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Tabum Bel Hattasu, genannt Perle, ist von acht Blutsbrüdern aus den Händen der Gelben befreit worden, doch zu einem hohen Preis: Der achte Bruder wurde von den Fanatikern aus Babuterti ermordet. Nun soll Perle den Platz des Verstorbenen einnehmen. Doch passt er, der Fremde, der Waise aus adligem Hause, zu den Blutsbrüdern, deren Leitspruch lautet "In Blut und Tränen ungeteilt"? Auf ihrer Reise in die Tote Ebene sind die Blutsbrüder stets darauf aus, dem einfachen Volk zu helfen. Doch überall, ob im zwielichtigen Sichelgebirge oder in den herrenlosen Landen jenseits von Amfas, stellt sich immer wieder die Frage: Wem können die Brüder trauen? Überlebenswichtig wird dies, wenn eine Kiste des magischen "Sternenbluts" sie erneut zwingt, sich "den Gelben" zu stellen...
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Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für den gefallenen Bruder.
Dieses Buch enthält grafische Darstellungen physischer Gewalt gegen Menschen und Tiere. Einzelne Figuren äußern sich latent oder offen rassistisch.
Sklaverei, Alkoholmissbrauch, Prostitution und Mobbing werden thematisiert und stellenweise intensiv aufgearbeitet.
Für minderjährige Leser:innen ist dieses Buch nicht zu empfehlen.
Knoten
Einführung
1. Ein Bündnis der Narben
2. Die wütende Mutter
3. Jagd auf Blitzschlag
4. Auf dunklem Pfad
5. Unter Raben
6. Der Bruderstreit
7. Für eine Kiste Sternenblut
8. Das Schwert der Brüderlichkeit
Glossar
Karte der Toten Ebene
Ausblick auf weitere Projekte
Rauch und Schatten waren ihre Vorboten – Leid, Wahnsinn und Chaos ihr Gefolge. Im Jahre 782 der Zeitrechnung von Sishlan erhoben sich schwarze Drachen aus dem fernen Säufergebirge. Erst kamen wenige, angelockt von den Rauchschwaden der Großmächte und ihrer ewigen Kriege, dann folgten Schwärme, die den Himmel in Finsternis tauchten und mächtige Reiche in Wildnis verwandelten.
Dem Reich von Ur, in allen Teilen Mesämbras gefürchtet und in Größe unübertroffen, rissen die Ungeheuer das Herz aus der Brust, indem sie die Kaiserstadt Ur zerstörten. Seine führerlosen Bruchteile kämpften seitdem allein und allzu oft gegeneinander um ihr Überleben:
das disziplinierte Kušibutī. das fanatische Babutêrti. das doppelzüngige Napištum.
Die junge Heimat der Nokren, einst als Außenposten des Reiches von Sishlan gegründet, erlebte eine zweite
Geburt, fortan bekannt als „Drachenturm“. Die berüchtigten Stämme des Sichelgebirges wurden mit einem Schlag Heimat und Zuflucht nicht enden wollender Flüchtlingsströme.
Wälder wichen Wüsten, Reiche wichen Ruß ... und in ihrer Mitte, zwischen dem stolzen Tantora im Norden, den Erben Urs im Osten, den Sichelherren im Süden und Drachenturm im Westen, dem Reich der kriegerischen Nokren: die Tote Ebene.
Versunkene Kleinkönigreiche, verheerte Höfe, verödete Städte – und jene, die zurückblieben, um aus Staub und Trümmern ihre Heimat wieder aufzubauen. Manche nennen sie wahnsinnig, manche heldenhaft. Doch inmitten raffgieriger Banditen, eroberungslustiger Herrscher und religiöser Eiferer sind sie nicht länger ohne Verbündete.
Wir schreiben das Jahr 811 der Zeitrechnung von Sishlan. Die Narben des Feuersturms glimmen noch, jederzeit bereit, erneut aufzureißen. Entfremdet von ihren korrupten, abgehobenen Eliten schließen sich junge Nokren als Blutsbrüder zusammen, um jenseits ihrer Heimat Drachenturm für Freiheit, Gerechtigkeit und Ehre zu kämpfen. In einer Welt, die Gift, Feuer und Angst speit, ist Brüderlichkeit ihr Schwert und Schild.
Ihrer Taten gedenken die „Brüdergesänge aus der Toten Ebene“.
Unser Ziel schien in einer anderen Welt zu liegen, hinter einem Meer aus gleißendem, drohendem Licht. Es hatte geregnet und die Felsplatten vor uns glommen im weißen Sonnenschein. Karluf zog gewaltsam alle paar Schritte die Kapuze ins Gesicht, Etran ging voran, während Firthuk für sich und ihn eine Stoffplane mithilfe zweier Äste in die Höhe hielt.
In unstetem Gang folgte Fa’el – unsere Karte der Gegend diente ihm abwechselnd als Sonnenschutz und zur Orientierung. In unserer Mitte marschierte Kotol, der seine mächtigen Pranken vor die Augen hielt und hin und wieder missbilligend auf Getel hinabsah. Getel war der Einzige aus dem Brüderbund, der sich eine Kopfbedeckung mit breiter Krempe geleistet hatte: Die Brüder hatten ihm diese Ausschweifung gestattet.
Hinter dem Schrank und dem Schönling folgte Duthul. Kotols breite Schultern bewahrten ihn vor dem grellen Widerschein der Felsen. Seine zerfurchte Stirn verriet jedoch: Er trug andere Lasten mit sich.
Ich bemühte mich, mit Duthul Schritt zu halten und einige Fetzen von Fa’els lauten Gedanken aufzuschnappen. Die Zunge meiner Väter war das Akkadisch von Ur, die Brüder dagegen waren alle mehr oder weniger mit der Zunge Drachenturms aufgewachsen.
Fa’els feine Gesichtszüge und seine steife Körperhaltung ließen bereits auf eine gute Bildung und Kinderstube schließen. Seine Augen erinnerten mich an die Palastpforten von Ur: Wann immer sie offen gestanden hatten, hatten sie Reichtum und Wohlwollen zur Schau gestellt. Waren sie jedoch verschlossen gewesen, konnte man sicher sein, dass Großes dahinter vor sich ging. Seine sprachliche Begabung unterstrich diesen Eindruck noch zusätzlich. Daher lauschte ich vorzugsweise ihm, selbst wenn Etran, Karluf und Duthul meist den größeren Redebedarf hatten.
„... müssten morgen Abend den Kreis erreichen“, murmelte Fa’el. „Allerdings sollten wir uns langsam gen Norden wenden. Der nächste Pfad durch die Ebene wird ein Umweg sein!“
Etran hielt inne und leckte sich die Lippen. Wie meist saß im pockennarbigen Gesicht des untersetzten Mannes ein ruhiges Lächeln, um das der Rest der Brüder sich versammelte wie Schafe um ihren Hirten.
Vor Morgengrauen waren wir von unserem Rastlager an den Ausläufern des Sichelgebirges aufgebrochen und hatten uns am Südrand der Rauchebene entlang nach Westen begeben. Das Ziel: der Kreis des Bundes. Etran, Kotol, Karluf, Firthuk, Getel, Fa’el und Duthul hatten einst, zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise, einander den Eid der Brüderlichkeit geschworen, gemeinsam mit dem armen Tårnjam, für den ich nun in den Bund eintreten würde; ich, ein akkadischer Fremdling mit dem sichelförmigen Brandmal auf der rechten Wange, ich, ein Mann, dessen Vergangenheit nur noch eine Geschichte ohne Bedeutung war.
Ich hatte Tårnjam noch kennenlernen dürfen. Ich wusste, welch gütiger, treuer Nokre er gewesen war. Genau genommen hätte ich ohne seinen letzten Wunsch nun nicht an der Seite der verbliebenen sieben Brüder gestanden: hier, in der „Rauchebene“, einem Wald, ausgelöscht vom Odem der Drachen – bevor diese weiter im Osten meine Familie, meine Heimat, mein Leben von der Landkarte getilgt hatten.
Wann immer die Gruppe innehielt, wann immer Etran in seinem Reisesack nach der Urne mit Tårnjams Asche sah, wich die Wärme aus meinen Fingern und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Was hatte ich hier verloren? Würden sie sich am Ende doch umbesinnen, sich gegen mich entscheiden? Der Tod ihres geliebten Bruders lastete noch schwer auf ihnen.
„Was sagst du, Perle?“, brummte Karluf missmutig. „Weichen wir auf einen Umweg aus, den die Truppen des Turmes nicht benutzen – oder beeilen wir uns und nehmen die alte Handelsstraße?“ Völlig wider seine Natur sprach der rastlose Blondschopf langsam und deutlich. Ich erkannte, warum: Er wusste, dass ich jede Verzögerung ablehnte – und wollte mir zeigen, dass er es genauso hielt. „... Den sichereren, etwas längeren Weg“, fügte Etran augenrollend hinzu.
„Wie du meinst, Papa“, setzte Karluf nach. Kotol und Getel kicherten hämisch.
Duthul ging darüber hinweg. „Was macht es für einen Unterschied, was Perle denkt? Es steht vier gegen drei!“
Duthul sagte die Wahrheit – gleichwohl auf eine unhöfliche Art und Weise: Entscheidungen der Brüder mussten einstimmig sein. Eine Gegenmeinung musste von mindestens zwei Brüdern vertreten werden, um die Entscheidung den Elementen zu überantworten: Eine Münze wurde ein Mal ins Wasser, ein Mal ins Feuer und ein Mal in den Wind geworfen. Die Seite mit zwei Mal der richtigen Vorhersage fällte die Entscheidung.
„Es macht den Unterschied“, entgegnete Etran, „dass jeder Bruder gehört werden sollte.“
„Das haben wir bereits“, sagte Duthul leise – doch deutlich genug, dass ich es voll und ganz verstand. Die Brüder blickten betreten zu Boden.
