Buch der bösen Träume - Juliette Manuela Braatz - E-Book

Buch der bösen Träume E-Book

Juliette Manuela Braatz

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Beschreibung

Kommt mit uns ins Land der bösen Träume. Begleitet neun großartige Autorinnen und Autoren in die verstörenden Abgründe des menschlichen Seins. Das "Buch der bösen Träume" - ein Gemeinschaftsprojekt von Juliette Manuela Braatz, Drea Summer, Charly Essenwanger, Simon Geraedts , Sarah Hagemeister, David Führt, Nadine Teuber, Fiona Limar und Sandy Mercier. Packend bis zum Schluss.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Juliette Manuaela Braatz

Charly Essenwanger

David Führt

Simon Geraedts

Sarah Hagemeister

Fiona Limar

Sandy Mercier

Drea Summer

Nadine Teuber

Inhalt

After Dark

Der Kamin

Blackbox

Feuersturm

Erwache

Totenlicht

Pünktchen

Die Blutspur

Dein letzter Traum

Vorwort

Kurzgeschichten sind kurz. Dieser banale Umstand schreckt viele Leser ab, jener außergewöhnlichen literarischen Gattung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei ist es eine hohe Kunst, sich kurzzufassen. Auf den Spuren von Edgar Allan Poe, F. Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway befasste ich mich anno 2018 erstmalig mit ebensolchen Prosatexten. Schnell stellte ich fest, dass es nicht leicht ist, eine Handlung ohne Einleitung und Hintergründe, dafür mit jeder Menge Metaphern und dichter Subtilität so zu erzählen, dass Leser dennoch meine Botschaft verstehen und vor allem unterhalten werden – und das, obwohl ich generell schnörkelfrei sowie pointiert schreibe. Im Strange Tales Club ist es mir eine große Freude, mit meinen Kollegen dieses »kurz« zu bewältigen. Wir #BookBitches arbeiten derzeit ebenfalls an Short Stories, wobei nicht jede von uns gleich begeistert war. Denn tatsächlich treibt es vielen Autoren den kalten Angstschweiß auf die Stirn, wenn sie sich kurzfassen sollen. Insbesondere im sehr komplexen Genre Thriller ist dies eine Meisterleistung. Ohne großes Setting und mit nur wenigen Worten einen Spannungsbogen aufzubauen, kann wahrlich nicht jeder.

Und genau deshalb präsentiere ich euch, liebe LeserInnen, gern und voller Respekt diese fulminante Anthologie großartiger Vertreter der Spannungsliteratur. Neun Autoren, neun Kurzgeschichten, neun Albträume, die unterschiedlicher nicht sein können. Juliette Manuela Braatz, Sarah Hagemeister, Simon Geraedts, Drea Summer, Ilona Salz, Charly Essenwanger, die beiden #BookBitches Nadine Teuber und Sandy Mercier sowie Herausgeber David Führt haben sich auf besondere Weise der Herausforderung gestellt und nehmen euch nun mit ins Land der bösen Träume …

Ich wünsche Gänsehaut und verstörende Unterhaltung!

Eure Mari März

Juliette Manuela Braatz

Juliette M. Braatz, Jahrgang 1982, arbeitete viele Jahre im Hotelfach und wechselte 2014 in die Redaktion eines TV- und Radiosenders im Ruhrgebiet. In ihrer Freizeit schreibt sie Gedichte, Songtexte und betreibt einen erfolgreichen Buchblog. »After Dark« ist ihre zweite Kurzgeschichte für eine Anthologie. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten eigenen Buch, das über einen Verlag publiziert wird.

AFTER DARK

NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT

»Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.«

Ernest Hemingway

Eins

Ein erstickter Schrei durchdrang die Nacht. Nur drei oder vier Sekunden lang, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann kehrte die bedrohliche Stille am alten Stadtmauerwerk zurück und mit ihr die Ungewissheit.

Stand sie wirklich vor ihm? In der feuchten und mit Wassertropfen übersättigten Luft hatte sich dichter Nebel gebildet. Dennoch nahm er ihren roten knöchellangen Stoffmantel wahr. Der eisige Novemberwind spielte mit ihren schwarzen Locken, die ihr über die Schultern fielen.

Der Geruch von modrigem Herbstlaub vermischte sich mit ihrem Parfum: Jasminblüte, die das Herz öffnen und verführen sollte. Tief atmete er den süßlichen Duft ein. Er wurde sich des Augenblickes bewusst. Dem Hier und Jetzt. Sie stand direkt vor ihm, das bildete er sich nicht ein. Doch als er abermals seine Hand nach ihr ausstreckte, wich sie ein paar Schritte zurück. Je näher er ihr kam, desto verschwommener wurden ihre Umrisse – bis ihre Silhouette in dichten Nebelschwaden zu verblassen drohte.

»Ich will doch nur mit dir reden!« In der männlichen Stimme schwang Ärger mit. War das seine Stimme?

»Können wir uns nicht für einen Moment vertragen und darüber reden?«

Wieder wich sie einen zaghaften Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein! Wir haben genug geredet. Ich bin deine Eifersuchtsszenen leid, deine Wutausbrüche und deine Handgreiflichkeiten. Du wirst mich nie wieder anfassen!«

Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

»Komme mir noch einmal zu nahe und ich rufe die Polizei!« Sie durchbohrte ihn regelrecht mit ihrem stechenden Blick.

Sein Schädel brummte. Schon wieder hatte er zu viel getrunken. Seine Leber dürfte mittlerweile völlig hinüber sein, so sehr hatte er sie in den letzten Monaten beansprucht. Das letzte Highlight in seinem kümmerlichen Leben würde er nicht aufgeben, nur weil irgendwelche Organe in ihm nicht klarkamen. Sicher nicht. Das willkürliche Durcheinander von Spirituosen auf seiner Zunge ließ ihn würgen.

»Ganz vorsichtig, du Drecksstück! Von Huren lasse ich mir nichts vorschreiben. Sei gefälligst dankbar für die Scheißkohle, die ich dir in den Arsch gesteckt habe!«

Seine Stimme überschlug sich vor Wut.

Die Hure schnaubte verächtlich.

