Brunzkachl - Rolf Mai - E-Book

Brunzkachl E-Book

Rolf Mai

4,0

Beschreibung

Kommissar Herbert Wamprechtshammer hat’s nicht leicht. Erst auf Reha dank Hexenschuss und jetzt auch noch eine Isarleiche. Dem Opfer wurden sämtliche Gliedmaßen fein säuberlich amputiert und das Herz bei lebendigem Leibe herausgeschnitten. Als sich zu der Leiche auch noch ein grausam zu Tode gefolterter Fitnesstrainer und eine verschwundene Finanzbeamtin gesellen, sind der Kommissar und seine Kollegen Theresa Gruber und Siegfried Leininger gefordert. Ein Serienmörder treibt sein böses Spiel in der Isarmetropole. Doch ohne ein gewisses Quantum an Münchner Gemütlichkeit, Bier und Hendl läuft beim »Berti« Wamprechtshammer gar nichts.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit



Sammlungen


Ähnliche


Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten

mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt

und wären rein zufällig.

4. Auflage 2023

© 2019 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlag: imprime creative agency, Steinhöring b. München

ISBN 978-3-96311-094-8

Printed in the EU

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Epilog

Glossar

Autor

PROLOG

Strahlender Sonnenschein, saftiges Grün, Schmetterlinge auf Kornblumen, das Summen von Bienen – kurzum: ein Traum – und in dem rannte der kleine Junge wie ein geölter Blitz über die prächtig blühende Almwiese.

„Hannes, du Hundskrüppel, du verreckter!“

Alles war ganz vertraut. Der Geruch, die Geräusche und vor allem sein cholerischer Vater, der nach einem seiner sonntäglichen Wirtshausbesuche mal wieder stockbesoffen nach ihm brüllte.

„Hannes! Zefix! Herkommen sollst!“

Das Versteck des Jungen war ein kleiner Heuschober, der einsam auf der Almwiese stand. Als sein Alter laut schnarchend seinen Rausch ausschlief, schlich er sich hinaus und streunte umher. An warmen Sommertagen zog es ihn immer zu dem uralten Baum mit den süßen, rotglänzenden Sommeräpfeln. Prall und saftig. Die Äste bogen sich unter ihrem Gewicht. Er pflückte sich ein besonders schönes Exemplar, schloss die Augen, atmete das Aroma und biss genussvoll hinein.

Seine Zähne bohrten sich in festes Muskelfleisch. Der Apfel war verschwunden. Er schmeckte Blut. In der Hand hielt er ein Herz. Er wollte es wegwerfen, doch seine Finger hielten es fest umklammert. Blut quoll zwischen ihnen hervor und lief daran herab. Er wollte davonlaufen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Er wollte schreien. Das gelang ihm.

Schweißgebadet wachte er auf und öffnete die Augen. Um ihn herum war es stockfinster. Mit lautem Sirren erwachten Neonröhren an der Decke zum Leben und tauchten den Raum in kaltes Licht. Die Helligkeit schmerzte, er kniff die Augen zu. Als er sie langsam öffnete, liefen ihm Tränen über die Schläfen. Er starrte an die Decke. Weiße Sterilität, ein Monitor – schwarz. Er wollte sich umsehen. Das funktionierte nicht. Arme und Beine konnte er auch nicht bewegen. Hatte er einen Unfall? Keine Erinnerung! Das atmosphärische Knistern eines Lautsprechers unterbrach seine Gedanken.

„Hallo, Hannes. Schön, dass du wach bist!“

Die Stimme kannte seinen Namen. Sie erfüllte die aseptische Leere des Raumes, schien aus den Wänden zu kommen, die er nicht sehen konnte. Von überall her.

„Dann können wir es ja zu Ende bringen.“

Was zu Ende bringen? Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Monitor über ihm zeigte nun ein Bild. Er sah sich selbst auf einem OP-Tisch liegen. Seine Pupillen verengten sich auf ihr Minimum, Adrenalin durchflutete ihn. Nur sein Kopf war fixiert und ihm war schlagartig klar, warum er sich nicht bewegen konnte. Er schrie. Niemand hörte ihn. Diesmal war es kein Traum.

KAPITEL 1

Eine Hand reckte sich in das wolkenlose Blau über der bayrischen Landeshauptstadt, darin ein leeres Bierglas. Dieses gehörte Kriminalhauptkommissar Herbert Wamprechtshammer. Ein kurzes Nicken von Bedienung Wiegald – der lieber Willi genannt werden wollte – bestätigte die Bestellung einer dritter Halben Giesinger. Schließlich war Wamprechtshammer nicht im Dienst. Schon seit geraumer Zeit nicht, denn er erholte sich noch immer von einem formidablen dienstlichen Hexenschuss. Oder wie der Orthopäde meinte: „Discusprolaps, eindeutig Discusprolaps, vulgo Bandscheibenvorfall, Herr Wamprechtshammer. Da müssen S’ wohl oder übel kürzertreten!“

Berti, wie ihn seine Freunde und Kollegen zu rufen pflegten, verkörperte eher den gemütlichen intellektuellen Typ, dessen immer noch volles Haar sich trotz seiner knapp dreiundfünfzig Jahre gegen das Ergrauen wehrte – jedoch leider mit nachlassendem Erfolg, wie er allmorgendlich feststellen musste. Dezent gebräunt, mit weißem Hemd, Jeans, einem dunkelblauen Baumwoll-Caban, randloser Brille und gepflegtem Dreitagebart wäre er eher als Senior-Model für Prostata-Generika durchgegangen. Allerdings hatte sein ansonsten deutlich sichtbarer „Stau am Mittleren Ring“ nur wegen der strengen Reha-Diät gerade keine Hauptverkehrszeit. Aber mit ein bisserl Bier und Hendl kriegen wir dich schon wieder hin, dachte er und streichelte zärtlich über seinen fast nicht mehr vorhandenen Bauch. Nein, Herbert Wamprechtshammer war ganz und gar nicht eitel, doch er kultivierte seinen sehr eigenen Münchner Stil, und ohne ein gewisses Quantum Gemütlichkeit lief bei ihm gar nichts. Entspannt im Stuhl zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, ließ er seinen Blick über die Lindwurmstraße mit ihren haushohen Pappeln schweifen – die greislige Schwester der Leopoldstraße, wie er sie gerne nannte –, da kam auch schon Willi angeschwebt.

„Mei, endlich is weniger los! Ein Stress is des immer an solchen Tagen. Ja sag mal, Berti, jetzt warst aber lang ned da. Morden s’ so viel in München? Oder magst mich nimmer?“, fragte er in dem beleidigten femininen Singsang, der Wamprechtshammer immer zum Schmunzeln brachte.