„Wir haben darüber abgestimmt, ob wir Perle aufnehmen“, knurrte Karluf. „Und es war Tårnjams Wunsch, als er im Sterben lag. Außerdem waren wir uns bisher darüber einig, dass wir Perle wie einen von uns behandeln, solange wir Tårnjams Urne nicht bei dem Steinkreis begraben haben.“
„Abgestimmt haben wir darüber nicht!“, wandte Duthul ein.
„Und mitten in der Ödnis der Rauchebene fällt dir ein, dass wir das nachholen sollten?“, fragte Etran ungläubig. „Wie du schon sagst: Es ändert nichts am Ergebnis, ob Perle für den einen oder den anderen Weg ist. Aber es ist das einzig Brüderliche, ihm ebenfalls das Wort zu erteilen!“
Ich entschied, dass der Zeitpunkt dafür gekommen war. „Ich denke, mein Zustand schafft Streit. Es schmerzt mein Herz, meine Brüder streiten seh... zu sehen; auch, wenn ich nur Halbbruder bin. Beeilen wir uns also!“
Karluf nickte zufrieden, Duthul stöhnte, Etran seufzte. Firthuk holte einen polierten Säbel, die geläufigste Münze Drachenturms, hervor. Etran wählte die Vorderseite, also „Säbel“ für den längeren Pfad. Die Rückseite, „Schlange“ genannt, stand also für den kürzeren.
Die Silbermünze fiel in eine kleine Pfütze unseres Trinkwassers – „Säbel“ oben. Der zweite Wurf in ein von Getel entfachtes Feuerchen ergab „Schlange“. Als die Silbermünze nach dem dritten Wurf auf Kotols Handrücken zum Liegen kam, blickte uns ein zweites Mal der erste Dasch von Drachenturm an – vier grimmige Heerführer an einer verzierten Tafel, über ihren Köpfen die Doppelpyramide von Ushrilh. Säbel eins, Schlange zwei. „Zwei Drittel zugunsten der Schlange“, fasste Etran zusammen. „Damit ist es entschieden: Wir nehmen den kürzeren Pfad.“
Duthul wischte sich über seine von einem Bruch gekrümmte Nase, sagte jedoch nichts weiter. Trotz der Bekundungen der anderen kam ich aus dem Grübeln nicht heraus. Wünschten sie sich meine Anwesenheit – oder war ich nur eine Erinnerung an Tårnjam? Konnten sie mich mit meinen Fähigkeiten überhaupt gebrauchen? Gewiss, im Kampf gegen meine Verfolger aus Babutêrti hatte ich einen wirbelnden Tanz mit Dolch und Säbel dargeboten. Die fanatischen Häscher der Hohepriester aus der alten Stadt am Blutmeer hatten verdutzt ihre Jagd aufgegeben, als ich die Lektionen meines Fechtmeisters zur Anwendung gebracht hatte ... Ein wehmütiges Lächeln schlich über mein Gesicht, Erinnerungen an mein altes Leben: Ich war beredt, belesen, hätte Richter werden können oder als Verweser in die Verwaltung einsteigen – nun stammelte ich wie ein Kleinkind unbeholfene Sätze in einer fremden Zunge, in der Fremde, mit Fremden, als Fremder!
Ich bemühte mich, trotz meiner düsteren Gedanken, mit der vorderen Reihe Schritt zu halten. Ich sehnte mich nicht nach einem klärenden Gespräch mit Duthul, der wieder das Schlusslicht bildete. Wie viel Klarheit könnte ich mit dem Knoten in meiner Zunge überhaupt schaffen?
Die Mittagssonne wärmte unsere Reisesäcke und Köpfe, während wir auf der alten Handelsstraße gen Norden zogen, hinauf zu den Sümpfen des Schweigens. Sehnsüchtig streckte sich mein Schatten nach diesen aus. Ich hatte zu Fa’el aufgeschlossen, der seine Karte nun eingepackt hatte.
„Warum“, fragte ich, „sind die Truppen des Turms gefährlich für uns?“
Der hochgewachsene Nokre mit dem fadendünnen Schatten zog eine Grimasse.
„Weil wir uns eine Freiheit erlauben, die von den Herren in Drachenturm nicht gern gesehen wird“, erwiderte er. „Und einen Zusammenhalt leben, der die Macht des Fürsten in Gefahr brächte, würde ein jeder in Drachenturm dieser Lebensweise folgen.“
„Aber“, wandte ich ein, „welchen Schaden kann euer Beispiel so fern der Heimat anrichten?“
Etran mischte sich ein. „Sieh es so: Je näher wir Drachenturm selbst kommen, desto mehr verabscheut uns der Großfürst persönlich. Je weiter wir von Drachenturm weg sind, desto weniger schert es den Großfürsten, was seine Truppen mit uns anstellen! Und hier draußen, an der fernsten Reichsgrenze ... hier fühlen sie sich alle wie Großfürsten – und wir erinnern sie daran, dass der Großfürst sie noch nicht einmal anspucken würde.“
Kotol gluckste belustigt. „Das Einzige, was ich jederzeit für den Großfürsten erledigen würde!“ Die Köpfe mehrerer Brüder zuckten beim seltenen Klang seiner Stimme herum. Der wortkarge Nokre war nicht nur gelernter Schmied – sein großer, kräftiger Leib wirkte wie ein Bronzebildnis und seine stets gerunzelte Stirn schien wie eine stählerne Platte, die sagte: Du kommst hier nicht herein!
„Aber wenn das Reichsgebiet für uns so gefährlich ist“, hakte ich nach, „warum habt ihr euren Kreis des Bundes dorthin gelegt? Warum nicht in die Fremde?“
„Das ist der Brauch“, erklärte Karluf. „Der Kreis muss in der Heimat liegen. Ein Mann ohne Heimat ist ein Niemand.“
Ich schlug die Augen nieder. Karluf räusperte sich verlegen. „So war das nicht gemeint, Perle.“ Ich nickte, doch ein Flimmern auf meiner Netzhaut brachte die Flammen zurück: die stürzenden Türme von Ur, die schreienden Menschen, die berstenden Steine, das ohrenbetäubende Kreischen der fliegenden Ungeheuer ... Achthundert Jahre der Pracht, versunken in einer glühenden Hölle. Es war wie in der grausigen Geschichte meiner alten Amme: Der Vogelmann, ša kīma irum imarras, gab sich nur mit dem Herzen zufrieden, und nur dann, wenn er das Herz eines Rechtschaffenen verspeist hatte, vermochte er seine vielgerühmte Sehergabe einzusetzen. Wie der Vogelmann hatten die Drachen das Herz meiner Heimat herausgerissen: Ur, die Stadt meiner Ahnen. Den Rest des Reiches hatten sie den „drei Krokodilen vom Blutmeer“ überlassen: den Priestern von Babutêrti, deren Diener in blindem Gehorsam mordend durch die Lande zogen, den Beamten von Kušibutī, die das Schrifttum und die weisen Gesetze meine Heimat bewahrten, und den Geheimniskrämern aus Napištum, die ihren Reichtum in tollkühne Erfindungen und Entdeckungen steckten.
Die Rauchebene, jener triste Landstrich, durch den ich mit den Brüdern zog, teilte das feurige Schicksal meiner Heimat: Wo einst die vier Türme von Ur von ihren Bewohnern die „vier Augen des Himmels“ genannt worden waren, prasselten heute Monsune auf rußgeschwärzte Steinquader nieder. Wo sich einst ein sattgrüner, dichter Wald von Westen nach Osten zwischen den Sümpfen und dem Sichelgebirge erstreckt hatte, fegte heute schwarzer Sand über tote Baumstümpfe links und rechts von einer verwaisten Handelsstraße, einer Lebensader, in die nur langsam die ersten Blutstropfen zurückkehrten. Mir dämmerte, warum die Brüder so schnell nachgegeben hatten: Insgeheim wollten sie dem Anblick der Rauchebene so schnell wie möglich entkommen.
Die Nacht kam als Gnadengeschenk: Unsere langen, dünnen Schatten gingen auf in ihrer Umarmung. Fa’el entzündete eine Fackel, deren zitternder Schein nicht über den Straßenrand hinausreichte. Blindheit konnte eine Wohltat sein, sinnierte ich im Stillen, und tatsächlich: Während die Luft frischer und kühler wurde, hob sich die Stimmung unter den Brüdern. Der grüblerische Duthul holte seinen Kamm und das dazugehörige Laubblatt hervor und begann, eine schlichte, aber heitere Weise zu spielen. Kotol und Getel erkannten das Lied auf Anhieb und summten sorglos die Melodie mit. Ich sah, wie Karluf den Weinschlauch von der Schulter nahm und ihn Firthuk überreichte. „Mach mal dein Kehlchen feucht, Bruder!“, rief er. Ich hatte schon gehört, welche Maßnahmen nötig waren, um Firthuk seinen schönen Gesang zu entlocken. Der Nokre mit dem blassen Mondgesicht war sehr schüchtern und fürchtete die Blamage mehr als den Tod. Oft, wenn ich die Brüder beobachtete, fiel mir auf, wie Firthuks Blick unstet zwischen den anderen umhersprang – und schnell auswich, wenn jemand ihn bemerkte.
Jetzt, zwei beherzte Schlucke und einen von Kotols Pranken verliehenen, brüderlichen Klaps später erhellte seine Stimme jedoch die Dunkelheit mit den passenden Versen:
Drachenblut bringt Tod und Leben,
Bringt Ehre oder Schmach!
Gipfel glüh’n und Wolken beben,
Da liegt des Jägers Pfad.
Der Himmel schickt zur Prüfung Glut,
Die Guten bleiben steh’n!
Er ist das Herz von Drachenturm,
Der Jäger darf nicht geh’n!
