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Samantha ist an der Warren University eine Außenseiterin. Eigentlich ist sie von den anderen Mitgliedern ihrer Schreibgruppe – einer Clique unerträglich reicher Mädchen, die sich alle nur Bunny nennen – regelrecht abgestoßen. Doch dann erhält sie eine Einladung zu einer Party der Bunnys, und Samantha fühlt sich auf seltsame Weise zur Haustür, über die Schwelle in den Kaninchenbau gezogen. Als Samantha immer tiefer in die unheimliche und doch zuckersüße Welt des Bunny-Kults eintaucht, beginnen die Grenzen der Realität zu verschwimmen, und bald schwebt sie in tödlicher Gefahr … Ein düster-komischer, verführerisch-skurriler Roman. Ein Mix aus Satire und märchenhaftem Horror von einer der originellsten neuen Stimmen in der Belletristik der USA. Margaret Atwood: »O Bunny, du bist sooo genial!« Los Angeles Times: »Awad hat sich als eine der innovativsten und originellsten Autorinnen erwiesen, die es gibt, und BUNNY ist ein wilder, kühner und auch unvergesslicher Roman.« The Washington Post: »Köstlich böse ... Awad ist ein eiskaltes Genie.« Elle: »Wie einer dieser Rasierapparate, die für Frauen vermarktet werden: Sie wissen schon, rosa, aber immer noch scharf und gefährlich.« The Irish Times: »Seltsam, gruselig und bösartig unterhaltsam.« Booklist: »Scharfsinnig und völlig durchgeknallt.«
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem Amerikanischen von Elena Helfrecht
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Bunny
erschien 2019 im Verlag Viking.
Copyright © 2019 by Mona Awad
Translation rights arranged by The Clegg Agency, Inc., USA.
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Kim Isaac
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-074-8
www.Festa-Verlag.de
Für Jess
TEIL I
1
Wir nennen sie die Bunnys, weil sie einander selbst so nennen. Allen Ernstes. Bunny.
Hier ein Beispiel:
Hi, Bunny!
Hi, Bunny!
Was hast du gestern Abend getrieben, Bunny?
Na, mit dir abgehangen, Bunny. Weißt du nicht mehr?
Stimmt genau, Bunny, mit mir abgehangen. Die beste Zeit meines Lebens.
Hab dich lieb, Bunny.
Ich hab dich lieb, Bunny.
Und dann umarmen sie einander so fest, dass es aussieht, als würden ihre Brustkörbe gleich implodieren. Insgeheim hoffte ich sogar darauf, wann immer ich am anderen Ende des Hörsaals / des Institutsfoyers / der Aula saß / stand / lehnte und Zeuge wurde, wie sich vier erwachsene Frauen – meine akademischen Mitstreiterinnen – zur Begrüßung girrend gegenseitig zerquetschten; oder zum Abschied; oder einfach nur, weil du so toll bist, Bunny. Wie sie sich leidenschaftlich in der rosig-bleichen Haut der jeweils anderen festkrallten und zu einem engen, überhitzten Zirkel verschmolzen, der vor brustberstender Liebe und Verständnis dermaßen überquoll, dass es mir schier den Atem raubte.
Wie sie die Stupsnäschen und Pfirsichflaumbäckchen aneinander rieben, die Schläfen so dicht an dicht, dass ich an die Schamlippenreibung vögelnder Bonoboweibchen oder die telepathische Kommunikation jener bildhübschen, mordlustigen Kinder aus Horrorfilmen denken musste. Dabei schlossen sie die acht Augen immer so fest, als würde diese Gruppenstrangulation eine Art religiöse Glückseligkeit auslösen. Und aus allen vier schimmernden Mündern drangen die Quietschlaute einer monströsen Liebe, von denen mir das ganze Gesicht brannte.
Hab dich lieb, Bunny.
Das gesamte letzte Jahr betete ich im Stillen dafür, dass die nächste Umarmung endlich in der ersehnten Implosion gipfelt, dass sie einander so fest in die Arme schließen, bis die Fleischmasse wie gehaltloser Zuckerguss aus den Ärmeln, Ausschnitten und Rocksäumen ihrer A-Linien-Kleider quillt. Dass sich ihre Game of Thrones-Frisuren ineinander verheddern und sie von den übertriebenen Zöpfen, die sie einander pausenlos an die herzförmigen Köpfchen flechten, erdrosselt werden. Dass sie an ihrem faden Grasparfüm ersticken.
Aber das passierte nie. Kein einziges Mal.