Eigentlich war Wiegald Semmeling ein maskuliner Prachtkerl in Lederhosen, mit Wadeln wie Baumstämme und einem Kreuz, als hätte er aus der Mutterbrust pures Testosteron eingesaugt. Allerdings steckte im restlichen Willi ziemlich viel naive Prinzessin und eine unbelehrbare Vorliebe für fiese Machos. Wamprechtshammer hatte ihm in der Vergangenheit bereits mehrmals sprichwörtlich den Arsch retten müssen, wenn er sich mal wieder unsterblich in den Falschen verliebt hatte.

„Morde? Ja, schön wärs! Die einzigen Morde hätte es beinah in meiner Reha-Klinik geben! Die haben mich nur mit Rohkost gefüttert! Rohkost! Vegetarisch! Kein Bier! Nix! Kannst dir das vorstellen, Willi!“

Willi zog die Augenbrauen nach oben.

„Aber des is doch gesund, Berti. Schaust auch fantastisch aus. Also ich hab da letztens so einen Kerl kennengelernt, der isst nur so Paleo-Zeugs, Nüsse und so was. Der sieht gaaaanz toll aus und meinte, ich sollte jetzt auch …“

„Willi, bring mir mein Hendl. Aber gleich! Und lass mich mit dem Gesundheitsschmarrn in Ruh!“, raunzte ihn Wamprechtshammer genervt an.

Willi schob beleidigt ab, kam aber nach ein paar Minuten mit einem vollgeladenen Teller zurück und platzierte diesen ein wenig affektiert vor dem Kommissar.

Das war Wamprechtshammers perfekter Moment. Vor ihm lag ein goldbraun-knuspriges halbes Hendl, das nur darauf wartete, genussvoll verspeist zu werden. Zuerst war die resche Haut dran, dann das saftige Haxerl. Darauf folgte das zarte Brustfleisch. Das Flügerl hob er sich immer bis zuletzt auf. Als er es gerade hingebungsvoll abknabberte, gab sein Smartphone lautstark einen Klassiker der Rockgeschichte zum Besten. Er versuchte, dem immer lauter werdenden „Thunder“, mit hendlfettigen Fingern Herr zu werden. Beim dritten Mal hatte er es endlich geschafft.

„Herrschaftszeiten, Kruzif…! WAMPRECHTSHAMMER! Was gibt’s?“

Sein Handy duftete nach Hendl und er hatte immer noch Hunger.

„Doch, Sigi, du störst. Aber wurscht. Ja, mir geht’s gut. Aber mir tät’s noch besser gehen, wenn du dich kurzfasst.“

Ein frommer Wunsch, denn am anderen Ende der Leitung startete sein Kollege Sigi Leininger mit deutlich fränkischem Dialekt einen seiner gefürchteten Vorträge. Wamprechtshammer bestellte noch ein Bier, denn so ein Telefonat mit dem aus Nürnberg stammenden Oberkommissar dauerte erfahrungsgemäß etwas länger. Nach viel „Hmmhmm“, „A geh!“ und „Naa echt?“ wusste er dank dessen zwanghafter Ausführlichkeit fast alles über seinen scheinbar nicht besonders beliebten Stellvertreter. Der „elendigliche Dibferlasscheißer“, wie Leininger ihn mit leidenschaftlicher fränkischer Verachtung nannte, war zu dessen Leidwesen auch noch ein waschechter Preuße. Doch scheinbar – und Sigi Leiningers Genugtuung darüber konnte man förmlich greifen – war der Sportfreak wohl etwas zu ehrgeizig gewesen. Der hatte nämlich letzte Woche beim Mountainbiken am Isar-Trail den falschen Weg eingeschlagen und einen wahrhaft spektakulären Abflug in den gleichnamigen Fluss hingelegt. Dort blieb er nach ein paar hundert Metern Spülgang an einer Staustufe hängen. Diesen Stunt hatte er nur überlebt, weil ein paar beherzte FKK-Rentner – die sich dank fast schon sommerlicher Temperaturen bereits an der Isar sonnten – den unfreiwilligen Highflyer gerade noch rechtzeitig aus den Fluten angeln konnten. Jetzt lag er im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Mein lieber Herr Gesangsverein, dachte Wamprechtshammer, in deiner Haut möchte ich nicht stecken. Aber danke trotzdem – you made my day!

Er bedeutete Willi, dass er es jetzt eilig hatte, was dieser mit einem fragenden Blick quittierte, hinterließ den Preis für seine Zeche plus ordentlich Trinkgeld auf dem Tisch und verließ eilig die Dachterrasse des Stüberls. Draußen schwang er sich auf sein ohne jegliche Würde gealtertes Herrenrad und machte sich – trotz Krankenstand und drei Halben Münchner Hell im Blut – auf den Weg zu seiner Dienststelle in der Münchner Innenstadt. Dabei pfiff er leise „I believe I can fly“ vor sich hin. Er war mehr als gespannt darauf, was der Leininger eigentlich von ihm wollte, da er ihn gar so inständig darum gebeten hatte, im Polizeipräsidium vorbeizuschauen. Wamprechtshammer kannte seine Pappenheimer.

KAPITEL 2

Kaum hatte Wamprechtshammer die Diensträume seiner bereits ziemlich in die Jahre gekommenen Dienststelle betreten, erblickte ihn auch schon Theresa Gruber, sprungfederte ihm fröhlich entgegen und umarmte ihn stürmisch.

„Beeertiii, schön, dass du wieder da bist! Ich hab dich schon vermisst … hoppla, ich komm ja um dich rum. Hast ganz schön abgenommen. Sauber, sag ich!“

Sie schlug ihm mit der flachen Hand auf den fast nicht mehr vorhandenen Bierbauch, stemmte die Arme in die Hüften und schob bewundernd nickend die Unterlippe nach vorne, während sie ihn von oben bis unten musterte. Wamprechtshammer musste grinsen. Nicht wegen des Kompliments, vielmehr wegen Kriminalkommissarin Gruber. Die sah nämlich nicht so aus, wie ihr Name und ihr Münchner Dialekt vermuten ließen, sondern wie die kleine Schwester von Lucy Liu, also eindeutig asiatisch und ausgesprochen hübsch. Und sie unterschritt signifikant die Mindestgröße für Polizeibeamte in Bayern. Wie sie es geschafft hatte, dennoch Polizistin zu werden, wusste sofort jeder, der sie einmal in Aktion gesehen hatte. So auch Tommy Schlierseer, Kampfsportleiter und praktisch der Prototyp eines Chauvinisten. Der wollte dem „süßen Asia-Schneckerl“ beim ersten Selbstverteidigungstraining mal zeigen, wo der Bartl den Most holt. Major Tom hob daraufhin ab und landete mit einem doppelten Nasenbeinbruch und einer ausgerenkten Schulter im Krankenhaus. Theresa Gruber zitierte man zu ihrem disziplinarischen Vorgesetzten Herbert Wamprechtshammer. Der rügte sie mit versteinerter Miene wegen übertriebener Härte, konnte einen Lachanfall nicht mehr zurückhalten, kaum dass sie das Zimmer verlassen hatte, und holte die asiatische Ein-Frau-Armee sofort in sein Team für Sonderermittlungen.

