Beidlschneider. Wamprechtshammers zweiter Fall - Rolf Mai - E-Book

Beidlschneider. Wamprechtshammers zweiter Fall E-Book

Rolf Mai

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Beschreibung

Ein Bürgermeister, der schlichtweg Pech hatte. Ein gefräßiger Dackel. Ein Motorradfahrer, der da hängt, wo man ihn zuallerletzt vermuten würde, und eine Kugel auf Umwegen. All das versaut Herbert Wamprechtshammer gehörig das Wochenende. Aber auch Gertrauds Sonderwünsche und ein veritables Rockerproblem sorgen nicht gerade für Hochstimmung. Schlimmer kann’s eigentlich nicht kommen, denkt sich der Berti – doch da täuscht er sich gewaltig: Eine Gruppe renitenter Rentner macht Jagd auf Münchens „großkopferte Beidlschneider“. Und weil es um einige von denen gar nicht so schade wäre, braucht’s einfach manchmal das eine oder andere Motivationsbier für das Münchner Ermittlerteam. „Beidlschneider“ ist die vielgewünschte Fortsetzung und der zweite Fall des Münchner Kommissars „Berti“ Wamprechtshammer und kommt ebenso deftig daher wie sein Vorgänger.

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INHALT

PROLOG

KAPITEL OANS

KAPITEL ZWOA

KAPITEL DREI

KAPITEL VIERE

KAPITEL FÜMFE

KAPITEL SECHSE

KAPITEL SIEME

KAPITEL ACHTE

KAPITEL NEINE

KAPITEL ZEHNE

KAPITEL ÄIFE

KAPITEL ZWÄIFE

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FUCHZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEINZEHN

KAPITEL ZWANZG

KAPITEL OANAZWANZG

KAPITEL ZWOARAZWANZG

KAPITEL DREIAZWANZG

KAPITEL VIERAZWANZG

KAPITEL FÜMFAZWANZG

KAPITEL SECHSAZWANZG

KAPITEL SIEMAZWANZG

KAPITEL ACHTAZWANZG

KAPITEL NEINAZWANZG

KAPITEL DREISSG

KAPITEL OANADREISSG

KAPITEL ZWOARADREISSG

KAPITEL DREIADREISSG

KAPITEL VIERADREISSG

KAPITEL FÜMFADREISSG

KAPITEL SECHSADREISSG

KAPITEL SIEMADREISSG

KAPITEL ACHTADREISSG

KAPITEL NEINADREISSG

KAPITEL VIERZG

KAPITEL OANAVIERZG

KAPITEL ZWOARAVIERZG

KAPITEL DREIAVIERZG

KAPITEL VIERAVIERZG

KAPITEL FÜMFAVIERZG

KAPITEL SECHSAVIERZG

KAPITEL SIEMAVIERZG

KAPITEL ACHTAVIERZG

KAPITEL NEINAVIERZG

KAPITEL FUCHZG

KAPITEL OANAFUCHZG

KAPITEL ZWOARAFUCHZG

KAPITEL DREIAFUCHZG

KAPITEL VIERAFUCHZG

EPILOG

GLOSSAR

DANK

IMPRESSUM

PROLOG

Herbst 2016

„Mein lieber Freund, lass es dir schmecken!“

Kehlinger hob sein Weinglas und prostete seinem Gegenüber zu. Der erwiderte das Prost mit einem Glas Giesinger Doppel-Alt und beide nahmen einen kräftigen Schluck, der naturgemäß beim Bier etwas größer ausfiel.

„Was mich wundert, lieber Sahid“, fuhr Kehlinger fort, während er das dunkle, ölige Rot seines Glasinhaltes betrachtete, „ist, dass du als Moslem doch eigentlich gar keinen Alkohol trinken dürftest. Geschweige denn unser hoffentlich zügig kredenztes Mahl genießen könntest, ohne dass dir Allah einen Blitz in den Allerwertesten fahren lässt.“

Sahid Nasir ad-Din der Dritte grinste und entblößte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne von beeindruckender Symmetrie. Er platzierte sein Bierglas bedächtig auf dem grauen Filzuntersetzer mit dem eingebrannten Emblem des Restaurants, stützte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte die Finger vor einem markanten Kinn mit akkurat gestutztem Bart. Die beiden Diamanten auf den Manschettenknöpfen seines maßgefertigten Hemds aus allerfeinster ägyptischer Baumwolle blitzten lupenrein.

„Lieber Hartmut, Allah schleudert ganz sicher keine Blitze, das wäre ihm dann doch zu teutonisch. Außerdem bin ich eben Moslem, wie du Katholik. Und wo kämen wir denn da hin, wenn wir uns sklavisch an alle möglichen Glaubensvorgaben halten müssten?“

Sahid machte eine ausladende Handbewegung.

„Schau dir all die leckeren Köstlichkeiten an. Wiener Schnitzel, Strudel, schwäbische Maultaschen – die übrigens auch nicht ohne Grund ‚Herrgottsbscheißerle‘ genannt werden! Da habt ihr Christen ganze Arbeit geleistet, um eurem Herrgott eins auszuwischen. Wenn Teig drüber ist, sieht Gott das Fleisch nicht, gell? Also ich für meinen Teil bin da lieber für ein ehrliches Statement. Und überhaupt! Wenn ich mir erst überlege, was eure Mönche den Bibern angetan haben …“

„Ist schon gut.“ Kehlinger winkte belustigt ab. „Ich hab mal wieder vergessen, dass du in München deinen Doktor in Religionswissenschaften gemacht hast und überhaupt der allerbayrischste aller arabischen Prinzen bist, den ich kenne.“

„Wenn nicht sogar der einzige … Prost, Hartmut!“

„Fi sihhatika – Prost, Sahid!“

Beide erhoben ihr Glas abermals.

„Auf unsere einzigartige Freundschaft und gutes Gelingen unserer Geschäfte.“

„Das hoffe ich auch, Hartmut. Wie ist denn der Stand der Dinge?“

„Oh, ganz hervorragend. In knapp zwei Jahren gehört dieses Filetstück einer Münchner Immobilie dir, ohne dass du jemals in Erscheinung getreten bist, und … oh, schau mal, was da kommt!“

Der Maître selbst rauschte raumgreifend, in makellos weißer Kochjacke und eine große Servierplatte balancierend, ins Séparée.

„So, Herrschaften, Schluss mit lustig, jetzt wird gegessen!“, verkündete er in seiner bekannt jovialen Art, platzierte die Leckereien auf einem separaten Servierwagen mit Warmhalteplatte und begann – wie in einer seiner unzähligen Kochshows – zu dozieren, während er das Essen auf den Tellern anrichtete.