Aus jeder dieser Umarmungen lösten sie sich völlig unverletzt, trotz des bösen, vor Gift triefenden Blicks, den ich ihnen jedes Mal wie ein Comicbösewicht zuwarf. Sie lächelten einander nur weiter an, hielten Händchen, und ihre Haut leuchtete vor Liebe und Zugehörigkeitsgefühl, als hätten sie sich gerade im klarsten aller Gebirgsbäche erfrischt.
Hab dich lieb, Bunny.
Völlig immun gegen die Verachtung ihrer Kommilitonin. Gegen meine: die von Samantha Heather Mackey. Die kein Bunny ist. Und die nie eines sein wird.
In der hintersten Ecke des grünen Rasens unter dem Zelthimmel, wo ich an einer weißen, mit wallendem Tüll geschmückten dorischen Säule lehne, schenke ich Ava und mir noch einen Schluck Gratissekt nach. September. Warren University. Die alljährliche Welcome-Back-Soiree des Instituts für Erzählende Künste – weil diese Uni zu sehr Ivy League und New England ist, um eine Party beim Namen zu nennen. Man beachte die mit Tigerlilien verzierten Tafelaufsätze; die von Lichterketten erleuchteten weißen Gazebahnen, die wie Gespenster überall durch den Raum schweben; die Zinntabletts voller Lachsröllchen und Entenleber-Crostini, verziert mit winzigen Zuckerorchideen; die weißen Gäste, die ganz in Schwarz gekleidet über Stipendien diskutieren, die ihnen für die Übersetzung irgendwelcher französischer Dichter gewährt wurden, die sowieso kein Schwein liest; das prunkvolle Zelt, unter dem sich die Übergebildeten tummeln, die in jeder Kunst außer der der Konversation bewandert sind, in selig lächelnder Unwissenheit darüber, dass sie sich eigentlich gerade im Schlund der Hölle befinden – oder, wie Ava und ich es zu nennen pflegen, in der Höhle Cthulhus. Cthulhu ist ein riesiges Tentakelmonster aus der Feder eines Horrorschriftstellers, der dem Wahnsinn verfallen und hier in der Gegend gestorben ist. Und das passt, denn wenn man durch die Straßen jenseits der Warren-Bubble streift, spürt man, dass mit dieser Stadt etwas nicht stimmt. Irgendetwas am Licht, an den Häusern und Bäumen hier ist nicht ganz geheuer. Wenn man das laut ausspricht, sehen einen die meisten Leute nur fragend an. Aber nicht Ava. Ava sagt nur: Meine Fresse, ja. Die ganze Stadt, die Häuser, die Bäume, das Licht … alles abgefuckt.
Hier stehe ich also und schwanke, bis zum Hals abgefüllt mit lauwarmem Sekt, Tierlebern und was auch immer mir Ava da an Hochprozentigem aus ihrem Drink Me-Flachmann in den Plastikbecher kippt. »Was ist da noch mal drin?«, frage ich.
»Trink einfach.«
Durch die Gläser meiner geliehenen Sonnenbrille beobachte ich, wie sich die Damen, die ich wohl oder übel als meine Kommilitoninnen bezeichnen muss, zum ersten Mal wiedersehen, nachdem sie den Sommer an schrecklich strapaziösen Orten wie abgelegenen Tropeninseln, Südfrankreich oder den Hamptons verbracht haben; wie sich ihre zierlichen Körper in einer Art Verzückung inbrünstig aufeinander stürzen; wie sie die Fingernägel in biologischen Warnfarben tief in den Armen ihres Gegenübers vergraben, mit der ganzen Wucht der, wie ich mir immer wieder einrede, vorgetäuschten, ganz sicher vorgetäuschten Zuneigung. Und aus den schimmernden Lippenspalten dringt der gemeinschaftliche Kosename.
»Scheiße, meinen die das ernst?«, flüstert mir Ava ins Ohr. Sie hat die Bunnys noch nie zuvor aus der Nähe beobachtet. Und sie hatte mir kein Wort geglaubt, als ich ihr letztes Jahr zum ersten Mal von ihnen erzählt hatte. Nie im Leben führen sich erwachsene Frauen so auf, hatte sie gesagt. Das denkst du dir bloß aus, Smackie. Im Verlauf des Sommers glaubte ich das sogar langsam selbst. In gewisser Weise ist der Anblick gerade eine Erleichterung, und sei es auch nur als Bestätigung meiner geistigen Gesundheit.
»Jap«, antworte ich. »Viel zu ernst.«
Ich beobachte, wie sie die Frauen aus ihren Bowie-Augen hinter dem Netzschleier gleichermaßen entsetzt und gelangweilt mustert. Ihre Lippen bilden eine unbeeindruckte, rote Linie.