Das freche Loblied auf die nokrischen Drachenjäger war ein Protest gegen den Großfürsten, der diese gefürchteten Krieger aus Stolz vertrieben hatte. Hier vertrieb es die Finsternis aus den Herzen der Brüder. Als sie in Firthuks Gesang einstimmten, versuchte auch ich mich daran.
Jede Sprache hatte ihre eigene Melodie. Das hatte Saphum-Liphur, mein Hauslehrer und späterer Ziehvater, stets betont, und so hoffte ich, dass meine hölzerne Aussprache durch die Gesänge geschliffen würde. Ich warf einen vorsichtigen Blick zu Duthul hinüber. Dessen hellbrauner Scheitel jedoch hing ihm über die Augen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun der Musik. Auch Etran hatte eingestimmt, zögerlich und als Letzter, denn wir näherten uns dem Reichsgebiet von Drachenturm.
Als in der Ferne ein goldenes Licht am Wegesrand aufflackerte, war er der Erste, der verstummte. Sogleich nahm Karluf Getel den Weinschlauch ab, Firthuk sang seinen letzten Vers („Man bricht nicht mitten im Vers ab!“) und Duthul steckte seinen Kamm ein.
Wir löschten unser Feuer und zückten unsere Waffen. Etran gab Getel und Karluf mit einer Geste zu verstehen, ihr Mundwerk im Zaum zu halten. Es erwies sich als zu spät. Eine Gruppe von Männern mit Laternen näherte sich unserem Lager. Allmählich wurden die Umrisse von knapp einem Dutzend Männer sichtbar: Je näher sie uns kamen, desto unruhiger wurden die Brüder – und desto deutlicher hörten wir klirrendes Metall und knarzendes Leder. Als die Brüder in den Händen eines der Soldaten ein Banner flattern sahen, stöhnte Etran auf. „Da haben wir’s ...“
Fa’el und ich entfernten uns rasch aus dem nahenden Lichtschein der Laternen. Er deutete auf das Emblem: ein nach unten zeigendes Schwert, dessen Knauf als Turmspitze stilisiert war, vor einer gelben Scheibe. „Das ist das Turmschwert“, flüsterte er mir zu. „Gehört zu den Soldaten der östlichen Marken von Drachenturm.“
„Offenbart euch!“, rief der Oberst, der an seinem polierten Brustpanzer zu erkennen war. Zwei Soldaten in Lederwämsern flankierten ihn, während die übrigen Männer hinter ihm in Habachtstellung das Geschehen verfolgten. Fünf Mann im Hintergrund, drei gleich vor uns – das waren besser alle, hoffte ich. Karluf stellte sich unauffällig vor mich und Fa‘el. Er stand Kotol in Größe und Kraft in nichts nach, hatte jedoch nicht die Haltung eines Soldaten, sondern vielmehr eines drohenden Bären. „Bleibt hinter mir“, raunte er. „Nicht, dass sie Fa’el noch wegen seiner Flugschriften an den Galgen bringen ...“
„Heil euch, Männer des Fürsten!“, sagte Etran in schneidigem Ton. Der Oberst war ein drahtiger Mann von eher kleinem Wuchs, doch seine Haltung verlieh ihm Größe – wie hatte es mein Fechtmeister gesagt? Ein Tuch, das man so heftig ausgewrungen hatte, dass nur Disziplin übrig geblieben war. „Heil euch, Söhne des Turms!“, erwiderte er.
„... Drachenturms“, berichtigte Getel – und erntete von Etran einen Stoß in die Rippen. Ein verächtliches Funkeln huschte über das trockene Antlitz des altgedienten Soldaten. „Welche Geschäfte hattet ihr jenseits unserer Grenzen zu verrichten?“
„Wir sind Söldner“, erklärte Etran. Die besten Lügen sind ehrabschneidend für den Lügner – das war sein Leitspruch in solchen Lagen. Und wie ehrabschneidend, das konnte man in Duthuls Gesicht ablesen.
Etran fuhr fort. „Wir haben eine Gruppe von Händlern und Gelehrten auf ihrem Weg in die Tote Ebene eskortiert.“ Der Oberst hob eine Braue. „Und für den Rückweg wart ihr wohl zu teuer?“ Die Soldaten zu seiner Linken und Rechten glucksten vergnügt. „Keineswegs“, entgegnete Etran ruhig. „Wir haben die Gruppe zu ihrem vereinbarten Treffpunkt gebracht und sie dort den sorgenden Händen der Truppen von Kušibutī überantwortet. Zur Sommersonnenwende in drei Jahren, wenn ihr Gastbrief ausläuft, holen wir sie wieder ab.“ Der Oberst schürzte die Lippen. „Eindrucksvoll ... Und für all das habt ihr vermutlich keinerlei Beweis, oder?“
Während meine Anwesenheit zuvor einige Fragen aufgeworfen hätte, sah es nun so aus, als könnte sie die Wogen glätten. Zögerlich trat ich hinter Karluf hervor und verbeugte mich überschwänglich. In so gebrochener Zunge, wie mein Stolz es erlaubte, stellte ich mich vor.
„Heil, Herr! Sie nennen mich Tābum. Ich sein Abgesandter aus Kušibutī. Ich haben mich schlossen an deine Landsleute, wenn sie treffen sich in Toter Ebene.“ Ein trauriges Schauspiel. Dennoch: Für den Bruchteil einer Sekunde fiel die Anspannung von dem Oberst ab – er schien mir zu glauben! „Na gut“, versetzte er knapp. „Weder sieht euer Begleiter aus wie ein Nokre noch klingt er so. Ihr dürft passieren. Allerdings ...“ Er verzog seine Lippen zu einem schmalen Grinsen und blickte zu seinen Männern. „... müssen wir für unseren Zusatzaufwand einen Wegzoll erheben. Schließlich habt ihr die Nachtruhe von Männern des Großfürsten gestört!“ Seine Soldaten glucksten vorfreudig. Etran und Firthuk führten eine kleine Feilscherei auf. Auf solche Begegnungen waren sie vorbereitet. Etran händigte schließlich ein Säckchen mit Säbeln aus. Der Oberst blickte hinein und schnalzte mit der Zunge. „Lasst euch in drei Jahren besser entlohnen! Na ja ... Wer weiß, ob ihr’s wert seid ...“
Etran stellte sich auf Karlufs linken Fuß, um eine forsche Bemerkung zu unterbinden. „Eine geruhsame Nacht wünschen wir!“, sagte unser Meister der Mäßigung. Der Oberst führte seine Soldaten in ihr Lager zurück.
Schon beim ersten Tageslicht jedoch waren die Männer zurück – diesmal in Begleitung ihres Trosses: Zwei beschlagene Käfige auf Rädern und ein einfacher Wagen, jeweils gezogen von zwei Eseln.
Hastig schüttelten wir den Schlaf aus den Knochen. Die Hände an den Waffen und versammelt um unsere Feuerstelle, empfingen wir zum zweiten Mal den Oberst und seine Männer. „Guten Morgen!“, sagte dieser. Etran erwiderte den Gruß. „Wie können wir Euch diesmal helfen? Einen zweiten Zoll können wir uns leider nicht leisten!“
„Damit wird es dieses Mal nicht getan sein“, erwiderte der Oberst knapp und deutete auf den alten Soldaten neben sich. „Unserem alten Egåm ist gestern etwas aufgefallen. Der Fremdling möge vortreten!“
Mit gesenktem Blick stellte ich mich neben Etran.
„Egåm“, sagte der Oberst. „Sage diesen Männern, was du bemerkt hast!“
Der Alte deutete mit dem Finger auf mein Gesicht. „Das Brandmal! Das ist keine normale Wunde.“ Der Oberst berichtigte ihn. „Du warst dir gestern Abend nicht sicher, richtig?“ Egåm nickte. Der Oberst fuhr fort. „Aber unser Gefangener hat deine Vermutung bestätigt, nicht wahr?“ Der alte Soldat nickte abermals.
Ein boshaftes, schmales Lächeln legte sich über das Gesicht des Obersts. „Narbengesicht!“, rief er in Richtung des vorderen Käfigs. „Schau dir den Fremdling mit eigenen Augen an und sage uns, was du uns gestern Nacht gesagt hast!“ In dem Käfig rasselten Ketten. Unwilliges Stöhnen war zu hören.
„Mein Herr“, klagte Etran. „Meint Ihr wirklich, dass das nötig ist? Seht, uns schert nicht, was Ihr mit Euren Gefangenen anstellt – wir sind Söldner! –, aber müsst ihr uns zugleich von unserer Reise abhalten? Wir haben noch viele Tagesmärsche vor uns!“
Der Oberst bemühte sich nicht länger, seine Abscheu uns gegenüber zu verbergen. „Ihr mögt nur bei der richtigen Bezahlung die Finger rühren – wir dagegen tun immer unsere Pflicht. Und die besteht darin, keine Halunken in unser gepriesenes Reich hineinzulassen!“ Das schmutzige Gesicht eines Nokren erschien in dem kleinen Gitterfenster des Käfigs. Die Strahlen der Morgensonne ließen die vielen Schnittnarben des Gefangenen wie winzige Kometen leuchten. „Inhaftierter!“, bellte der Oberst. Beunruhigt sah ich drei weitere Männer aus den Zelten kriechen ...
„Was kann ich für Euch tun?“, knurrte das Narbengesicht mürrisch.
„Du kennst dich doch aus mit Narben“, ätzte der Oberst. „Sage uns jetzt, was du uns gestern gesagt hast – oder brauchst du einen weiteren Anreiz?“ Er deutete in meine Richtung. Narbengesicht kniff die Augen zusammen und blickte zu mir. Er musterte mein Brandmal – dann sah er in unsere Runde, als ob er nach einem Grund suchte, uns zu decken. Keiner der Brüder, keiner der Soldaten sagte ein Wort. Nur die Esel schnaubten geduldig.
