doch nicht böse, weil ich über deinen lauten Fernseher gemeckert habe? Das geht mir die ganze Zeit durch den Kopf. Der Gedanke ist wie ein Bumerang: Je fester ich ihn wegwerfe, desto schneller kommt er zurück. Ich meine den Abend, bevor ich zu Oma Bos musste. Ich wollte schlafen. Erst habe ich es mit den Geräuschen versucht. Aber Rennautos, das ging wirklich nicht. Ich bin aufgestanden und habe brav an deiner Tür geklopft. „Herein“, hast du gesagt. Also das war alles noch okay. Ich fragte, ob du den Fernseher etwas leiser stellen könntest, du sagtest: Ja, gleich. Ich sagte: „Aber nicht vergessen, ja?“ Dann sagtest du: „Ja-ha!“ Du fandst, ich sollte mich nicht so anstellen. Das konnte ich daran hören, wie du Ja gesagt hast. Ist es das, weshalb du mir böse bist? Weil ich dir nicht vertraut habe? Hast du den Fernseher darum erst dann leiser gestellt, als Mama von unten heraufblökte, du solltest es?

Wenn es das ist, entschuldige ich mich jetzt tausendmal. Würdest du dich dann jetzt bitte bei mir melden?

Juri

PS Zur Sicherheit nochmals Entschuldigung.

Samstag, 31. Juli

Hallo Stefan,

gute Nachrichten: Papa hat mir einfach so Grüße von dir bestellt! Na ja, nicht einfach so. Ich musste indirekt nach dir fragen. Das tat ich folgendermaßen: Papa rief an und ich fragte ihn, was er heute getan hatte.

Dann sagte er: „Eingekauft.“

Dann sagte ich: „Hast du auch was Leckeres gekauft?“

Dann sagte er: „Ja, Teilchen.“

Dann sagte ich: „Die habt ihr sicher zu dritt gegessen.“

Dann sagte er: „Nein, zu zweit.“

Dann sagte ich: „Aha, du und Stefan?“

Dann sagte Papa: „Nein, ich und Mama.“

Und dann fragte ich, ob er für dich und mich ein Teilchen aufgehoben hätte und wo du wärst. (Das klingt sehr umständlich, aber es geht darum, dass er nicht sofort merkt, dass es mir um dich geht.)

Und da hat Papa also plötzlich gesagt: „Ich soll dich von Stefan grüßen.“

Ich bin fast vom Hocker gefallen.

Danach stammelte ich etwas wie: „Schöne Grüße zurück.“

Die würde Papa ausrichten.

Vielleicht hätte ich besser fragen sollen, ob du meine Briefe bekommen hast. Oder warum du nicht ans Telefon kommen darfst. Aber ich wusste in dem Moment nicht, was ich sagen sollte. Papa legte auch schnell wieder auf, weil er und Mama gerade dabei waren, aus dem Haus zu gehen. Aber es ist ein Anfang. Jetzt grüßt du mich über Papa, und nächstes Mal tust du es selbst. Jetzt traue ich mich auch wieder anzurufen.

Wenn du diesen Brief liest, weißt du, dass ich deine Grüße erhalten habe (danke!) und dass ich an dich denke. Und dass es nicht an mir liegt, wenn wir uns nicht sprechen.

Ich bringe diesen Brief jetzt schnell zum Kasten, dann kann er heute noch mit.

Tschüss!

Viele Grüße,

Juri-Schnurri

Mittwoch, 4. August

Hallo Stefan,

wieder ein Brief von mir. Geht nicht anders, denn es gibt ein Problem. Wenn ich daheim anrufe, geht niemand ran, aber ich höre etwas Merkwürdiges: drei verschieden hohe Töne, immer wieder. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das bedeutet, dass man diese Nummer nicht mehr anrufen kann.

Ich habe es sehr oft versucht. Aber egal wie oft ich zu Hause angerufen habe, es hat nie mehr jemand abgehoben. Selbst Papa und Mama nicht. Auch Papas Handy ist aus.

Darum habe ich Tante Elise angerufen. Ihre Nummer stand in Omas Telefonregister. Tante Elise war überrascht, dass ich anrief. Sie fragte, ob es mir bei Oma Bos gefiel. Das war verrückt. Woher wusste sie, dass ich dort war? Ich habe einfach Ja gesagt. Dann fragte ich nach Papa und Mama und ob sie vielleicht wüsste, warum ich nicht mehr anrufen konnte. Tante Elise blieb still. Dann sagte sie: „Ich weiß es nicht, Juri.“ Ich fragte, ob sie wüsste, wo du bist. Sie sagte, sie hätte keine Ahnung, du wärst doch wohl sicher daheim? Dann fragte sie, was ich denn meinte, wo du wärst. Ich sagte: „Ich hoffe, zu Hause, aber ich habe so ein verrücktes Gefühl dabei.“ Als ich weiter nach dir fragte, sagte Tante Elise böse: „Ich weiß es wirklich nicht, Juri, ich habe deine Familie schon ein paar Wochen nicht gesprochen.“ Und da wusste ich, dass sie log. Denn wie hätte sie da wissen sollen, dass ich bei Oma Bos war? Tante Elise sagte, sie freue sich über meinen Anruf, aber jetzt müsste sie auflegen, weil ihre Kartoffeln sonst überkochten.