»Können wir jetzt endlich abhauen?«
»Noch nicht«, sage ich, ohne den Blick abzuwenden. Inzwischen haben sie sich endlich voneinander gelöst, ohne auch nur die kleinste Knitterfalte in ihren niedlichen Kleidchen zu hinterlassen. Die glänzenden Frisuren sitzen nach wie vor perfekt. Und ihre rosige Haut strotzt nur so vor teuren Krankenversicherungen, als sie alle gleichzeitig in die Hocke gehen, um den hüpfenden Shih Tzu eines Profs lautstark zu liebkosen.
»Aber warum?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich mich kurz blicken lassen muss.«
Ava wirft mir einen vielsagenden Blick zu und rutscht beschwipst an der Säule hinunter. Bisher habe ich niemanden begrüßt: weder die Dichter, die ihren eigenen, griesgrämigen Höllenkreis bilden, noch die angehenden Belletristiker, die verlegen vor einem Turm aus Shrimps vor sich hin kichern. Noch nicht einmal Benjamin, den netten Verwaltungsangestellten, an den ich mich bei derlei Veranstaltungen normalerweise halte und dem ich sonst dabei helfe, schwabbelige Innereien auf trockene Brotstückchen zu klecksen; auch nicht Fosco, die Seminarleiterin aus dem letzten Sommersemester, geschweige denn irgendein anderes Mitglied des hochverehrten Lehrkörpers.
Und wie war dein Sommer, Sarah? Und wie kommst du mit der Hausarbeit voran, Sasha? Höfliche, gleichgültige Fragen. Jedes Mal nennen sie mich beim falschen Namen. Ganz egal wie meine Antwort ausfällt – sei es ein aufrichtiges Geständnis meines unmittelbar bevorstehenden Scheiterns oder eine schamlose Lüge, die mir die Röte ins Gesicht treibt –, sie reagieren immer mit dem gleichen wissenden Nicken, dem gleichen weltverdrossenen Lächeln und irgendwelchen Floskeln darüber, wie schwer fassbar der Schaffensprozess, wie mühevoll das Resultat doch sei.
Hab Vertrauen, Sasha. Nur Geduld, Sarah. Manchmal muss man die Dinge einfach ruhen lassen, Serena. Manchmal, Stephanie, muss man den Stier eben bei den Hörnern packen.
Darauf folgen oft Schilderungen eigener ähnlicher Schreibblockaden oder Durchbrüche, die sie während einer inzwischen eingestellten Autorenresidenz fernab in Griechenland, der Bretagne oder Estland durchlitten haben. Dabei nicke ich nur und vergrabe die Fingernägel in den Oberarmen.
Und selbstverständlich habe ich nicht mit dem Löwen gesprochen. Obwohl er natürlich hier ist, irgendwo. Vor einer Weile sah ich ihn noch aus den Augenwinkeln – die Mähne wilder, die Tattoos dichter denn je –, als er sich an der Gratisbar ein Glas Rotwein einschenkte. Er blickte zwar nicht auf, aber ich spürte genau, dass er mich ebenfalls bemerkt hatte. Und dann bemerkte ich, wie er wiederum bemerkte, dass ich seinen Blick bemerkt hatte, während er weiter sein Glas befüllte. Seitdem habe ich ihn zwar nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber seine Anwesenheit deutlich im Nacken gespürt. Gleich als wir ankamen, hatte Ava im Gefühl, dass er ganz in der Nähe sein musste, denn schau mal, der Himmel hat sich plötzlich verdunkelt.
Das Einzige, was man bei mir heute Abend als Socializing bezeichnen könnte, ist das subtile Lächeln in Richtung Psycho-Jonah, wie er von den Bunnys genannt wird, der unter den Dichtern mein soziales Pendant ist. Die ganze Zeit lungert er nur einsam um die Bowle herum und lächelt glückselig über seine eigenen, von Antidepressiva befeuerten Fieberträume.
Seufzend zündet sich Ava mit einem der unzähligen Teelichter, die auf unserem Tisch versprenkelt stehen, eine Zigarette an. Sie blickt wieder in Richtung Bunnys, die sich jetzt mit ihren zierlichen Händchen gegenseitig über die Arme streicheln. »Du fehlst mir, Bunny«, höre ich sie mit gekünstelten Kleinmädchenstimmen quengeln, obwohl sie verdammt noch mal direkt nebeneinander stehen, und schmecke den Hass in ihren Herzen wie Eisen auf der Zunge.
»Du fehlst mir, Bunny. Dieser Sommer war unerträglich ohne dich. Ich hab kaum ein Wort zu Papier gebracht, so wahnsinnig traurig war ich. Wir dürfen uns nie wieder trennen, okay?«
Auf diese Bemerkung wirft Ava den fedrigen Kopf in den Nacken und lacht laut auf. Sie macht sich gar nicht erst die Mühe, die behandschuhten Finger vor den Mund zu halten. Ein köstliches, heiseres Lachen erfüllt die Luft, als würde endlich die fehlende Musik des Abends einsetzen.