»Dankbar? Für was genau? Dass ich bei deinen perversen Spielchen mitmachen durfte? Dass du ohne Tabletten keinen mehr hochbekommst? Hey, vielleicht sollte ich das deinen Freunden erzählen.« Sie lachte laut auf. »Da ist bestimmt jemand dabei, der dir helfen kann. Oder nimm deine Scheißkohle und stecke sie dir in deinen eigenen fetten Ars…«

Ihr Wutausbruch wurde von einem Geräusch unterbrochen, das klang, als würde ein Stück Feuerholz brechen. Dann fiel sie mit einer absurden Verrenkung rückwärts, während sie sich eine Hand vor die Nase hielt. Ein roter Umriss, der schreiend nach hinten kippte und wie ein großer Sack im feuchten Laub landete. Für einen Augenblick blieb die Zeit stehen.

Fasziniert betrachtete er das Stillleben vor sich, wie ein Künstler seine Leinwand mit den getupften Farbklecksen und langgezogenen Pinselstrichen. Sie war wunderschön, wie sie da vor ihm auf dem Boden lag.

Fast folgte er dem Drang, die Konturen ihrer feinen Gesichtszüge mit seinem Zeigefinger nachzuzeichnen, als ein Stöhnen ihrer Kehle entwich. Blut schoss aus ihrer Nase und lief ihr über den Mund, das Kinn und sickerte auf ihren Mantel – Rot auf Rot, nahezu unsichtbar. Sie starrte ihren Angreifer mit glasigen Augen an, wirkte desorientiert und benommen.

»Au! Du hast mir die Nase gebrochen!«

Ihre Stimme klang schmerzverzerrt und Blutbläschen bildeten sich beim Sprechen zwischen ihren Lippen.

»Was hast du vor? Bi… bitte, bitte, lass mich gehen«, wimmerte sie undeutlich. »Ich schwöre, ich … ich werde niemandem etwas erzählen. Ich gehe durch das Tor und du wirst nie wieder …«

Eine Hand hob wie von selbst einen kantigen, handflächengroßen Stein auf, streckte sich dem aschgrauen Himmel entgegen, bevor sie mit Wucht auf den Kopf der Hure niederschlug. Immer und immer wieder.

Vor ihm offenbarte sich ein zweites Gemälde: Der Künstler hatte das Pflaster in satten Rottönen gefärbt. Blut. Überall war Blut. Es tropfte von dem feuchten Laub, rann über das Kopfsteinpflaster und verlor sich in der Dunkelheit. In seinem Magen rumorte der Ekel. Galle stieg in seinem Mund hoch, bis er sie im Schwall erbrach.

***

Seine Lider zuckten und er öffnete die Augen. So endete es jedes Mal. Schweißgebadet lag er in seinem klapprigen Bett, starrte in die Dunkelheit. Sein magerer Körper zitterte. Das klamme Bettlaken klebte an seinem Rücken wie eine zweite Haut. Sein Rachen kratzte trocken. Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es erst zwei Uhr morgens war.

Mit seiner rechten Hand tastete er nach der Leuchte auf dem Nachttisch. Ein paarmal flackerte die Glühbirne, bis sie begleitet von einem leisen Surren aufhellte und ausreichend Licht spendete, sodass er die Weinflasche auf dem Boden fand und aufhob. Ein paar Schlucke nur, sagte er sich. Genug, um diesen Albtraum zu ertränken – und mit ihm die quälenden Fragen. Wer war diese Frau? Das Gefühl, sie zu kennen, ließ ihn einfach nicht los.

War es wirklich ein Albtraum, ein Hirngespinst, mit dem sein überanstrengter, wirrer Verstand ihn peinigte? Oder eine Erinnerung, die er nicht recht zu fassen bekam? Was zum Teufel hatte er getan? Wieder schmeckte er bittere Magensäure. Diesmal war sie real. Mit zittrigen Händen stellte er die Weinflasche auf den Nachttisch und griff zum Wasserglas, das bis oben hin gefüllt danebenstand.

Verdammt, womit hatte er letzte Nacht die Schmerztabletten runtergespült? Das Saufen musste aufhören. Er sollte dringend mit jemandem darüber reden. Morgen vielleicht. Nachdem er einen Schluck Wasser getrunken hatte, lehnte er sich zurück und schloss die Augen, hoffte auf Schlaf ohne Träume.

Dunkelheit.

Zwei

»Du hast schon mal besser ausgesehen, Kumpel.«

Der leichte freundschaftliche Schlag von Ben auf seinen Rücken fühlte sich für Michael an wie ein Peitschenhieb. Brummend zuckte er zusammen.

»War ‘ne lange Nacht.«

»Überrascht mich jetzt nicht. Du hattest schon etliche lange Nächte, seit Katharina dich verlassen hat.«

Der Klang ihres Namens ließ sein Herz verkrampfen. Noch nie hatte er so tiefe Reue empfunden.

»Es ist fünf Uhr morgens.«

»Und?«

»Halt einfach die Fresse und lass uns reingehen.«

Wie auf Kommando ertönte eine Sirene – das Signal dafür, dass jeder in der Zink-Fabrik sich an seinem Platz einfinden und an die Arbeit machen sollte.

Nicht nur in der Fabrik war alles streng getaktet. Während die Männer – oft bis zu dreizehn Stunden lang – Zinkschrott schmolzen und anschließend zu Barren gossen, begann auch draußen in Pottsfield der Tag. Die Morgendämmerung verzog sich gemächlich und gab den Blick frei auf die Plattenbauten, die eigens für die Arbeiter errichtet worden waren. Grau in Grau streckten sie sich empor und überschatteten die ohnehin schon trostlos wirkende Arbeiterstadt.

So trüb wie dieser Morgen, war auch die immerwährende Stimmung. Zwar hatte Pottsfield alles, was eine Stadt brauchte, aber man kam nur her, wenn man in der richtigen Welt keinen Platz mehr fand. Zahlreiche verlorene Seelen suchten hier eine Beschäftigung mit Unterkunft. Eine Zukunft. Und was fanden sie? Schwere Arbeit.

Nicht umsonst hieß es Schwerindustrie. Das Werkzeug war schwer, das Material war schwer, auch die Arbeitsbedingungen waren schwer. Die Luft war giftig; die Messwerte des Dioxins lagen dauerhaft über dem Grenzwert. Viele Arbeiter waren nicht ausgebildet, doch man brauchte sie für die Hilfstätigkeiten, die zu verrichten waren. Dafür wurden sie übertariflich entlohnt.