„Schauts mal, wer endlich wieder da ist!“

Theresa hielt Wamprechtshammer immer noch an der Hand, wie einen kleinen Jungen, den die Kindergartentante das erste Mal seinen neuen Spielkameraden vorstellt.

„Du, Reserl …“

„Ja, Berti?“

„Du kannst mich jetzt wieder loslassen, ich schaff das schon …“

„Oh, sorry …“ Theresa bekam rote Ohren. Man musste sie einfach liebhaben. Und besser das als zum Feind, dachte Wamprechtshammer.

Nach allgemeinem „Grüß Gott“ und „Hallo“ sowie vielfach gemurmeltem „Gut schaust aus“ und „Schlank bist worden“ reichte es Wamprechtshammer.

„So, Ladies and Gentlemen, ich hab euch alle lieb, aber jetzt langt’s. Auf geht’s, Sigi, ab ins Chefkabuff. Ich bin ja schließlich nicht zum Spaß hier. Du wolltest was mit mir besprechen.“

Die zwei machten es sich in seinem recht spartanisch eingerichteten Zimmer möglichst gemütlich. Sein havarierter Stellvertreter hatte es ein wenig umgestaltet, was Wamprechtshammer ordentlich wurmte.

„So ein Loamsiader, so ein damischer.“

„Was sagst, Berti?“

„Ach nix, denk bloß laut.“

„Gell, der nervt, sogar wenn er ned da is.“

„Mhmm.“

„Mei, ich sag dir’s, Berti. Der ist mir vielleicht auf den Docht gegangen. Also man soll ja nicht schlecht über Leut reden, denen’s nicht gut geht, aber der …“

„Du, Sigi …“

„Ja?“

„Lass gut sein, ich weiß. Warum hast mich eigentlich angerufen? Ich kenn dich doch. Spuck’s aus!“

„Ja, also … wieso???“

„Leininger!!“

Wamprechtshammer sah ihn über seine randlose Brille hinweg strafend an.

„Jetzt schau mich ned so an, Chef, Berti. Bitte! Ich weiß dann echt ned, wo ich anfangen soll.“

„Am besten vorn …“

„Allmächd, na biddschön, wannsd mechsd …!“

Vor lauter Nervosität fränkelte er noch mehr.

„Mia ham a Leich!“

„Soll so ab und zu bei uns vorkommen, hab ich gehört …“, warf Wamprechtshammer leicht genervt ein.

„Ja, aber so eine ned. Keine Arm’, keine Bein’, aber mit Kopf. Die Extremitäten wurden chirurgisch entfernt, Herz und Augenlider auch. Profiarbeit. Schaut aus, als hätt das der Täter nicht zum ersten Mal gemacht. Und wahrscheinlich auch nicht zum letzten. Und deshalb hab ich dich angerufen. Wir ham an Engpass. Wir brauchen dich, Berti. Dringend. Ich und die Theresa, mia schaffen des ned allein. Meinst, du könntest dich gesundschreiben lassen?“

„Ja, is scho gut, Sigi. Kannst wieder aufhören mit dem Gwuisl. Mir wär sowieso langweilig geworden und ich hab schon überlegt, wie ich die nächsten vier Wochen rumkriegen soll. Wo habts denn die halbe Leiche gefunden?“

„Also gefunden hat die ein Jogger am Isarufer. Vorgestern. War aber wohl noch nicht lang im Wasser gelegen. Also die Leiche, nicht der Jogger …“

Interessant, was die derzeit so alles aus der Isar ziehen, dachte Wamprechtshammer und konnte sich beim Gedanken an seinen verunfallten Kollegen, trotz aller Tragik, ein Grinsen nicht verkneifen.

KAPITEL 3

Margot Szymanski war stellvertretende Leiterin der Abteilung Erhebung beim Münchner Finanzamt und sie liebte ihren Job. Sie war bestens gelaunt und der heutige Arbeitstag ein voller Erfolg. Fünf Ablehnungsschreiben für Stundungsanträge, fünf Schmarotzer, die jetzt am Rande des Existenzminimums leben mussten. Keiner hatte Gnade verdient, außer einer: Die Inhaberin eines Tante-Emma-Start-ups hatte die Stundung und Ratenzahlung ihrer Einkommensteuer beantragt, weil ein Baugerüst vor dem kleinen Laden ihren Umsatz um mehr als ein Drittel hatte zurückgehen lassen. Außerdem hatte der Besitzer der Immobilie eine empfindliche Mietsteigerung angekündigt. Gierige Geldsäcke, dachte Margot und drückte ein Auge zu. Schließlich war sie kein Unmensch.

Sie begann ihren Schreibtisch zu ordnen. Wie so oft war Margot die Letzte in ihrer Abteilung. Sie packte ihre Laufklamotten aus dem Schrank und begann sich in ihrem Büro umzuziehen. Besuch um diese Zeit war ohnehin mehr als unwahrscheinlich, also sparte sie sich den Weg zu den Duschen. Die hatte man vor einigen Monaten neu eingebaut, und diese Annehmlichkeit ermöglichte es ihr endlich, jeden Tag zur Arbeit und wieder nach Hause zu laufen. Das war von großem Vorteil, denn sie war eine wahre Sportfetischistin und das Sitzen tagsüber zermürbte sie. Sie hielt sich fit und der viele Sport machte sich bezahlt. Für ihre knapp vierzig Jahre war sie schlank, durchtrainiert und steckte mit ihrem Aussehen viele Fünfundzwanzigjährige locker in die Tasche. Dass nicht nur sie das so empfand, bewiesen etliche junge Kollegen, die ihr des Öfteren mehr als eindeutige Blicke zuwarfen. Den einen oder anderen Gutaussehenden hatte sie sich schon gegönnt. Auch dazu waren die Duschen ganz gut geeignet.

Aber jetzt war Sport angesagt und danach Entspannung mit Enrique, ihrem scharfen Nachbarn, der gern mal auf ein Nümmerchen vorbeischaute, aber zum Glück danach immer gleich wieder abzog. Enrique stand auf ihren makel- und haarlosen Körper und sie auf Enriques … nun ja … Gardemaße. Sie joggte los, in den fast an ihre Dienststelle angrenzenden Olympiapark. Die lange Runde sollte es heute schon sein und mindestens zweimal Konditionsspitzen am Olympiaberg trainieren – auch wenn es dann schon dunkel war.