Dann verschwand das Gesicht aus dem Gitterfenster. Aus dem Innern des Käfigs tönte es: „Das ist ein Sklavenmal von den Spinnern aus Babutêrti.“ Ein Raunen ging durch die Mannschaft.
Ich zählte erneut, schluckte: Nun hieß es zwölf gegen acht! Vier Mann mussten am Vorabend das Lager bewacht haben. „Wenn ihr dem nichts hinzuzufügen habt ...“, folgerte der Oberst, „... fordere ich euch nun auf, den Sklaven an uns zu übergeben. Wie ihr wissen solltet, ist es nur dem Großfürsten erlaubt, Sklaven für höfische Dienste zu halten.“
Karluf und Kotol, unsere zwei kräftigsten Brüder, traten neben Etran, um den Oberst einzuschüchtern. Etran versuchte mit einer Geste, die Gemüter zu beschwichtigen. „Tābum“, sagte er zu mir. „Erkläre den Herren, wie du zu deiner Narbe gekommen bist ...“
Das Blut raste kochend durch meine Adern. Ich dankte den Göttern für die Dunkelheit meiner Haut. Inmitten all der bleichen Gesichter machte es unsere Lüge um Einiges überzeugender! Dass ich die Farbe meiner Haut in solch einer ehrabschneidenden Weise ausnutzte, schien mir nur gerecht – ich hatte uns mit meiner Lüge immerhin in diese Lage gebracht. Und eine Erklärung war nicht schwer zu finden: Die Suchtrupps von Babutêrti waren schnell dabei, Fremde in die Sklaverei zu verkaufen. Ich setzte in meinem übertriebenen Akzent zu einer kleinen Lügengeschichte an. „Nun, Herr Soldat, ich war nicht immer so von Glück und Segen. Vor fünf Jahren ...“
„He!“, unterbrach mich einer der Soldaten, der sich zu dem Oberst und seinen Begleitern gesellt hatte. Zu meiner Verwirrung deutete er an mir vorbei – auf Fa’el. „Den da hab ich schon mal gesehen ...“ Etran blickte vorwurfsvoll zu Kotol hinüber, der seinen Posten verlassen hatte.
Der Oberst nahm den Bruder in Augenschein. Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Fa’el, Sohn von Hīlnek“, sagte er voller Genugtuung. „Fa’el, der Hetzer von Grauwall ...“
In diesem Moment war klar, dass unsere Tarnung nicht mehr zu halten war. Auch Etran musste dies bemerkt haben. Ohne zu zögern, zückte erseinen Krummdolch und stürzte sich auf den Oberst – die Klinge des Soldaten Egåm parierte den Angriff. Kotol griff zu Säbel und Schild und kam seinem Bruder zu Hilfe. Karluf packte seine wuchtige Keule und stürzte sich ebenfalls ins Kampfgeschehen. Die anderen folgten – und nun stürmten auch die übrigen Soldaten des Großfürsten heran. Ein bulliger Kerl kam grinsend auf mich zu. Ich ging mit Dolch und Säbel in Stellung.
Das schien den Soldaten zu belustigen. Mit hochrotem Kopf stürmte er auf mich zu. Ich brauchte beide Waffen, um die seine zu parieren. Sogleich versetzte er mir einen Tritt. Ich taumelte rückwärts. Die Klinge des Soldaten streifte meine rechte Wange. Ich ging mit einem Satz auf Abstand, wischte mir das Blut mit dem Ärmel aus dem Gesicht, wehrte zugleich den erneuten Ansturm dieses blutrünstigen Kampfhundes ab.
Seine Hiebe waren wild und heftig, aber ungenau – und ich war müde und hörte Karlufs schmerzerfüllten Schrei. „In Blut und Tränen ungeteilt“, murmelte ich. Dann ging ich zum Angriff über, unterband mit dem Dolch seine Vorstöße, bevor sie Schwung aufnehmen konnten – und als das Rotgesicht langsam meine Kampfweise begriff, wechselte ich die Hände. Der Soldat stockte beeindruckt, ich schlug ihm das Schwert mit dem Säbel aus der Hand und versetzte seiner Kehle einen Streich mit meinem Dolch.
In dem Moment, da der Soldat zu Boden sank, verflog mein Rausch und ich begriff: Ich hatte einen Mann getötet – zum ersten Mal. Sicher, ich hatte schon gefochten: mit Vaters Schwertmeister, meinem Mentor Saphum-Liphur, später mit meinen Herren aus Babutêrti ... Doch während Ersterer ein lieber Freund gewesen war, hatte Karluf Letzteren die Schädel zertrümmert, bevor mein Schwerttanz ihnen eine Schnittwunde hatte zufügen können.
Benommen näherte ich mich den übrigen Gefechten. Karluf war an der Wade verletzt worden und schwang seine Keule nun kniend. Etran und Kotol flankierten ihn. Sie kämpften jeweils gegen drei Mann. Etwas abseits beschäftigte Duthul zwei weitere Männer des Großfürsten mit seinem nokrischen Rapier, dem „Drachensäbel“.
Einem der Soldaten hatte er bereits eine blutende Stichwunde beigebracht, doch zu zweit vermochten seine Gegner, ihm standzuhalten. Nur zwei der übrigen Soldaten waren zu Boden gegangen und schleppten sich keuchend hinter einen ihrer Wagen. Hasserfüllt blickten sie zu mir hinüber. Firthuk, Fa’el und Getel waren bereits kampfunfähig. Der gelehrte Bruder, den sie in Drachenturm anscheinend einen „Hetzer“ nannten, lag ohnmächtig mit einer Platzwunde nieder. Getel hatte einen weniger glücklichen Streich gegen die linke Schulter abbekommen. Ich eilte ihm zu Hilfe. „Kümmer’ du dich um Firthuk“, keuchte ich. „Ich halte diese Kerle in Schach.“
„Das wird nicht schön aussehen“, murmelte Getel. Seine Eitelkeit ließ sich von körperlichen Schmerzen nicht einschüchtern.
„Nein!“ Auch meine Gegner erstarrten durch Kotols Schrei. Etran war auf die Knie gesunken. Sichtlich erschöpft wehrte er die Stöße des Obersts ab. Dieser überwand mit einer Finte Etrans Verteidigung, entwaffnete unseren Bruder und setzte zum Todesstoß an. Kotol wehrte den Schwerthieb ab, doch der Schlag riss ihm den Säbel aus der Hand. Der Ehrfurcht gebietende Nokre senkte den Kopf. Zähneknirschend sagte er: „Wir ergeben uns“. Leise fluchend händigte nun auch Duthul seinen Drachensäbel aus, während zwei der Soldaten den Rest von uns entwaffneten.
„Ihr werdet in Drachenturm der Gerichtsbarkeit des Großfürsten unterstellt werden“, erklärte der Oberst streng. Dann fuhr er in Richtung seiner Männer fort. „Steckt sie in den zweiten Wagen!“
„Was ist mit dem da?“, knurrte einer der Soldaten und stieß mich in die Mitte des Lagers. „Der Fremdling hat Gilom auf dem Gewissen – hat ihn regelrecht geschlachtet ... wie ein Opfer für seine teuflischen Götter! Gleiches mit Gleichem, sag ich nur!“
„Gleiches mit Gleichem!“, erwiderten grölend seine Kameraden.
Der Oberst gebot ihnen zu schweigen. „Wir sind Hüter des Gesetzes. Der Ausländer soll für seinen Mord an unserem Kameraden im Angesicht aller Nokren von Drachenturm büßen. Soll er Giloms hübscher Witwe in die Augen sehen, bevor die Armbrüste ihn mit Bolzen spicken!“ Diese Aussicht befriedigte den Rachedurst der Männer vorerst. Mir jedoch blieb keine Zeit zum Aufatmen. „Steckt den Fremdling zu unserem Einzelgänger!“, befahl der Oberst. Ich schüttelte mich, machte Anstalten, mich zu wehren.
„Keine Wand soll zwischen euch stehen, im Leid wie im Glück“ – so besagte es der Schwur der Brüder. Etran warf mir einen Blick zu, der sagte: „Setze dafür nicht dein Leben aufs Spiel.“ Noch bevor ich über die kleine Rampe in den eisenbeschlagenen Wagen getrieben wurde, wich jeder Widerstand aus meinen Gliedern. Meine Tage waren gezählt: Ich war nun ein Mörder in einem fremden Land. Bevor ich einschlief, dachte ich: „Hoffentlich wachst du nicht mehr auf.“
In der ersten Nacht träumte ich wirres Zeug: Statt mit Meister Saphum-Liphur zu reisen, befand ich mich in Ur, während die Drachen wüteten. Hüter des Himmlischen Schatzes aus Babutêrti stürmten durch die Gemächer des Anwesens meiner Familie. Alles brannte, doch ich erinnerte mich an jeden Winkel von Vaters Geschäftszimmer. Versteckt unter seinem Schreibtisch sah ich zu, wie Männer mit blutverschmierten Dolchen meinem alten Herrn die Kehle aufschlitzten, dann Mutter, dann meinen Brüdern – bis sie mich entdeckten, hervorzogen und ...
Ein Tritt meines Mitgefangenen holte mich aus dem einen Albtraum in den anderen zurück. „Du redest im Schlaf“, knurrte Narbengesicht. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er in der Zunge von Ur zu mir gesprochen hatte. „Wart Ihr schon mal in meiner Heimat?“, fragte ich. „Spielt keine Rolle“, brummte der Fremde und kehrte mir den Rücken zu. Die Welt außerhalb der kleinen, vergitterten Fenster war in das kühle Dunkelblau des frühen Morgens getaucht.
Ich griff nach meinem Mantel. Die Soldaten hatten ihn auf links gedreht, bis nichts Wertvolles oder Gefährliches mehr darin zu finden gewesen war – und ihn als zerknitterten Stoffballen durch das Gitter geschoben. Hastig verkroch ich mich vollständig unter dem steifen Filz. Der Tross war bereits aufgebrochen. Unter uns rumpelten die Wagenräder über die Handelsstraße, vor uns schnauften rhythmisch die Esel. Einem Blick durch die Gitterfenster auf meiner Seite entnahm ich, dass mein Wagen die Vorhut bildete.