Die Tage zogen ins Land. Die Bedeutungslosigkeit, die von allem ausging, war den Bewohnern von Pottsfield längst ins Blut übergegangen. Wer Glück hatte, bewohnte eines der kleinen Reihenhäuser am Stadtrand. Weit weg von der Fabrik, deren Schornsteine ständig qualmten und hässliche Rauchwolken in den Himmel pusteten. Und weit weg von der Sirene, die bedrohlich in die Welt hinausschallte wie das Nebelhorn eines Kreuzfahrtschiffes, das den Aufbruch in ein neues Abenteuer verkündete.

Eines, das keinem von ihnen jemals beschieden sein würde, weil sie hier festsaßen und womöglich niemals von hier wegkommen würden. Pottsfield zog viele Menschen wegen der guten Bezahlung an, aber kaum einer brachte die Motivation auf, die Stadt wieder zu verlassen.

Rasen an Rasen, den Briefkasten exakt zehn Zentimeter vom Bürgersteig entfernt, kümmerten sich die Ehefrauen darum, dem Mann ein gemütliches Zuhause zu bieten.

Die alleinstehenden Männer fristeten ihr Dasein in den fahlen Wohnanlagen, die die Straßen zur Fabrik säumten wie eine Allee aus Beton. Nicht nur außerhalb, sondern auch hinter den Mauern war alles von derselben Tristesse.

Allesamt gleich karg eingerichtet. Keines glich einem warmen und gemütlichen Zuhause, sondern erinnerte eher an eine trostlose, kalte Zelle. In der Zeit zwischen den 13-Stunden-Schichten schliefen die Männer oder saßen oft nur herum, bis die Sirene das nächste Mal heulte und sie zurück in die Fabrik beorderte.

Die Freizeitangebote lockten niemanden aus seinen vier Wänden. Niemand besuchte den Sportplatz, die Gartenanlage oder das Schwimmbad. Die schwere körperliche Arbeit hinterließ ihre Spuren. Die Männer waren erschöpft, wollten in Ruhe den Abend ausklingen lassen und sich mit einem Feierabendbier belohnen. Der Pub war zu jeder Tages- und Nachtzeit gut besucht.

»Hattest du wieder diesen Albtraum?«

Ben, sein Kollege – und irgendwie auch sein bester Freund –, musterte ihn mit sorgenvollen Augen, während sie zu den heißen Öfen in der riesigen Halle schlurften. Die Herzstücke der Fabrik.

»Hatte ich.«

»Und hast du vor, etwas dagegen zu unternehmen? Wie lange geht das schon so?«

Ben zählte offenbar in Gedanken und verwendete dazu die Finger seiner linken Hand. Bis zum Ringfinger kam er. Vier Tage also. Die Zeit kam ihm länger vor. Michael fühlte sich ausgelaugt, als hätte ihn eine kräftezehrende Krankheit heimgesucht, die nach und nach jede Energie und alles Leben in ihm zu ersticken drohte.

»Ich habe es dir schon mehrfach gesagt.« Ben blickte ihn ernst an: »Rede mit Dr. Thompson. Er ist auf diese Traumscheiße spezialisiert und kann dir sicher helfen.«

»Was soll ich denn bei dem Quacksalber?« Dr. Thompson, der einzige Psychiater in dieser gottverlassenen Stadt.

Das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, war, sich von diesem Seelenklempner in seinem Unterbewusstsein rumpfuschen zu lassen. »Dem zahle ich ein Heidengeld, nur damit ich bei ihm auf der Couch liegen darf. Das kann ich zu Hause umsonst haben.«

Aber in Wirklichkeit ging es ihm nicht um das Geld. Vor Ben wollte er es nicht zugeben. Aber er fürchtete sich davor, mit Thompson zu sprechen, fürchtete sich vor dem, was dabei vielleicht an die Oberfläche treten würde. Aber er wusste, er hatte keine Wahl. Thompson war der Einzige, der ihm helfen konnte. Wenn es überhaupt jemanden gab, der dazu in der Lage war.

Wenn es nämlich so weiterging — ihm grauste bei dem Gedanken, jede weitere Nacht seines Lebens von diesem Albtraum geplagt zu werden. Diese schrecklichen Bilder zu sehen, die Stimmen zu hören. Immer und immer wieder. »Ja, okay, ich werde zu ihm gehen.«

Bis eben war es nur eine vage Überlegung in seinem Hinterkopf gewesen, denn Michael wusste bei bestem Willen nicht, wie er das, was er durchmachte, überhaupt erklären sollte. Doch nun hatte er die Worte ausgesprochen und ihm war klar, dass Ben ihm nun regelmäßig damit auf die Nerven gehen würde, wenn er den Psychiater nicht aufsuchte.

»Michael, das ist großartig! Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich bin stolz auf dich. Und vielleicht kann dir Katharina verzeihen und gibt dir noch eine Chance, wer weiß?« Ben wirkte sichtlich begeistert.

»Jetzt verarsch mich nicht …«

Ben boxte ihm gegen die Schulter.

»Gib die Hoffnung nicht auf! Wenn ich dich begleiten soll, gib mir Bescheid. Überhaupt kein Problem, Kumpel.«

»Seid ihr unter die Schwuchteln gegangen? Wohin begleiten? Aufs Klo?«

Ethan, der das Gespräch mitverfolgte, machte eine Blase mit seinem Kaugummi, ließ sie geräuschvoll platzen und musterte Michael dabei von oben bis unten. »Du konntest es deiner Verlobten wohl nicht anständig besorgen, was?«

Aus Sorge, Michael könnte dem Arsch eine verpassen, stellte sich Ben zwischen die beiden.

»Und aus Frust hast du sie grün und blau geschlagen«. Ethan grinste schief.

Ben machte einen entsetzten Gesichtsausdruck, sah sich eilig um und hob den Zeigefinger an seine Lippen, um ein Pssscht hervorzupressen. Er sah die Faust nicht kommen. Michael hatte sich nicht mehr beherrschen können. Die Erinnerungen an Katharina waren einfach unerträglich, alles in ihm wehrte sich dagegen. Und doch musste er zugeben, dass Ethan vielleicht recht hatte, er und alle anderen in dieser beschissenen Stadt, die ihn für ein Monster hielten, für einen Frauenschläger.