Die letzten Meter durch den Park bis zu ihrer Wohnung im Olympiadorf legte Margot im Sprint zurück. Die Hochhäuser der Trabantenstadt, die man Anfang der Siebziger für die Olympischen Spiele in München errichtet hatte, ragten wie ein dunkles Gebirge vor ihr auf. Trotz des vielen Betons war es hier grün und erstaunlich ruhig – und anonym. Das liebte Margot an ihrer Wohnung. Keine nervigen Nachbarn und aufgezwungene Gespräche im Hausflur. Sterile, lange, leere Gänge und ein viriler, fescher Portugiese als Nachbar, was wollte man mehr?

Sie nahm den Aufzug in den zehnten Stock, schloss ihre Wohnung am Ende des langen Flures auf, zog sich aus und sprang unter die Dusche. Herrlich! Warmer Schaum mit dem Duft von Rosmarin und Minze hüllte sie ein und entspannte sie. Als sie sich abtrocknete, betrachtete sie sich im Spiegel und war zufrieden. Ihr Bauch ein leichter Lady-Sixpack, ihre Brüste trotz der schlanken Figur ein weiches, aber straffes C, das Enrique gerne vielseitig nutzte. Jetzt war sie heiß. Wo blieb der Mistkerl nur? Ihr Smartphone surrte auf der Ablage vor dem Spiegel. „KOMM RÜBER :-D“ – die Message war eindeutig, aber eher selten. Warum nicht? Versauen wir halt mal nicht mein Bett, dachte Margot und schlüpfte in ihren Seiden-Jumpsuit, einen Hauch von Nichts. Dass sie jemand so auf dem Flur sehen könnte, machte sie nur noch schärfer.

Mit wenigen schnellen Schritten eilte sie über den Gang zu Enriques’ Appartement. Die Tür war nur angelehnt. Interessant, dachte sie, heute willst du es aber wissen. Margot betrat lautlos die Wohnung. Es roch nach Bleu de Chanel, seinem Lieblingsduft, und nach gegrilltem Steak, was sie wunderte, denn Enrique kochte nie. Aber egal, der Knabe hatte wahrscheinlich mehr Fantasie, als sie vermutete. Sie folgte dem Geruch, er kam aus seinem Schlafzimmer. Einerseits gut, andererseits erstaunlich. Steak im Schlafzimmer? Sie öffnete die Tür und plötzlich entglitt ihr die Realität, sie riss die Augen auf und wollte schreien, doch es gelang ihr nicht. Der Anblick war absurd. Enrique lag nackt auf dem Kingsize-Bett, die Augen schreckgeweitet und starr, denn seine Mitte, sein Prachtteil, brannte lichterloh, wie eine einzelne Kerze auf einer Karamelltorte. Ihre Blase entleerte sich und die Beine versagten ihren Dienst. Das Letzte, was sie hörte, war das „Tiktiktik“ eines Tasers, der sie mit dreihunderttausend Volt von diesem Anblick erlöste.

KAPITEL 4

Von Sigi Leininger bis ins kleinste Detail über den aktuellen Fall aufgeklärt, verließ Wamprechtshammer die heiligen Hallen des Polizeipräsidiums. Das war schon ein äußerst dubioser Fall, den er ihm da geschildert hatte. Tatsächlich eine Seltenheit und für jeden leidenschaftlichen Kriminaler ein echtes Schmankerl. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihm das alles während seiner unfreiwilligen Auszeit gefehlt hatte. Er war wie elektrisiert und fühlte sich fit wie seit Wochen nicht. Wie hätte das auch funktionieren sollen, so ganz ohne Bier und Hendl, dachte er und schwang sich auf sein Rad, das wie üblich nicht abgeschlossen war. Den alten Bock wollte scheinbar niemand, und solange den keiner klaute, fehlte Wamprechtshammer der Grund, sich ein neues Zweirad zu kaufen. Blieb immer noch die Möglichkeit, dass das Ding irgendwann auseinanderbrach.

Derart motiviert radelte er quer durch München, die Sonnenstraße hinunter, am Sendlinger Tor vorbei und dort scharf rechts Richtung Untersendling – einem der letzten Stadtviertel der Landeshauptstadt, das noch nicht vollständig mit „Isarpreißn“ – wie sie ein gerade recht beliebter bayrischer Kabarettist passend nannte – versaut war. Hier gab es noch die bayrische Form der Kneipe, die „Boazn“, und davon nicht zu wenig. Er beschloss, heute mal „Bei Dagmar“ vorbeizuschauen. Der Besitzer hieß Toni, und auch das zeigte, dass hier ein strenges Gleichstellungsprinzip herrschte: Ganz egal, ob Adliger, Anwalt, Bauarbeiter oder Polizeibeamter, an Dagmar-Tonis Theke gab es keinen Standesdünkel. Genau danach war Wamprechtshammer heute zumute. Ein wenig Ratsch und Tratsch konnte nicht schaden. Außerdem gab es am morgigen Tag noch ein klitzekleines Problem zu lösen, das einer abendlichen Stärkung bedurfte: Er musste der Amtsärztin irgendwie klarmachen, dass er wieder voll einsatzfähig war.

Das wird ganz bestimmt keine leichte Partie, überlegte er, denn schließlich kannte er sie etwas besser, als ihm in diesem Moment lieb war. Beim Gedanken an den Termin war ihm plötzlich ein wenig unwohl.

KAPITEL 5

„Des glaubst doch wohl selber nicht, dass du schon wieder voll einsatzfähig bist!“

Dr. Katharina Perlmoser stemmte die Fäuste energisch in die Hüften und blitzte ihn mit grünen Katzenaugen an. Wamprechtshammer hatte weiche Knie – und die hatte er ganz selten.

„Doch, schon. Unbedingt sogar!“, versuchte er, kleinlaut dagegenzuhalten.

„Ach ja? Tatsächlich? Ja dann: Hände ausstrecken, Knie durchgestreckt lassen und runter mit den Händen, bis zu den Zehenspitzen …“

„Äääääh, mmpfh …!!“

„Weiter!“

„Gestern hat des noch einwandfrei funktioniert …!“, presste Wamprechtshammer schwitzend zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er versuchte, in dieser entwürdigenden Position seine Finger auch nur in die Nähe der Zehen zu bringen.

„Mhm, schon klar. Mit dem Biertrinken geht’s dafür schon wieder ganz gut, gell?“

„Wie meinst?“ Wamprechtshammer rappelte sich schwitzend hoch und setzte seine Unschuldsmiene auf.

