Bull's Cross - Vinicio Vox - E-Book

Bull's Cross E-Book

Vinicio Vox

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Beschreibung

"Willkommen im echten Gratia. Willkommen in der Stadt der Ratten." Den Käufer schnappen, die Geisel in Sicherheit bringen, den Händler ausliefern — so weit, so einfach. Als die beiden Beschwörer Mshauri und Penumbra für die Rebellengruppe Redeemer ins Feld ziehen und die junge Antoinette Dumas aus den Fängen eines Menschenhändlers befreien, ist ihr Ziel zum Greifen nahe: Dafür zu sorgen, dass Jacques Vermont, einer der reichsten Männer in der strahlenden Metropole Gratia, für seine Verbrechen hinter Gittern wandert. Doch als Antoinette sich weigert, eine Aussage zu machen und plötzlich die mächtigsten Clans der Unterwelt auf den Plan treten, muss sich Mshauri zwischen Antoinettes Wohlergehen und Vermonts Opfern entscheiden — denn solange er auf freiem Fuß ist, blüht sein Geschäft in Bull's Cross. (Content Notes befinden sich am Ende des Buchs)

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Seitenzahl: 785

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

Kapitel 1: Wenn sie schläft

Kapitel 2: Antoinette Dumas

Kapitel 3: Die Stadt der Ratten

Kapitel 4: Reviere

Kapitel 5: Was geschieht, landet auf Mattscheiben

Kapitel 6: Arbeit

Kapitel 7: Bonecrusher

Kapitel 8: Ekstase

Kapitel 9: Weil es wichtig ist, über die Schulter zu sehen

Kapitel 10: Ice Sanctuary

Kapitel 11: Ich werde nicht …

Kapitel 12: Das Gesicht eines Schurken

Kapitel 13: Wo nichts ist

Kapitel 14: Dinge, über die man spricht — Dinge, über die man klagt

Kapitel 15: Paranoia

Kapitel 16: Verlorene Seelen

Kapitel 17: Dunkle Nächte

Kapitel 18: Secret Passion

Kapitel 19: Meister Bayarri

Kapitel 20: Am Ende das Ich

Kapitel 21: Alte Geschichten

Kapitel 22: Dunkle Geheimnisse

Kapitel 23: Umarmungen wie Gefängnisse

Kapitel 24: Morty Smith

Kapitel 25: Investigation

Kapitel 26: Fremde

Kapitel 27: Sewer Town

Kapitel 28: Vom Bordstein zum Himmel

Kapitel 29: Vom Himmel in die Hölle

Kapitel 30: Mauern niederreißen

Kapitel 31: Heute leben, jung sterben

Kapitel 32: Wofür?

Kapitel 33: Ein schlechter Sohn

Kapitel 34: God Cube

Kapitel 35: Luxuria

Kapitel 36: Limerenz

Kapitel 37: Spiegel

Kapitel 38: Verräter sind auch nur Menschen

Kapitel 39: Bull's Cross

Kapitel 40: Keine Helden

Kapitel 41: Nachbeben

Kapitel 42: Manifest eines Lügners

Epilog

Danksagung

Content Notes

Bull's Cross

von

Vinicio Vox

Copyright © 2025 Angelina Stohner

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

[email protected]

Autor: Vinicio Vox

Cover: Vinicio Vox

Satz: Vinicio Vox

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Für die Erstellung dieses Romans — sowohl bei Inhalt als auch Gestaltung — wurde keine generative KI verwendet.

Für alle, die mir beim Schreiben immer über die Schulter geschielt haben.

Kapitel 1

Wenn sie schläft

Es war Montag und seine Armbanduhr leuchtete mit ihren aufdringlichen blaugrünen Ziffern das Innere des Wagens aus. Das Auto war ein Konglomerat aus abgewetzten Kunstledersitzen, lose sitzenden Spiegeln und zerkratztem schwarzem Lack. Der Motor hustete, wenn man ihn anließ, die Pedale ließen sich nur schwer bedienen und das Lenkrad quietschte bei jeder Bewegung. Es handelte sich um ein ausrangiertes Modell, das vor vielleicht fünfzehn Jahren während des Wirtschaftsbooms aktuell gewesen war — ein Auto, wie es Tausende in dieser Stadt gab. Im Inneren roch es nach Gummi, ein wenig nach Plastik und stark nach kaltem Zigarettenrauch, der sich überall festgesetzt hatte. Ein grünes Duftbäumchen am Rückspiegel schwang bei jeder Bewegung des Fahrers in seinem Sitz hin und her.

In Nächten wie diesen schlossen die meisten Bars und Clubs um zwei Uhr morgens und ehe man sich versah, ähnelte jeder Ausflug, der nicht nach Bull's Cross führte, einem Spaziergang über einen Betonfriedhof, zwischen dessen Steinen Obdachlose schliefen und betrunkene Nachzügler überfallen und gemeuchelt wurden. Und die ganze Zeit blieb alles und jeder stumm. Selbst Schreie verloren sich in der Nacht, verschluckt von Schatten, Mauern und Knebeln.

Es war kurz vor drei Uhr und das lautlose Gemeuchel in den Eingeweiden der schlafenden Stadt war schon fast wieder vorüber. Das Parkhaus am Falcon Path war leer und totenstill; er hörte nur seinen eigenen Atem, das leise Rascheln hinter sich auf dem Rücksitz und das gedämpfte, altmodische Geplänkel aus dem fast stummgedrehten Autoradio. Die CD stockte hin und wieder, verlieh den instrumentalen Stücken einen verstörenden, geisterhaften Charakter, der einen urtümlichen Instinkt tief in seinem Inneren aufschreckte. Es fühlte sich an, als würde ihm etwas Übernatürliches und Eiskaltes im Nacken sitzen.

Er klopfte den Rhythmus des Liedes auf dem Lenkrad mit, um seine Nervosität zu lindern. Der schmucklose Stahlring an seinem Ringfinger verursachte dabei immer wieder ein störendes Klacken, als er auf den Kunststoff traf. Das Geräusch machte ihn selbst fast verrückt aber nicht genug, um ihn zum Aufhören zu bewegen. Er starrte unablässig in das Dunkel des Parkhauses. Seine Schultern waren verspannt, sein Nacken steif. Seit einer gefühlten Ewigkeit saß er hier in einer Haltung, die mehr der eines fluchtbereiten Tiers ähnelte als der eines Menschen und er spürte deutlicher denn je, dass der Homo Sapiens nicht für diese Art der Fluchtbereitschaft gemacht war.

Er spielte mit dem Gedanken, eine Zigarette anzuzünden und fragte sich, ob es das wirklich wert war. Jetzt wieder anzufangen, nachdem er so lange gebraucht hatte, um aufzuhören. Er hustete leise und verdrängte das Bedürfnis, seine Nerven mit Nikotin zu benebeln. Seine Augen huschten zum Rückspiegel und für einen Moment begegnete er seinem eigenen Blick — dunkle, braune Flecken auf weißen Augäpfeln —, ehe er nach hinten sah.

Die junge Frau saß gefesselt auf der Rückbank. Sie rutschte auf dem zerfledderten Kunstledersitz hin und her, gab ansonsten aber keinen Laut von sich. Sie kaute auf ihrem Stoffstreifenknebel, tränkte ihn mit Speichel und quetschte große Tränen unter ihren Lidern hervor, die bereits rot und aufgequollen von all dem Salzwasser waren. Das Make-up um ihre Augen war verwischt, ihre Wangen schmutzig von nassen grauen Streifen. Ihre Atemzüge klangen feucht durch ihre laufende Nase und den nassen Knebel, der nicht verhindern konnte, dass ein klares Rinnsal ihr Kinn hinab lief. Ihr Kleid war viel zu weit nach oben gerutscht. Es warf Falten um ihre Oberschenkel und er war sich sicher, dass er ihre Unterwäsche hätte sehen können, wenn es ein wenig heller gewesen wäre. Sie schien zu versuchen es wieder nach unten zu ziehen — ein unmögliches Unterfangen mit den Händen auf dem Rücken. Sie wirkte so unglaublich erbärmlich und mitleiderregend. Es war ein perfektes Bild, das ihn zum Lächeln brachte und seine Anspannung ein klein wenig löste.

Hin und wieder presste sie ein Wimmern hervor, während ihr Blick von Fenster zu Fenster huschte und etwas in der Dunkelheit zu erkennen versuchte. Doch da war nichts. Nur dieses Auto, ein paar Kleckse Taubendreck und der schwache Schein von Bull's Cross, der in der Ferne auszumachen war.

»Nur keine Sorge«, murmelte er vor sich hin, »das wird schon irgendwie. Ist immerhin nicht das erste Mal.«

Nun griff er doch nach einer Zigarette — er hatte sie nie alle entsorgt, nur für den Fall — und schob sie sich zwischen die Lippen, sog daran, ohne sie anzuzünden. Der leichte Hauch des Tabakgeschmacks, der durch den Filter bis in seine Mundhöhle drang, war ihm vorerst genug.

Plötzlich zerriss ein greller Lichtstrahl die Finsternis und blendete ihn. Instinktiv riss er die Hand nach oben, um seine Augen zu schützen und kniff angestrengt die Lider zusammen. Er konnte das leise Schnurren des Autos, das die Rampe hinaufgefahren kam, kaum ausmachen. Kein Wunder, dass er es nicht bemerkt hatte, bis der Fahrer die Scheinwerfer hatte aufleuchten lassen. Der Wagen hielt ein kleines Stück von ihm entfernt und Scout begann gerade, sich an die neue Helligkeit zu gewöhnen, als der Motor auch schon erstarb und die Umgebung wieder in ihrem altbekannten Grauschwarz versank.