»Psssst«, zische ich ihr zu. Aber es ist schon zu spät.
Das Gelächter veranlasst diejenige, die ich die Herzogin nenne, mit ihren langen Silberlocken, wie die einer Fee oder Hexe, zu uns herumzuwirbeln. Sie sieht uns direkt an, zuerst Ava, dann mich, dann wieder Ava. Vielleicht ist sie überrascht, dass ich heute zur Abwechslung mal nicht allein bin, dass mich eine Freundin begleitet. Ava erwidert ihren Blick mit weit aufgerissenen Augen, wie ich sonst nur in Tagträumen vor mich hin starre. Sie wirkt Respekt einflößend, irgendwie europäisch. Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, raucht sie weiter und nippt von meinem Sekt. Sie erzählte mir einmal von einem Wettstarren mit einer Zigeunerin in der Pariser U-Bahn. Die Frau starrte Ava geradewegs an, also starrte sie zurück. Während der gesamten Strecke quer durch die Stadt der Lichter richteten die beiden ihre Blicke wie Pistolen aufeinander, starrten sich von den gegenüberliegenden Seiten des ratternden Zugs aus einfach nur an. Selbst als sich Ava die Ohrringe abnahm, ließ sie die Frau nicht aus den Augen. Und warum? Na weil sie zu diesem Zeitpunkt natürlich davon ausging, dass das ein Kampf auf Leben und Tod war. Aber als der Zug schließlich an der Endstation einfuhr, stand die Frau einfach auf und machte Ava vor den Schiebetüren sogar Platz, damit sie zuerst aussteigen konnte.
Und was lernen wir daraus, Smackie?
Zieh keine voreiligen Schlüsse?
Falsch. Schau nie zuerst weg.
Indem sich die Herzogin zu uns umdreht, löst sie bei den anderen Bunnys einen Dominoeffekt aus. Zuerst schaut Cupcake zu uns, dann Creepy Doll mit den Tigeraugen, gefolgt von Vignette, deren Kiffermund in dem hübschen, viktorianischen Leichengesicht weit offen steht. Sie mustern Ava und mich abwechselnd von Kopf bis Fuß. Ihre Augen kommen mir vor wie winzige Münder, die ein seltsames Getränk verkosten. Dabei zucken sie mit den Näschen, aber keines der acht Augen blinzelt; sie starren uns nur unverwandt an. Und dann drehen sie sich wieder zur Herzogin und stecken die Köpfe zusammen. Aus ihren vor Lipgloss triefenden Lippen dringt ein Tuscheln.
Ava drückt fest meinen Arm.
Die Herzogin dreht sich wieder zu uns, zieht eine Braue hoch und hebt die Hand. Richtet sie etwa eine unsichtbare Pistole auf uns? Nein – nur die leere Handfläche. Sie winkt mir zu. Mit so etwas wie einem Lächeln. Und ihre Lippen formen ein Hi.
Noch bevor ich mich zurückhalten kann, schießt meine Hand nach oben. Ich winke, höre gar nicht mehr auf zu winken. Hi, versuche ich zu erwidern, bekomme aber keinen Mucks heraus.
Darauf winkt auch der Rest der Bunnys.
Alle winken wir einander von den weit entfernten Ufern der Grünfläche unter dem Zelthimmel aus zu.
Alle außer Ava. Sie raucht nur unbeeindruckt weiter und starrt die Bunnys an, als wären sie ein vierköpfiges Ungeheuer. Als ich endlich die Hand herunternehme, drehe ich mich zu ihr. Sie sieht mich an, als wäre ich schlimmer als eine Fremde.