„Ja, weil man’s riecht. Herrschaftszeiten, Berti. Ich schreib dich doch nicht zum Spaß acht Wochen krank und schick dich auf Reha, nur damit du innerhalb einer Woche alles wieder ruinierst! Und dann kommst du und meinst, du seist diensttauglich! In dem Zustand!“

„Ah geh, Kathi. Ich hab doch nur meine Rückkehr ein bisserl gfeiert, und …“

„Nix und, und nenn mich nicht Kathi. Die Zeiten sind vorbei. Glaubst du vielleicht, du bekommst von mir einen Gesundheitsbonus, bloß weil wir mal verheiratet waren? Das wär ja noch schöner!“

Jetzt war sie eindeutig in Rage, und Wamprechtshammer erinnerte sich daran, wie das immer ausging, damals, vor vielen Jahren, als sie noch ein Paar waren: nicht gut. Aber das hatte sie eigentlich nicht auseinandergebracht. Ganz im Gegenteil. Katharina mochte ihn immer noch – und er mochte Kathi. Nur eben anders, denn sie hatte nach ein paar wilden und darauffolgenden langweiligen Ehejahren festgestellt, dass sie mit Männern gar nicht so viel anfangen konnte, sondern mehr auf Frauen stand und eine Trennung doch wohl besser wäre, bevor sie sich ihrer neuen geschlechtlichen Leidenschaft widmete. Aus verständlichen Gründen war das Wamprechtshammer damals auch mehr als recht. Also gingen sie gemeinsam getrennte Wege – er als mittlerweile eingefleischter Single und sie mit ihrer neuen Partnerin Gertraud, die er liebevoll „Gerdl“ nannte und mit der er zum Leidwesen von Katharina öfter mal das ein oder andere Bier trank. Denn Gerdl war ein echter Pfundskerl – sowohl optisch als auch seelisch, und derart maskulin, dass Wamprechtshammer sich manchmal dabei ertappte, wie er an seiner eigenen Männlichkeit zweifelte.

„Geh komm, Katharina, bitte. Der Leininger hat dir doch sicher auch schon die Ohren vollgesuselt. Mach’s halt für ihn, der weiß nicht aus noch ein.“

Wamprechtshammer versuchte eine Art Dackelblick, was ihm gehörig misslang.

„Komm, jetzt schau nicht so waidwund, das nehm ich dir nicht ab. Ja, hat er! Und du kannst froh sein, dass ich nicht so viele Überstunden habe, wie der mir mein Ohr abkauen wollte. Ihm und deinen Kollegen zuliebe mach ich eine echte Ausnahme. Ich schreib dich heute eingeschränkt diensttauglich, aber nur unter Vorbehalt und der Bedingung, dass du weiterhin zweimal die Woche zur Physio gehst und dich wöchentlich von mir durchchecken lässt. Keine Alleingänge und insbesondere keine Hundertzwanzig-Kilo-Leichen rumwuchten, nur weil du mal wieder nicht auf den Erkennungsdienst warten kannst. Verstanden?“

„Verstanden, Sir, Katharina, Sir!!“ Er schlug die Hacken zusammen und salutierte, machte auf den Fersen kehrt und verließ mit einem „Grüß Gerdl schön von mir“ schwungvoll den Raum.

„Sie heißt Gertraud, zefix“, schnauzte Katharina ihm hinterher und verdrehte kopfschüttelnd die Augen. Wann wird der endlich mal erwachsen?, dachte sie und musste schmunzeln.

KAPITEL 6

Den Besuch in der Autopsie hätte sich Wamprechtshammer gerne erspart. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, sich stattdessen eine dieser verhassten Physiotherapie-Stunden anzutun. Aber mitgehangen, mitgefangen, dachte er und gab sich einen Ruck. Es war nicht die Obduktion, die ihm dabei zuwider war, sondern dieser Gschaftlhuber von einem Rechtsmediziner, der jeden arrogant und herablassend behandelte, der ihm nicht zur Nase stand – und das war scheinbar der gesamte Rest der noch lebenden Menschheit. Vielleicht passierte das mit einem, wenn man den ganzen Tag Tote in unterschiedlichen Verfallsstadien auseinanderschnippeln musste? Mochte man dann nur noch die Toten? Es schauderte Wamprechtshammer und trotz aller Überlegungen fehlte es ihm eindeutig an Empathie für diesen hochnäsigen Deppen. Da er sich dessen Namen einfach nicht merken wollte, nannte er ihn Dr. Seltsam.

So betrat er mit gemischten Gefühlen und Theresa samt Sigi im Schlepptau das blassgelbe Gebäude des pathologischen Instituts. Dieses lag – wie passend – gleich gegenüber dem alten Münchener Südfriedhof, der den Bestattungsbetrieb allerdings schon längst eingestellt hatte und seitdem ein begehbares Kulturdenkmal war. Wamprechtshammer liebte diese Oase der Ruhe und Entspannung, auf deren Gelände gefühlt die Hälfte aller Straßennamensgeber Münchens beerdigt worden waren. Mit dem Gedanken daran ließ sich die kommende Begegnung zumindest etwas besser ertragen.

Durchtrainiert, braungebrannt, zu weiße Zähne, das Haar stramm zurückgegelt und ein Blick, als wären alle anderen Individuen nicht mehr als Kakerlaken zu seinen Füßen – wie meistens bei ihren Besuchen kam ihnen auf halbem Weg zu den Untersuchungsräumen bereits Dr. Seltsam mit federnden Schritten entgegen. Wamprechtshammer stellte es die Haare auf und auch Theresa und Sigi wirkten leicht angespannt.

„Grüß Gott, die Herrschaften, zum zweiten Mal in dieser Woche, wie kann ich Ihnen denn diesmal weiterhelfen?“, begrüßte sie der Doktor mit näselndem Tonfall und hochgezogenen Augenbrauen.

„Ja, wenn das so ist“, entgegnete Wamprechtshammer, „dann hätten wir gerne das Bullen-Mittagsmenü: drei Leberkässemmeln, drei Cola und drei Kaffee to go, danke sehr …“

„Ha, ha, Wamprechtshammer. Sie lassen sich auch immer was Neues einfallen, witzig wie eine Wasserleichenobduktion. Wobei, das erinnert mich an etwas, was war das nur? Ach ja, wir haben ja tatsächlich eine solche, wenn auch irgendwie nur zur Hälfte, nicht wahr? Die Herren und Damen Kriminaler können wohl nicht genug davon kriegen, was?“

Die Augenbrauen von Dr. Seltsam wanderten weiter Richtung Stirn und er legte den Kopf leicht schräg, was in noch abschätziger erscheinen ließ.

„Ja da schau her, der Herr Doktor bringt’s mal wieder auf den Punkt. Dann lassen Sie uns mal loslegen, bevor wir uns noch vor Zuneigung abbusseln. Bitte den Doktor voranzuschreiten.“

Wamprechtshammer deutete einen Diener an und machte eine ausladende Handbewegung.