Kaum waren die anderen Scheinwerfer erloschen, ließ er seine eigenen aufleuchten. Er würde das garantiert nicht so abziehen, in völliger Dunkelheit. Keine Schwachpunkte, keine Betrugsmöglichkeiten. Er hielt nicht so viel von Messern im Rücken oder Kugeln in der Brust, wie manch andere Leute.

Er stieg aus dem Wagen und hörte in genau dem Moment, als er einen Fuß auf den Boden setzte, wie der Insasse des anderen Autos die Tür knallen ließ. Ein Mal. Und soweit er erkennen konnte, war er wirklich allein gekommen. Das war schon einmal ein Anfang. Scout zerrte die Frau von der Rückbank. Sie wehrte sich, trat um sich, weinte und schrie gedämpft durch den Stoff in ihrem Mund. Er würdigte sie keines Blickes, behielt stattdessen seinen Kunden im Auge, beobachtete, wie er sich von seinem teuren, mattschwarzen Auto entfernte und den Lichtkegeln näherte. Der massive Schatten des Koffers, den er mit sich führte, fiel ihm sofort ins Auge. Gut. Gut. Wenigstens hielt er sich an die Abmachung. Vielleicht würde er ja wirklich keine Probleme bereiten. Scout bohrte seine Finger in den Nacken der Frau, führte sie ins grelle Licht und blickte erst nur auf die gespenstisch langen Schatten, die auf dem Boden wuchsen, hinab, bis alles zum Stillstand gekommen war.

Dann hob er den Kopf und starrte seinem Gegenüber mit unerschütterlicher Sicherheit entgegen. Der hochgewachsene Mann, der nach wie vor mehrere Meter vor ihm stand, war vielleicht Mitte vierzig, doch bereits stark ergraut. In seinem zurückgekämmten Haar fanden sich nur noch vereinzelte schwarze Strähnen und sein fast obszön gut gepflegter Bart war bereits jeglicher Farbe beraubt. Sein eleganter Anzug passte nicht an diesen verlassenen, nach Pisse stinkenden Ort inmitten dieser verfluchten Metropole, die jeden Abend aufs Neue starb, nur um am nächsten Morgen wie ein Untoter aus den Schatten zu kriechen.

In einer anderen Situation, an einem anderen Ort hätte dieser Mann wahrscheinlich wie die gutmütigste Seele der Welt gewirkt. Aber das hier war ein Rattennest, hier konnte er sein wahres Gesicht zeigen.

Sein Lächeln war schief und heimtückisch, ein Spiel der unausgewogenen Helligkeit und Scouts eigener Fantasie.

Die Frau gab verzweifelte Laute von sich, rief unerhört nach Hilfe und Scout musste die Stimme kaum erheben, um ihr klägliches Wimmern zu übertönen.

»Haben Sie das Geld?«, fragte er ohne Umschweife. Er war kein Freund von langem Gerede und Psychospielchen und er war froh, dass sein Gegenüber vom gleichen Schlag zu sein schien.

Der Käufer hob den Koffer in die Höhe, sodass Scout erkennen konnte, dass das Behältnis wahrscheinlich ebenso wertvoll war wie sein Inhalt.

»Offensichtlich«, kam die Antwort. Sein Ton war ebenso arrogant wie seine Aufmachung.

»Ich will es sehen.«

Sein Gegenüber widersprach nicht, legte den Koffer auf den Boden und öffnete ihn. Während er in die Knie ging, ließ er Scout keinen Moment lang aus den Augen und präsentierte ihm schließlich eine stattliche Menge säuberlich arrangierter Geldbündel, die jedem normalen Menschen den Schwindel durchs Hirn getrieben hätte. »Zufrieden?«

Scout nickte knapp.

»Her damit!«

»Erst das Mädchen«, beharrte der Käufer mit samtener Stimme, die niemals hätte vermuten lassen, was für ein Mensch er wirklich war. Scout schnaubte verächtlich und beäugte ihn misstrauisch, suchte an seinem Körper nach der kleinsten Spur einer Waffe, doch er fand nichts und er wollte nicht riskieren, dass der Kerl es sich noch anders überlegte.

»Wehe, Sie kommen auf dumme Gedanken«, drohte Scout, ließ die Ware los und stieß ihr die Hand in den Rücken, sodass sie ein paar Schritte vorwärts stolperte und vor ihrem neuen Besitzer auf die Knie fiel. Sie zitterte und stieß einen Schwall von Worten hervor — Gebettel wahrscheinlich —, als würde sie nicht verstehen, was vor sich ging und dass niemand eingreifen würde.

Als würde sie nicht verstehen, dass sie völlig allein war.

Sie klammerte sich gekonnt an eine letzte, aussichtslose Hoffnung. Zumindest vermittelte sie diesen Eindruck ziemlich gut. Der Graue beugte sich nach vorn und nahm ihr Kinn zwischen seine Finger, drehte ihren Kopf hin und her, begutachtete eingehend ihr hübsches Gesicht, fühlte ihre weiche Haut und schnüffelte hörbar ihren lieblichen, aber von Salz und Schweiß verdorbenen Duft. Scout nutzte diese Zeit, um sich unauffällig ein paar schwarze Handschuhe überzuziehen.

»Perfekt«, hauchte der Käufer und bewegte seine freie Hand in Richtung ihrer Brüste. Scout räusperte sich. Der Kerl im Anzug zuckte zusammen, wich einen Schritt zurück und sah sich hektisch nach allen Seiten um; bereit, jeden Moment die Flucht zu ergreifen. Erst als er niemanden fand, vor dem er fliehen konnte, kam er auf die Idee, sich Scout zuzuwenden, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und ungeduldig mit dem Fuß wippte.

»Das Geld!«, grollte dieser mit der Bedrohlichkeit eines um seine Beute gebrachten Raubtiers.

»Jaja, Arschloch. Hier hast du dein scheiß Geld!«

Der Kunde versetzte dem Koffer einen Tritt. Laut schnarrend rutschte er über den Boden und kam erst zum Stehen, als er mit Scouts Schuhspitzen kollidierte. Scout bückte sich langsam nach dem Koffer, ohne den Blick von dem frisch verbundenen Paar abzuwenden.

Der Käufer hatte ihn schon längst vergessen und widmete sich seiner neuen Errungenschaft. Er zog sie auf die Beine, zerrte sie zu seinem Wagen und drückte sie gegen die Motorhaube, wo er mit dem fortfuhr, wobei Scout ihn so unverschämt unterbrochen hatte. Die Frau drehte den Kopf zur Seite, blickte Scout an, der den Koffer in die Schatten schleifte, dort stehen ließ und zu seinem Auto zurückkehrte. Er griff in seine Hosentasche, führte die Hand dann an sein Ohr, konnte seine Aufregung nicht länger unter Kontrolle halten und brauchte viel zu lange, um zu tun, was er tun musste.

»Jetzt!«, keuchte er, öffnete die Fahrertür, schaltete die Scheinwerfer aus und ließ sich in den Sitz fallen, schloss kurz die Lider, um sich zu sammeln und um nicht sehen zu müssen, ob es zu spät gewesen war. Sein Atem ging schwer und laut, erfüllte den ganzen Innenraum und war das Einzige, was er hören konnte.

Und dann war es vorbei, irgendwie. Seine Ruhe kehrte parallel zum Klang lauter Stimmen zurück, der über Keuchen und Fensterglas hinweg zu ihm durchdrang. Er war hellwach, vollkommen klar im Kopf.

»Polizei! Lassen Sie die Frau los!«, bellte jemand.

Scout startete den Motor und gab Gas, zwang das Gefährt mit quietschenden Reifen in eine Nadelkurve, die ihn direkt auf die Rampe nach unten führte. Im Rückspiegel konnte er kurz die Beamten erkennen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und den Mann im Anzug mit gezogenen Waffen einkreisten. Er glaubte, kurz das triumphale Aufblitzen weißer Zähne im Gesicht der Frau zu erkennen, die völlig kraftlos von der Motorhaube rutschte und zu einem kleinen, erbärmlichen Häufchen zusammensackte.

Er lachte.

v

Scout parkte in einer schmalen Seitenstraße einige Blocks vom Parkhaus entfernt. Er zog sich die Skimaske vom Gesicht und lehnte seinen Kopf gegen das kühle, falsche Leder des Fahrersitzes, ließ das durchgeschwitzte Stück Stoff in seinen Schoß fallen und würgte den CD-Spieler ab. Stattdessen drehte er das Radio auf, um seinen Geist mit Tönen zu füllen, die zu modern und sorglos waren, um zuzulassen, dass die Gedanken sich in ihm aufbäumen konnten.

Er war ein genauso großer Zweifler, wie er entschlossen war, und er fragte sich oft, ob das, was er tat, richtig war.

Nein. Nicht was er tat, sondern wie er es tat.

Diese Aktion hätte genauso gut weniger glimpflich ausgehen können, das wusste er.