„Im eigenen Fett langsam confierter Knusperbraten vom Mangalitza-Schwein, verfeinert mit Kümmel, Lorbeer, Ingwer und einem Hauch Chili, in einer Giesinger Dunkelbier-Jus. Da wirst du süchtig, des sag ich dir! Dazu gibt’s Semmelknödel aus Neulinger Semmeln – dem besten Münchner Bäcker – mit leichter Muskatnote und Krautsalat mit Speckcroutons, ebenfalls vom Mangalitza … So, und jetzt lasst es euch schmecken!“

„Also, Alfred, dafür würd sogar Allah eine Ausnahme machen und sich ein Schweinernes gönnen, oder was sagst du, Sahid?“

„Absolut, Hartmut! Shahiat jayida – an Guadn!“

„Dir auch, mein Freund, dir auch!“

Der Starkoch in Weiß verließ zufrieden lächelnd das Séparée. Die beiden Spezln bissen genussvoll in das Krusterl. So richtig knusprig war es allerdings nicht.

KAPITEL OANS

Sommer 2019

Die Position war perfekt, wenn auch ein wenig unbequem für jemanden in seinem Alter. Aber Job war nun mal Job – und er liebte ihn. Es war heiß und stickig in dem kleinen Geräteschuppen, der auf freiem Feld ein gutes Stück vor der nächsten Ortschaft lag, und er hatte es sich in dem winzigen Schlupfspeicher unter dem Giebel so bequem wie möglich gemacht. Von dort aus hatte er durch eine Luke über mehr als einen Kilometer freien Blick auf die schmale Landstraße vor dem Schuppen. Er schwitzte. Was für ein Wetter! Wie geschaffen für eine Motorradtour, aber er fuhr schon lange nicht mehr. Dafür der, auf den er wartete. Der, von dem er wusste, dass er hier entlangfahren würde. Gute Recherche, Geduld und Ausdauer waren schon immer seine besten Gefährten gewesen, und immerhin fächelte ihm der kleine batteriebetriebene Ventilator ein wenig kühle Luft ins Gesicht. Der Rest von ihm schmorte gerade in einem staubdichten ABC-Schutzanzug aus gummiertem Nylongewebe vor sich hin. Man musste Opfer bringen, wenn man möglichst wenig Spuren hinterlassen wollte.

Vor sich hatte er sein Arbeitsgerät platziert. Das Scharfschützengewehr Walther WA 2000 war ein technisches Meisterwerk. Klein und leicht, dabei aber äußerst leistungsstark und präzise wie ein Uhrwerk. Offiziell waren davon in den frühen Siebzigern nur 176 Stück gebaut worden. Inoffiziell allerdings 177, denn seines war ein Testexemplar, das laut Akten eigentlich tief in einer Asservatenkammer des Herstellers schlummern sollte. Das tat es allerdings schon seit vielen Jahren nicht mehr. Um genau zu sein, seit exakt zwanzig. Denn kurz bevor man ihn, den gelernten Büchsenmacher und ausgebildeten Scharfschützen, mit einem feuchten Händedruck und einer mageren Abfindung mit fünfundfünfzig Jahren vorzeitig aufs Abstellgleis schickte, hatte er das gute Stück durch ein aus Ersatzteilen zusammengesetztes, funktionsunfähiges Duplikat ersetzt. Somit war sein WA 2000 das weltweit einzige nicht registrierte Exemplar und einem Sammler gut und gerne den Preis eines kleinen Zuffenhausener Sportwagens wert. Für ihn selbst war es praktisch unbezahlbar. Mit ihm sicherte er sich den entspannten Ruhestand – auch wenn es ja eigentlich gar kein Ruhestand war –, von dem er mit seiner schmalen Rente bis vor ein paar Jahren nicht zu träumen gewagt hätte. Schon gar nicht in München, bei den horrenden Mieten! Trotz der vielen Nachteile wollte er nie weg aus der Landeshauptstadt, auch nicht ins Umland. Schon damals, als er noch bei dem Waffenhersteller im einhundertfünfzig Kilometer entfernten Ulm arbeitete, pendelte er lieber.

Viele Jahre nach seiner Entlassung, als er nach unzähligen schlecht bezahlten Jobs in Rente ging, hätte ihn seine Treue zu München beinahe in den Ruin getrieben. Für knapp ein Jahr schlief er sogar in seiner Schrebergartenhütte, weil er sich die Wohnung nach einer Generalsanierung nicht mehr leisten konnte. Irgendwann sprach ihn bei einem Treffen des Gartenvereins ein Herr in seinem Alter – der ihm bis dahin noch nie aufgefallen war – darauf an und fragte, ob er denn nicht mal zu ihm zum Grillen kommen wolle. Dass dies sein Leben noch einmal von Grund auf ändern sollte, konnte er damals noch nicht wissen. Aber genau deshalb war er jetzt hier und schwitzte nur allzu gerne in diesem staubigen Speicher vor sich hin.

Entferntes Grollen riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte ihm, dass die Zeit passte. Er ging noch einmal alle relevanten Werte im Kopf durch. Achthundert Meter entfernt lief die Straße für zweihundert Meter exakt im rechten Winkel auf den Schuppen zu. Sein Ziel würde sich mit einer Geschwindigkeit von circa fünfundzwanzig Metern pro Sekunde bewegen. Ihm blieb somit ein Zeitfenster von etwa acht Sekunden. Mehr als genug also. Mit geübtem Griff klappte er die Schutzkappe des Zielfernrohrs nach oben und entsicherte das Gewehr. Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Windrichtung, Windstärke und sogar die Corioliskraft, hervorgerufen durch die Erddrehung, hatte er bereits vorab berechnet. Für sein Alter war er sowohl geistig als auch körperlich noch ziemlich gut in Schuss – oder, wie ein Teenager zu seinem Kumpel meinte, als er die beiden beim Joggen überholte: „Krass, Oida, voll des Wiesel, der Opa!“

Der Alte musste grinsen, als er sich ausmalte, was der Rotzlöffel wohl sagen würde, wenn er ihn jetzt sähe. Jetzt nahm er seine Schussposition ein, justierte noch einmal das Zielfernrohr, legte den Finger auf den Abzug und atmete ruhig und gleichmäßig. Es war fast wie Meditation, er wurde eins mit seiner Waffe. Sein Ziel kam nun – zum Greifen nahe vergrößert – geradewegs auf ihn zu. Er zählte rückwärts: acht, sieben, sechs … Dann atmete er ein, hielt die Luft an. Der Rückstoß war dank der Mündungsbremse erträglich. Das Projektil verließ den Lauf des WA 2000 mit fast dreifacher Schallgeschwindigkeit. Unwiderruflich. Tödlich. Den Knall des Schusses würde die Zielperson nicht mehr hören, jeder andere würde es für eine Fehlzündung halten. Nach einem Wimpernschlag war alles vorbei.