„Warum habt Ihr uns verraten?“, fragte ich.
„Kannst du das ‚Ihr‘ abstellen?“, kam es nach einer Weile zur Antwort. „Du bist nicht mein Diener.“ Dieser Umgangston widerstrebte mir, doch ich fasste mir ein Herz. „Ich habe dir eine Frage gestellt“, hakte ich nach. „Und deine Antwort spielt eine Rolle für mich.“
„Ich kann niemanden verraten, mit dem ich nichts gemein habe“, erwiderte Narbengesicht, schmatzte schläfrig und setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber auf. Mit dem scharfen Blick eines Raubvogels musterte er mich. „Ich kann solche Aufschneider wie deine Truppe nicht ausstehen“, erklärte der Gefangene abfällig. Ich hielt seinem Blick stand – und sah mehr als nur die Augen eines genauen Beobachters. Ich sah, dass hinter dieser schlichten Antwort eine Geschichte mit mehr als einem Kapitel steckte.
„Warum hältst du uns für Aufschneider? Was gibt dir das Recht zu einem so vorschnellen Urteil?“
„Mein Urteil ist nicht vorschnell ...“ Narbengesicht straffte seine Haltung und für einen Wimpernschlag sah ich unter verschlissenen Lumpen und ungeschorenem Kopf- und Barthaar einen verwandelten Mann, das Auflodern einer alten Glut. „Ihr seid einer dieser ‚Brüderbünde‘, nicht wahr? Zieht von zu Hause aus, um Abenteuer zu erleben, gebt vor, etwas gegen Befehlshaber zu haben, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Hehre Ziele! Um Ordnung zu schaffen, braucht es mehr als eine Gruppe bewaffneter Gaukler!“
„Ihr scheint eine Menge über Brüderbünde zu wissen ...“, murmelte ich. Narbengesicht nickte zufrieden. „Volltreffer also.“ Mit diesen Worten legte er sich wieder hin und drehte sich seiner Wand zu. Doch der Fremde hatte unsere Ehre angegriffen, schlimmer noch: Aufgrund seiner Vorurteile saßen wir hier fest! Ich wollte ihm die kalte Schulter zeigen, doch mein Mundwerk hatte andere Pläne. „Ihr ... Du liegst falsch und ich werde es dir beweisen! Mein Name ist Tābum Bel Haašu“, sagte ich. „Vor dreizehn Jahren verlor ich das Leben, das meine Mutter mir geschenkt hatte. Die Haašus waren eine angesehene und vermögende Familie von Ur. Vater war ein mächtiger, aber großzügiger Herr. Wie die Dichter sagen: ‚Die Gestirne strahlten heller für uns‘ ...
Bis der Rauch des Drachenfeuers das alles verschlungen hat. Ich hatte das Glück, dass Vater mich mit unserem Schwertmeister auf eine Eskorte nach Dan-Kettu geschickt hatte. Wir konnten die Tore von Ur noch sehen, als der Himmel sich verdunkelte und unsere prächtige Hauptstadt in Flammen und Geschrei versank. Mein Schwertmeister musste mich festhalten, damit ich nicht in die lodernden Trümmer unseres Anwesens stürmte und Mutter und Vater suchte. Ich wollte ein Held sein an diesem Tag, doch ich war ein Aufschneider, denn ich wäre im Qualm erstickt wie ein Wurm. Meister Saphum-Liphur nahm mich mit zu seinen Verwandten in Dan-Kettu.
Das war meine zweite Familie. Sechs Jahre genoss ich die Ausbildung im Kreise seiner Söhne und Neffen, bis die Schergen aus Babutêrti über die kleine Stadt herfielen. Sie rafften meinen alten Freund dahin und verkauften mich in die Knechtschaft. Mein Brandmal habt ihr ja erkannt!“
Der Fremde regte sich nicht – aber er machte auch keine Anstalten, mich zu unterbrechen. Es tat gut, wieder einmal meine Muttersprache zu sprechen: die Sprache, in der mein Meister mich in die Redekunst eingeführt hatte. Mit gesteigertem Eifer fuhr ich fort.
„In der Knechtschaft lernte ich, dass mein ganzes Leben eine Lüge gewesen war. Ich war nun ein Niemand: ein Paar Hände, das zum Reinigen von Aborten gebraucht wurde, ein Paar Beine, das zum Tragen von Lasten gerade gut genug war. Ich lebte neben anderen Niemanden: Menschen, die auch meine Familie beschäftigt und stets gut behandelt, aber nicht wirklich gesehen hatte. Einmal erzählte ich einem dieser Niemande meine Geschichte – und er schüttelte bloß mitleidig den Kopf! Ob er mir nicht glaubte oder für mich hoffte, dass ich log – welchen Unterschied machte es? Ich war kein verzogener adeliger Bengel gewesen vor der Drachenfinsternis, wie wir Akkader sie nennen. Ich hatte immer gern geteilt, war hilfsbereit gewesen, wenn ich denn gesehen hatte, dass jemand Hilfe brauchte. Doch ich kannte dieses Leben der Niemande nicht und hätte wohl meinerseits den Kopf geschüttelt, wenn mir dieser Mann seine Geschichte erzählt hätte. Ich verlernte also den Schmerz, nicht gesehen zu werden, denn Hunger und Durst lenkten jede meiner Bewegungen. Hunger, Durst – und die Furcht vor meinen Herrn.
Mein letzter Herr setzte mich als Schreiber ein. Ich musste nicht mehr in Gruben schuften, aber tatsächlich war das meine schlimmste Zeit: Ein Mann des Glaubens kaufte mich und nahm mich mitsamt seinem Gefolge mit in die Tote Ebene, um ‚Untersuchungen‘ durchzuführen: Hetzjagden, Verhöre, Tortur und Gemetzel, die regelmäßig mit entvölkerten Siedlungen und qualmenden Scheiterhaufen endeten. Der Priester klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und mein Bauch war stets gut gefüllt – doch meine Schultern sanken täglich unter dieser neuen Last, die ihnen aufgebürdet wurde, und mein Bauch wollte sich nach außen kehren, sobald ich erwachte. Die Verzweiflung wuchs über die Gefahr hinaus, gefangen zu werden – und so rannte ich eines Nachts davon. Das war die Nacht, als ich Tårnjam in die Arme lief, dem Nokren, zu dessen Bestattung wir ins Reich von Drachenturm zurückgekehrt sind. Wie ich verstanden habe, heißt ‚Tårnjam‘ in eurer Zunge ‚Steinhauer‘ – und so tauften sie mich Tårbek. Perle also ... Aber das wisst ihr ja.
Die Hüter jagten mir nicht nach. Als ich geflohen war, hatten sie so viel von jenem Sternenblut erbeutet, auf das sie so erpicht sind, dass mein Verlust nicht ins Gewicht fiel. Die Brüder aber wollten nicht wegsehen, als ich ihnen die Untaten des Priesters und seiner Anhänger geschildert hatte. Ich war kein Aufschneider mehr – und so flehte ich sie an, von diesem Plan abzulassen. Doch sie waren ein Herz in dieser Sache. Meine Brüder stellten die Schergen des Priesters bei einer verlassenen Herberge für Handelsreisende. Gemeinsam setzten wir vielen dieser Mörder ein Ende – doch verloren Tårnjam an einen Giftpfeil. Wir tragen seine Asche mit uns, auf dass wir sie im Kreis des Brüderbundes beisetzen mögen.“
Ich räusperte mich. Die steinerne Regungslosigkeit meines Mitgefangenen rührte mich längst nicht mehr.
„Ich weiß nicht, woher Ihr meine Brüder so vortrefflich kennt – ich selbst kenne sie bei Weitem noch nicht so gut, wie ich wollte. Doch keiner von ihnen ist ein Aufschneider. Dafür ließe ich mir jede Narbe zufügen, die Ihr im Gesicht tragt.“
Meine Kehle war entsetzlich trocken und meine Augen waren schwer. Ich versuchte, den Fremden nicht aus dem Blick zu verlieren, doch bald hatte mich der Schlaf überwältigt. Als man uns zur Mittagszeit einen Schlauch Wasser und ein paar harte Stücke Brot durch die Gitterstäbe warf, drehte sich Narbengesicht notgedrungen um, doch wich meinem Blick aus. Auf ein Gespräch ließ er sich auf Gedeih und Verderb nicht ein. Ich begann, meine Gedanken auf eine mögliche Flucht zu richten. Die Fenster waren zu klein, die Tür ließ sich nur von außen öffnen. Das Schloss und das Querholz, das die Soldaten bisher nur einmal entfernt hatten, um nach uns zu sehen, standen zwischen mir und der Freiheit.