Die Polizei hatte ihn bisher nicht verhaften können, weil eindeutige Beweise fehlten. Niemand brachte seine Verlobte dazu, eine Aussage zu tätigen. Michael fragte sich selbst nach dem Warum. Darüber schwieg sie hartnäckig.

Ben hatte recht. So konnte er nicht weitermachen. Sich diesen Träumen zu stellen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, war der einzige Weg, sich von allem zu befreien. Er schaute auf. Ethan hielt sich das Kinn, das womöglich bald in bunten Farben zu bestaunen war. Dann zog er seine dicken Schutzhandschuhe aus und ließ sie auf den Boden fallen, um beide Hände zu Fäusten zu ballen, doch bevor er auf Michael einschlagen konnte, eilte der Schichtleiter zu ihnen herüber.

Keiner der Männer hatte den Pulk bemerkt, der sich mittlerweile um sie geschart hatte. Eine Prügelei machte die Maloche um einiges erträglicher und unterhaltsamer.

»Ihr werdet nicht fürs Rumstehen bezahlt. Macht euch an die Arbeit oder verpisst euch! Ich kann keine Faultiere hier gebrauchen. Verstanden?«

So schnell, wie die Männer zum Gaffen herkamen, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Man konnte es sich nicht leisten, rausgeworfen zu werden. Die Arbeit war wichtiger. Zumindest wichtiger als drei Idioten, die sich anpöbelten.

Ethan spuckte Michael vor die Füße.

»Schon gut, Chef. Ich lass die zwei Schwuchteln in Ruhe. Ist mir doch scheißegal, ob der Wichser eingebuchtet wird.«

Er hob seine Handschuhe vom Boden auf und schlenderte langsam Richtung Ofen. Ben sah ihm kopfschüttelnd nach.

»Und du, Michael, gehst jetzt nach Hause und schläfst dich mal richtig aus.«

Der Schichtleiter sah ihn finster an. »Den Tag muss ich dir vom Lohn abziehen. Und beim nächsten Mal fliegst du raus, kapiert? So eine Scheiße können wir hier nicht gebrauchen, also reiß dich endlich zusammen. Hier bekommt niemand eine Extrawurst.«

Drei

Auf seine eigene, zugegebenermaßen etwas verkorkste Art liebte er sie. Nun, wo sie für immer fort war, wurde es ihm umso deutlicher.

Aufgeregt öffnete er die Schublade mit ihrer Unterwäsche und nahm ein schwarzes Spitzenhöschen heraus. Nach jedem Treffen – üblicherweise nach Einbruch der Dunkelheit und außerhalb von Pottsfield, damit die Leute in der Stadt sie nicht zusammen sahen – schenkte sie ihm ihre Unterwäsche, die sie gerade trug. Die Spuren ihrer Geilheit, die noch immer an den ungewaschenen Slips klebten, machten ihn an.

Wenn er an ihnen roch und seine Augen schloss, sah er sie vor sich. Ihr perfekter Körper mit den weichen Brüsten, an denen er leckte und in deren gepiercte Nippel er biss, bis sie vor Schmerz aufschrie und sich unter ihm aufbäumte.

Er sah ihren geöffneten Mund, in den er seine Finger steckte, bis sie würgte und kurz davor war, sich zu übergeben. Sein Blick wanderte hinunter zu ihrem Bauchnabel und schließlich zu ihrer glattrasierten Muschi. All das gehörte nur ihm. Das hatte er ihr immer wieder eingetrichtert. Niemand außer ihm durfte sie ficken. Hätte sie doch nur auf ihn gehört …

Seufzend öffnete er die Augen und sah sich um. Die Zeitung lag halb verdeckt unter seinem Kopfkissen. Die gestrige Ausgabe der Daily News.

Mit seinen Fingern strich er langsam über die Titelseite. Die übergroßen Lettern zu ignorieren, die ihn anschrien und zwangen, sich der Wahrheit zu stellen, war schier unmöglich.

MORDOPFER IN POTTSFIELD GEFUNDEN – POLIZEI SUCHT NACH DEM TÄTER

Heute Morgen wurde die Leiche einer jungen Frau auf dem Schrottplatz von Pottsfield gefunden. Nach Angaben der Polizei konnte sie aufgrund der Ausweispapiere, die sie mit sich führte, identifiziert werden. Es wird vermutet, dass sie bereits einige Tage dort gelegen hat, ehe ein Gabelstaplerfahrer sie in einer der Schuttgruben entdeckte.

»Wir ermitteln in verschiedene Richtungen und haben schon einen Tatverdächtigen«, so Detective Gordon.

»Allerdings bitten wir die Einwohner um Mithilfe.

Wer hat sie zuletzt gesehen oder kann sachdienliche Hinweise zu ihren Beziehungen in Pottsfield geben?«

Grinsend ließ er die Zeitung sinken. Die Polizei tappte völlig im Dunkeln. Sie umschrieben das immer mit denselben Worten. Natürlich mussten sie die anderen Einwohner beruhigen, indem auf einen Tatverdächtigen hingewiesen wurde. Aber er wusste, dass nichts dahintersteckte. Weil er vorausschauend war und sich einen Plan zurechtgelegt hatte.

Er würde die Falle langsam zuschnappen lassen, ohne dass sie es bemerkten. So wie sie es nicht bemerkte, als er sie um den Finger wickelte. Er erinnerte sich daran, als sei es erst gestern gewesen. Der Vegas Club war gut besucht an jenem Samstagabend, an den langen Theken saßen Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Gehaltsstufen. Solche, die Abwechslung suchten, weil das Eheleben zu Hause sie zu ersticken drohte. Junge Männer, die hier irrtümlicherweise auf der Suche nach der großen Liebe waren. Und Männer, die einfach nur ihr Feierabendbier trinken und auf nackte Frauenkörper glotzen wollten.

Er war sich nicht sicher, zu welcher Gruppe er gehörte. Es mochte von allem ein bisschen gewesen sein.