Obwohl Sara sich freiwillig für die Rolle des Opfers gemeldet hatte und erfahren genug war, um ganz genau zu wissen, was alles passieren konnte, hatte er nie ein gutes Gefühl dabei, seine Mitstreiter derart wehrlos in den Kampf zu schicken. Er hatte bereits Menschen an diese Stadt verloren und war nicht gewillt, derjenige zu sein, der dafür sorgte, dass diese Zahl noch weiter anstieg. Was allerdings noch viel unheimlicher war, als andere Menschen in diese Angelegenheiten zu verwickeln, war der Gedanke, sich zurückzulehnen, nichts zu tun und darauf zu warten, dass jemand anders über ihren Ausgang entschied.

Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, schob sich wieder die kalte Zigarette in den Mund und inhalierte gefilterte Luft, die nach Tabak schmeckte. Er summte die Lieder mit, die aus den Boxen dröhnten. Er kannte nicht einmal einen Bruchteil davon, aber für ihn klangen sie sowieso alle gleich. Er hatte sich nie mit diesem modernen Zeug anfreunden können.

Es war fast fünf Uhr, als ein Polizeiwagen —eines dieser hässlichen, halbrunden Dinger jenseits jeglichen guten Geschmacks — ihm gefährlich nah kam und fast auffuhr. Die unangenehm grellen, orangefarbenen Streifen, die das Vehikel zierten, zogen schon in dem Augenblick seine Aufmerksamkeit auf sich, als der Wagen in die Straße einbog. Scout begann, auf dem Filter herumzukauen, warf die Maske in den Fußraum und sah tatenlos dabei zu, wie ein kleiner, dicker Mann aus dem Polizeiauto stieg und mit watschelnden Schritten auf ihn zuhielt. In seiner Hand hielt er eine große Taschenlampe, mit deren Hilfe er ohne Zwischenfälle über den über die ganze Straße verteilten Unrat hinweg stieg. Scout kurbelte das Fenster herunter und schaltete erst dann das Radio aus.

Der Polizist kam neben ihm zum Stehen und stützte sich mit einem seiner kräftigen Arme in den Fensterrahmen. Er trug einen braunen Hut und über seiner dunkelblauen Uniform einen matschfarbenen Mantel, der definitiv schon bessere Tage gesehen hatte, fleckig und abgetragen, wie er war, als würde er jeden Moment in seine Einzelteile zerfallen.

»Scout«, sagte er. Seine Stimme war rau und tief, wie von jemandem, der Zeit seines Lebens zu viel geraucht und zu viel Whisky getrunken hatte. Der mächtige, dunkle Bart, den er sich stehen ließ, ließ nur wenig von seinem Gesicht übrig.

»Contigo«, antwortete Scout knapp und spuckte die Zigarette aus. Sie landete bei der zusammengeknüllten Maske zwischen seinen Füßen. Contigo nickte in Richtung des Kofferraums.

»Du solltest dein Nummernschild wieder anschrauben, sonst gibt's noch Probleme. Wäre schlecht, wenn man mich mit einem Verkehrssünder sehen würde, der am Ende keine Strafe kassiert.«

»Probleme habe ich eine Menge«, erwiderte Scout ungerührt, musste allerdings zugeben, dass er dieses Detail im Eifer des Gefechts völlig vergessen hatte. Dieser Mann würde ihm eines Tages noch den Hals retten. Manchmal glaubte er, dass Contigo vielleicht etwas zu weich für seinen Job war.

»Keine allzu großen, hoffe ich. Es gab einen unschönen Vorfall in einem Parkhaus hier in der Gegend. Jemand soll eine Frau entführt und an irgendeinen reichen Schnösel verschachert haben. Unschöne Geschichte. Der Käufer soll ein illegales Bordell in Bull's Cross betreiben, wie man munkelt.«

Contigo schaltete die Taschenlampe aus, steckte sie in eine Halterung an seinem Gürtel und lehnte sich nun auch mit dem zweiten Arm in das Fenster. Der Wagen neigte sich ein wenig und erinnerte mit einem metallischen Knirschen daran, dass er für solche Dinge nicht mehr in der nötigen Verfassung war.

»Dieses Gesocks ist überall, Contigo. Man ist nirgendwo mehr sicher heutzutage.«

Scouts Mundwinkel zuckten ein wenig, obwohl er eine emotionslose Miene beizubehalten versuchte. Es war einfach zu lächerlich, dieses kleine Spiel, das sie zu spielen pflegten.

»Ich hoffe, dieser Dreckskerl wurde erwischt.«

Er erinnerte sich nicht mehr daran, wann sie damit angefangen hatten, über die Geschehnisse zu sprechen, als seien sie nur Klatsch und Tratsch, doch es war amüsant und beruhigte ihn immer ungemein, wenn ihm eine heikle Operation noch immer in den Knochen saß. Vielleicht erging es Contigo genauso. Vielleicht war er aber einfach nur empathisch genug, um sich darauf einzulassen.

»Auf frischer Tat. Wir kamen gerade rechtzeitig, um eine Vergewaltigung zu verhindern. Der Kerl wird sicherlich für einige Zeit kein Tageslicht mehr sehen. Außerdem stehen die Chancen jetzt gut, dass wir einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus und all seine Immobilien erwirken können. So gesehen hatte diese Sache auch etwas Gutes. Unglücklicherweise floh der Händler vom Ort des Geschehens, als die Einsatzkräfte eintrafen und ist seither nicht mehr aufzufinden.«

Scout seufzte mitleidig und zupfte an den bereits ausgefransten Säumen seiner Handschuhe herum.

»Welch ein Unglück. Ich hoffe, dem Opfer geht es wenigstens trotzdem gut.«

»Sie ist ein wenig angeschlagen, aber sie wird es verkraften. Sie wird sicher gerne hören, dass es sich für dieses Arschloch nicht einmal gelohnt hat. Am Tatort wurde ein Koffer voller Geld gefunden, den er bei seiner Flucht zurückgelassen hat. Na ja, selbst wenn er das Ding eingepackt hätte, wäre er nicht glücklich damit geworden. Blüten. Allesamt.«

Scout war das Spiel leid. Schnaubend zerrte er sich die Handschuhe von den Fingern und schleuderte sie von sich. Mit einem dumpfen Schlag kollidierten sie mit der Frontscheibe.

»Ich wusste, dass dieses Schwein mich über den Tisch ziehen würde!«, fluchte er. Er hatte zwar von Anfang an nicht vorgehabt, ein derart wichtiges Beweismittel wie den Geldkoffer mitgehen zu lassen, doch dass jemand wie Vermont so lange sein Unwesen treiben konnte und darüber hinaus auch noch selbstsicher genug war, seine Geschäftspartner zu betrügen, zeigte, wie sehr sich die Situation in der Unterwelt in den letzten Jahren verschlechtert hatte.

»Na ja, wenigstens besteht jetzt die Chance, dass er aus dem Verkehr gezogen wird.«

Scout war nicht so naiv zu glauben, dass es wirklich mehr als eine Chance war. Alles, was sich wie ein Erfolg anfühlte, war lediglich eine trügerische Hoffnung, die sich selbstständig gemacht hatte und bis der der Kerl hinter Schloss und Riegel saß, würde Scout es nicht wagen, sich in diesem Gefühl zu suhlen. Er hatte seine Erwartungen von Anfang an niedrig gehalten. In seinen Augen war der beste Fall, wenn der Ruf dieses Mannes so geschädigt wurde, dass ihm die Geschäftsgrundlage entglitt. Niemand arbeitete gerne mit Betrügern zusammen und dass er spätestens seit dieser Nacht einer war, würde sich herumsprechen. Dafür würde Snow schon sorgen, wenn er sie darauf ansetzte.

»Worauf kann ich mich einstellen?«, fragte Contigo. Auch er ließ seinen aufgeblasenen, spielerischen Ton sein und wurde ernst. Scout ordnete erst sorgfältig seine Gedanken, ehe er ihm den Plan erklärte. Je besser sich Contigo darauf vorbereiten konnte, desto glatter würde alles über die Bühne gehen. Dennoch war ihm nicht wohl dabei zumute. Er vertraute Contigo zwar, doch es gab Dinge, die auch er nicht wissen sollte.

»Sie wird erst einmal keine Aussage machen, weil sie zu viel Angst hat. Du wirst also mit dem arbeiten müssen, was du bei dem Kerl findest. Ihre Daten werden falsch sein, aber mit einem Satz aus der Liste verschwundener Personen übereinstimmen. Sobald ihr sie raus lasst, wird sie ein paar Tage untertauchen und dann wieder vor dem Präsidium stehen, um ihren Teil zur Ermittlung beizutragen. Es wird die echte sein, sofern wir sie heute Nacht in die Finger bekommen. Snow wird dir später noch ihre Fingerabdrücke zukommen lassen, damit du sie austauschen kannst. Das ist alles, was du wissen musst. Halte ihr die Schnüffler einfach lange genug vom Leib, den Rest erledigen wir.«

»Gut.«

Scout sah sich nun mit Contigos bohrenden, fordernden Blick konfrontiert. Letztendlich ging es auch ihm hauptsächlich ums Geschäft. Das konnte er ihm nicht verübeln, immerhin konnte er nicht erwarten, dass Contigo allein aufgrund seines Gerechtigkeitssinns seine Karriere und sein Leben aufs Spiel setzte. Er war ein guter Kerl, doch auch ein guter Kerl musste essen und seine Rechnungen bezahlen. Und von denen — das wusste Scout aus erster Hand — hatte Contigo mehr als genug. Seufzend reckte er sich zum Handschuhfach hinüber und fischte einen schwarzen, schmuck- und charakterlosen Geldbeutel zwischen all den unnötigen Kleinigkeiten heraus, die darin verstreut lagen. Ohne nachzuzählen holte er ein paar große Scheine hervor und reichte sie dem Polizisten mit einem aufgesetzten, verschwörerischen Lächeln, das dieser mit einer erheiternden Ehrlichkeit erwiderte.