Bitte, lieber Gott, lass mich meine Dienstwaffe vergessen, wenn ich diesem Leichenfledderer mal nachts begegnen sollte, dachte er und folgte seinen Kollegen und dem Mediziner zum Autopsieraum.

Dr. Seltsam hatte die Tür bereits geöffnet, als Sigi plötzlich anfing, nervös an sich herumzunesteln.

„Des gibds doch ned. So a Mist aber aach!“

Leise fluchend arbeitete er sich durch die Taschenflut seiner Multifunktionscargohose. Dr. Seltsam blieb im Türrahmen stehen und ließ genervt die Schultern sinken.

„Was ist denn nun schon wieder? Könnten die Herrschaften mal die Kindereien lassen?“

„Ich kann den Gruch ned ab und hab mei Mendolbixla fagessn, so a Mist, so a dabbicher!“

„Tut mir leid, Sigi, ich hab nix dabei.“ Wamprechtshammer zuckte mit den Schultern. „Du vielleicht, Reserl?“

„Für den armen Sigi doch immer. Da, schau her, nimm des.“ Sie reichte ihm eine kleine rote Blechdose mit asiatischen Schriftzeichen.

„Nachdem wir die olfaktorischen Probleme des Herrn Kriminalkommissars gelöst haben, könnten Sie Ihre Aufmerksamkeit jetzt wieder auf die wichtigen Dinge lenken? Danke schön!“, näselte es aus dem Autopsieraum.

Sie betraten den sterilen Sektionssaal. „Mortui Vivos Docent“ – „Die Toten lehren die Lebenden“ – prangte groß in Frakturschrift über der Tür, und der Herr über diese Toten hatte hinter dem Untersuchungstisch bereits eine theatralische Pose eingenommen. Mit ausgebreiteten Armen stand er dort wie ein Magier kurz vor dem Zersägen der Assistentin, entfernte mit einem Ruck das Tuch und gab damit den Blick auf den armseligen Rest von dem frei, was einmal ein stattliches Mannsbild von knapp zwei Metern gewesen war.

„Sehen Sie ganz genau hin, Herrschaften. Noch nicht einmal ich bekomme so etwas besonders oft zu Gesicht, geschweige denn einer von Ihnen. Was Sie hier sehen, ist Präzisionsarbeit, professionell ausgeführt und bestens vorbereitet. Der Mörder versteht sich ganz ohne Zweifel ausgezeichnet auf die hohe Kunst der Amputation.“

„Könnten S’ das vielleicht ein bisserl weniger pathetisch vortragen? Nüchterne Fakten genügen uns auch“, entgegnete Wamprechtshammer leicht säuerlich.

„Banausen sehen immer nur die Tat, das Verbrechen, und nicht deren Ausführung und Komplexität. Aber wenn Sie wollen, mein lieber Herr Kriminalhauptkommissar, dann halten wir uns nur an die für Sie ach so wichtigen Fakten“, gab Dr. Seltsam beleidigt zurück. „Also, wir haben hier die Leiche eines circa fünfunddreißigjährigen Mannes, dessen Arme und Beine sowie die Palpebrae, sprich Augenlider, und das Herz mit chirurgischer Präzision entfernt wurden. Alle Eingriffe fanden prämortal statt, und zwar in der Reihenfolge linker Arm, rechter Arm, linkes Bein, rechtes Bein, Augenlider und natürlich zuletzt das Herz.“

„Warum sind Sie sich wegen der Reihenfolge so sicher?“, wollte Theresa Gruber wissen.

„Ts, ts, nicht so stürmisch. Lauschen Sie einfach geduldig meinen Ausführungen, dann können Sie sich störende Zwischenfragen sparen. Ach, da fällt mir auf, soll ich Ihnen einen Hocker bringen lassen? Damit Sie, nun ja, die Leiche nicht immer von unten betrachten müssen, Frau Kommissarin?“

„Nein, ich seh genug. Danke der Nachfrage!“

Theresa ballte die Fäuste. Das Knacken klang nach Ärger und Wamprechtshammer legte ihr vorsichtshalber beruhigend die Hand auf die Schulter. Nichts brachte die ansonsten entspannte und stets gut gelaunte Asiatin mehr auf die Palme als anzügliche Bemerkungen über ihre Größe oder ihr Aussehen. Außerdem konnten sie heute einen zerbeulten Rechtsmediziner ganz und gar nicht brauchen – leider.

„Um die voreilige Frage nachhaltig zu beantworten“, fuhr dieser fort, „möchte ich auf die unterschiedlichen Stadien der Wundheilung hinweisen, welche auch nach zweitägigem Spülgang in der kühlen Isar noch deutlich zu erkennen sind. Womit wir schon beim nächsten Punkt wären: Die geringen Abrasionen am Körper des Toten weisen auf ruhiges Gewässer hin, was bedeutet, dass der oder die Täter sich der Leiche vermutlich nahe oder in der Ruhewasserzone entledigten, wo sie ja schließlich gef… Herr Kollege Kommissar! Finden Sie das so traurig, dass Sie gleich weinen müssen?“

Dr. Seltsam fixierte Sigi Leininger mit stahlblauem Blick – diesmal mit nur einer hochgezogenen Augenbraue.

„Ich? Äh, naa! Ja, sach amohl, Deresa, was issn des für a Deuflszeuchs? Allmächd, ich krieg ja Hirnfrost!“ Sigis Gesicht ähnelte immer mehr dem von Rocky Balboa nach dem finalen Titelkampf.

„Oh, shit! Sorry, tut mir leid. Ich hab dir gar nicht gesagt, dass das vietnamesischer Tigerbalsam ist. Viel stärker als deine Mentholsalbe.“

„Ja, woher soll ich denn des wiss’. Sakra, des haud nei. I seh nix mehr!“

Jetzt wurde es sogar Wamprechtshammer zu viel.

„Ja, Kreizsakra, so werden wir ja heut gar nimmer fertig! Theresa, bringst du den Sigi bitte mal hier raus und hilfst ihm. Der hat ja einen Belli auf, nimmer lang, dann platzt ihm der.“

Theresa schnappte sich den zugeschwollenen, tränenüberströmten Sigi und führte ihn vorsichtig nach draußen.

„Und wenn’s ned hilft, erlös ihn von seinen Qualen. Is ja kein Problem, wir sind ja eh in der Rechtsmedizin!“, rief ihnen Wamprechtshammer hinterher.

„Dangge für dei Mitgefühl, Chef!“, schniefte es beleidigt von draußen zurück.

Nun konnte er endlich ohne weitere Unterbrechung, wenn auch widerwillig, den Ausführungen von Dr. S. lauschen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die, wie er nach einem Blick auf die Uhr feststellte, gerade mal dreißig Minuten gedauert haben musste, hatte Wamprechtshammer alle wichtigen Fakten beisammen und konnte die Vorhölle und deren Zeremonienmeister verlassen. Draußen schnaufte er erst mal tief durch, es hatte zu regnen begonnen. Die Luft roch feucht und sauber. Eine Wohltat nach der fast sommerlichen Föhnhitze im Frühling, solange es sich nicht einregnete. Unter den hohen Säulen des Instituts warteten Theresa und der ziemlich lädierte Sigi.