Routiniert sammelte er die Patronenhülse ein, klappte den Ventilator zusammen und verstaute alles samt dem Gewehr in einem unauffälligen Trekkingrucksack. Er robbte rückwärts zur Leiter, über die er auf den Speicher geklettert war, und stieg hinab. Das ging vor ein paar Jahrzehnten alles noch ein wenig leichter. Aber beschweren wollte er sich nicht, er war zufrieden, so wie es war. Unten angekommen schlüpfte er aus dem Schutzanzug und dem leichten Baumwoll-Overall, den er darunter trug. Nur in Unterhosen stand er jetzt da. Schicke Designershorts aus feinster ägyptischer Baumwolle. Auch mit Mitte siebzig trug er kein Schiesser Feinripp, da legte er Wert drauf. Selbst ein Kulturbeutel hatte in seinem Rucksack Platz gefunden. Aus ihm zauberte er eine runde Haarbürste, kämmte sich und rieb sich anschließend ausgiebig mit Latschenkiefer-Franzbranntwein ein. Sein Hausmittel gegen Verspannungen, die so ein Job wie heute unweigerlich mit sich brachte.

Ein wenig später verließ ein äußerst rüstiger und gepflegter älterer Herr mit Rucksack in Wanderkleidung den vergessenen Geräteschuppen, für den jedes Vorhängeschloss pure Verschwendung gewesen wäre. Nach einem kurzen Fußmarsch querfeldein erreichte der Alte die Gemeindestraße und blickte zurück. Die Luft flirrte über dem Asphalt, nichts rührte sich. Scheinbar hatte niemand etwas bemerkt. Zielstrebig machte er sich auf den halbstündigen Weg in den kleinen Ort, wo er sein Auto geparkt hatte. Doch je näher er kam, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmte. Laute Schreie, Stimmengewirr. Es herrschte ungewohnter Trubel. Menschen liefen aus ihren Häusern und Wohnungen in Richtung Hauptplatz. Überhaupt schien der ganze Ort plötzlich auf den Beinen zu sein. Als er den Dorfplatz mit dem Maibaum erreichte, sah er den Grund für den Aufruhr, und er war sich nicht sicher, ob er bei dem Anblick, der sich ihm da bot, lachen oder weinen sollte. Jedenfalls hatte er so etwas noch nie gesehen, geschweige denn selbst erlebt – und wie das überhaupt möglich war, konnte er sich ebenfalls nicht erklären. Wie auch immer das zustande gekommen sein mochte, das Tohuwabohu war definitiv zu seinem Vorteil. Er tauchte in der hysterischen Menge unter, überquerte den Platz, stieg in seinen alten, unauffälligen 3er Kombi, warf noch einmal einen Blick auf die bizarre Szenerie, schüttelte den Kopf und machte sich schleunigst aus dem Staub. Mehr Details dazu würde er ohnehin morgen aus der Presse erfahren, dessen war er sich ganz sicher.

KAPITEL ZWOA

Das charakteristische Wummern des Zweizylinder-V-Motors erzeugte beim Fahrer der Harley-DavidsonCVORoad Glide eine Ganzkörpergänsehaut, die unter der Hightech-Motorradmontur glücklicherweise nicht zu sehen war. Hartmut Kehlinger genoss dieses Gefühl in vollen Zügen. Jede Kurve und jeder Gasstoß waren wie kleine Orgasmen für ihn. Obgleich er kein geübter Motorradfahrer war, bewegte er die Maschine mit spielerischer Leichtigkeit über die kurvenreiche Landstraße. Die ausgefeilte Technik, die ihm dies ermöglichte, war Kehlinger egal. Wichtiger war ihm schon immer die Show gewesen, der schöne Schein. Für jeden anderen, der davon nichts wusste, sah er aus wie ein passionierter und routinierter Biker. Selbst seine Bekleidung, bestehend aus Jeans, Lederjacke, Boots und Integralhelm, wirkte vollkommen normal. Doch auch sie war Bestandteil eines von drei einzigartigen Motorrad-Prototypen. Diese hatten lediglich noch die Optik und den Motor mit einer Harley gemein und waren ihrer Zeit um Jahre voraus. Und er, Hartmut Kehlinger, war einer der wenigen Auserwählten, die in den Genuss dieser neuen Technologie kamen. Darauf war er stolz wie Bolle. Er grinste, während er sich waghalsig in die nächste Kurve legte, bis zwischen Fußraste und Asphalt nicht mal ein Haar gepasst hätte. Dazu zeigte das Head-up-Display im Visier seines Helmes die Ideallinie, den Schräglagenwinkel und mögliche Hindernisse an. Die gut versteckten Rundumkameras und Sensoren, die Servos für Lenkung und Bremsen, die elektronische Motorsteuerung, das ruckfreie Automatikgetriebe und ein Hochleistungsgyroskop sorgten für ein einzigartiges Fahrgefühl. Aber der Clou des Ganzen war ein zigarrenkistengroßes Kästchen direkt unter der Sitzbank, ein Mikrocomputer, vollgepackt mit künstlicher Intelligenz, der das technische Brimborium virtuos steuerte. Kurzum, das Motorrad fuhr praktisch von allein. Herrlich! Kehlinger fühlte sich großartig.

Was er, der einstmals mäßig erfolgreiche Anwalt für Immobilienrecht, in den letzten Jahren geschafft hatte, sollte ihm erstmal einer nachmachen. „Zwar war dabei auch eine ordentliche Portion Glück mit von der Partie“, dachte Kehlinger und grinste selbstzufrieden hinter dem verspiegelten Visier, aber die gehörte halt ebenso zum Erfolg wie Hirnschmalz und harte Arbeit. Von außen betrachtet waren es wohl eher das Glück und das Geld seiner Eltern gewesen, die dem zu Studentenzeiten als Party-Harty verrufenen Kehlinger zu enormem Erfolg verholfen hatten – aber das sah er selbstverständlich nicht so.

Linkskurve. Rechtskurve.