2
Am nächsten Tag entdecke ich ihre Einladung in Form eines kunstvoll gefalteten Origamischwans in meinem Unipostfach. Eine von ihnen muss sie zwischen die experimentellen Lyrikzeitschriften und die Flyer für institutsinterne Lesungen, einen rumänischen Dokumentarfilm und ein Einfrauenstück über die Stadt als Körper und den Körper als Stadt gesteckt haben. Ich bin vor Vorlesungsbeginn hergekommen, um nachzusehen, ob mein monatlicher Stipendienscheck schon eingetrudelt ist. Kein Scheck. Also kippe ich die restliche Post in die Papiertonne und begutachte den Schwan, auf den eine von ihnen mit magentafarbener Tinte ein vereinfachtes Gesicht gezeichnet hat. Zwei verlaufene Tintenkleckse bilden die Augen, eines auf jeder Seite des messerscharfen Schnabels, der mich dank Grübchen und dunklem Lippenstift anzulächeln scheint. Und auf einem Flügel steht: Öffne mich
Samantha Heather Mackey,
DU bist herzlich eingeladen zum …
SCHUNDSALON
Wann? Zur Blauen Stunde
Wo? Du weißt schon, wo
Mitbringen? Dich, bitte
Ich betrachte die schnörkelige, schillernde Handschrift und die Herzchen, mit denen eine von ihnen (Cupcake, vielleicht auch Creepy Doll?) meinen Namen umrandet hat, und breche in Schweiß aus, obwohl es eiskalt im Gang ist. Eine Verwechslung. Das muss es sein. Nie im Leben würden sie mich zum Schundsalon einladen. Das ist ihre eigene, ganz private Bunnyveranstaltung, so was wie Touching Tuesdays oder Bachelorette-Binge-Abende oder Tage, an denen man sich trifft, um Waldtierchen aus Marzipan zu basteln: etwas, worüber sie das ganze letzte Jahr tuschelten, wann immer wir auf das nächste Seminar warteten.
O Gott, der Schundsalon gestern Abend war SO krass.
Gestern Abend beim Schundsalon hab ich VIEL zu viel getrunken.
Ich finde, beim nächsten Schundsalon sollten wir …
Und dann legen sie einander die Hände ans Ohr und flüstern den Rest.
Ich überfliege die Einladung erneut. Sie kann unmöglich für mich bestimmt sein. Und doch steht darauf mein Name, mit allem Drum und Dran. Samanta Heather Mackay, umringt von aufgequollenen Herzchen. Beim Anblick meines Namens inmitten der Schnörkel spüre ich ein seltsames, beschämendes Gefühl in mir aufsteigen. Ich erinnere mich daran, wie sie mir gestern Abend zugewinkt haben, zuerst die Herzogin, dann die anderen Bunnys. Wie enthusiastisch ich zurückgewinkt habe.
Dieses Semester sitzen wir wieder nur zu fünft im Seminar, das morgen zum ersten Mal stattfindet und vor dem ich mich schon den ganzen Sommer fürchte. Nur sie und ich in einem Zimmer ohne Fluchtmöglichkeit, geschlagene zwei Stunden und 20 Minuten lang. Jede Woche, 13-mal. Ich gehe davon aus, dass es so ähnlich wie letztes Jahr ablaufen würde: ich an der einen Seite des Tischquadrats und sie an der anderen, in einer riesigen, wirren Umarmung, in der sie, wenn ich die Augen zusammenkneife, zu einem einzigen vierköpfigen Körper verschmelzen. Die Herzogin würde wieder aus ihrer mit Diamant gravierten Glasscheibe vorlesen, während ihr die anderen Bunnys mit geschlossenen Augen wie bei einer Arie lauschen. Händchen haltend würden sie ihre Geschichten gegenseitig in den Himmel loben.
Kann das nicht 5000 Seiten länger sein? Darf ich ganz offen sagen, dass ich wirklich gern zwischen deinen Zeilen geschwelgt habe und am liebsten für immer dort verweilen würde? Und dann würden sie einander bei der wöchentlichen Lektürebesprechung abwesend streicheln. Irgendwann brächen sie dann wieder in plötzliches Gelächter über einen Insiderwitz aus, bei dem ich nie mitlachen kann, weil ich kein Insider bin – und den sie nicht erklären, weil sie zu sehr mit Lachen beschäftigt sind. Tut uns leid, Samantha, kichern sie zwischendurch vielleicht atemlos, da warst du nicht dabei.Nein, würde ich zustimmen, war ich wohl nicht. Diese Lachkrämpfe konnten manchmal minutenlang andauern. Oft schüttelten sie sich, bis sie Tränen in den Augen hatten, und hielten sich dabei an den Schultern und Handgelenken der jeweils anderen fest, während ich ihnen gegenübersaß und sie beziehungsweise den Leerraum zwischen ihren Köpfen anstarrte. Dabei beobachtete uns Fosco schweigend. Ich kam immer später zum Seminar. Irgendwann tauchte ich gar nicht mehr auf. Ich stellte mir vor, wie Fosco fragte: Wo bleibt denn Samantha? Und wie sie mit ihren weichen Stoffschultern zuckten. Keine Ahnung. Ein ratloses Lächeln.
Aber vielleicht versuchen sie ja dieses Jahr wirklich, mich mehr miteinzubeziehen? Vielleicht ist die Einladung tatsächlich nett gemeint? Oder sie verarschen mich. Natürlich verarschen sie mich. Ich stelle mir die zierlichen Finger vor, die den Papierschwan auf einem ausladenden Eichenholzschreibtisch falten, von dem aus man dichtes Blattwerk überblickt, sowie die kleinen, weißen Zähne auf der Unterlippe, die sich das Grinsen verkneifen.