»Einen schönen Abend noch, Scout«, grinste Contigo. Auch er zählte nicht, ließ das Scheinbündel einfach in der Innentasche seines Mantels verschwinden, lupfte respektvoll seinen Hut und kehrte zu seinem Dienstwagen zurück. Er ließ den Motor aufheulen, setzte zurück und machte sich in die Eingeweide der Stadt davon, die allmählich zum Leben erwachte.

Scout schaltete das Radio wieder ein, summte und wartete. Immer wieder nahm er sein Handy zur Hand. Nichts. Keine neuen Nachrichten, keine verpassten Anrufe. Er rief das Nachrichtenfenster auf und versicherte seiner Frau, dass er bald zu Hause sein würde — rechtzeitig, um die Kinder zur Schule zu fahren. Dann legte er das Handy auf den Beifahrersitz, versetzte ihm einen liebevollen Klaps und widmete sich den Einstellungen des Funkgeräts, das unter seiner Kleidung verborgen war.

Kapitel 2

Antoinette Dumas

Zur gleichen Zeit ertönte ein lauter Knall in einem Lagerhaus am anderen Ende der Stadt.

Wenn etwas geschah, womit man nicht rechnete, neigte so mancher Mensch dazu, in seiner geschockten Ratlosigkeit einzufrieren und verwundbar zu werden, doch Penumbra und Mshauri hatten Glück. Glück, dass sie beide schnell reagierten und das Glück, dass unerwartete Situationen inzwischen nichts mehr waren, in dessen Angesicht sie wie Rotwild im Scheinwerferlicht erstarrten. Schon als Ports Hand in Richtung seiner Waffe zuckte, waren sie bereit, der Kugel auszuweichen, die er ohne weitere Verhandlungen auf sie losließ.

Penumbra hechtete hinter eine Holzkiste, Mshauri brachte sich hinter einer der stützenden Betonsäulen in Sicherheit und das Geschoss, das sich zwischen Penumbras Augen hätte bohren sollen, kollidierte stattdessen mit der Scheibe des Verwaltungsbüros, die ohne Widerstand zersprang. Ganz gleich, was dieses Glas schon alles durchgestanden hatte — solcher Gewalt konnte es nichts entgegensetzen. Begleitet wurde das Klirren der zu Boden stürzenden und durch die Halle schlitternden Scherben von einem Schrei; so spitz und von Angst erfüllt, dass er durch jedes Trommelfell hätte schneiden können, wäre er nicht von einem Knebel gedämpft worden.

Penumbra konnte sich selbst unter all dem Lärm fluchen hören und fühlte sich dabei seltsam losgelöst von seinem Körper. Sein Kopf wurde federleicht, als er realisierte, wie knapp er dem Tod entkommen war. Seine zuvor so präsente innere Anspannung, die ihn seit dem Moment begleitet hatte, da sie das Gelände betreten hatten, löste sich in einer Mischung aus Überlebensinstinkt und Erleichterung auf, verscheuchte für einen kurzen Augenblick das Ziel, auf das er sich konzentrieren sollte.

Bis Mshauris Stimme ihn wieder in seinen Schädel zurückdrängte und ihn daran erinnerte, dass es hier nicht um ihn ging.

»Penumbra!«

Er atmete tief ein, spähte um die Ecke seines Verstecks und sah Port genau dort, wo er auch schon wenige Augenblicke zuvor gestanden hatte; eine Hand im Haar der wehrlosen Frau vergraben, die sich in ihrer Panik zu Boden hatte fallen lassen und nun — vor Angst von allem Sinn und Verstand verlassen — die Hände an ihren Kabelbinderfesseln blutig scheuerte, um sich von ihnen zu befreien.

»Ich lasse mich nicht verarschen!«

Ports mächtige Stimme donnerte durch die Halle. Wahrscheinlich hielt er sich dabei für einen Gott, selbstsicher und brutal, wie er seine Geisel von sich schleuderte und im Dreck liegen ließ, während er sich langsam auf die Verstecke zubewegte. Er hielt die Waffe im Anschlag, sodass er alles würde erschießen können, was den Fehler machte, sich zu rühren. Penumbra wagte sich in genau diesem Moment zu weit aus seiner Deckung und blickte im nächsten Augenblick direkt in den Lauf des tödlichen Werkzeugs.

Er warf sich zurück, stürzte dabei fast zu Boden und versuchte die Vorstellung zu verdrängen, dass sich sein Gehirn auf dem Boden verteilt hätte, wäre er nur etwas langsamer gewesen. Stattdessen riss die Kugel ein Stück aus der Kistenkante und grub sich in einen Stapel leerer Paletten. Die Holzsplitter flogen ihm um die Ohren und er kniff schützend die Augen zusammen. Penumbra zerrte an der dünnen Kette, die um seinen Hals lag und mit einem kaum hörbaren Knacken kapitulierte. Er zog die stählerne Marke von den zerstörten Gliedern, die einen brennenden Striemen auf seiner Haut hinterließen und warf sie blind und so weit er konnte über die Kiste hinweg, konzentrierte all seine Energie auf das fliegende Stück Metall und betete, dass die Zeit reichen würde. Ein leises Rauschen wie von einer verirrten Windböe, drang durch das Donnern seines Herzens und seinen unkontrollierten Atem und er sammelte sich, gab mit aller Gewalt einen stummen Befehl, spürte, wie ihm die verklärten, schwachen Fäden, die seinen ekstatischen Geist mit der Marke verbanden, entglitten, doch er klammerte sich mit aller Kraft an sie. Plötzlich ertönte ein Knurren, das nicht von dieser Welt war, eingehüllt in einen geisterhaften Hall, der einem die Haare zu Berge stehen ließ — gerade, als sich Ports grinsendes Gesicht in sein Blickfeld schob und sich das höhnisch gehauchte »Hab ich dich« schon als Zucken auf seinen Lippen zeigte.

Der Lärm ließ Ports Kopf nur kurz zucken, seine Aufmerksamkeit nur für den Bruchteil einer Sekunde hinter sich wandern. Doch das war genug.

Mshauri schnellte hinter ihrer Säule hervor, stürzte sich auf Ports ausgestreckten Arm und entwand ihm die Pistole, bevor er reagieren konnte. Gnadenlos zog sie ihm die Waffe über den Schädel. Ihr Gegner ging augenblicklich blutend und besinnungslos zu Boden.

»Fick dich, Arschloch«, gab sie ihm noch mit auf den Weg in die Ohnmacht.

Nun wagte sich auch Penumbra aus seinem Versteck, wischte sich Holzspäne von den Schultern und sah über den reglosen Körper des Sklavenhändlers hinweg zu der Stelle, an der die Frau gelegen hatte. Ein großer Schatten kauerte vor ihr, verbarg fast vollständig ihre reglose Gestalt.

Aus dem Rücken der wolfsartigen Kreatur, die sich vor ihr manifestiert hatte, ragten mehrere Reihen scharfkantiger Kristallnadeln und aus den riesigen Pranken wuchsen fingerlange Klauen, die sich in den grauen Beton bohrten. Die Muskeln der Bestie waren noch immer bis zum Zerreißen gespannt, bereit, los zu jagen und sich auf etwaige Gegner zu stürzen oder Kugeln abzufangen. Doch ganz gleich, wie gut Penumbra seine Kreatur zu kontrollieren vermochte — sie war von Anfang an zu weit von ihm entfernt gewesen, als dass sie Port rechtzeitig hätte niederstrecken können. Ohne Mshauri hätte er sich diese Kugel garantiert eingefangen.

Nun, da die Gefahr vorüber war, begann die riesige Wolfsgestalt zu schnauben, bebte, verzog das Gesicht zu einer gequälten Fratze und imitierte damit die Regungen, denen Penumbra angesichts dieser bitteren Wahrheit am liebsten nachgegeben hätte.

Mshauri berührte vorsichtig seinen Arm.

»Du blutest.«

Penumbra sah an sich hinab. Tatsächlich. An seinem Oberarm hatte eine der Kugeln den Stoff seiner Jacke, seines Shirts und die darunter liegende Haut zerrissen. Beim Anblick seines eigenen Blutes, das nach und nach alles, was die Wunde umgab, durchtränkte, wähnte er sich kurz in einem Schlachthaus. Wesentlich schlimmer als der Schmerz, der nur schwach durch den Schleier des Adrenalins zu ihm durchdrang, war die Übelkeit, die ihn ohne Vorwarnung überwältigte. Ihm wurde schwindelig und er hielt sich an Mshauri fest, um nicht auf die Knie zu sinken.

»Halb so wild. Nur ein Streifschuss«, brachte er hervor, riss seine Augen von dem dunkelroten, klebrig-feuchten Albtraum los und musste feststellen, dass sein Wolfbeast an seinen Rändern zerfaserte, wie feine Rauchschwaden, die ins Nichts gingen. Es hatte jegliche Regungen aufgegeben und gab sich willenlos seinem Schicksal hin, zerfloss kläglich und ließ sein Medium zurück. Die kleine Stahlmarke verharrte noch für einen Moment von wenigen Fasern in der Luft gehalten und fiel schließlich klirrend der Schwerkraft anheim, als sich ihre letzten Stützen ebenfalls aus der Wirklichkeit verabschiedeten. Penumbras Körper reagierte darauf ungewöhnlich stark. Seine Muskeln rebellierten plötzlich, klebten bleischwer und fast nutzlos an seinen Knochen und nur noch Mshauris Kraft allein hielt ihn aufrecht.