Seine Eltern waren es, die sich die Kosten für das Studium an einer englischen Privatuni wortwörtlich vom Mund abgespart und ihn dazu noch mit einem üppigen Taschengeld versorgt hatten, das er allerdings regelmäßig versoff und verhurte. Beinahe wäre er sogar von der Uni geflogen, da kam besagtes Glück in Form eines arabischen Prinzen ums Eck. Genauer gesagt steckte der Glücksprinz sternhagelblau mit dem Kopf in einer Kloschüssel fest, als Kehlinger dazukam, um seine Blase um einen guten Teil der zehn Kilkenny zu erleichtern. Obwohl das Attribut geistesgegenwärtig nicht besonders gut zu Kehlingers Zustand passen mochte, befreite er den gluckernden arabischen Prinzen aus seiner misslichen Lage. Er sicherte sich damit, ohne es zu wissen, eine goldene Zukunft. Sahid Nasir ad-Din der Dritte war schließlich der einzige Sohn eines der drei reichsten arabischen Geschäftsmänner und reihte sich, nach dessen Tod ein paar Jahre später, nahtlos in diese Riege ein. Party-Harty und er waren zu der Zeit schon längst dicke Kumpels. Aber das Geld des Prinzen und Kehlingers Beziehungen, die ihm seine ausufernden Partys erstaunlicherweise eingebracht hatten, gediehen zu einer äußerst erfolgreichen Allianz.

Langgezogene Linkskurve. Waldschneise. Rechtskurve. Lange Gerade.

Die Beschleunigung presste Kehlinger erneut ein Grinsen ins Gesicht. Dieser Motorrad-Prototyp war ein echtes Wunderwerk! Sein Freund Sahid war zum Glück nicht nur Geschäftsmann, sondern auch ein Träumer – und Motorrad-Fan. Deshalb hatte dieser vor ein paar Jahren „Arabike“ gegründet, um in Kooperation mit einer schwäbischen Edel-Motorradschmiede und einem israelischen Unternehmen, das normalerweise Steuersysteme für Lenkwaffen herstellte, das Motorrad der Zukunft zu entwickeln. „Geht doch“, dachte Kehlinger ein wenig sarkastisch, „Geld und der Traum vom Easy Rider bringen Araber, Israelis und katholische Schwaben an einen Tisch.“ Ob dieser Traum allerdings jemals Serienreife erlangen würde, wagte Kehlinger zu bezweifeln. Aber für die elektrische Variante hatte immerhin schon Elon Musk an der Tür gekratzt – also vielleicht doch? Egal. Hauptsache, er konnte den Hobel weiter Probe fahren!

Kehlinger gab Gas. Was für ein Sound! „Baut bloß keine E-Version“, war Party-Hartys letzter Gedanke, bevor das Vollmantelgeschoss vom Kaliber .300 Winchester Magnum das Visier durchschlug, sich durch sein Hirn bohrte und einen Sekundenbruchteil später auf die Titan-Hybrid-Hülle seines Hightech-Motorradhelms traf. Diese gab nicht nur dem Projektil, sondern dem gesamten Verlauf der fein säuberlich geplanten Aktion eine völlig neue Wendung.

KAPITEL DREI

„This is … wow … I don’t know. Äh, great, äh just, uiuiuih …“

Sebastian Stürzner fehlten gerade die Worte – oder vielleicht auch das nötige Englischvokabular. Er blickte mit glasigen Augen durch das große Panoramafenster seines Amtszimmers hinunter auf den Marktplatz der kleinen Gemeinde im Osten Münchens. Durch das Sichtschutzglas des neuen Gemeindehauses konnte ihn von draußen niemand sehen. Und das war gut so.

„Do you like this …?“

„Mmmmh!“

Gretchen Sterzinger, Austauschstudentin der California State University Channel Islands und Praktikantin im Gemeindezentrum Höhenried, fand diesen „Bavarian guy with the straight calves in his tight Lederhosen extremely sexy“. Der Kerl mit den strammen Waden in knackiger Lederhose war zudem „Burgermeister“, fuhr einen „Porsche GT3“ und hatte ein „amazing loft in the center of Munich – really awesome!“ Also beschloss Gretchen – was bei ihr zu Hause eher wie die bei Fußballern wohlbekannte und gefürchtete „Grätschn“ ausgesprochen wurde –, ein wenig Oral Office zu spielen. Daher kniete sie nun vor dem „Burgermeister“ wie damals vermutlich Monica Lewinsky vor Bill Clinton und bearbeitete hingebungsvoll Stürzners – und das musste sie unbedingt morgen ihrer besten Freundin auf Snap-chat mitteilen – „really big Bavarian schlong“.

„It’s big, gell?“

„Mmmmh!“

Dieses Luder hatte sich doch tatsächlich blonde Zöpfe gebunden und ein ultrakurzes Dirndl angezogen, das mehr zeigte, als es verbarg. Es brauchte lediglich ein „Hi Sebästschän, do you like my outfit“, verbunden mit einem koketten Hüftschwung, und es war um ihn geschehen. Eigentlich wollte Stürzner seiner Praktikantin dieses Wochenende nur die Bauarbeiten an seinem neusten Projekt zeigen, doch „Grätschn“ hatte wohl etwas anderes vor. Sollte ihm mehr als recht sein, zumal die Arbeiten auf dem Gemeindeplatz gut vorangingen. Der Holzparcours für die bayrische Mountainbike-Jugendmeisterschaft war fast fertig.

Stürzner blickte von seinem Büro hinab auf den Marktplatz und beobachtete mit trübem Blick den Hagner Michi und den Greiner Steff – die beiden besten Zimmerer weit und breit –, jeweils eine Leberkässemmel in der einen und eine Halbe Bier in der anderen Hand, beim Abschreiten der Bahn. Vor der Holzrampe für den finalen Zielsprung blieben sie stehen und prosteten sich anerkennend zu. Der Sprung führte direkt an dem mächtigen Maibaum in der Platzmitte vorbei, an dem die Zunftschilder aller Sponsoren dieser Meisterschaft an massiven handgeschmiedeten Trägern hingen. Sehr medienwirksam, wie Stürzner fand. Schließlich hatte er sich hierfür sprichwörtlich weit aus jenem Fenster gelehnt, hinter dem er jetzt stand. Doch das war es allemal wert, denn sein Sohn hatte gute Chancen auf den Titel, und mit der Ausrichtung in seinem Heimatort sogar die besten. Für die Zukunft und den Erfolg seiner Sprösslinge würde er viel tun, denn Familie war ihm wichtig. Sex aber auch. Den gab’s allerdings daheim wegen der aufwendigen Pflege seines anspruchsvollen Nachwuchses und der seiner Libido nicht sonderlich zuträglichen Ausmaße seiner Gattin so gut wie nicht mehr. Daher war die Partnerschaft mit der amerikanischen Uni praktisch unbezahlbar und „Grätschn“ Sterzinger ein echtes Supertalent, dem der permanent weichgezeichnete Juror der gleichnamigen Show sicher „’n megageiles Fahrgestell“ attestiert hätte.