»Was darf’s sein, Süßer?«, fragte eine zierliche Blondine, die fast nackt vor ihm stand. Lediglich zwei rosafarbene Sterne verdeckten ihre Nippel. Untenrum trug sie eine löchrige schwarze Netzstrumpfhose, die ihren Intimbereich mit einer kleinen Stoffeinlage bedeckte und die Pobacken frei ließ. Trotz ihrer schwarzen High-Heels reichte sie mit ihren Titten nicht mal bis über den Tresen.

»Gib mir einen Whisky mit Cola.«

Er musste fast schreien, so laut war die Musik in diesem Laden.

»Die Cola können wir doch weglassen, Süßer. Richtige Männer brauchen richtige Drinks.«

Das Blondchen schaute ihn süffisant an und stellte ihm ein Glas 1776er Bourbon hin, doch er schob es zurück.

»Whisky mit Cola.«

Verwundert runzelte sie die Stirn und schenkte ihm zögernd Cola ein. Zufrieden bemerkte er ihre plötzlich auftretende Unsicherheit. Sein Herz raste. In seinen Ohren rauschte das Blut. Heftig erregt wegen dem, was noch passieren würde. Denn es würde passieren. Nur er hatte die Macht, die Kontrolle, und er würde sie sich von niemandem mehr nehmen lassen.

Gelangweilt von seinem Gegenüber nahm er einen großzügigen Schluck des braunen Gesöffs und sah sich im Club um.

In dem Etablissement befand sich in jeder Ecke eine Bühne, auf der sich Tänzerinnen um Stangen schlängelten und bei jeder Drehung ein Kleidungsstück auszogen und den Gaffern in der ersten Reihe zuwarfen. Jenen Zuschauern, die eifrig ihre Scheinchen loswerden wollten, indem sie sie in die Slips der Tänzerinnen steckten – oder einfach zwischen ihre Titten.

Um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, atmete er tief ein. Gerade, als er sich von diesen Huren abwenden wollte, bemerkte er eine Schönheit nur wenige Meter neben sich. Schwarze, gelockte Haare, die das schönste Gesicht umrahmten, das er jemals gesehen hatte. Sie unterhielt sich angeregt mit einer Kollegin und wirkte ziemlich vergnügt.

Unwillkürlich fragte er sich, worüber die beiden wohl lachten und unterdrückte den Drang, zu ihnen hinüberzugehen.

Stattdessen drehte er sich auf seinem Barhocker etwas nach rechts, so war es ihm möglich, sie weiterhin zu beobachten und im besten Fall Blickkontakt zu ihr aufzunehmen.

Wenn er es geschickt anstellte, würde sie wie eine hungrige Biene zu ihm herüberschwirren, und er würde sie von seinem süßen Saft kosten lassen. Nur so viel, wie er ihr gestattete.

Sie hob den Kopf und schaute sich suchend im Club um. Das war seine Gelegenheit. Auffällig kramte er in seiner Manteltasche und zog eine kubanische Zigarre mit goldenem Etikett heraus: eine Partagás No. 2. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass sie in seine Richtung blickte.

Aus seiner Hosentasche fingerte er eine Packung Streichhölzer. Dabei ließ er einen Bündel Geldscheine fallen und zündete sich anschließend seine Zigarre an. Wenige Sekunden später stand sie neben ihm.

»Du hast da was fallen lassen.«

Betont langsam drehte er sich zu ihr um und sah, wie sie sich nach dem Geldbündel bückte.

»Ah, ja? Tatsächlich. Danke!« Als er die Scheine entgegennahm, berührten sich ihre Hände und er hielt kurz inne. Nur einen winzigen Moment, aber lange genug, dass sie es bemerkte.

Einen kurzen Augenblick schien sie zu zögern, war womöglich unsicher, ob sie einfach wieder gehen sollte, doch sie setzte sich auf den Hocker rechts von ihm. »Du bist neu hier, oder? Zumindest habe ich dich noch nie hier im Club gesehen, und ich arbeite schon eine Weile hier.«

»Bin ich.«

Er legte eine künstlerische Pause ein. Die Angelrute hatte er nun ausgeworfen. Jetzt musste er warten, dass der Fisch anbiss.

»Du wirkst niedergeschlagen. Kann ich dich irgendwie aufmuntern?«, fragte sie.

Sein Blick wanderte zur Blondine hinter dem Tresen. »Eine Flasche Blanton’s Gold«, orderte er und legte ein paar Scheine auf den Tisch.

Aus dem Augenwinkel heraus registrierte er, dass sie ihn beobachtete. So neugierig bist du also, dachte er und grinste still in sich hinein.

»Es ist unhöflich, eine Frage nicht zu beantworten und den Gesprächspartner links liegen zu lassen.«

»Mir war nicht klar, dass wir ein Gespräch führen«, antwortete er.

Jetzt war der Moment gekommen, sich zu ihr umzudrehen. Kurz zuckte er mit den Achseln und seufzte. »Also schön. Wie munterst du denn normalerweise Männer auf?«

»Naja, ich habe ein paar ziemlich gute Witze auf Lager.«

»Ich mag keine Witze.«

»Wenn du nicht gern lachst, kann ich dich auch zum Stöhnen bringen. Meine Blowjobs sind noch besser als meine Witze.« Sie zwinkerte ihm selbstbewusst zu und kicherte. Etwas zu arrogant für seinen Geschmack. Eine Chance gab er ihr noch.

»Du könntest für mich tanzen«, schlug er vor. Jetzt war der Moment gekommen, dachte er. Der Köder wurde geschluckt. Ihre Mundwinkel zuckten. »Komm mal mit, ich zeig dir einen Platz, wo wir ungestört sind«, sagte sie, nahm seine Flasche und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihr zu folgen.

Dann drehte sie sich um und ging in die Richtung eines weinroten Vorhanges zwischen zwei Bühnen, der von zwei Muskelprotzen bewacht wurde. Er rutschte von seinem Hocker und folgte ihr.

Hinter den Bühnen schloss sich ein enger, spärlich beleuchteter Flur an, von dem eine Menge Türen seitlich abgingen. Sie öffnete eine davon und hielt sie für ihn auf. Als er eintrat, fiel sein Blick zunächst auf die Stange in der hinteren rechten Ecke. Außerdem befanden sich ein Polstersessel sowie ein runder Tisch im Raum.