Mein Schädel dröhnte von der dürftigen Kost. Mein eiserner Käfig wurde mit dem Schwinden der Sonne immer ungemütlicher und die liederlichen Gesänge der Soldaten taten ein Übriges. Ihr jüngstes Lied handelte von einer Dame, die sich die Ruhmreichen ‘rumreichen‘ ... Anscheinend waren meine Brüder ebenso wenig wie ich aus ihrem Gefängnis entkommen. Als die letzten Sonnenstrahlen erstarben, fiel die Rastlosigkeit des Tages von mir ab. Meine Hand fuhr über meine Narbe. Ich hatte schlimmere Nächte durchlebt. Gleichmütig schlief ich ein. Mitten in der Nacht erwachte ich von einer fremden Hand im Schritt. Narbengesicht presste mir seine andere Hand auf den Mund. „Reg’ dich ab!“, zischte der Fremde. „Ich brauche nur deine Fibel.“
Er kannte die akkadischen Kleider gut: Meine Hose besaß, versteckt hinter einer Stofffalte, eine Reihe von Maschen, die durch eine schmucklose Spange zusammengehalten wurden. „Hast du schon mal einen Fallsüchtigen gesehen?“, flüsterte Narbengesicht. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe Geschichten gehört ...“
Der Fremde winkte ab. „Kannst du vorgeben, du hättest eine Eingebung deiner seltsamen Götter?“ Verständnislos blickte ich in die grauen Umrisse seines Gesichts. Er hielt seine Handgelenke in das schwache Sternenlicht, das durch die Fenster einfiel: Die Fesseln waren fort! „Du musst die Wachen irgendwie beunruhigen, ich brauche eine Ablenkung. Sobald sie die Tür öffnen, um dir Saures zu geben, musst du ins Freie rennen und sie vom Wagen ablenken. Nach dem, was du mit ihrem Kameraden angestellt hast, werden sie dich nicht einfach laufen lassen. Um deine Brüder kümmere ich mich. Verstanden?“ Ich nickte. Eine Vision meiner seltsamen Götter ... Ich erinnerte mich an jene Männer und Frauen aus Ur, die als „Schlangen-Geister“ in den Straßen aufgetreten waren. Als kleiner Junge hatte ich manchmal Albträume von ihnen bekommen.
Ich warf mich zu Boden, ließ meine Glieder tanzen, als gehörten sie nicht zu meinem Körper, und zischte wie eine Schlange. Zwei Paar Stiefel stapften hastig in unsere Richtung. Speerschäfte pochten nachdrücklich gegen die Wand des Wagens. „He, Fremdling!“, rief eine der Nachtwachen. „Reiß dich zusammen!“
Ich bereicherte mein Schauspiel um kehlige Geräusche und ein boshaftes Fauchen; dazu kratzte ich mit den Fingernägeln an der Wagentür.
„Wir müssen ihn ja nicht unversehrt in Drachenturm abgeben“, knurrte ein Soldat. Der Schlüsselbund rasselte. Das Vorhängeschloss klickte. Ächzend hob sich der Querbalken aus seiner Halterung.
Dann öffnete einer der beiden Soldaten die Tür und der andere stellte sich breitbeinig auf die Schwelle. Narbengesicht nickte mir zu: jetzt oder nie.
„Was denkst du eigentlich, wer ...“
Bevor der Wachmann ausreden konnte, sprang ich auf ihn zu, riss ihn und den anderen Soldaten von den Beinen und warf die beiden mit mir die Rampe hinunter. Unsanft landete ich etwas abseits im Staub. Verdutzt rappelte sich einer der Soldaten auf und nahm Gefechtsstellung ein – doch ich sprang auf und rief: „Tiāmtumat! Tiāmtumat!“, und rannte in Richtung Straße davon. Der Wachmann hastete hinter mir her. Von seinem wachhabenden Kameraden hörte und sah ich nichts mehr.
Ich lief weiter. Das Sternenlicht verwandelte die Handelsstraße in eine weiße Brücke durch leere Finsternis. In Ur hatte man sich Geschichten erzählt von einem Gelehrten, der in seinen Kellergewölben irrsinnige Treppen und Pfade hatte bauen lassen. Seine eigene Stimme im Nacken, war er schreiend vor sich selbst durch die Dunkelheit geflohen.
Die Albträume meiner Kindheit erwachten zu neuem Leben, und wie damals hoffte ich auf die Erleichterung, geweckt zu werden.
Nach einer Weile sah ich über die Schulter. Mein Verfolger hatte kehrtgemacht. In der Ferne erblickte ich den Fremden. Er hantierte mit dem Schlüsselbund an dem zweiten Wagen. Gleichzeitig kam Bewegung in die übrigen Zelte der Soldaten. Ich lief zurück zum Lager. Der Wachmann, der mir gefolgt war, war fast bei Narbengesicht angelangt. Ich erreichte das Lager, als eine der Zeltwände sich öffnete und ein Kopf sich hindurchschob. Ich packte einen Holzscheit aus der erkalteten Feuerstelle, sprang zur Zeltöffnung und bevor der Soldat es sich versah, sauste das Holz auf seinen Schädel nieder. Ebenso erging es dem zweiten Soldaten aus dem benachbarten Zelt. Dem Dritten gelang es, sich aufzurappeln und seinen Schlafplatz zu verlassen. Ich hörte seine Schritte hinter meinem Rücken. Knapp wich ich seinem Angriff aus und verpasste auch ihm einen Hieb auf den Hinterkopf.
Damit jedoch endete meine Siegesserie: Aus drei weiteren Zelten kamen Männer gestürzt, der Oberst inbegriffen, und warfen sich auf mich. Einem wich ich aus, dem Zweiten schlug ich ungeschickt vor den Ellbogen. Schließlich rangen sie mich zu Boden. Der Oberst versetzte mir einen gekonnten Fausthieb in die Seite. Mir schummerte alles und die Beine wurden mir weich. Vage nahm ich wahr, dass der nächste Soldat ausholte, doch ein weiterer Schlag in die Rippen blieb aus: Unter Brüllen wurde der Oberst von den Füßen gerissen und neben mir zu Boden geworfen wie ein Sack Rüben. Kotol grinste mir anerkennend zu. Sein kräftiges Kinn schob sich dabei vor und entblößte die gefletschten Zähne seines Unterkiefers: ein Ausdruck, den er mit seinem leiblichen Bruder Etran gemein hatte. Neben ihm waren dieser und Duthul damit beschäftigt, die übrigen Soldaten einzuschüchtern oder außer Gefecht zu setzen.
Fa’el und Firthuk eilten mit einer Rolle Strick herbei, die Kotol mit seinem Schwert zerteilte. Es war ein Gewirr dunkler Gestalten unter dem Sternenhimmel.
Als der Morgen graute, waren wir zum Abmarsch bereit. Der Oberst saß geknebelt in der Mitte des Lagers – oder was wir davon übriggelassen hatten. Die Esel und den Proviant nahmen wir mit uns – ebenso die Speere und Schwerter der Soldaten. Die Männer hatten wir in ihre eigenen Käfige gesperrt. Etran hielt es für einen lustigen Einfall, den Oberst nach den Schlüsseln suchen zu lassen, sobald er sich aus den Fesseln befreit hätte.
Ich sah gemeinsam mit Kotol und Karluf Duthul dabei zu, wie er von den Wagen der Soldaten zurückkehrte. Sein Dolch wanderte spielerisch von einer Hand in die andere. „Du hast wieder gekritzelt, was?“, bemerkte Karluf mit einem breiten Grinsen. Duthul erwiderte es. „Hab diesen Helden des Hinterlandes ein paar nette Botschaften hinterlassen“, erklärte er trocken.
„Er kann es nicht lassen“, stellte Kotol kopfschüttelnd fest. Lachend kehrten die drei zu Etran zurück. Ich wandte mich jemand anderem zu.
Von den fünf Eseln hatte Narbengesicht einen für sich beansprucht. Abseits des Lagers sattelte der Nokre das Tier. Seine Ausrüstung hatte der Fremde im stillen Einvernehmen mit den Brüdern aus dem Gepäck der Soldaten zusammengesucht. Ein wuchtiger Säbel und eine nicht minder beeindruckende Armbrust gehörten dazu.
Ich näherte mich Narbengesicht, während der Fremde den Esel losband. „Ich freue mich, dass ich Euch von unserer Sache überzeugen konnte. Seid Ihr sicher, dass Ihr uns nicht eine Weile begleiten wollt? Gemeinsam haben wir die Männer des Fürsten besiegt. Gemeinsam sind wir stärker ...“
„... und auffälliger“, erwiderte der Nokre. „Du hast mir nur bewiesen, dass ihr an die richtigen Dinge glaubt. Das ist schon mehr, als man über diese Räuber im Auftrag des Großfürsten sagen kann. Ob ihr zu was zu gebrauchen seid, das steht auf einem anderen Blatt. Wenn unsere Wege sich erneut kreuzen und eure Köpfe noch auf euren Hälsen sitzen, überlege ich’s mir!“ Das schwarze, von Flicken und Flecken übersäte Lederwams des Fremden knirschte, als er dem Esel einen Klaps auf den Hintern gab. „Und gewöhn’ dir das ‚Ihr‘ ab! Du bist jetzt ein freier Mann.“
„Sagt Ihr ... Sagst du mir nicht einmal deinen Namen?“, fragte ich. „Beim nächsten Mal“, versprach Narbengesicht, schnalzte mit der Zunge und ritt davon.
Während seine Gestalt gen Süden verschwand, kehrte ich zu den Brüdern zurück. Kotol und Etran hatten den zunächst unwilligen Karluf in ihre Mitte genommen, um ihn zu stützen. Wir nahmen einen tiefen Zug aus den gestohlenen Wasserschläuchen und stimmten das Drachenjäger-Lied an.
„Werden die Männer nicht verdursten?“, fragte ich Etran. „Wo denkst du hin?“, entgegnete dieser. „Wir haben ihnen natürlich etwas Proviant dagelassen. Aber sag’ mal – wie hast du diesen Kerl auf unsere Seite gezogen?“
Hatte ich das? Ich blickte zum Horizont, wo die Sonne sich majestätisch aus dem Schlaf erhob. „Ich glaube“, sagte ich, „er hatte eine Eingebung im Traum.“ Etran grinste.
„Soso.“
Als der Abend anbrach, schlug uns von Norden feuchte, modrige Luft entgegen.
Wir hatten die Sümpfe des Schweigens erreicht!
Eine weite Landschaft aus Grashügeln breitete sich vor uns aus. Diese ragten als feucht glitzernde Inseln heraus aus schwarzen, stehenden Gewässern, die uns wie leere Augen mit scharfen Lidern aus Schilf anstarrten. In Richtung Westen säumte ein Streifen schlanker, knotiger Bäume die Ausläufer des Sumpfgebietes.