„Uuuuuooooohjaaaaaaa!! Sauba, Madl, go on!“

Stürzner packte sie bei den Zöpfen, gab jetzt den Rhythmus vor und blickte auf sie hinab, ihre blauen Augen zwinkerten ihm neckisch zu. Dieses kalifornische Flitscherl war der Wahnsinn! Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Daher sah er nicht, wie der Hagner Michi und der Greiner Steff, beide immer noch bewaffnet mit Bier und Semmel, wild winkend und Leberkästeilchen spuckend in Richtung Marktplatzzufahrt spurteten. So bemerkte er auch nicht, wie eine schwarze Harley im Höllentempo an den hilflos gestikulierenden Zimmermännern vorbei die Zielschanze hinauf raste und einen Wimpernschlag später geradewegs auf sein Büro im ersten Stock zugeflogen kam. Erst als das Blechmonster knapp neben ihm die Panoramascheibe durchbrach und mit infernalischem Getöse in seinem Büro einschlug, riss er panisch die Augen auf – nur um gleich darauf quiekend in sich zusammenzusinken.

„Grätschn“ hatte vor Schreck zugebissen.

KAPITEL VIERE

„Scheißviech, varreckts! Frisst einfach meine Pflanzl! Di kriag i!“

Die kleine, kugelrunde Frau in Gartensandalen und geblümter Kittelschürze schoss wie ein geölter Blitz um die Ecke, dass die riesigen rot, weiß und rosa blühenden Pfingstrosen am Wegrand des kleinen Schrebergartens nur so wackelten. Besenschwingend trieb sie eine Wühlmaus vor sich her, die fiepend um ihr Leben rannte. Fast hätte sie es ins nächste Beet geschafft, doch der Besen war schneller. Er traf sie mit betäubender Wucht. Mit wenigen Schritten war die Frau bei ihr.

„Hob i di! Mistratz greisliger! Des war’s mit dir, jetzt bist dro!“

Sie hob den Fuß, um das in ihren Augen wurzelfressende und alles vernichtende Minimonster in den ewigen Mäusehimmel zu schicken.

„Emma! Spinnst! Lass des bleiben! Du kannst doch ned …!“

Die kleine Frau hielt inne. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich von zornig rot auf freudig strahlend.

„Ja Bertibua, griaß di!“

Im Gartentor stand Herbert Wamprechtshammer und war fassungslos. Als Kriminalhauptkommissar und Leiter einer Sondereinheit bei der Münchner Mordkommission hatte er schon so einiges gesehen, aber das raubte ihm den Atem. Seine sonst so liebe und fürsorgliche Tante Emma war eine eiskalte Killerin! Beinahe. Zumindest heute. Denn das war sicher nicht das erste Mal, dass sie sich anschickte, ein Säugetier zu zertrampeln.

„Tante Emma! Des geht doch ned, dass du einfach die Maus da zerdatschst. Die lebt doch noch!“

„Ja eben drum, sonst wär’s ja ein Schmarrn“, entgegnete sie und schickte sich erneut an, den Nager zu plattieren.

„Jetzad aber! Ned! Sag amal …!“

Wamprechtshammer beeilte sich, seine Mitbringsel – einen Sechserpack Giesinger und eine Flasche Marillenbrand, vom Polizeipräsidenten Perchtenreiter höchstpersönlich destilliert – abzustellen und sich schützend vor der ohnmächtigen Wühlmaus zu platzieren. Emma wollte ihn wegschieben, was ihr allerdings nicht gelang.

„Aber wenn die wieder aufwacht, dann frisst mir des Mistviech ois zsamm. Radieserl, Salat, meine Zucchini. Da schau!“ Emma wühlte in ihrer Kittelschürze und hielt ihm gleich darauf mit vorwurfsvollem Blick ein abgenagtes Radieserl vor die Nase. Wamprechtshammer wedelte es mit der Hand weg.

„Jetzt sagst nix mehr, gell.“

„Doch, Emma. Ich weiß, des is grausam, was dieses Untier deinen Pflanzerln antut, aber trotzdem: Du zertrampelst keine Maus, solang ich hier in euerm Garten bin. Basta. Sonst …!“

„Wos sonst?“, blaffte ihn Emma herausfordernd an und stemmte die Fäuste in die Hüfte.

„Äh, sonst … sonst geh ich und du kannst deine Dampfnudeln wem anderen geben …!“

Emmas Gesichtszüge wurden weich. Die Drohung saß, denn ihren „Bertibua“ liebte sie abgöttisch.

„Ah geh, du wirst doch ned wegen so am Viechszeugs meine Dampfnudln –“ Emma schlug die Hand vor den Mund. „Uuuiiiih! Jessas! Meine Dampfnudln!“

Sie machte kehrt, wetzte in Richtung Gartenhäuschen davon und verschwand darin. Wamprechtshammer stand mit dem betäubten Nagetier alleine da und kratzte sich am Kopf.

„Und was is jetzt mit der Maus da?“, rief er ihr hinterher.

Emma streckte den Kopf aus der Tür des Gartenhauses.

„Schmeiß des Viech in den Garten von dene Frankenheimers. Des is der letzte da hinten rechts.“ Sie zeigte ihrem etwas ratlos dreinschauenden Neffen mit dem Kochlöffel die Richtung. „Die mog i ned! Die flacken bloß rum und saufen Prosecco. Nur Wiesn, Büsch und a paar Bleamen. Da kann des Viech gern weiterknabbern, wenn’s was findet. Aber ned trödeln, gell! Die Dampfnudeln san glei fertig!“, fügte sie kochlöffelwedelnd hinzu.

„Ja da schau her, noch jemand, den Tante Emma nicht mag“, überlegte Wamprechtshammer. Ganz neue Seiten, die seine Tante da offenbarte. Was sie wohl mit „dene Frankenheimers“ machen würde, wenn die ihren heiligen Garten beträten? Vermutlich das Gleiche wie mit jedem anderen auch, der ihr zuwider war – mit dem Besen eins überziehen. Wahrscheinlich käme bei ihr noch nicht einmal Godzilla ungeschoren davon, wenn er ohne Zutrittsgenehmigung auch nur einem einzigen ihrer geliebten Radieserl ein Blatt krümmen würde.