»Miststücke«, fluche ich im Gang leise vor mich hin.
»Hey, Sam.«
Ich fahre zusammen. Jonah. Er steht direkt neben mir und blättert durch sein Postfach. Sein Lächeln erinnert mich wieder an Vergiss mein nicht.
»Jonah, hast du mir einen Schrecken eingejagt.«
»Tut mir leid, Sam.« Er sieht tatsächlich leidend aus. »Hey, mit wem hast du gerade gesprochen?«
»Mit niemandem. Nur mit mir selbst. Manchmal führe ich Selbstgespräche.«
»Ich auch.« Er grinst. »Die ganze Zeit eigentlich.« Topfschnitt, ein offener Parka, den er nie auszieht, und darunter ein T-Shirt, auf dem ein Kätzchen im All Keyboard spielt. Jonah ist ein Junkie auf dem Weg der Besserung, der so mit Medikamenten zugedröhnt ist, dass seine Stimme klingt, als würde sie sich den Weg zum Mund erst durch dichten Schlamm bahnen müssen. Er ist der mit Abstand begabteste Dichter im gesamten Studiengang. Außerdem der netteste – und der großzügigste, was Zigaretten anbelangt. Mir ist nicht ganz klar, warum er von seinen Dichterkollegen so geschmäht wird; abgesehen von ein paar gemischten Seminaren tendieren Lyriker und Belletristiker nämlich dazu, sowohl in akademischer als auch in sozialer Hinsicht unter sich zu bleiben. Aber ich habe beobachtet, wie Jonah hinter seinen Kommilitonen hertrottet, wie er in Seminaren in der Ecke sitzt und lächelnd ins Leere starrt, während sie ihn in den Kritikrunden verbal auseinandernehmen. Selbstverständlich weiß ich genau, wie sich das anfühlt. Anders als mir scheint das Jonah allerdings nichts auszumachen. Er wirkt mehr oder weniger zufrieden damit, sich auf seiner Wolke aus Poesie treiben zu lassen und unantastbar zu bleiben.
»Was machst du, Sam?«
»Ach, ich halte nur nach meinem Stipendienscheck Ausschau.«
»Oh, ich auch.« Er wirkt euphorisch. »Den brauch ich echt dringend. Ich hab so viele Bücher und Platten gekauft, dass ich mich für den Rest des Monats von Pasta ernähren muss. Passiert dir das auch manchmal?«
»Jap.« Stimmt nicht. Könnte ich mir gar nicht leisten. Ich versteife mich ein wenig.
»Schaust du dir das an?« Er hält den Flyer für das Theaterstück hoch.
»Nein«, schnauze ich und bereue es sofort. Also füge ich hinzu: »Ich mag Theaterstücke nicht besonders, Jonah.«
»Ach so. Na, die meisten mag ich auch nicht. Übrigens, ich hab dich gestern Abend auf der Party gesehen. Hab in der Gasse mit ’ner Zigarette auf dich gewartet, aber du bist nie aufgetaucht.«
»Bin früher abgehauen.«
»Ach so.« Er nickt verträumt, wissend. Im Grunde habe ich Jonah bei gemeinsamen Raucherpausen in den Gassen, Ecken und Hinterveranden der verschiedenen Institutspartys und -veranstaltungen kennengelernt, denen ich mich möglichst entziehen wollte. Wann immer ich mich in einem verzweifelten Fluchtversuch aus der Hintertür schleiche, steht er in der Regel zitternd im Dunkeln vor dem Müllcontainer und raucht.
Hey, Samantha.
So habe ich herausgefunden, dass er, genau wie ich, der Einzige in seinem Jahrgang ist, der aus keinem renommierten Bachelorstudiengang kommt. Auch er bewarb sich auf einen Platz im, wie uns immer wieder eingetrichtert wurde, exklusivsten, selektivsten, am schwersten zugänglichen Masterstudiengang des Landes, ohne ernsthaft mit einer Zusage zu rechnen.
Ist es nicht völlig abgefahren, hier zu sein?, fragte er mich einmal auf der hinteren Veranda bei einer der ersten Partys.
Ja, lallte ich, ohne den Blick von den Bunnys abzuwenden, die mit fest geschlossenen Augen inmitten einer ihrer gemeinschaftlichen Würgeschlangenumarmungen steckten, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt hatten.
Kommt mir wie ein Traum vor, fuhr Jonah fort. Ich frag mich die ganze Zeit, wann ich aufwache. Vielleicht sollte ich jemanden bitten, mich zu schlagen?
Du meinst, dich zu kneifen?