Er konnte sich nicht daran erinnern, wann ihn eine unfreiwillige Destabilisierung das letzte Mal so ausgelaugt hatte. Dabei war es besonders jetzt wichtig, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. Und zwar die schluchzende, zitternde Frau, die vor ihnen kauerte. Er kratzte seine restliche Kraft zusammen, löste sich von Mshauri, taumelte auf das traumatisierte Mädchen zu und ging hinter ihm in die Hocke. Penumbra entfernte die Kabelbinder mit seinem Taschenmesser.

Auch sie blutete und er konnte nicht hinsehen, ohne dass sich sein Magen heillos zu überschlagen versuchte. Normalerweise hatte er keinerlei Schwierigkeiten, selbst bei großen Mengen Blut die Nerven zu bewahren, doch in diesem Moment erinnerte ihn jeder Tropfen viel zu deutlich daran, wie nahe er dem Tod heute gekommen war.

»Jetzt ist alles gut«, versicherte er ihr, obwohl er wusste, dass die Situation weit davon entfernt war. Die Gefühle und Erinnerungen hörten nicht einfach auf, nur weil er es sagte. Es würde viel Zeit brauchen, bis sie das alles überwunden hatte. Falls es ihr überhaupt je gelingen würde.

»Wir sind hier, um dir zu helfen«, fügte er hinzu. Zumindest das entsprach der Wahrheit, aber das schien sie kein bisschen zu beruhigen, sondern vielmehr dazu zu ermutigen, endgültig zusammenzubrechen.

Ihr Körper schüttelte sich unter heftigem Schluchzen. Sie heulte auf, wand sich, machte es ihm fast unmöglich, den Knebel zu lösen und kaum war ihre Stimme nicht mehr gedämpft, drang ihr Wehklagen durch seine Ohren bis tief in die emotionalsten Winkel seines Gehirns.

Ihr Anblick, der Klang ihrer gequälten Stimme … Es trieb ihm die Tränen in die Augen und er war dankbar dafür, dass sie ihn nicht ansah. Mshauri, die ihre Sturmhaube nach oben schob und damit ihr vertrauenerweckendes Gesicht entblößte, scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort und übernahm alles Weitere. Sie war so viel besser darin, als er, der höchstens dazu in der Lage war, die Stimmung mit makaberem Humor aufzulockern und sogar er wusste, dass diese Fähigkeit hier nicht gefragt war.

Er kam mit dieser Art von Gefühlen nicht zurecht.

Penumbra wandte sich ab, entfernte sich ein paar Schritte von den beiden Frauen und versuchte, seinen stockenden Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Er rieb sich die Augen mit dem Ärmel seiner Jacke trocken und hoffte, dass man ihm nicht ansehen würde, dass er geweint hatte. Die eisige Kälte jedoch, die ihm in Schüben gnadenlos in den Magen fuhr, blieb, wo sie war. Dagegen half kein Augenwischen, kein positiver Gedanke und auch keine Freude darüber, dass alles einigermaßen glimpflich ausgegangen war.

Nach unendlich langen Minuten, in denen Mshauri beruhigend auf die Frau eingeredet hatte, verebbte das Wehklagen allmählich und es gelang ihr, wenige Worte zwischen den Schluchzern hervor zu kitzeln. »I-ist er tot?«

»Nein, er ist nur bewusstlos, aber ich verspreche dir, dass dieser Dreckskerl dir nichts mehr antun kann. Die Polizei wird sich um ihn kümmern.«

Mshauri gab ihr einen Moment, um das Gesagte zu verarbeiten, dann fuhr sie fort: »Wie heißt du?«

Sie kannten ihren Namen bereits, doch das zuzugeben hätte sie nur wieder bedrohlich wirken lassen. Das konnten sie jetzt nicht gebrauchen. Je eher sie ihnen vertraute, desto leichter würde diese ganze Sache für sie alle werden.

»Antoinette … Dumas«, antwortete sie mit verebbendem Schluchzen und immer fester werdender Stimme. Mshauri strich ihr fürsorglich das schwarze Haar aus dem Gesicht und lächelte, wie nur sie es konnte. Es war ein Lächeln, das einem eine heile Welt versprach und einen selbst in der dunkelsten Stunde davon überzeugen konnte, dass alles gut werden würde. Sie war ein Genie.

»Hallo, Antoinette. Mein Name ist Mshauri und mein Freund hier heißt Penumbra. Hör mir zu. Wir werden dich zu einer unserer Freundinnen bringen, die sich um dich kümmern wird. Sie wird alle nötigen Schritte einleiten, um dir zu helfen, aber du musst uns versprechen, dass du ganz genau tust, was sie dir sagt, sonst können wir nicht dafür sorgen, dass der Kerl hinter Gittern landet.« Sie deutete auf Port, den sie nach allen Regeln der Kunst gefesselt hatte und der nun leise zu stöhnen begann, als er allmählich wieder zu Bewusstsein kam. »Hast du das verstanden?«

Antoinette nickte zögerlich, misstrauisch. Natürlich konnte sie ihnen nicht einfach so trauen — vor allem, wenn sie etwas so Vages und Zwielichtiges von ihr verlangten, aber wie hätten sie es ihr anders erklären können? Es ging zu weit und zu tief, um alles hier klären zu können. Oder überhaupt. Aber was hatte sie schon für eine Wahl? Sie hatte keine andere Möglichkeit, als ihnen zu vertrauen, das wussten sowohl Penumbra als auch Mshauri und Antoinette schien nun ebenfalls klar zu werden, dass sie nicht in der Position war, Widerspruch einzulegen. Und Penumbra hoffte nur, dass sie in ihnen nicht die Fortsetzung dessen sehen würde, was Port ihr angetan hatte.

»Dann sollten wir uns aus dem Staub machen. Kannst du gehen?«

Antoinette antwortete nicht und erhob sich stattdessen auf ihre wackeligen Beine, bei denen noch immer nicht angekommen zu sein schien, dass der Spuk für heute Nacht ein Ende hatte.

Penumbra zwang sich dazu, vorauszugehen, obwohl ihm nach Ruhe zumute war. Die energetische Natur des Adrenalins war abgeklungen und hatte ihn mit all den Folgen der Strapazen zurückgelassen. Erschöpfung, Anspannung und ein penetrant pochender, intensiver werdender Schmerz, der seinen Oberarm heimsuchte, ließen ihn jede überflüssige Bewegung bereuen.

Sie ließen Port liegen, wo er war und verließen das Lagerhaus. Vor dem Tor wartete ein nervöser, bis fast zum Tode erbleichter Mann, der eine rostige Eisenstange umklammert hielt und erschrocken ausholte. Als er erkannte, dass es nicht der Schütze war, der diesen Kampf gewonnen hatte, ließ er den Arm erleichtert sinken. Penumbra drückte ihm ein sorgfältig abgezähltes Bündel Geldscheine und einen kleinen Zettel in die Hand.

»Vielen Dank für Ihre Kooperation. Sobald wir weg sind, rufen Sie bitte diese Nummer an. Unser Freund wird sich um alle Unannehmlichkeiten kümmern. Sagen Sie der Polizei später einfach, der Kerl wäre hier auf der Flucht gewaltsam eingedrungen und hätte wild um sich geschossen, bevor Sie ihm die Waffe entwenden und ihn überwältigen konnten. Wie schade, dass die Überwachungskameras ausgerechnet heute eine Fehlfunktion hatten und Ihre Heldentat nicht festhalten konnten, nicht?«

Mshauri hielt dem Mann mit spitzen, behandschuhten Fingern die Waffe hin. »Hier. Hinterlassen Sie ein paar schöne Fingerabdrücke darauf, damit es glaubwürdiger wird«, sagte sie. Mit sichtlichen Hemmungen nahm der Mann die Pistole entgegen, wog sie in der Hand und steckte sie sich in den Gürtel. Hoffentlich hatte sie daran gedacht, das Ding zu sichern.

»Bis bald. Und nehmen Sie bloß kein Geld von den falschen Leuten an. Das ist ungesund. Wir sehen uns.«

Als sie außer Sichtweite des Wachmanns waren, zog sich Mshauri die Maske wieder vom Gesicht und ließ sie irgendwo im Kragen ihres schwarzen Kapuzenpullovers verschwinden. Penumbra folgte ihrem Beispiel nicht. Antoinette musste nicht mehr von ihnen sehen, als unbedingt nötig. Je mehr sie wusste, desto gefährlicher wurde es sowohl für sie selbst als auch für Mshauri und ihn. Er fragte sich, weshalb sie so wenig Bedenken dabei hatte, ihr Gesicht zu zeigen. Weil es sie vertrauenswürdiger wirken ließ? Sie kannte sich immerhin gut genug mit Menschen aus, um den positiven Effekt, den sie auf Leute wie Antoinette ausübte, zu maximieren. Er war froh darum, dass er diese Aufgabe nicht übernehmen musste. Er war eher der Mann fürs Grobe und als solcher konnte es ihm weitgehend egal sein, wie sympathisch er auf Andere wirkte. Es reichte ihm schon, wenn die Leute, die sie retteten, ihn nicht als Bedrohung ansahen. Den Rest überließ er gerne den Experten, zumal es keinen guten Eindruck gemacht hätte, wenn er vorhin beim Versuch, Antoinette zu beruhigen, heillos in Tränen ausgebrochen wäre. Das hatte er ein einziges Mal erlebt und so konnte er aus Erfahrung sagen, dass von demjenigen getröstet zu werden, dem man Sicherheit zu geben versuchte, nicht nur ausgesprochen falsch, sondern dazu noch unglaublich peinlich war.