„Hier liegt euer Kreis des Bundes?“, fragte ich.
„Es gibt trockene Stellen“, erklärte Fa’el. „Man muss sie nur kennen!“
Von der Bergstadt von Ur aus hatte man die ausgedehnten Felder im Süden überblicken können: Tausende und Abertausende von Quadraten, je nach Jahreszeit schwarz, grün und schließlich gelb, wenn die Gerste reif für die Ernte gewesen war. Es hatte mich stets beruhigt, mit den Augen den geraden Linien der Bewässerungsgräben zu folgen.
Die verschlungenen Pfade durch die Sümpfe waren ein albtraumhaftes Zerrbild dieses friedlichen Anblicks. Unter ständiger Wachsamkeit folgte ich den Brüdern durch das neblige, nach Schwefel und Aas riechende Labyrinth. Totenstille lag über der Landschaft: Es war, als verschluckte der weiche Grund nicht nur das Schmatzen meiner Stiefel, sondern jedes Lebenszeichen. Der üble Geruch rief jüngere Erinnerungen wach. Vor meinem inneren Auge stand ich ein weiteres Mal vor einem der rauchenden Leichenberge der Toten Ebene, wünschend, das Drachenfeuer hätte mich gleich in Ur vom Erdboden getilgt ...
„Du siehst so bleich aus, Perle!“, sagte Karluf. Dem Nokren fiel seine blonde Mähne in Strähnen ins Gesicht. Er pflegte sie mit einem Messer zu kürzen. Beim Versuch, mich aufzumuntern, schleifte er seine Brüder mit sich. „Du solltest dich freuen!“, sagte er. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Gegen die Geister der Vergangenheit, die diese Sümpfe heraufbeschworen, war ich machtlos.
Karluf ließ Firthuks Schulter los und packte meinen Oberarm. „Weißt du, warum ich mich freue?“ Ich schüttelte den Kopf. Karlufs Miene wurde todernst. „Auch ich habe einmal meine Heimat verloren – sogar mehr als ein Mal. Meine Eltern waren keine Nokren von Drachenturm. Sie lebten weit im Norden, in der Nek-Stadt Steinberg. Irgendwann kam mein Vater zu dem Schluss, dass wir besser dran wären, wenn wir in den Süden nach Grauwall zögen.“
„Weißt du überhaupt etwas mit Grauwall anzufangen?“, fragte Firthuk. Vorsichtig lugte er mit seinen treuen Knopfaugen zu Karluf hinüber, den er unterbrochen hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Der schüchterne Bruder erklärte: „Grauwall, Steinberg und Schwarzküste sind die großen Städte der Nek. Grauwall ist – war die südlichste Nek-Stadt. Sie fiel den Drachen zum Opfer.“
„Das hätte ich schon noch erwähnt!“, funkelte Karluf ihn an. „Wir lebten genau zwei Jahre lang in Grauwall, bis die Drachen es vernichteten und gen Westen den Kontinent verließen. Vater verteidigte die Stadt, als wäre er dort aufgewachsen – und starb in ihren Mauern. Also kamen meine Mutter und ich als Flüchtlinge nach Drachenturm.“ Karluf hielt einen Augenblick inne und nickte mir zu. „Ich war in Drachenturm ein Ausländer, ein Vaterloser, ein Fremder. Dort!“ Er deutete in den Nebel vor uns. Seine Miene hellte sich schlagartig auf. „Dort liegt meine wahre Heimat, im Kreis meiner Brüder. Und dort liegt auch deine Heimat, Bruder Perle. Manche sagen, die Drachen seien aus diesen Sümpfen gekommen. Vielleicht ist es also Vorsehung, dass du und ich, wir alle, an dieser Stelle vereint wurden.“ Firthuk und Kotol nickten andächtig.
Ich spürte, wie das kleine Fleckchen Land inmitten der Sümpfe die Bilder der Wehmut aus meinen Gedanken vertrieb. Nur eines blieb: der Soldat, der wie eine geschlachtete Ziege verblutend vor mir zu Boden gegangen war. Gilom hatte er geheißen ... Er hatte mich angegriffen, wahr, und doch: Ich wusste, dass sein entsetztes Gesicht mich verfolgen würde, mehr als viele der namenlosen Gesichter, die mich schon angestarrt hatten.
Die Nacht war rabenschwarz und nur Fa’els und Etrans Fackeln wiesen uns den Weg. Wir hatten es rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit auf jene trockene Anhöhe geschafft, auf welcher die Brüder vor einem Jahr erstmals den Bund geschlossen hatten.
Endlich hielten unsere Fackelträger inne. „Wir sind da“, sprach Etran mit veränderter Stimme. Ehrfurchtsvoll, fast zärtlich klang sie nun – sofern man das bei seiner Krähenstimme jemals hätte behaupten können. Sofort fielen um mich herum Reisesäcke, Waffen und Gürtel zu Boden und Duthul führte die Esel etwas abseits an einen alten, knorrigen Baum. Etran und Fa’el rammten die Fackeln außerhalb des Kreises in den Boden.
Acht ungefährt kopfgroße Felsbrocken markierten hier einen Kreis mit einem Durchmesser von zehn Schritten. Duthul holte die Urne mit der Asche Tårnjams aus Etrans Reisesack. Er hob seinen Drachensäbel vom Boden auf und schnitt sich in die Handfläche. Schwer atmend trat er an einen der Steine heran. Er ging auf die Knie und presste die blutende Hand auf den Felsen. Dann trat er ein, die Asche unter dem Arm. Im Fackelschein verwandelten sich die weichen, jugendlichen Gesichtszüge des Grüblers in jenes Schattenspiel aus grellem Licht und schwarzem Dunkel, das seinem Gemüt entsprach. Die Brüder taten es ihm gleich und erbrachten einer nach dem anderen den Blutzoll, um in den Kreis einzutreten. Duthul unterdessen wandte seinen Blick nicht von mir ab. Vor dem letzten freien Felsen ging er auf die Knie, grub ein Loch, schüttete die Asche hinein und bedeckte diese mit Erde. „Dies ist dein Stein“, verkündete er feierlich. „Dein Schlüssel zu unserem Bund. Wenn du bereit bist einzutreten, zahle deinen Blutzoll und nimm die Stelle unseres Bruders Tårnjam ein!“ Er klopfte seine Hände an der Hose ab und bezog an seinem Felsen Stellung.
Ich zückte meinen Dolch. „Ich bin bereit“, erklärte ich und blickte auf die Klinge hinab: Ich hatte sie unterwegs mit dem Ärmel gereinigt. Nun funkelte sie wieder.
Sie spiegelte mir das Gesicht eines Mannes, der zu lange ein Niemand gewesen war; der geglaubt hatte, nichts mehr verlieren zu können. Wenn meine Angst, dieser sieben Nokren nicht würdig zu sein, irgendetwas bedeutete, dann das: dass ich an ihre Seite gehörte.
Die Brüder sahen mich erwartungsvoll an: Etran und Fa’el mit einem Ausdruck von Erleichterung über den glücklichen Ausgang unserer Reise; Kotol mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken, das sagte ‚Richtig so‘; Getel mit der Neugierde eines Spielers; Karluf mit einem einnehmenden Lächeln; Firthuk, zu scheu, den Blick zu halten; und zuletzt Duthul, dessen sonst von Grübelei zerknirschtes Gesicht heute keinerlei Auskunft gab, was in ihm vorging.
„Bevor ich mit deinen Brüdern die Blutsbruderschaft schließe“, erklärte ich, „möchte ich dir, Tårnjam, etwas geloben: Du bist gestorben bei meiner Befreiung, aber deine Mörder sind noch auf freiem Fuß. Ich gebe dir mein Wort im Angesicht deiner Ruhestätte, dass sie Gerechtigkeit finden werden.“ Die sieben Nokren um mich herum nickten feierlich.
Ich hob den Dolch, atmete aus – und während ich Luft holte, ließ ich die alte akkadische Klinge über meinen Handteller gleiten. Duthul gab mir mit einer Geste zu verstehen, den Dolch nicht mit in den Kreis zu nehmen – doch ich kannte die Regeln. Ich legte ihn nieder, presste meine blutende Hand auf den Stein, der einmal meinem Retter gehört hatte, erhob mich und trat in den Kreis.
Zeitgleich hoben die Brüder ihre blutigen Fäuste und traten vor, bis ihre Hände übereinanderlagen. Ich reihte mich ein. Gemeinsam sprachen wir den Eid:
„In diesem Kreis treten wir zusammen, Fremde, Gejagte. Hier, versöhnt mit Himmel und Erde, werden wir eins: ein Herz, ein Gedanke, eine Faust, ein Sinn. Keine Güter, keine Wände, keine Verpflichtungen sollen uns entzweien. Wissen, Habe, Wasser und Brot wollen wir teilen, einander zur vollen Größe aufrichten. Hier sei unser Kreis des Bundes. Hier mögen Himmel und Erde unsere Brüderlichkeit bezeugen: in Blut und Tränen ungeteilt!“
„In Blut und Tränen ungeteilt!“, skandierten wir noch viele weitere Male, während unsere Hände ein blutiges Band formten. So verharrten wir einen Augenblick, bis meine Brüder den Griff lösten und mich der Reihe nach umarmten. „Willkommen in unserem Bund“, sagte Etran. Die anderen taten es ihm gleich. Duthul trat als Letzter auf mich zu. Ich machte Anstalten, seine Umarmung zu empfangen, doch der Nokre griff stattdessen in seine Hosentasche. Unsicher blickte ich in die Runde. Was hatte Duthul in den Kreis gebracht?
„Habe ich mir von Getel ausgeborgt“, stellte Duthul grinsend klar und reichte mir einen Spiegel. „Sieh hinein!“
Ich tat, wie mir geheißen. Ein dunkles Gesicht mit einer Hakennase und pechschwarzen Augen starrte zurück. Ein Gesicht von hoher Abkunft, durch ein Brandmal der Schande für alle Welt der Würde beraubt. Zu allem Überfluss zog sich nun eine frische Schnittwunde mitten durch das Brandmal.