Kneifen würde da nicht ausreichen. Und falls doch, wäre ich sicher wieder im Keller meines Dads in Fairbanks. Wo würdest du aufwachen, wenn ich dich schlagen würde, Samantha?
Hinter einer Registrierkasse irgendwo in Intermountain West, wo ich die Backsteinmauer meines Lebens anstarre, dachte ich. Und abends würde ich mich irgendwo anders hinschreiben.
Mordor, antwortete ich Jonah.
Dann schlagen wir uns wohl lieber nicht, erwiderte er grinsend.
»Also, wie läuft’s mit dem Schreiben, Sam? Hast du die Sommerpause gut genutzt?« Er grinst. Eine Anspielung auf Halstrom, den Leiter unseres gemischten Seminars im letzten Sommersemester, der uns ständig ermahnte, den Sommer nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Denn dieses Jahr, das Abschlussjahr, in dem wir bis April ein komplettes Manuskript abliefern müssen, werde ja ach so schnell vorbei sein, schneller, als wir glauben. Buchstäblich innerhalb eines Wimpernschlags werde all das – er gestikulierte mit seinen perfekt manikürten Händen durch die abgestandene Luft des Seminarraums zu den Dekosäulen, dem kalten Kamin, den höhlenähnlichen Wänden – verschwunden sein. Die Bunnys zitterten und umarmten einander mit ihren Blicken. Und die Dichter bereiteten sich mental auf das Leben in Armut vor, das ihnen als Übergebildeten unmittelbar bevorstand.
»Ich hab den Sommer ziemlich verschwendet«, fährt Jonah fort. »Also das heißt, ich hab zwei Notizbücher mit Gedichten vollgeschrieben, aber die sind so schrecklich, dass ich noch mal von vorne anfangen muss. Ich wette, du hast den Sommer wie verrückt geschrieben.«
Ich denke an die Sommerferien zurück, an die Tage, die ich damit verbrachte, den Staubpartikeln am Infoschalter der Musikbibliothek von Warren zuzusehen, und an die Nächte auf Avas Dach, wo wir uns ins Delirium tranken und Tango tanzten. Manchmal starrte ich nur das leere Blatt vor mir oder den Bleistift in der Hand an. Manchmal kritzelte ich Augen aufs Papier. Oder Worte: Was mach ich hier? Was mach ich hier? Wieder und wieder. Aber meistens blickte ich einfach nur die Wand an. Das Blatt und die Wand verschmolzen für mich während des Sommers zu einer Fläche.
»Also, wie verrückt würde ich nicht sagen …«
»Ich erinnere mich noch an den Text, den du letztes Jahr zum Seminar mitgebracht hast. Du weißt schon, der eine, den alle schrecklich fanden?«
»Ja, Jonah, ich erinnere mich.« An die entsetzten Gesichter, die gesenkten Blicke.
»Der geht mir immer noch durch den Kopf. So was vergisst man schwer. Er war so …«
»Gemein?«, schlage ich vor. »Gewollt pervers? Über die Maßen düster? Weiß ich. Ich glaube, da waren sich alle einig.«
»Nein! Also ja, der Text war gemein, pervers und düster und hat mich tatsächlich wochenlang in Angst und Schrecken versetzt. Aber das gefällt mir ja so daran. Ich find’s großartig, wie gemein, pervers und düster er ist.« Er strahlt mich an. »Wer hätte gedacht, dass ein Besuch im Aquarium so entsetzlich und gefährlich sein kann?«
»Tja.«
»Wenn man genauer darüber nachdenkt, stimmt das sogar.«
»Danke, Jonah. Mir hat dein Text, den alle schrecklich fanden, auch gefallen.«
»Wirklich? Ich wollte ihn eigentlich verwerfen, aber …«
»Bloß nicht. Das ist genau das, was sie wollen.« Das sage ich mit mehr Nachdruck und Bitterkeit als beabsichtigt.
Jonah sieht verwirrt aus. »Was?«
»Ach, nichts. Ich sollte langsam los. Bin spät dran zur nächsten Vorlesung.« Bin ich nicht. Gerade findet keine Vorlesung statt. Aber wahrscheinlich wartet Ava draußen auf der Bank und durchbohrt die Bachelorstudenten zwischenzeitlich mit ihrem Todesblick.
Beweg deinen Arsch, Smackie.