Warum ist niemand ehrlich zu mir? Ich fühle doch, dass irgendwas ist. Keiner kann mir weismachen, dass ich einfach nur zum Spaß anderswo schlafen muss.

Weißt du, was merkwürdig ist? Mama ruft selbst jeden Abend an. Und weißt du, was noch merkwürdiger ist? Ich gewöhne mich langsam ein bei Oma Bos. Ich helfe ihr jeden Abend beim Kochen. Am Wochenende haben Oma und ich ein Kochbuch gekauft. Darin stehen Rezepte aus der ganzen Welt. Wir essen jeden Abend an einem anderen Ort auf der Erdkugel. Wenn du so gegen sechs anrufst, kann es sein, dass ich den Hörer abnehme, mit „ola señor“ antworte (das ist Spanisch und heißt „Hallo, der Herr“), oder mit „bonsoir“ (das ist „guten Abend“ auf Französisch).

Und doch wäre ich lieber daheim.

Viele Grüße,

Juri

Sonntag, 8. August

Hey Stefan,

Juhu! Ich komme nach Hause! Mama hat gerade angerufen und gesagt, dass sie mich Samstag abholen. Eine gute Nachricht, was? Ach, ich weiß sicher, dass du das auch so siehst, auch ohne mit dir darüber zu sprechen. Mama hat noch gesagt, sie fände es doof, dass ich bei Oma Bos bleiben musste (das zu hören, wird Oma Bos sicher freuen …), und sie hätte eine Weile nicht gewusst, was sie tun sollte. Aber jetzt wird alles gut, meint Mama. Ich habe nach dir gefragt, und Mama tat so, als hätte sie es nicht gehört, auch als ich zum zweiten Mal fragte. Aber das macht mir nichts mehr, denn nächste Woche sehe ich dich ja wieder. Oma Bos hat heute zwei echte Tennisschläger gekauft, damit kannst du mich dann schön wegputzen. Ich habe schon zwei Stunden trainiert, das heißt, leicht werde ich es dir nicht machen. Trotzdem gewinnst du bestimmt, das schaffen große Brüder immer.

Bis bald, ja?

Juri

Samstag, 14. August

Stefan,

entschuldige meine Handschrift, aber im Auto kann ich nicht gut schreiben. Papa und Mama sitzen vorn und ich hinten. Ich hatte gehofft, du würdest mitkommen, aber als Papa und Mama angefahren kamen, sah ich sofort, dass die Rückbank leer war. Selbst als wir fast schon fortfuhren, als Papa zum Auto ging, um die große Sporttasche mit Sachen von mir in den Kofferraum zu tun, hoffte ich noch, du würdest jetzt da mit dem Kopf rausschauen und brüllen: „Ätsch, hast wohl gedacht, ich wäre nicht da, hast wohl gedacht, ich wäre nicht da!“ Aber als die Klappe aufging, war da kein Kopf, kein Gebrüll, kein Stefan. Nur leerer Kofferraum mit hellgrauem Teppich auf dem Boden.

Ich weiß nicht, warum ich schreibe. Es ist still im Auto. Wir fahren und fahren. Mama hat schon dreimal gefragt, wie es bei Oma war. Und ich habe gesagt: „Gut.“ Ich wollte zwar mehr erzählen, aber da kam nichts.

Ich will schreiben: Ich sehe dich gleich. Ich will es sagen! Am liebsten will ich es durchs Auto brüllen. ICH SEHE DICH GLEICH ICH SEHE DICH GLEICH ICH SEHE DICH GLEICH. So laut, dass mir der Hals davon wehtut. Aber es geht nicht. Also flüstere ich. Ich-sehe-dich-gleich. Meine Stimme traut sich nicht lauter. Ich habe Angst, dass alle lachen, wenn sie es hören. Dass alle Menschen auf der ganzen Welt, alle Leute auf den Fotos im Kochbuch (die Jungs mit Sombreros, die Männer in Kilts, die dunklen Frauen, die Krüge auf dem Kopf tragen), dass alle diese Menschen dann lachen. Dass sie deswegen über den Boden kugeln. Weil sie es längst wissen: Ich werde dich nie mehr sehen.

Juri

Samstag, 14. August