Etran schürzte die Lippen. „Duthul, das ist ...“ Doch der Nokre winkte ab. „Du bist als Fremdling und Sklave zu uns gekommen“, sagte er. „Die Narbe deiner Knechtschaft wurde getilgt im Kampf für unsere Freiheit. Willkommen, Bruder Perle.“ Mit diesen Worten nahm auch Duthul mich in den Arm. Meine Brüder brüllten und heulten freudig in die Nacht. Wo man ihnen einen Bruder genommen hatte, war ihnen ein neuer geschenkt worden.
Die Sonne weckte uns unter Mithilfe des rastlosen Karlufs. In unserem Nachtlager rund um den Kreis machten wir uns über den Proviant der Soldaten her und rüsteten uns für die Weiterreise. Fa’el breitete die Karte aus und alle versammelten sich um ihn. „Wohin als nächstes?“, fragte er.
„Ich muss nicht sofort in den Staub der Toten Ebene zurück“, knurrte Kotol. Getel pflichtete ihm bei. „Wir könnten zur Abwechslung mal etwas Schatten und Grün vertragen!“ Fa’el blickte zu mir herüber. „Die beiden meinen das Sichelgebirge, Heimat der schlimmsten Halunken auf dieser Erde ...“
„Wir könnten in Fünftal Neuigkeiten aus dem Westen bekommen ...“, dachte Duthul laut.
„Ihr wollt aber nicht auf dem Weg bei unseren Freunden von der Staatsgewalt vorbeischauen, oder?“, fragte Etran schmunzelnd. Wir lachten. „Also gut“, sagte Etran. „Was sagen wir? Wollen wir uns einen Tagesmarsch am Rande des Sumpfes halten und dann nach Süden Richtung Fünftal einlenken?“ Keine Widerworte.
„Also dann!“ Etran klatschte in die Hände. „Auf in den Süden!“ Mit dem Rest der Brüder stimmte ich ein: „Auf in den Süden!“
Das Sichelgebirge warf lange Schatten voraus. Noch bevor wir den Fuß des Ekinus erreicht hatten, schob sich sein Gipfel zwischen uns und die Mittagssonne. Wir hatten einstimmig beschlossen, über den Föhrenpass Sonntal – die westlichste Siedlung von Fünftal – aufzusuchen.
In meinem Rücken sangen Karluf, Kotol und Getel eines ihrer Lieblingslieder und versuchten hin und wieder, Firthuk zum Mitsingen zu bewegen. Karluf reichte die Zügel der Esel an Kotol weiter, die wir von den Männern des Fürsten gestohlen hatten, und vollendete die erste Strophe:
„... Das war ein Anblick, der uns quälte,
Weil einer uns’rer Brüder fehlte!“
Dann übernahm Getel. Der Frauenheld strich sich durch seine schwarzen Locken und sang in brüchigem Bariton:
„Ein jeder stürmte durch die Stadt
Und lugte unter jedes Blatt,
Bis einer schrie nach vielen Stunden:
Ihr glaubt nicht, wo ich ihn gefunden!“
Hinter ihnen trotteten Duthul und Firthuk mit den Eseln einher. Der Grübler und der Sohn eines Großbauern unterhielten sich über unsere Kasse: von welchen Münzen wir noch welche Beträge übrighätten, und welche Währungen die Herren des Sichelgebirges annähmen.
In-Kur Fellar, ein Kaufmann aus Sunner in der Toten Ebene, hatte die Brüder vor dem Durcheinander gewarnt, das in dieser Hinsicht unter allen Stämmen des Sichelgebirges herrschte – ob man in Fünftal verkehrte, im Rostnacken oder auf dem Kreidesitz.
Ich schloss zu Etran und Fa’el auf. Ausgerüstet mit einer Wegliste, einer Aufzählung von Unterkünften im Sichelgebirge und der Toten Ebene, die der Kaufmann für uns erstellt hatte, bildeten sie die Spitze unserer Marschkolonne. „... also lass’ das mal unsere Sorge sein, die Jungs kümmert’s eh nicht“, sagte Etran zu unserem hochgewachsenen Gelehrten. Dann machte er Platz, um mich in die Mitte zu nehmen.
„Was weißt du über die Sichelherren, Bruder?“, fragte er. „Nichts Gutes“, bekannte ich. „Meine Hauslehrer in Ur haben kaum von ihnen erzählt. Für sie waren diese Stämme alles Banditen.“
„Herzlichen Glückwunsch“, murmelte Fa’el, während er die Wegliste studierte. „Du befindest dich in Gesellschaft von Banditen – je nachdem, wen du nach uns fragst ...“ „Ich habe noch keine Sichelmänner getroffen, die anständig waren“, erwiderte ich. „Als ich mit den Hütern des himmlischen Schatzes ...“
„... den Schlächtern aus Babutêrti“, berichtige Fa’el. „... als ich deren Gefangener war, habe ich einmal ein Geschäft zwischen Sichelmännern aus dem Osten und meinen Her... Entführern miterlebt. Es lief furchtbar: Anfangs würdigten beide Seiten die Härte der anderen – dann gerieten sie genau deshalb aneinander, dann verharrten beide drei Tage lang im eigenen Lager und stellten fest, wie wenig sie gemeinsam hatten.“ „Wenig gemeinsam?“, hakte Etran nach. Fa’el lieferte eine Erklärung: „Wenn Perle, wie ich annehme, von den Kreidemännern spricht, ergibt das alles sehr viel Sinn.“ Der schlanke Bruder faltete seine Wegliste zusammen und holte zu einer Erklärung aus. „Die Männer vom Kreidesitz sind blutrünstig und rücksichtslos. Das haben sie mit den Hütern aus Babutêrti gemein. Während aber die Sichelmänner vom Kreidesitz ihr Selbstverständnis und ihre Ehre aus dem Kampf beziehen, folgen die Eiferer aus Babutêrti allein ihrem Wahn – und jenen Priestern, die diesen Wahn nähren. So gesehen ist es kein Wunder, dass sie einander nicht riechen können.“ Ich nickte. „Dem Ehrgefühl der Sichelmänner stand der feurige Eifer der Akkader entgegen. Sie hätten sich um ein Haar gegenseitig umgebracht, wenn nicht einer der Sichelmänner an ihren gemeinsamen Feind, die Truppen aus Kušibutī, erinnert hätte.“
Etran schürzte die Lippen. „Sehr lehrreich“, bemerkte er. „Und mit Fünftal hattest du bisher keine Berührung, Perle?“
Ich schüttelte den Kopf. „Fa’el hat recht. Die Häscher sprachen von den Kriegern als ‚Männer vom weißen Gipfel‘. Ein Fünftal kenne ich nicht, aber von meinen Lehrern weiß ich noch von einem Volksstamm der ‚Sechs Schluchten‘.“
„Sechs?“ Fa’el legte besorgt die Stirn in Falten. „Wahrscheinlich“, mutmaßte Etran, „zählten sie in Ur noch irgendeine Siedlung fälschlicherweise zu Fünftal dazu. Ich meine: Von hier nach Ur ist es ein weiter Weg!“ „Das glaube ich nicht“, entgegnete Fa’el. „Die Truppen von Ur kannten die Stämme des Sichelgebirges. Der Untergang der Stadt hängt schließlich eng mit dem Rachefeldzug von Großkönig Yazkur-El V. in das Gebirge zusammen. Nein ... Ich glaube, wir sollten unbedingt herausfinden, was es mit diesem sechsten Tal auf sich hat!“
„Damit wir in Sonntal niemandem auf die Füße treten“, warf Etran ein.
Fa’el nickte. „Das auch. Ich dachte aber eher daran, dass Wissen eine unserer schärfsten Waffen ist ...“ Er blickte über die Schulter zu Duthul und Firthuk und ergänzte: „Und eine unserer wertvollsten Währungen, wenn man so will.“
Etran grinste. „So sind wir, Perle: einer den Blick in den Wolken, einer auf den Boden vor den Füßen. Aber dafür sind wir ja zu acht: dass wir einander ergänzen – und gemeinsam glänzen.“ Damit brachte er Fa’el zum Lachen. Ich stimmte ein, auch wenn mir der Reim unseres Bruders erst später auffiel.
„Ich habe euch unterbrochen“, sagte ich. „Worüber habt ihr gesprochen?“ Fa’el wandte den Blick ab und zückte hastig unsere Karte. Auch Etran hielt sich zunächst bedeckt. Nach einer Weile jedoch erklärte er seufzend: „Na gut: ‚Keine Geheimnisse unter Brüdern!‘ Fa’el hat sich besorgt gezeigt, dass nur er und ich die Zunge der Fünftaler beherrschen. Und ich habe ihm gesagt, was ich dir gerade eben gesagt habe: Wir ergänzen einander mit unseren Fähigkeiten!“
„Schon gut, Bruder“, sagte Fa’el. „Denk’ nur daran, dass du auf unseren gemeinsamen Wunsch hin Sprecher des Bundes bist.“
„Entspann’ dich, Junge!“, ertönte es hinter unseren Rücken. Karluf und Kotol hatten zu uns aufgeschlossen. Aufgeregt deuteten sie hinauf zu dem goldenen Band, mit dem die Mittagssonne den Gebirgsrücken säumte. „Wenn ich mich recht erinnere“, sagte der Blondschopf, „hat Sonntal einige gute Weine zu bieten ...“ Kotol stieß seinen Bruder Etran mit dem Ellbogen an und grinste. „Vielleicht kriegen wir ein paar Töne aus dem guten Firthuk heraus, wer weiß?“ Unser mondgesichtige Bruder hatte eine wunderbare Stimme – doch ohne etwas Nachhilfe war er nicht zum Singen zu bewegen!