„Na? Naserl wieder gepudert?“, ulkte Wamprechtshammer, worauf dieser vernehmlich schniefte und ein beleidigtes „Ja, passt schon“ nachschob.

„Gut, dann zurück ins Büro. Geh doch schon mal vor und hol den Wagen, Sigi“, Wamprechtshammer konnte sich den alten Derrick-Kalauer nicht verkneifen. „Dann kannst noch ein bisserl auslüften.“

„Immer ich! Und dann noch bei dem Regen“, maulte Sigi, zog sich die Jacke über den Kopf und rannte los.

Wieder im Polizeipräsidium angekommen, machten sie es sich im engen Chefkabuff bequem, um alle Fakten noch einmal durchzusprechen.

KAPITEL 7

„So, Leut, was hamma?“

Wamprechtshammer ließ sich ungebremst in seinen alten, abgewetzten Bürostuhl fallen. Dieser ächzte bedenklich. „Reserl, du holst Kaffee? Und ich müsst noch irgendwo …, ja, sag mal, wo sind s’ denn? Hat dieser Gloifl mir die auch verzogen? Ich fahr sofort ins Krankenhaus und zieh ihm seine Schläuch raus! Wer mir meine Butterkeks verräumt, der hat’s nicht anders verdient. Zefix! Und wo ist eigentlich meine Kaffeemaschine?“

„Nicht aufregen, Berti. Schau, was ich dabei hab!“

Theresa kam mit einer Kanne frischen Kaffees und drei Packungen echten Zweiundfünfzigzahnigen zurück. Während Leiniger geschäftig Teller und Tassen auf dem Schreibtisch verteilte, war Wamprechtshammers Laune augenblicklich wieder auf normalem Level.

Er schnappte sich einen Butterkeks, tauchte ihn in seinen mit Milch und Zucker reichlich denaturierten Kaffee und schmatzte genüsslich.

„Also, unser Burschi in der Patho schaut ordentlich mitgenommen aus, ist aber fachgerecht tranchiert worden. Was ihr allerdings noch nicht wisst und auch nicht wissen könnt – weil ja der Herr Leininger Pippi in den Augen hatte – , ist, dass unser Toter in komplettem Zustand mal fast zwei Meter groß war, ungefähr hundertzehn Kilo gewogen hat, fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, sehr sportlich und wohl auch recht wohlhabend war.“

„Da war aber nicht viel übrig, um das festzustellen. Wieso wohlhabend?“, fragte Leiniger kekskauend.

„Zahnstatus, lieber Sigi, der Zahnstatus. Dem seine Kauleisten waren in perfektem Zustand, eins a gepflegt, gebleached und mit nagelneuen Veneers. Popstar-Smile sozusagen. Des dürft eine Stange Geld gekostet habe. Seine Beißerchen hat uns der Täter ja gelassen – und ich vermut mit Absicht.“

„Wir gehen immer von einem Täter aus, wieso keine Täterin?“ Theresa knabberte einen Zahn vom Keks.

„Wie? Wie soll denn des gehen? Des müsst ja mindestens a russische Leistungsringerin sein, die so an Kerl stemmt!“

„Sag niemals nie, Sigi!“ Der zweite Zahn war ab vom Keks. „Aber du hast recht, ich find das auch eher unwahrscheinlich. Wobei, auch ein Mann hätt da ganz schön zu tun. Also ich glaub, du hättest da schon ein paar Probleme, so einen Kaventsmann zu stemmen.“ Unschuldiges Grinsen. Dritter Zahn.

„Ja, Herrschaften, wenn ihr das ausdiskutiert habt, kämen wir zum nächsten Punkt“, unterbrach Wamprechtshammer das sich anbahnende Geplänkel.

Und der nächste Punkt war tatsächlich ein ganz entscheidender. Obwohl der Tote aufgrund der Vielzahl an Amputationen für mehrere Wochen – wenn nicht sogar Monate – in der Gewalt des Täters gewesen sein musste, gab es keine Vermisstenmeldung, auf die das Profil des Opfers passte. „Außerdem braucht man für die planmäßige Ausführung einer solchen Tat ausreichend Ressourcen an Raum, Geld und Zeit. Von dem nötigen Know-how ganz abgesehen.“

Wamprechtshammer war jetzt warmgelaufen und die Kekspackung leerte sich zusehends.

„Das Opfer ist professionell sediert, anästhesiert und medikamentiert worden und die Ausführung ist, wie ihr ja bereits von unserem Doktor Seltsam wisst, feinstes Amputationshandwerk. Dem alten Perversling hab ich übrigens versprechen müssen, dass ich den Sausack, der den armen Kerl so zerlegt hat, nach seiner genauen Vorgehensweise frage, bevor ich ihm die Eier wegschieß. Der hat doch an Vogel, unser Leichenfledderer!“

„Hör auf, Berti, da schüttelt’s mich gleich.“ Theresa hatte den Keks nun entzahnt. „Aber wieso hat er ihm die Augenlider entfernt, bevor er das Herz rausoperiert hat?“

„Tja, Reserl, jetzt wird’s ganz grausig und unser zartes Sigilein sollte jetzt weghören. Unser Täter hat seinem Opfer zunächst die Augenlider amputiert, sodass er bei der Totalexstirpation des Herzens zusehen musste. Ob mit oder ohne Narkose wissen wir nicht. Dann hat er ihm eine Spinalanästhesie auf Höhe des ersten Thoraxwirbels verpasst, was eigentlich Wahnsinn ist, weil das kein normaler Patient unbeschadet übersteht. Aber unserem Täter konnte das ja wurscht sein. Wenn das also funktioniert hat, hat unser Opfer sein Herz tatsächlich noch schlagen sehen, bevor ihm wortwörtlich sein Pumperl abgeknipst wurde.“

Sigi schwitzte jetzt ein wenig und umklammerte sein Kaffeehaferl, was Wamprechtshammer amüsiert registrierte.