»Setz dich und mach es dir gemütlich«, sagte sie und stellte seine Flasche auf den Tisch. »Diesmal magst du deinen Whisky pur?«, fragte sie schmunzelnd. Dann dimmte sie das Licht. Als sie Anstalten machte, sich umzudrehen – um womöglich zur Stange hinüber zu gehen –, hielt er sie fest.

»Ich dachte, ich soll für dich tanzen …«

»Tanz auf meinem Schoß«, raunte er ihr zu. Er hielt Blickkontakt, während er langsam sein rechtes Bein zwischen ihre Oberschenkel drückte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich rittlings auf seinen Schoß zu setzen. Aufreizend bewegte sie ihre Hüften und ihren Oberkörper, knetete dabei ihre prallen Titten.

Das Rauschen in seinen Ohren verstärkte sich. Er packte ihre Kehle und zog ihren Kopf dicht an sein Gesicht heran. »Hast du Angst?«, flüsterte er erregt. Sie schaute ihm fest in die Augen.

»Wenn man bereits auf der dunklen Seite ist, fürchtet man sich vor kaum etwas«, flüsterte sie zurück.

Seine rechte Hand glitt zwischen ihre Schenkel und er spürte, wie feucht sie war. Ihm gefiel das Feuer, das in ihr loderte. Es fiel ihr sichtlich schwer, ihre Lust zu zügeln, und er wusste, dass sie ihn in sich haben wollte. Er genoss die Macht, die er über sie hatte. Noch nicht, sagte er sich.

»Was macht so ein hübsches Mädchen wie du in einem Loch wie diesem hier?«, fragte er, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und sanft über ihre Klitoris strich.

»Geld verdienen«, antwortete sie knapp.

Interessiert musterte er sie. Feiner Schweiß begann, an ihr zu glänzen.

»Du gefällst mir, wie du sicher längst gespürt hast. Was hältst du davon, den Arbeitgeber zu wechseln?«

Als sie ihn verwirrt ansah, verstärkte er den Druck auf ihre pulsierende Stelle. Ihr Atem wurde heftiger.

»Ich will, dass du mir gehörst, wann immer ich dich möchte. Ich will, dass du für mich tanzt, dass du dich für mich ausziehst, mir meine sexuellen Wünsche erfüllst und meine Fantasien. Dafür bezahle ich dich. Du wirst nicht schlechter verdienen als jetzt, aber nur noch für mich die Beine breitmachen. Was sagst du?«

Sie lächelte, versuchte dabei einen spöttischen Ton zu wahren. »Woher willst du wissen, dass du nicht die Katze im Sack kaufst?«

Er griff mit der freien Hand in ihre Haare und zog so ihren Oberkörper zu sich heran, bis ihr linkes Ohr an seinem Mund war. Sie wehrte sich nicht. Lust flammte erneut in ihm auf. Während er mit drei Fingern in sie eindrang, sagte er: »Weil du keine Angst hast.«

***

Langsam fuhr er mit den Fingern die Konturen ihres Gesichts nach; das abgedruckte Foto von ihrem Ausweis wurde der Hure nicht gerecht. Es zeigte nicht ihre vollen Lippen, auf die sie sich verführerisch gebissen hatte, um ihn geil zu machen. Ihre Zunge, mit der sie sich langsam einen Weg an seinem Bauch hinab zu seinem Schwanz geküsst hatte.

Sie hatte gewusst, was ihm gefiel, und er merkte, wie er hart wurde. Dachte an ihre sanften und dennoch wilden Augen, wenn sie ihn von unten anschaute. Seine Hand in ihren weichen Haaren, die genau die richtige Länge hatten, um grob daran zu ziehen.

Die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nächte genügten fast, um ihn kommen zu lassen.

Nach ihrem ersten zufälligen Treffen in einer Bar hatte sie ihn überrascht und war direkt in die Vollen gegangen. Es hatte ihm gefallen, dass nicht er die Initiative ergreifen musste. Niemals hätte er vermutet, dass hinter diesem unschuldigen Äußeren so ein Luder steckte. Sie war sein persönlicher Lust-Engel. War sich für kein Spielchen zu schade.

Nach jeder Session ein paar große Dollar-Scheine hinzublättern, machte ihm nichts aus. Geld spielte keine Rolle. Was er wollte, war das Extreme. Er wollte es hart, pervers und abwechslungsreich. Vor allem aber, wann immer er wollte, und ausschließlich mit ihm durfte sie es treiben.

Das war ihre Vereinbarung. Aber sie musste ja alles kaputt machen. Er schnaubte. Wut packte ihn, als er daran dachte, wie ihr letztes Treffen ausgegangen war. Wie sie gebettelt und gefleht hatte, als sie merkte, dass sie einen Fehler begangen hatte und zu weit gegangen war. Er ballte die Hände. Diese Hure.

Er hätte nicht nochmal zuschlagen sollen, aber die rasende Wut hatte sein Hirn völlig vernebelt. Die Angst in ihren Augen, als sie merkte, dass es zu Ende ging, faszinierte ihn. Wie sie mit geöffneten Lippen keuchte, ihn gehetzt anschaute. Er schloss die Finger um seinen Schwanz. Sie hatte es nicht anders verdient.

Vier

»Beruhigen Sie sich, bitte. Ich muss Ihnen diese Fragen stellen, anders kann ich Ihnen nicht helfen. Also, noch einmal von vorn: Wie oft hatten Sie diesen Traum bisher?«, fragte Dr. Thompson und sah von seinem Notizblock auf. Michael wich seinem Blick aus und knetete nervös seine Finger.

»Fünf Nächte in Folge«, antwortete er dem Psychiater.

»Und jedes Mal endete es damit, dass Sie Ihre Verlobte ermordet haben?« Dr. Thompson musterte Michael aufmerksam.

»Ich habe sie nicht ermordet«. Michael beugte sich vor und strich mit den Fingern durch seine Haare. »Sie hat ihre Sachen gepackt und ist Hals über Kopf ausgezogen.« Nach einer kurzen Pause fügte er traurig hinzu: »Nachdem ich sie geschlagen habe.«

»Warum haben Sie sie geschlagen?«

Dieser Psychiater war die reinste Folter. Michael haderte mit sich. Einerseits würde er am liebsten aufstehen und gehen, andererseits war er auf den Kerl ihm gegenüber angewiesen. Der Gedanke an weitere quälende Nächte machte ihm Angst. Also seufzte er und sagte: »Weil sie mich betrog.«

Dr. Thompson warf einen flüchtigen Blick auf seine Notizen und fragte: »Woher wissen Sie das?«

»Weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe, verdammt! Deswegen habe ich sie aber noch lange nicht …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken und er kämpfte mit den Tränen.