Schmunzelnd hob er die Maus vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger am Schwanz hoch und trabte, den Arm weit von sich gestreckt, in Richtung Feindesgarten davon. Auf dem Weg dorthin kramte er sein unbenutztes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und bettete den kleinen Nager darauf. Das kam Wamprechtshammer dann doch etwas würdevoller vor. Außerdem war das Tierchen recht wohlgenährt und er hatte ernsthafte Bedenken, dass dessen ziemlich dünner Schwanz diese Belastung nicht aushalten könnte. „Kein Wunder“, dachte er mit Blick auf seinen eigenen Bauch, im Umfeld von Tante Emma gediehen halt nicht nur Blumen und Gemüse prächtig. Er blieb stehen und blickte sich um. Die ganze Kleingartenanlage mit dem – wie Wamprechtshammer fand – sehr passenden Namen „In den Kirschen“ blühte in voller Pracht, und überall wurde fleißig gewerkelt. Nur in einem Garten nicht. Der war von einer hohen, akkurat beschnittenen Hecke umgeben und bot, ganz im Gegensatz zu den anderen Parzellen, kaum Einblick. Dafür ertönte hinter dem grünen Wall ein sattes „Plöpp“, und kurz darauf fröhliches Gläserklirren. Der Feindesgarten war erreicht. Wamprechtshammer ging in die Hocke und hoffte, dass ihn seine bedrohlich knackenden Knie nicht verrieten. Er platzierte die Maus mit dem Taschentuch vor sich auf dem Boden und lauschte neugierig. Immerhin hatte Emma mit dem Prosecco schon mal recht gehabt.

„Weißte, wir machen das nich so wie die anderen Spießer um uns rum. Wir hamm uns hier ’nen gepflegten Lounge-Garten hinstellen lassen …“, dozierte einer der Feindesgartler in blasiertem Ton. „Bei dreihundert Euronen Jahrespacht bleibt ja genügend für ’nen Gärtner, näh? Beziehungen musste halt haben. Mein Großonkel is nämlich bei der Stadtgartenverwaltung, da rückste in der Warteliste gleich mal von Platz hundert auf eins.“

Auf den Vortrag folgte zustimmendes Gelächter, erneutes Gläserklirren, und Wamprechtshammer war klar, was seine Tante meinte. Er schüttelte verächtlich den Kopf und stippte die Maus mit dem Zeigefinger an.

„Is die toohoot?“

Beinahe wäre er vor Schreck umgekippt. Ein kleines Mädchen stand plötzlich neben ihm und blickte ihn mit großen Augen fragend an. Aus ihrer Nase lief eine kleine Rotzperle. Sie zog geräuschvoll hoch und legte den Kopf leicht schief.

„Wer? Die Maus da?“, fragte Wamprechtshammer verdutzt zurück.

„Jaaah. Willst du die beerdigen? Dann hol ich Blumen. Soll ich?“

„Nein, nein. Die schläft bloß. Wie heißt du denn?“

„Lotte! Ich komm von daaa drin!“ Sie deutete mit dem Finger auf die Hecke. „Ich find Mäuse sooo süüß. Aber ich darf keine hamm. Is voll blöd.“ Lottes Miene wechselte von begeistert zu tief enttäuscht.

Wamprechtshammer musste grinsen und hatte plötzlich eine Idee. „Du, Lotte, magst auf die Maus aufpassen, solang sie schläft? Musst mir aber versprechen, dass du sie laufen lässt, wenn s’ aufwacht.“

Lottes Gesicht schaltete wieder auf begeistert. Sie hüpfte auf und ab wie ein Flummi, klatschte dreimal in die Hände und streckte sie dann Wamprechtshammer auffordernd zur Schale geformt entgegen.

„Uuuiiiih jaaaa! Versprochen! Ich zeig die gleich Mama und Papa.“

„Ja genau, des machst“, sagte Wamprechtshammer ermutigend. „Und schön vorsichtig, gell?“ Er legte die Maus behutsam zusammen mit dem Taschentuch in ihre kleinen Hände.

Lotte strahlte ihn an, machte kehrt und flitzte in Richtung Gartentor um die Ecke davon.

Wamprechtshammer rappelte sich ächzend aus der Hocke hoch, seine Beine waren ihm eingeschlafen und seine Fußsohlen bitzelten. Ein wenig steifbeinig machte er sich auf den Rückweg. Noch nicht ganz beim Gartentor angekommen, brach hinter ihm ein kleines Inferno los. Gläser klirrten, Frauen kreischten, Männer brüllten. „Aha, jetzt is’ wach“, dachte Wamprechtshammer und grinste zufrieden.

KAPITEL FÜMFE

„Sog amoi, was war denn des für a Gschroa?“, fragte Emma neugierig, als sie Wamprechtshammer aus einem großen schwarzen Emailletopf eine riesige Dampfnudel auf den Teller lud.

„Ich glaub, die Maus rächt sich und macht jetzt Jagd auf deine Nachbarn“, antwortete Wamprechtshammer lapidar, denn der Nager war ihm mit einem Mal vollkommen wurst. Zufrieden saß er auf einer Holzbank an einem langen, massiven Holztisch vor der Gartenhütte, und ihm lief beim Anblick dieses Prachtstücks aus Hefeteig das Wasser im Mund zusammen. Er lupfte die Nudel leicht mit der Gabel an, und eine goldfarbene Karamellkruste kam an ihrer Unterseite zum Vorschein.

„Gschieht dene recht. Soll bloß da bleiben, sonst …“ Emma schielte zum Besen.

„Tante Emma!“

„Ja, ja, scho recht. Komm, zupf’s auseinand’, dann kriegst eine Vanillesoß’ drauf.“

Wamprechtshammer tat, wie ihm geheißen, und zog mithilfe seiner zwei Gabeln die Dampfnudel in der Mitte auseinander, damit sie sich ordentlich mit der Soße vollsaugen konnte, mit der seine Tante nicht sparte.

„Magst noch a bisserl Holler-Zwetschgen-Kompott?“

„Da brauchst ned fragen!“

Zu dem cremigen Weiß der Soße gesellte sich jetzt noch ein sattes Dunkelrot. Am liebsten hätte sich Wamprechtshammer darin gewälzt. Er zupfte ein großes Stück von der Nudel ab, tauchte es nochmals in das prächtige Farbspiel, schob es sich in den Mund und schloss genüsslich kauend die Augen – die er nur Sekunden später weit aufriss.

„Ja, Sakradi, habts ihr einfach ohne mich angfangen! Griaß di, Bertibua!“, donnerte eine laute, fröhliche Stimme, und eine große Hand klatschte auf den massiven Holztisch, dass dieser in seinen Fugen erbebte. Emmas Mann Otto war eingetroffen. Besser gesagt hatte er sich wie üblich angeschlichen und war dann wie ein Schachterlteufel ums Eck gehüpft.