„Hast ja doch ned wegghört, Sigi. Aber jetzt hast du’s überstanden. Ihr beide wertet bis Montag die restlichen Fakten aus. Ich pack’s jetzt. Bei mir daheim stapelt sich die Post und wahrscheinlich auch ein paar überfällige Rechnungen. Habe die Ehre und euch ein schönes Wochenende!“

KAPITEL 8

Wamprechtshammer machte sich auf den Heimweg. Der Regen hatte sich verzogen und die Luft war klar und schon fast ein wenig sommerlich. Eine neue Schönwetterfront zog von den Alpen heran und der Himmel zeigte die ersten Föhnwolken – Altocumulus lenticularis. Wenn er sich einen lateinischen Begriff merken konnte, dann den, denn der versprach bereits Ende April angenehme Temperaturen. So kann’s weitergehen, dachte er und marschierte los. Nicht entlang der großen Hauptstraßen, sondern durch die kleinen Gassen mit dem einen oder anderen Schlenker, denn Wamprechtshammer guckte gerne in Hinterhöfe. Wie hatte sich diese Stadt doch in den letzten Jahren verändert. München kam ihm manchmal vor wie ein Kasperletheater. Wo vor ein paar Jahren noch beinahe provinzielle Gemütlichkeit herrschte, hüpften jetzt lauter Business-Kasperl und -Gretls übermotiviert durch die Gegend und kopulierten förmlich mit ihren Smartphones. Wenn sie sich dann in irgendeiner angesagten „Location“ trafen und von ihrem elektronischen Zweithirn aufschauten, konnte man einer ähnlich intelligenten Konversation wie der Folgenden lauschen: „Servus, Gretl! – „Ja, der Kasperl und der Seppl, grüß euch!“ Bussi, Bussi. „Du, wir haben da ne tolle Business-Idee. Sensationell. Total disruptive! Gründen wir ’n Start-up?“ – „Ja. Tolle Idee, Kasperl, mein Papa sponsert des ganz bestimmt, hahaha. Komm, darauf trinken wir nen Kumquat-Gojibeeren-Spritz, ich kenn da ne supertolle Pop-up-Bar. Das gönnen wir uns!“ Und dann kam zu Kasperl, Seppl und Gretl – nach sehr viel „Gönnung“ – irgendwann der Wachtmeister Dimpfelmoser in Form des Finanzamts und nach der ersten Umsatzsteuerforderung war er ausgeträumt, der Traum. Vorerst, weil der Papa wird’s schon richten und das große Selbstdarstellungstheater konnte munter weitergehen. Dazu kamen noch die Finanz-, Firmen-, Medien- und Du-hastauf-jeden-Fall-ein-Problem-Berater, die allgegenwärtigen Coaches nicht zu vergessen. Gar nicht wenige von denen konnte man ganz ungeschönt als saubere Breznsoizer bezeichnen. Aber eines war klar: Von „Laptop und Lederhosn“ keine Spur mehr, jetzt hieß es eher „Smartphone und Maßanzug“, oder Hipster-Shirt, je nach Attitüde. Aber auf jeden Fall Vollbart, oder nicht? Wer wusste das in diesem pseudotrendigen München schon so genau.

Massiver Brathendlduft riss Wamprechtshammer aus seinen Gedanken. Unbewusst war er wohl in Richtung Stüberl spaziert. Fast auf der Stelle bekam er Appetit, und da er schon mal davorstand … Vielleicht heute mal ein Cordon bleu, oder ein Schweinshaxerl mit Kraut, oder … jetzt lief ihm das Wasser im Munde zusammen und er beeilte sich, auf der Dachterrasse seinen Stammplatz zu ergattern. Die Sonne war tatsächlich noch mal rausgekommen und ein laues Lüfterl wehte. Kaum hatte er Platz genommen, erschien auch schon Willi und platzierte eine frische Halbe Münchner Hell auf dem Bierdeckel vor ihm.

„Servus, Willi, wie geht’s?“

„Ach, wie soll’s schon gehn? Passt scho.“

„Na, des klingt mir aber ned nach meinem Willi. Was ist los, Wiegald Semmeling?“

„Ach geh, Berti. Du weißt doch, dass du mich nicht so nennen sollst. Mir geht’s echt scheiße. Weißt, ich hab dir doch vorgestern von dem scharfen Kerl erzählt, der diese spezielle Diät macht …“

„Ah, ja stimmt, dieses Palalala …“ Wamprechtshammer wedelte mit der Hand durch die Luft.

„Paleo, ja, genau. Seit vier Tagen hab ich schon nix von dem gehört. Dabei hat’s so gut angefangen. Und jetzt? Nada, niente, nothing. Ich erreich ihn weder auf seinem Handy noch auf dem Festnetz. In der Sauna war er auch nicht und bei seinem Fitness-Studio, in dem er arbeitet, sagen s’, er hätt sich krankgemeldet – per E-Mail. Aber auch da krieg ich keine Antwort von ihm. Des is doch komisch, oder?

Willis Augen wurden feucht.

„Na, ja. Vielleicht hat er sich an einer Nuss verschluckt und …“

„Mei, Berti. Ich mein’s ernst. Ich mach mir Sorgen. Könntest du da mal nachschauen? Ich weiß nämlich nicht, wo der wohnt, weil mia uns immer nur bei mir getroffen ham. Und die im Fitness-Studio wollten’s mir auch ned sagen.“

Jetzt zitterte Willis Unterlippe.

Nicht mehr lange und er würde Rotz und Wasser heulen. Wamprechtshammer hatte das schon ein paarmal erlebt und es dauerte dann meist mehrere Stunden, bis er sich wieder beruhigt hatte. Das Stüberl schien ihm dafür wahrlich nicht der passende Ort zu sein.

„Willi, Willi, irgendwie hast du kein Glück mit deinen Lovern. Weißt du was, ich bleib hier, bis deine Schicht rum ist, und dann erzählst mir alles ganz genau. Aber bitte, bitte fang nicht an zu heulen. Okay?“

„Ja, ich glaub, ich schaff des.“ Willi schnaufte tief durch. „Dauert aber bis elf, halb zwölf.“

„Sehr brav, macht nix. Aber jetzt lass mich mein Bier trinken, sonst heul ich, wenn’s lack is, und bring mir heut mal eine Schweinshaxn mit Kraut und Knödl, ich kann davor was Deftiges brauchen.“

Kurz darauf stand das Prachtstück auch schon dampfend vor ihm und Wamprechtshammer begann sich durch die resche Kruste zu arbeiten. Wohlgesättigt holte er sich zu seinem zweiten Bier den gesamten Vorrat des Lesezirkels vom Tresen und machte es sich drinnen in einer ruhigeren Ecke des Nebenzimmers gemütlich. Zum länger Draußensitzen war es ihm dann doch ein wenig zu kühl. Ein paar Bier später – er hatte sich bereits durch sämtliche Sport-, Automobil-, Wohn- und Frauenzeitschriften gearbeitet und las gerade vertieft in einem hochseriösen Yellowpress-Magazin, das von sich selbst behauptete, nur „spannende und seriöse Reportagen über Showstars, VIPs und Königshäuser, ohne Sensationslust, sondern mit viel Gefühl“, abzudrucken – war Willi schließlich abmarschbereit und blickte erwartungsvoll auf ihn herab.