»Können Sie sich erklären, warum Sie in Ihrem«, er betonte das nächste Wort, als setze er es in Anführungszeichen, »Traum am Tatort waren und den Mord mitverfolgen konnten?«

»Nein.«

»Haben Sie einen anderen Mann dort gesehen?«

»NEIN!« Als würde etwas in ihm explodieren, sprang er unvermittelt auf. Er schlug die Hände über seinem Kopf zusammen und schrie den Psychiater an: »Sonst wüsste ich doch mit Sicherheit, dass ich es nicht war. Haben Sie eine Ahnung, wie sich das anfühlt, wenn man die Zeitung aufschlägt und … « Von seinen Gefühlen übermannt, begann er zu weinen.

Ungerührt davon machte sich Dr. Thompson Notizen und fragte weiter: »Wenn also nur Sie dort waren, was lässt Sie daran zweifeln, dass Sie der Täter sind?«

Michael begann, unruhig hin und her zu laufen. »Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich es, vielleicht nicht. Ist das nicht Ihre beschissene Aufgabe, genau das herauszufinden?« Michael sah den Psychiater hilflos an.

»Nein, meine Aufgabe besteht darin, Ihre verlorenen Erinnerungen wieder hervorzuholen und das Erlebte zu verarbeiten. Dinge, die Ihnen angetan wurden oder die Sie anderen angetan haben.«

»Meine Erinnerungen«, flüsterte Michael, ehe er sich wieder zurück auf das Sofa fallen ließ. »Also war ich es.«

»Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie wissen, weswegen Sie hier sind. Normalerweise suchen mich Patienten nicht auf, nur weil sie ein paar Nächte nicht gut schlafen konnten. Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihnen am Telefon angehört habe, dass es Ihnen schlecht geht. Aber ich muss es von Ihnen hören, Michael. Warum sind Sie hier? Haben Sie Ihre Verlobte ermordet?«

Michael holte tief Luft und ließ resigniert die Schultern sinken. Es gab keine andere Erklärung, die Träume waren es, die Träume klagten ihn an und er spürte, sie würden nicht von ihm ablassen, bis er seine schreckliche Schuld eingestand.

»Ja«, stieß er hervor. »Ja, ich habe Katharina ermordet.«

Im nächsten Moment wurde die Tür zum Sprechzimmer aufgeschlagen und Michael starrte ungläubig auf mehrere uniformierte Männer, die ihre Waffen auf ihn richteten.

»Michael Coleman, Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie sagen kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt. Haben Sie das verstanden?«

Michael blickte fassungslos von den Polizisten zu Dr. Thompson. Dieses Arschloch hatte ihn eiskalt hereingelegt. Wie konnte er so dämlich sein und es nicht bemerken? Scheiße, hatte er eben ein Geständnis abgelegt? Er war stumm vor Entsetzen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

»Haben Sie das verstanden?«, fragte einer der Polizisten erneut. Michael nickte und hörte die Handschellen an seinen Handgelenken einrasten. Was für ein verfluchter Albtraum! Aber dieses Mal konnte er nicht aus ihm erwachen.

***

Im Verhörzimmer saßen außer Michael noch sein Anwalt sowie zwei Polizisten, die bei seiner Festnahme dabei waren, am Tisch. Er war mit Handschellen an den Tisch gefesselt, vor ihm stand ein halbvoller Plastikbecher mit Kaffee. Doch Michael rührte das Getränk nicht an. Er traute diesen Leuten nicht.

Man hatte eine Akte vor ihm hingelegt und die erste Seite aufgeschlagen. Das Foto, das dort lag, zeigte das zertrümmerte Gesicht einer Frau. Katharinas Gesicht. Er schluckte schwer. Nun wurde ihm das tatsächliche Ausmaß der Gewalt, die man ihr zugefügt hatte, erst wirklich bewusst. Ihre Augen waren zugeschwollen, die Nase nicht mehr als solche erkennbar und die Lippen hingen zerfetzt herab.

»Kennen Sie diese Frau?«, fragte ihn einer der Beamten forsch.

»K... Katharina. Es ist Katharina«, brachte er mit erstickter Stimme hervor. Was zur Hölle hatte er ihr nur angetan?

»Sie haben erwähnt, dass Sie von ihr geträumt haben. Zudem haben Sie den Mord in der Praxis von Dr. Thompson gestanden und wir fanden Ihre DNA am Opfer. Sie wissen, was das bedeutet?«, fragte der Beamte.

Sofort sprang Michaels Anwalt für ihn in die Bresche: »Apropos Geständnis: Ich kenne die Aufnahme immer noch nicht, derentwegen mein Mandant überhaupt hier gelandet ist.«

»Wir sind noch dabei, das Band für die Staatsanwaltschaft zu transkribieren. Bis dahin könnte Ihr Mandant die Zeit nutzen und mit der Wahrheit herausrücken.« Der Beamte verschränkte die Arme vor der Brust. »Zum Beispiel könnte er damit beginnen, aus welchem Grund er das Opfer ermordet hat.«

Michael wäre diesem Arschloch am liebsten an die Gurgel gesprungen. In ihm brodelte es gewaltig, aber er musste versuchen, sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Zugleich fühlte er sich hilflos ausgeliefert, etwas in ihm war mit Katharina gestorben. Doch er durfte den Bullen einfach keine weitere Angriffsfläche bieten. »Müssen die Handschellen sein?«, schnaubte er.

»Klar müssen die sein, Mr. Coleman«, sagte der Polizist und tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto, das vor Michael lag. »Also?«

»Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich schon in der letzten verdammten halben Stunde gesagt habe. Ich! Weiß! Es! Nicht!« Michael brummte der Schädel.