„Und das mit Mitte siebzig“, dachte Wamprechtshammer, dem es um sein Stück Nudel leidtat, das er vor Schreck viel zu früh verschluckt hatte. Emma plumpste ihre Dampfnudel zurück in den Topf.

„Mei, du Depp, du damischer. Hörst ned gleich auf mit dem Schmarrn!“, zeterte sie unwirsch.

„Wieso? Is doch schon vorbei“, entgegnete Otto mit einem schelmischen Grinsen. Er gab Emma einen Kuss auf die Wange – den diese sofort mit dem Handrücken energisch abwischte – und zwängte sich auf die Holzbank neben Wamprechtshammer.

„Geh, ruck amoi, mach dich ned so breit“, pöbelte er scherzhaft und stupste seinen Neffen mit der Hüfte auffordernd an. Wamprechtshammer rückte übertrieben schwerfällig und widerwillig ächzend ein Stück nach links. Otto griff sich einen Teller und schob ihn Emma auffordernd hin.

„Nix da, des schaffst scho selber“, raunzte Emma, drückte ihm den Schaber in die Hand und stellte ihm den Topf vor die Nase. Otto zog schmunzelnd die Schultern hoch und begann ungeschickt darin herumzustochern, was Emma dann doch dazu veranlasste, ihm den Schaber wieder zu entreißen. Die kleinste der Nudeln landete unsanft auf Ottos Teller und die Vanillesoße war schneller drauf, als er sie zerzupfen konnte.

„Wo warst denn?“, wollte Wamprechtshammer von Otto wissen, um vom Thema abzulenken und die möglicherweise eskalierende Dampfnudelkrise zu entschärfen.

„Ja, wo werd er scho gwesen sei?“

Weil Otto sich gerade ein großes Stück Nudel in den Mund geschoben hatte, übernahm Emma erneut das Zepter.

„Im Schwimmbad, de Weiber nachluren, was sonst!“, gab sie sich selbst die Antwort.

Otto beeilte sich zu schlucken.

„Ah geh, so ein Schmarrn. Ich schau doch bloß dich an, Mutti. Der Samstag ist doch immer mein Schwimmtag. Des weißt doch.“

„Ja, ja. Mir kannst ja viel erzählen.“ Emma schaffte es nur mit Mühe, ihre Grantelmiene aufrechtzuerhalten. Um ja nicht grinsen zu müssen, lud sie sich jetzt selbst sehr konzentriert eine Dampfnudel auf den Teller, schöpfte Kompott nach und setzte sich zu den beiden.

Wamprechtshammer, der diese Szene nicht zum ersten Mal erlebte, schmunzelte in sich hinein und widmete sich wieder seinem Teller Köstlichkeit. Onkel Otto und Tante Emma waren schon ein lustiges Paar. Sie frotzelte und er bezirzte sie mit seinem – manchmal etwas groben – Charme, dem Emma letztlich immer wieder erlag. Denn beide liebten sich heiß und innig – und sie waren seinen Eltern so unglaublich ähnlich. Und das hatte einen nicht ganz alltäglichen Grund. Otto war der jüngere Bruder seines Vaters Max und Emma die – ebenfalls jüngere – Schwester seiner Mutter Anna. „Ja, so war das damals, Anfang der Sechziger“, sinnierte Wamprechtshammer dampfnudelkauend vor sich hin. Die wilden Wamprechtshammer-Brüder aus dem Westend, damals das Münchner Glasscherbenviertel mit Motorradgangs und wüsten Schlägereien, verliebten sich im Abstand von einem Jahr in die wohlbehüteten Saller-Schwestern aus Neuhausen, das lange vor seiner Gentrifizierung noch ein Arbeiter- und Beamtenviertel war. Bei Anna und Max dauerte es nicht lange, bis der kleine Herbert das Licht der Welt erblickte. Und als die beiden ein paar Jahre später mit ihrem gut florierenden Bauunternehmen beruflich arg eingespannt waren, übernahmen Emma und Otto, die sich zwar auch fleißig der Nachwuchsproduktion widmeten, aber leider kinderlos blieben, nur zu gerne die Betreuung des kleinen „Bertibuam“. Den Schrebergarten hatten sie damals schon, und daher wurde dieser zu so etwas wie Wamprechtshammers zweiter Heimat. Auch als er bereits sein Studium an der Polizeihochschule absolvierte, besuchte er Emma und Otto dort so oft wie möglich.

Die beiden waren auch sein Halt gewesen, als seine Eltern vor mehr als dreißig Jahren bei einer Reise nach Bali spurlos verschwanden. Für Wamprechtshammer brach eine Welt zusammen, und er war kaum in der Lage, sein Studium zu beenden. Dass er es schlussendlich doch irgendwie hinbekam, war zu einem großen Teil Emma und Otto zu verdanken. Sie verwalteten sein nicht unerhebliches Erbe und kümmerten sich um alles, ohne dass sie dafür jemals eine Gegenleistung erwartet hatten. Vor einigen Jahren hatte er den beiden dann eine Wohnung gekauft, für die sie ihm – und darauf bestanden sie unter Androhung von ewigem Dampfnudelentzug – bis heute sogar Miete zahlten. Wamprechtshammer wurde ganz schwer ums Herz, wenn er daran dachte, dass Emma und Otto eines Tages nicht mehr –

THUNDER!!

Uff! Wamprechtshammer war seinem donnernden Smart-phone und AC/DC ausnahmsweise mal für die Störung dankbar. Ein Schwermutsanfall passte gerade gar nicht zu dem schönen Tag und diesem fantastischen Essen.

THUNDER!!!

„Ja, magst ned mal rangehen? Des klingt ja greislig!“

Otto rammte Wamprechtshammer den Ellbogen in die Seite.

„Au, ja, ja. Zefix … wo …?“

„Da, nimmst des am besten.“

Emma reichte ihm mit vorwurfsvoller Miene das röhrende Smartphone über den Tisch. Es zeigte seine äußerst hübsche bayrisch-asiatische Kollegin Theresa Gruber in einem ihrer geliebten Statement-T-Shirts. Auf dem stand – freilich genau an der richtigen Stelle – „Trau di & i hau di“. Wer sie kannte, wusste, dass sie diese Drohung sehr wohl in die Tat umsetzen konnte. Nur äußerst widerwillig legte Wamprechtshammer die Gabel mit dem Stück Dampfnudel zur Seite. Ganz kurz schwebte sein Finger über „Ablehnen“, dann seufzte er tief und zog AC/DC den Stecker.