Das Auto stand zwei Grundstücke weiter zwischen einem Schuttcontainer und einem verzogenen Bauzaun. Es war eine unauffällige Mittelstandskutsche, die er nur mit großer Mühe und jeder Menge Schrauberei wieder zum Laufen gebracht hatte. Eigentlich sträubte sich jede Faser in Penumbras Körper dagegen, sich in diese Schrottlaube zu setzen und er war ziemlich erleichtert, als Mshauri ihm diesmal anbot, zu fahren.

»Du solltest dich um deine Wunden kümmern. Nicht dass du so abgefuckt vor deine Angebetete treten musst«, kommentierte sie schnippisch und entlockte ihm ein trockenes Lachen.

Damit ersparte sie ihm auch zugeben zu müssen, dass er sich gerade nicht nur körperlich, sondern auch emotional nicht in der Lage sah, sie sicher durch die Stadt zu manövrieren. Nach solch gefährlichen Aktionen fühlte er sich immer wie auf Entzug. Beherrscht vom Bedürfnis nach dem nächsten Reiz, der seine Synapsen grillen würde, sobald sich ihm eine Chance eröffnete. Also zog er sich bereitwillig mit Antoinette und dem gut gefüllten Verbandskasten aus dem Kofferraum auf die Rückbank zurück. Er kümmerte sich erst um die blutenden Handgelenke der Dame, die bei jeder Berührung zusammenzuckte und sich in seiner Präsenz offenbar ziemlich unwohl fühlte. Es fiel ihm schwer, sich ihr so aufzudrängen, wo er doch viel zu gut wusste, was Leute wie Port und deren Komplizen ihren Opfern anzutun pflegten, doch er konnte ihre Wunden nicht einfach unbehandelt lassen. Er mied daher jeden unnötigen Körperkontakt und brachte die Behandlung so schnell und sauber wie möglich hinter sich.

Für sich selbst nahm er sich mehr Zeit. Das war auch notwendig angesichts der Tatsache, dass eine stattliche Menge Fäden und Stoff gerade dabei war, in seiner Wunde einzutrocknen. Er schälte sich die Jacke vom Körper, schob den von Schweiß und Blut klatschnassen Ärmel seines T-Shirts nach oben und sah zum ersten Mal in aller Pracht den Graben, den die Kugel in seinem Fleisch hinterlassen hatte. Nachdem der erste Schock nun abgeklungen war, hatte er keine Probleme mehr damit, sich das Desaster ganz genau anzusehen.

Der kabellose Knopf in seinem Ohr rauschte unvermittelt und eine wohlbekannte Stimme erklang, ließ ihn für einen Augenblick innehalten, um nichts Wichtiges zu verpassen.

»Alles erledigt. Ich mache Schluss für heute. Snow weiß auch schon Bescheid und begibt sich auf Position, sobald sie die letzten Anpassungen vorgenommen hat. Lebt ihr noch?«

Der Motor keuchte auf, als Mshauri losfuhr. Es klang wie das gequälte Röcheln eines todkranken, gestrandeten Buckelwals, der sich noch ein letztes Mal aufbäumte, bevor er einsah, dass alles Kämpfen nichts nützte und es ihm eine Menge Leid ersparen würde, wenn er sich dem Ende einfach ergab. Hoffentlich schaffte es der Wagen später zumindest noch bis zum Schrottplatz.

Mshauri antwortete: »Wir sind quicklebendig. Es gab aber einen kleinen Zwischenfall. Wird zwar ein bisschen mehr Arbeit, aber wir haben den Auftrag ausgeführt.«

»Zwischenfall?« Scout klang besorgt. Eigentlich klang er immer ein wenig besorgt, doch nun ganz besonders.

»Der Kerl hatte eine Waffe. Damit hätten wir rechnen müssen. Penumbra hat nen Streifschuss abbekommen, aber er wirds überstehen.«

»Hab mich nie besser gefühlt, das könnte ich glatt öfter machen«, kommentierte Penumbra und versuchte, einen möglichst fröhlichen Eindruck zu machen.

»Und Antoinette Dumas?«, fragte Scout genauso angespannt wie zuvor. Penumbra fühlte sich ehrlich gesagt etwas enttäuscht, dass sein Kommentar einfach so übergangen worden war. Dieser Kerl hatte einfach keinen Sinn für Humor.

»Sie ist in Sicherheit. Wir liefern sie jetzt nur noch ab und dann gehe ich nach Hause, um mich in den Schlaf zu weinen. Mshauri Ende.« Sie zog den Knopf aus ihrem Ohr und ließ ihn in ihrer Jackentasche verschwinden.

Penumbra widmete sich wieder seiner Verletzung.

Es gestaltete sich als äußerst schwierig, während einer holprigen Fahrt mit einer Pinzette in einer offenen Wunde herumzustochern, um Fremdkörper zu entfernen. Nicht dass es das erste Mal gewesen wäre, doch diesmal fehlten ihm schlichtweg die Nerven für eine solch aufwendige Kleinstarbeit. Er verlor die Geduld und wickelte einfach einen Verband um seinen Arm. Später war dafür immer noch Zeit. Er säuberte seine Finger notdürftig mit einem Desinfektionstuch, dann wurde ihm auch das zuwider.

Frustriert ließ er sich gegen die Rückenlehne sinken. Er war müde, hatte Schmerzen und wollte einfach nur noch nach Hause.

Plötzlich begann ein kitschiges Liebeslied zu spielen und Penumbra brauchte einige Sekunden, um festzustellen, dass das Radio ausgeschaltet war und das wehleidige, verbale Geschmachte von einem Vibrieren in seiner Hosentasche begleitet wurde.

»Geh ran, das nervt«, brummte Mshauri und Penumbra angelte mit der linken Hand umständlich in seiner rechten Tasche herum. Er brauchte drei Versuche, um das ovale Gerät mit seinen bebenden Fingern zu fassen zu kriegen und glaubte schon, dass sich die Anstrengung nicht mehr lohnen würde. Er war überrascht, als sein Versuch trotzdem von Erfolg gekrönt war. Das erste, was vom anderen Ende der Leitung bei ihm ankam, war das verzerrte Dröhnen von Musik, das auf diese Distanz furchtbar und geschmacklos klang.

»Hallo, Püppchen. Hast du Spaß?«, fragte er mit teils gespielter, teils echter Fröhlichkeit in die vertraute Geräuschkulisse hinein.

»Bist du fertig?«, kam die geflüsterte Gegenfrage. Flüstern war nicht gut, realisierte Penumbra alarmiert und beugte sich nach vorn. Er hielt eine Hand vor seinen Mund und sprach so leise weiter, dass Antoinette es unmöglich würde hören können.

»So gut wie. Warum fragst du?«

»Kannst du mich am Westeingang von Bull's Cross abholen?«

»Ist was passiert?«

Unwillkürlich packte er das Handy fester. Das Gehäuse protestierte knarrend.

»Da ist so ein komischer Typ, der mich schon die ganze Nacht durch den Club verfolgt. Ich glaube, dass er vielleicht Probleme machen könnte, also …« Den Rest des Satzes ließ er in der Leitung hängen. Durch sein Schweigen schnitten das Klirren von Bierflaschen, die in einem Kasten gegeneinander schlugen und das laute Rasseln eines Schlüsselbunds. Wahrscheinlich schleppte gerade jemand vom Personal Nachschub heran.

Penumbra wusste ganz genau, wo im Secret Passion Doll sich herum trieb. Etwas abseits und zugleich doch immer im Blickfeld des Barkeepers; direkt neben der Tür, die zum nur für Mitarbeiter zugänglichen Teil des Erdgeschosses führte. Dort, wo er immer ausharrte, wenn er sich bedroht oder anderweitig schlecht fühlte.

»Okay, bin sofort da. Glaubst du, du hältst noch eine halbe Stunde durch?« Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und plante bereits die schnellste Route durch die Stadt. Keine davon schien ihm jedoch schnell genug und er fragte sich, wie viele Gesetze der Straßenverkehrsordnung er würde brechen können, ohne in Schwierigkeiten zu geraten.

»Mir ist scheißegal, wie lange du brauchst. Komm einfach her, in Ordnung? Nicht, dass ich nicht alleine mit dem fertig werden könnte, aber … nur für den Fall.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und fahr gefälligst vorsichtig!«

Damit verpufften Penumbras halsbrecherische Pläne zu Rauch und er wollte trotzig protestieren, doch Doll hatte in weiser Voraussicht schon wieder aufgelegt. Penumbra schnalzte mit der Zunge, ließ das Handy wieder in seine Tasche gleiten, nun deutlich nervöser als zuvor. Er beugte sich näher zu Mshauri, die ihn mit ihrer skeptischen Miene ziemlich offensichtlich im Rückspiegel beobachtete.

»Ru… Ich meine Mshauri. Kannst du mich an der Ruby Mercer rauslassen und den Rest allein erledigen?«, fragte er und warf einen verstohlenen Blick zu Antoinette hinüber, deren Kopf gegen das Fenster gesunken war. Sie musste eingeschlafen sein. Kein Wunder, nach all diesem Stress.