»Sie wissen es nicht«, wiederholte der Polizist. »Da hat das Opfer wohl keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Fanden Sie sie nicht hübsch genug?« Michael merkte genau, dass der Typ versuchte, ihn mit allen Mitteln zu provozieren, doch er musste Ruhe bewahren. Herr der Lage bleiben – wie auch immer das in diesem Rattenloch möglich sein sollte.

Zudem waren da diese Träume, aus denen sich doch nur eine einzige Schlussfolgerung ziehen ließ: Er war es gewesen. Er musste es gewesen sein. Niemand sonst hatte Katharina umgebracht. Er wollte diesen Träumen nicht glauben, wollte sich ihnen nicht stellen, der schrecklichen Wahrheit, die sie enthielten und vor der er sich fürchtete. Doch er musste.

Der Beamte erhob nun seine Stimme und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Plastikbecher vibrierte. »Hören Sie endlich auf, uns zu verarschen, Mann!«

Michael wich zurück, und noch ehe er dem Polizisten antworten konnte, mischte sich sein Anwalt ein: »Sie wissen, dass Sie darauf nicht eingehen müssen, Mr. Coleman. Man hat keine aussagekräftigen Beweise gegen Sie in der Hand. Die DNA an der Kleidung ihrer Verlobten ist kein Grund zur Verwunderung, das Geständnis in der Praxis von Dr. Thompson …«

»Schon gut, ich möchte ja aussagen«, unterbrach Michael seinen Anwalt und wandte sich den Polizisten zu. »Wobei ich trotzdem nicht mit Sicherheit sagen kann, dass ich sie … also …« Unfähig, es auszusprechen, machte er eine abwinkende Geste. »Theoretisch könnte es auch einer dieser notgeilen Säcke aus dem Club gewesen sein.«

Die Beamten fragten skeptisch nach: »Welchen Club meinen Sie?«

Sein Blick fiel auf das Foto vor ihm und er nahm es in die Hand. »Katharina und ich hatten Beziehungsprobleme, weil ich zum einen das Gefühl nicht loswurde, dass sie mich betrügt. Nennen Sie es Instinkt oder siebten Sinn, aber ich habe es einfach gespürt. Zum anderen hatte ich mehrfach versucht, sie davon abzubringen, in diesem verfickten Club zu arbeiten. Also fuhr ich eines Abends dorthin, zum Vegas Club, um meinem Instinkt zu folgen. Ich rechnete damit, sie hinter der Theke stehen zu sehen, denn sie versicherte mir immer wieder, sie sei ›nur eine Kellnerin‹, doch da war sie nicht. Erst wollte ich mich umdrehen und gehen, weil ich annahm, sie hätte vielleicht schon Feierabend oder läge bereits im Bett ihres neuen Mackers. Aber dann entdeckte ich sie einige Meter von der Theke entfernt, wie sie mit einer anderen Frau sprach. Doch ihre Aufmerksamkeit galt jemand anderem. Da saß so ein Typ an der Theke: Anzug, Lederschuhe – schien auf jeden Fall Kohle zu haben. Hat er auch gut raushängen lassen, hat sich betont lässig eine Zigarre angezündet. Sah teuer aus.«

Um sich kurz zu sammeln, machte er eine kleine Pause. Alle Blicke ruhten auf ihm. Eine unglaubliche Leere fühlte er in seinem Inneren.

»Und weiter?«, drängte ihn einer der Beamten.

»Dann sah ich, wie Katharina zu dem Kerl rüberging, seine Geldscheine aufhob und ihm zurückgab. Ich hatte den Eindruck, sie würde sich an ihn ranschmeißen wollen. So kam es dann auch.« Michael seufzte. »Ich bin den beiden zwischen die Bühnen hindurch gefolgt bis zu einem Vorhang, hinter dem sie verschwanden. Als ich hinterherstürmen wollte, hielten mich zwei Typen auf, die den Bereich absicherten. Weil sie mich nicht durchlassen wollten …« Er hielt inne.

»Ja?«, fragte ein Polizist. »Was war dann?«

»Ich bin ausgerastet. Was denken Sie denn? Meine Verlobte ging mit irgend so einem Wichser ins Kabuff, um sich von ihm durchvögeln zu lassen, da stehe ich doch nicht tatenlos rum und drehe Däumchen.«

»Sie haben also eine Prügelei provoziert?«

»Hab ich. Und dann wurde ich rausgeschmissen und fuhr nach Hause.«

»Das war alles?«

»Das war alles«, wiederholte Michael.

»Mir fehlt die Stelle, wo Sie sie ermorden«, sagte ein Polizist.

Genervt verdrehte Michael die Augen. »Als sie nach Hause kam, stellte ich sie wütend zur Rede, sie wurde pampig, sagte, es ginge mich nichts an, wie sie ihr Geld verdienen würde, ich schlug sie, sie packte ihre Sachen und ging. An mehr erinnere ich mich nicht!«

Die Polizisten sahen sich kurz an, standen auf und nahmen die Akte vom Tisch. »Bringen Sie Mr. Coleman zurück in seine Zelle«, ordnete einer von ihnen dem Police Officer an, der vor der Tür gewartet hatte.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Michael argwöhnisch, doch die Polizisten ignorierten seine Frage und verließen das Verhörzimmer.

Der Police Officer kam herein, löste die Handschellen vom Tisch und ließ diese zugleich an Michaels Gelenken einrasten.

Während sie aus dem Zimmer gingen, öffnete sich die Tür nebenan und er konnte hören, wie jemand sagte: »Danke, dass Sie uns als Berater zur Verfügung stehen, Dr. Thompson. Sie haben das Verhör hinter dem Spiegelglasfenster mitbekommen? Wie ist Ihre Meinung?«

Im Vorbeigehen blickte Michael in den Nebenraum und sah das blöde Arschloch, das ihn an die Bullen verpfiffen hatte. Wut stieg in ihm auf. Was hatte der Wichser überhaupt gegen ihn?

Dann sah er etwas in der Brusttasche des Anzugs, den der Psychiater trug, was ihn stutzen ließ. Im selben Augenblick sagte Dr. Thompson: »Ich halte ihn für schuldig. Meiner Meinung nach sprechen die Beweise gegen ihn.«

»Er sah ziemlich fertig aus«, meinte ein Polizist. »Ich glaube, dass ihn das Ganze doch mehr belastet, als Sie glauben, Doktor.«