„Ja, Reserl! Griaß di … doch schon, aber lieber, DU störst mich beim Essen und ned unser Quasselfranke“, womit er seinen anderen Kollegen Siegfried Leininger meinte, der einen ausgeprägten Hang zu weit ausholenden Erklärungen hatte.

„Ich hoff, es is nix Dringendes und du hast bloß Zeitlang nach mir ghabt …“

Keine fünfzehn Minuten später stand ein grantiger, bis oben hin mit Tüten vollgepackter Wamprechtshammer auf der Straße vor dem Eingang zur „Kleingartenkolonie Nr. 6 – In den Kirschen“ und wartete auf seine Kollegin. Theresa hatte ihm angeboten, ihn abzuholen, denn mit einer Bratreine voller Rohrnudeln, sechs Ausgezogenen und je vier Gläsern Kompott und Marmelade war an Radfahren nicht mehr zu denken. Deshalb hatte er seinen maroden Drahtesel wohl oder übel bei Emma und Otto im Garten deponieren müssen. Dessen Zustand hatte seiner Tante ein entsetztes „Oh mei, Bua!“ entlockt und seinem Onkel ein brüllendes Lachen und die Frage, ob er keine Angst habe, dass die „oide Schäsn beim Treten zerbröselt“.

Wamprechtshammer blickte genervt auf seine Uhr und dann an sich herab. Ermittlungstauglich war sein Outfit keinesfalls. Er sah heute eher aus wie ein etwas zu gut genährter Robert de Niro in seinen besten Jahren. Mit dem Hawaiihemd, den Shorts und den alten Wildleder-Bootsschuhen, die ihm seine Exfrau Kathi einmal geschenkt hatte, hätte er besser an eine Malibu-Beach-Bar gepasst als an einen Tatort. „Aber wer konnte auch mit so was rechnen“, dachte er und wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Wenn’s in München schon mal pünktlich zum Wochenende schön wird, muss natürlich wieder irgend so ein Volldepp für Arbeit sorgen. Noch nicht einmal seine Dampfnudeln kann man in Ruhe …“

Fast lautlos schob sich ein großes, schwarz glänzendes, futuristisches Etwas in Wamprechtshammers Blickfeld und kam vor ihm zum Stehen. Das war definitiv nicht das Pick-up-Monster, mit dem Theresa üblicherweise unterwegs war. Es surrte leise, die beiden hinteren Flügeltüren gingen nach oben auf und Wamprechtshammers Fantasie mit ihm durch. „FBI, MIB, Heimat… Dings?“, dachte er. „Wurscht! Da steigen jetzt sicher gleich zwei Männer in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen aus, stürmen auf mich zu, und ehe ich mich’s verseh, stülpen s’ mir einen schwarzen Stoffsack über den Kopf. Freilich wehr ich mich, weil kampflos kriegen die mich nicht. Oder ich werd geblitzdingst. Dann wehr ich mich halt nicht. Jedenfalls hab ich keine Chance. Sie zerren mich ins Wageninnere, dann surrt’s nochmal, die Türen schließen sich; und das Auto hebt vom Boden ab. Die Räder klappen ein. Mich drückt’s sanft in den Sitz und zack – ab geht’s nach oben, ins schöne wolkenlose Blau … wär eigentlich gar nicht so schlecht, dann müsst ich jetzt wenigstens nicht …“

„Berti? Hallo? Jemand zu Hause?“

Aus der Traum! Wamprechtshammer blinzelte sich zurück in die Realität. Seine Men-in-Black-Schwurbeleien hatten sich in Luft aufgelöst. Stattdessen war da seine Kollegin Theresa, deren Kopf gerade so über den Rand des herabgefahrenen Seitenfensters ragte. Ihre verspiegelte Ray-Ban-Pilotenbrille hatte sie auf die Nasenspitze geschoben und sah zu ihm auf. Ihre Augenbrauen hüpften feixend über ihren fast schwarzen Mandelaugen auf und ab.

„Äääh, ja, also nein …“, stammelte Wamprechtshammer leicht verwirrt.

„Hast jetzt neuerdings Angst vor Autos.“

„Ah geh, Schmarrn. Freilich nicht. Hab bloß kurz was überlegt. Aber was is denn des überhaupt für ein Teil da?“

Er nickte mit dem Kinn in Richtung des schwarzen Ungetüms, während er seine Tütenorgie zur offenen Flügeltür bugsierte und damit begann, alles vorsichtig auf die Rückbank zu stapeln.

„Des is ein Tesla Model X. Hat mein Papa jetzt neu im Verkauf. Vollelektrisch und ökologisch superkorrekt. Er sagt halt: ‚Wer ned mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit‘, oder so. Na ja, ist zwar nicht ganz so mein Fall, hat aber ein paar echt coole Features, die Kiste.“

„Aha, Features. So, so. Aber so ein Kofferraum-Feature hat dein TESA ned zufällig, oder?“ Wamprechtshammer packte die letzte Tüte auf den Rücksitz.

„Berti, des heißt TESLA. Und freilich hat er einen, aber der is voll. Ich wollt nämlich eigentlich zum Gleitschirmfliegen nach Garmisch, aber dann … weißt ja. Komm, steig ein!“

Wamprechtshammer war mit dem Tütenstapeln fertig und die hinteren Türen schlossen sich surrend. Er ging um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zumindest hier gab es eine normale Autotür. Zufrieden ließ er sich in den Sitz plumpsen und sah sich um.

„Wow. Raumschiff Enterprise. Und sogar mit Fernseher!“

„Touchscreen.“

„Ja, dann halt Tatsch-Dings, egal. Kann man da …?“

Wamprechtshammer schickte sich an, auf eines der Symbole auf dem Bildschirm zu drücken. Doch Theresa war schneller.

„Aua!“

„Finger weg! Ned rumknöpfeln! Hightech, weißt. Empfindlich!“

„Ah ja, klar. Was sonst. Moderns Klimbim halt.“

Wamprechtshammer rieb sich dramatisch die Hand.

„Du, ganz was anderes, Reserl. Wieso ruft der Dauerdienst eigentlich dich an und ned mich?“

„Berti, du hast die beim letzten Mal so angemault, als die dich am Wochenend gestört haben. Die hamm sich einfach ned getraut.“

„Ah geh, komm, solche Zimperliesen. Jetzt klär mich mal auf, warum wir ausgerechnet heut zu einem stinknormalen, depperten Motorradunfall gerufen werden?“