»Probleme?« Normalerweise hätte Mshauri an dieser Stelle eine Diskussion darüber begonnen, wie unglaublich dumm und fahrlässig es von ihm war, sein Privathandy zu solchen Missionen mitzunehmen und ihm all die schrecklichen Szenarien dargelegt, die aufgrund dessen in Bewegung geraten könnten, doch diesmal überschatteten Erschöpfung und nicht zuletzt Sorge ihre sonst so präsente Vernunft.

»Nur eine Sicherheitsmaßnahme«, erklärte er knapp und flehentlich, »Bitte.«

Sie seufzte, gab Gas und der Motor machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn damit unmenschlich peinigte und seine Lebensdauer drastisch verringerte. Nur wenige Minuten später manövrierte sie um eine Kurve und kam mitten auf der Straße zum Stehen.

»Dafür schuldest du mir aber ein Bier«, sagte sie, »Raus mit dir!«

»Du bekommst sogar zwei. Und nen Shot gleich mit dazu. Danke dir.«

Er hob die Hand zum Abschied und trat auf die Straße hinaus. Dort verharrte er, bis die Rücklichter der Schrottlaube um die nächste Ecke verschwunden waren, ehe er sich die Skimaske vom Kopf zerrte und sich damit das klatschnasse Gesicht abtrocknete. Er entsorgte das Ding in der erstbesten Mülltonne, die ihm ins Auge sprang und davon gab es heute eine ganze Menge. Säuberlich waren sie am Gehsteig aneinandergereiht, bereit, in den nächsten Stunden von der städtischen Müllabfuhr geleert zu werden. Penumbra trottete noch eine Straße weiter, bog nach links ab und seufzte erleichtert, als er sie sah — seine zweitgrößte Liebe, wie seine Freunde zu spotten pflegten.

»Ich habe dich vermisst, meine Schöne«, sagte er, nahm den Schlüssel zur Hand und strich auf seinem Weg zur Fahrertür zärtlich über den tiefblauen Lack seines geliebten Wagens, dessen Anblick sein Gemüt augenblicklich besänftigte.

Kapitel 3

Die Stadt der Ratten

Antoinette wusste nicht so recht, was vor sich ging. Sie nahm alles nur wie durch einen dichten Schleier wahr, verfälscht und verzerrt und nur vage zusammenhängend. Ein tranceähnlicher Zustand, der schwer über der Wirklichkeit lag und es ihr unmöglich machte, klar zu denken, geschweige denn zu verstehen, was mit ihr passiert war. Vielleicht war das auch besser so. Ihr Verstand hing nach dieser Tortur an einem zum Zerreißen gespannten, seidenen Faden und der kleine, seiner selbst bewusste Teil von ihr, der in diesen Momenten noch existierte, wusste das.

Sie folgte den Anweisungen, die man ihr erteilte und bis zu einem gewissen Grad ließ das wenige Körpergefühl, das die Ereignisse der letzten Zeit ihr gelassen hatten, zu ihr durchdringen, was sie tat, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich morgen nicht mehr daran würde erinnern können. Wie an einen Albtraum, dessen Geist einen unerbittlich verfolgte, obwohl die Details schon längst irgendwo zwischen den Hirnwindungen verloren gegangen waren.

Der Motor des schäbigen Autos brummte hypnotisierend und stolperte von Zeit zu Zeit wie ein krankes Herz und sie musste wohl eingeschlafen sein, denn irgendwann hielten sie plötzlich an, ohne dass sie sich hätte entsinnen können, dass sie hier angekommen waren. Sie befanden sich in einem kleinen Hof, der ihr nichts bot, woran sie sich hätte orientieren können. Der Zugang war so schmal, dass es wie eine unmögliche Aufgabe erschien, ein Auto dort hindurch zu manövrieren. Als wolle man ein Pferd durch eine hohle Nadel führen. Das Haus, zu dem der Hof gehörte, wirkte nicht, als könnte man es noch sicher bewohnen. Das war die Art von Ort, an dem sich in Filmen immer Junkies herumtrieben oder Leute, die nirgendwo hinkonnten, in bitterkalten Winternächten Kinder gebaren. Ein Ort, an dem man nur sein wollte, wenn man keine Wahl hatte.

Die schwarze Frau, die den Wagen gefahren hatte — Mshauri hieß sie, wenn sie sich recht erinnerte —, stieg nun aus und öffnete ihr die Tür. Antoinettes Beine zitterten, als sie ihre nackten Füße gegen den eiskalten, von Rissen durchzogenen Beton stemmte, um sich aufzurichten. Das Kleid, das der Händler ihr angezogen hatte, reichte ihr gerade einmal bis zur Mitte ihrer Oberschenkel und so spürte sie jeden Luftzug wie eine rasiermesserscharfe Klinge an ihrer Haut vorüberziehen. Er hatte sie wie eine Puppe hergerichtet und dabei so viele furchtbare, widerliche Dinge in ihr Ohr geflüstert … Das viel zu süße Parfüm, mit dem er sie eingesprüht hatte, weil es »diese Perversen ganz kirre macht«, brannte noch immer in ihrer Nase. Ihr wurde schlecht davon. So schlecht, dass sie wieder zurück ins Auto sank.

Mshauri, die ihr die Hand entgegenstreckte, um ihr aufzuhelfen, entschuldigte sich mit einem mitleidigen Blick auf Antoinettes nackte Beine. Antoinette öffnete den Mund, wollte ihr sagen, dass sie sich für nichts entschuldigen musste, doch sie brachte keinen Ton heraus. Ihr Körper schien vergessen zu haben, wie man Gedanken in Worte verwandelte. Ihr Hals war trocken und wund und ein metallischer Geschmack hatte sich auf ihre Zunge gelegt.

Sie durchquerten den Hof, dessen umgebende Mauern einerseits als Stützen für Berge schwarzer Müllsäcke fungierten, andererseits Opfer jeglicher Rebellion geworden waren, die den Menschen in dieser Gegend noch geblieben war. Obszönes Graffiti brachte fragwürdige Farbe in die von bleichen Straßenlaternen erhellte Umgebung. Irgendwo zwischen den Müllsäcken quiekte eine Ratte.

Sie stiegen eine schmale, rostige Treppe empor, die sich an den bröckelnden grauen Putz des baufälligen Wohnblocks schmiegte und bei jedem Schritt so unerträglich aufjaulte, als würde sie jeden Augenblick in sich zusammenfallen. Das Gitter, aus dem sie bestand, grub sich schmerzhaft in Antoinettes Fußsohlen und sie verlagerte ihr Gewicht bei jeder Bewegung nur mit äußerster Vorsicht.

Sie schwankte und suchte Halt am Geländer, das unter ihrer Berührung jedoch viel zu leicht nachgab und einen Regen roter Flocken in den Hof hinab schickte. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie das Gefühl bekam, zu fallen und entsetzt von der Kante zurückwich. Statt auf das instabile Gebilde stützte sie sich nun an der Wand ab. Jeder Riss, den der Putz aufwies, schien unendlich tief ins Gemäuer einzudringen. Antoinette stellte sich vor, wie neugierige Nachbarn an den Wänden klebten, statt an den Glasscheiben, um hinaussehen zu können. In dieser Fantasie interessierte sich demnach niemand mehr für die Fenster in diesem Haus, die fast überall vernachlässigt und von einer dicken, klebrigen und schmierigen Schmutzschicht überzogen waren.

Mshauri ging vor ihr her, pfiff ein viel zu fröhliches Lied und spielte mit einem Schlüssel, dessen helles Klimpern durchdringend und unangenehm in Antoinettes Kopf widerhallte, doch sie konnte sie nicht einfach bitten, damit aufzuhören. Es wirkte nicht wie eine einfache schlechte Angewohnheit. Dafür war Mshauris Verhalten viel zu präzise, kontrolliert und nach Aufmerksamkeit heischend. Es war, als würde sie jemandem ein Signal geben. Ob dieser Jemand die Freundin war, von der sie gesprochen hatte?

Auf Höhe des zweiten Stockwerks fand ihr Weg ein jähes Ende. Selbst wenn sie gewollt hätten, hätten sie nicht weiter hinaufsteigen können, denn die Treppe führte noch zwei verbogene Stufen in Richtung des dritten Stocks und verlor sich dort in rostfleckigen Stangenresten, die wild in die Gegend ragten und bewiesen, dass der Aufstieg, der hinter ihnen lag, sogar noch gefährlicher war, als sie angenommen hatte.

Die Tür, die Mshauri aufschloss, hatte auch schon bessere Tage gesehen. Sie war genauso beschmiert und zerkratzt wie alles andere an diesem Haus und wenn Mshauris Pfeifen nicht jedem in einem Kilometer Umkreis verraten hatte, dass sie hier waren, dann tat es das ohrenbetäubende Quietschen, das die verbogenen Scharniere von sich gaben, als die Tür sich öffnete.

Sie betraten eine kleine, von einer flimmernden Glühbirne schwach beleuchtete Wohnung, die aus einem unpraktisch geschnittenen Wohnzimmer mit Einbauküche und zwei kleinen, offen stehenden Türen bestand, die in ein sumpfgrün gekacheltes Bad und ein winziges Schlafzimmer führten. Die Einrichtung war schlicht und weitgehend sauber, doch das Fenster war genauso undurchsichtig wie die anderen in diesem Gebäude. Allerdings nicht vor Dreck, sondern aufgrund einer Milchglasfolie, die den Blick nach draußen vernebelte.

Auf einem hässlichen braunen Stoffsofa unter dem Fenster saß eine Gestalt in einem dunkelroten Kleid und rauchte eine Zigarre, deren schwerer, blauer Qualm sich wie Nebel über die Einrichtung gelegt hatte.

»Da wären wir«, verkündete Mshauri. Sie schloss die Tür hinter sich. Das Schloss rastete ein und auf einmal war Antoinette gar nicht mehr wohl zumute. Hier drin war es viel zu eng und dunkel und sie hatte keine Möglichkeit zu fliehen, falls es zum Schlimmsten kam. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und krümmte sich zusammen. Ihr Magen rebellierte und wäre sie nicht so ausgehungert gewesen, hätte sie sich mit ziemlicher Sicherheit auf den ausgetretenen Teppich übergeben.

»Du hast dir aber ganz schön Zeit gelassen«, sagte die fremde Frau mit einer rauchigen, uneindeutigen Stimme und ihre Zigarre fand ihr Ende in einem überfüllten Aschenbecher auf dem niedrigen, zerkratzten Holztisch. Der Rauch legte sich und zurück blieb der Gestank kalter Asche, der Antoinette die Kehle zuschnürte.

»Und du arbeitest viel zu schnell. Tut mir leid, ich musste Penumbra noch an der Mercer absetzen. Er hatte es plötzlich ziemlich eilig. Wenn meine Arbeit hier erledigt ist, würde ich mich jetzt auch aus dem Staub machen und mir wenigstens noch zwei Stunden Schlaf gönnen.«

»Tu dir keinen Zwang an. Ich übernehme dann ab hier«, antwortete die Fremde freundlich.

Antoinette zuckte bei diesem Wortwechsel zurück. Schon wieder? Sie sollte schon wieder mit jemandem allein sein, den sie nicht kannte? Hilflos sah sie zu Mshauri hinüber, die ihr beruhigend zulächelte, ihre Hand nahm und leicht drückte. »Keine Sorge. Snow wird dir alle weiteren Schritte erklären. Du kannst ihr vertrauen.«

Vertrauen. Das sagte sich so leicht. Der letzte Mensch, dem sie vertraut hatte, hatte sie betäubt und entführt. Aber was konnte sie schon tun? Fliehen? Wohin? Sie wusste nicht, wo sie war, geschweige denn, wie sie von hier wegkommen sollte. Sie hatte weder Geld noch Papiere oder irgendeine Möglichkeit, jemanden zu kontaktieren, der nicht zwielichtig und unheimlich war. Mshauri schien zu bemerken, dass ihre Argumente wenig überzeugend waren und so gab sie nach, setzte sich neben Snow auf das Sofa und nahm sich der halben Zigarre im Aschenbecher an. Das Feuerzeug, das auf dem Tisch lag, hustete nur ein paar erbärmliche Funken und landete dann mit einem Scheppern in einem metallenen Eimer neben der Küchenzeile. Mshauri zog ein rautenförmiges Metallplättchen aus ihrer Hosentasche und beschwor daraus ein zierliches Flämmchen. Sie entzündete die Spitze der Zigarre und nahm einen tiefen Zug.

»Also gut. Ich bleibe noch einen Moment«, sagte sie, »Bitte setz dich.« Sie deutete auf einen zum Sofa passenden Sessel, der mit der Lehne zu Antoinette stand. Zögerlich kam sie der Aufforderung nach, ließ sich in die ausgesessenen Polster sinken und wartete unruhig auf das, was sie von ihr verlangen mochten. Ihr Herz flatterte und das Atmen fiel ihr noch schwerer als zuvor.

Snow beugte sich nach vorn, stützte ihre Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in ihre Hände. Ihr leichtes Make-up war verschmiert und ihre schulterlangen roten Locken waren ein wenig zerzaust. Der zu ihrem Kleid passende Nagellack war makellos und präzise aufgetragen. Ihre Knöchel waren hingegen nicht ganz so makellos. Sie wirkten dunkler und rauer als der Rest ihrer Haut und Antoinette war sich sicher, dass sie dort einige Narben erkennen konnte.

»Du bist also Antoinette Dumas.«

Antoinette zuckte zurück, krallte die Finger in ihre Oberschenkel, um nicht in heillose Panik zu verfallen. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, brachte sie mühsam hervor und kauerte sich noch weiter zusammen.

»Es ist meine Aufgabe, solche Dinge zu wissen. Meinetwegen bist du hier und meinetwegen wirst du den Rest deines Lebens nicht als jemandes Spielzeug verbringen. Aber um zu gewährleisten, dass das so bleibt, müssen wir dafür sorgen, dass beide Parteien dieser Transaktion unschädlich gemacht werden.«

Antoinette ballte die Hände zu Fäusten. Natürlich hatte sie gewusst, welches Schicksal ihr in den Händen eines Menschenhändlers blühte, doch es von jemand Anderem zu hören machte diese schreckliche Vorstellung erst wirklich real.

»Warum musste das ausgerechnet mir passieren?«, murmelte sie. Sie hatte diesen Gedanken nicht aussprechen wollen. Er kam ihr einfach so über die Lippen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Das Lächeln verschwand von Snows Gesicht, wurde von einem mitleidigen Ausdruck ersetzt, unter dem etwas brodelte, das sie als bodenlosen Zorn erkannte. Einen Zorn, für den sie sich selbst zu schwach fühlte und der sich der Angst und Resignation, die wie ein Sturm in ihr tobten, widerstandslos beugte.

Und trotz des Feuers in ihren Augen klang Snows Stimme weiterhin absolut ruhig und gefasst. Antoinette sehnte sich etwas von dieser Ruhe für sich selbst herbei, andererseits war es etwas unheimlich, dass ein Mensch mit derlei Gefühlen so gut fertig zu werden vermochte. Diese Augen hatten schon viel gesehen, realisierte sie. Viel mehr, als sie sich vorstellen konnte.

»Blasse Haut, schwarze Haare, blaue Augen, zierlich, jung, weiblich. Diese Kombination ist zur Zeit ausgesprochen beliebt. Ein paar Leute — Leute wie Port und seine Komplizen — entführen Menschen, die in gewissen Kreisen … gefragt sind aus anderen Ländern, weit entfernten Städten oder ländlichen Regionen und verkaufen sie hier für viel Geld an illegale Bordelle, Privatpersonen, Fabriken und noch so einiges mehr. Danach sieht man sie normalerweise nie wieder. Du hattest also Glück. Wenn man das überhaupt Glück nennen kann.«

Snow unterschied sich in ihrer ungeschönten, rationalen Darlegung der Geschehnisse so sehr von Mshauri, deren Worte und sanfte Stimme sich wie ein Wall zwischen ihr und der grausamen Wirklichkeit aufgebaut hatten, dass es ihr für einen Augenblick vollkommen unmöglich schien, dass diese beiden Frauen so friedlich nebeneinandersitzen konnten.

»Ich will einfach nur nach Hause …«, flüsterte Antoinette. Sie wollte nicht hören, was alles mit ihr hätte passieren können. Nicht nach dem, was bereits geschehen war. Es war doch schon genug, ein einziger kurzer Satz hätte ihr als Antwort gereicht. Sie bebte unkontrolliert, als die Worte in ihrem Inneren nachklangen und immer lauter wurden.

Snow zog eine große schwarze Handtasche hinter ihrem Rücken hervor und kramte darin herum. Mshauri ergriff währenddessen das Wort:

»Wir brauchen leider noch deine Hilfe. Scout — einer unserer Freunde — hat den Käufer, der dich um ein Haar in die Finger bekommen hätte, dingfest gemacht, aber jetzt geht es erst richtig los. Es ist eine Sache, einen Handel zu manipulieren, eine andere die Beteiligten ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Du musst für ein paar Tage hier bleiben und dich bedeckt halten. Dann musst du zur Polizei gehen und eine Aussage machen.«

»Hier«, sagte Snow. Sie brachte zwei Bögen Papier aus dem Inneren ihrer Handtasche zum Vorschein und streckte sie Antoinette über den Tisch entgegen. Sie nahm sie an sich und sah sich einem langen Text gegenüber. Es war so viel und so klein gedruckt, dass die Buchstaben im Halbdunkel vor ihren Augen zu tanzen begannen. Zwischen einigen Zeilen und am unteren Ende der zweiten Seite befanden sich ein paar ergänzte Notizen, die in der ordentlichsten Handschrift verfasst worden waren, die sie je gesehen hatte.

»Während du hier bist, solltest du dir das hier ganz genau ansehen. Das sind die Details des Transaktionsverlaufs, wie wir ihn konstruiert haben. Du musst nur schildern, was hier geschrieben steht und um den Rest kümmern wir uns. Sobald das vorbei ist, kannst du unbesorgt wieder nach Hause. Unser Kontakt bei der Polizei kann dann auch dafür sorgen, dass du und deine Familie in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden, falls du das möchtest.«

Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, quollen über ihre Wimpern hinaus und benetzten ihre Wangen. Das war die einzige Wärme, die sie am ganzen Leib spürte. Sie schluchzte nicht, wimmerte nicht, weinte einfach nur vor sich hin, überwältigt von allem. Sie war erstarrt, konnte sich nicht rühren und nicht verhindern, dass das von ihrem Kinn tropfende Salzwasser das Papier befleckte.