»Ach so. Gibst du mir irgendwann mehr von dir zu lesen, Sam? Ich mag deine Sachen. Also, so richtig. Ehrlich gesagt hab ich nach dem letzten Text sogar richtig drauf gelauert.«
»Ähm … Klar, warum nicht.«
»Cool. Vielleicht können wir ja irgendwann mal abhängen und …«
Als ich hinter Jonah im Gang das Ping des Aufzugs höre, wird mir flau im Magen. Weil ich, noch bevor die Türen aufgehen, genau weiß, wer dahinter steht. Ich weiß es, noch bevor ich seine hochgewachsene, schlanke Silhouette pfeifend herauskommen sehe. Die Mähne ein gepflegtes, kalkuliertes Chaos, auf seinen Armen wachsame Tattookrähen: der Löwe. Er kommt direkt auf uns zu. Wie gewohnt trägt er das T-Shirt irgendeiner obskuren Noise-Band – einer der Bands, über die wir damals, als noch keine Funkstille herrschte, sprachen. Hinter ihm her weht eine Duftwolke aus grünem Tee, den er für uns in seinem Büro gebrüht und feierlich umgerührt hatte, bevor er ihn in schlammfarbene, henkellose Becher füllte.
Wie geht’s mit dem Schreiben voran, Samantha?, fragte er oft in seinem schottischen Singsang.
Ich bemerke, wie sich sein löwenhaftes Gesicht beim Anblick der Studentinnen, mit denen er gleich Nettigkeiten austauschen muss, kaum merklich verzieht; die er fragen muss, wie die Sommerferien waren, wie sie mit dem Schreiben vorankommen, ob sie schon ihre Stipendienschecks haben. Dazu kommt noch die Tatsache, dass eine der Studentinnen ich bin, was alles viel komplizierter macht. Aber er lächelt. Natürlich tut er das. Schließlich ist das sein Job.
»Hallo, Jonah. Samantha.« Bei meinem Namen wird seine Stimme merklich tiefer, aber er versucht, lässig und ruhig zu klingen. Seine Mähne schwingt beim Nicken mit.
Ich beobachte, wie er sich an seinem Postfach zu schaffen macht, das vor Briefen und Büchern aus allen Nähten platzt. Er summt, lässt sich Zeit.
»Samantha, alles okay?«, fragt Jonah.
Ich sollte einfach zu ihm rübergehen, wie ich es mir schon so oft ausgemalt habe, ihm auf die Schulter tippen und fragen: Können wir uns kurz unterhalten?
Vielleicht wäre er überrascht. Überrumpelt.
Unterhalten?, würde er bestimmt erwidern und sich verstohlen nach einem Fluchtweg umschauen. Als würde ich ihn um etwas höchst Verdächtiges, Verbotenes bitten.
Ich fürchte, ich kann grade nicht, Samantha. Aber vielleicht könntest du ja während meiner Sprechzeiten vorbeikommen?
Vielleicht würde er sich auch dumm stellen, mich kühl, neutral, ohne jede Regung ansehen – Natürlich, Samantha. Was gibt’s? – und mir stumm kommunizieren: Sprich weiter, nur zu, unterhalten wir uns.
»Samantha?«
Und dann? Dann könnte ich direkt zum Punkt kommen: Ich verstehe zwar nicht, was da zwischen uns passiert ist, aber können wir endlich mit diesem Eiertanz aufhören? Allerdings fürchte ich mich davor, dass er mich einfach nur ansehen würde, als hätte ich den Verstand verloren. Eiertanz? Was passiert ist? Zwischen uns? Samantha, tut mir leid, aber ich fürchte, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Und dabei würde er nicht so aussehen, als fürchtete er sich vor irgendwas.
Jetzt, da er langsam sein Postfach durchblättert und summend vor sich hin lächelt, versteift sich mein Körper vor … vor ich weiß nicht was, aber ich muss dringend abhauen.
»Samantha, warte …«, ruft mir Jonah hinterher.
»Ich komme zu spät zur Vorlesung!«
Der Löwe blickt von seiner Post auf. Vermutlich weiß er genau, dass ich nicht wirklich zu spät komme, dass gerade überhaupt keine Vorlesung stattfindet, dass ich wie ein kleiner Angsthase vor ihm weglaufe. Worauf macht ein Löwe noch mal Jagd?
»Oh, okay. Viel Spaß bei der Vorlesung, Samantha.« Jonahs pausenloses Winken erinnert mich an meine eigene hocherhobene Hand von gestern Abend.
3
Bevor ich mich auf den Weg zu Ava mache, stecke ich mir die Einladung in die Hosentasche. Sie sagte, sie werde vor dem Institutsgebäude der Erzählenden Künste auf mich warten.
Weil ich da ganz bestimmt nicht reingehe, Smackie. Tut mir leid. Du weißt, warum. Worauf ich ernst nickte. Ja. Obwohl ich den Grund in Wahrheit gar nicht kenne – bis auf die Tatsache, dass sie militante Warren-Gegnerin ist und findet, dass die Uni voller privilegierter Arschlöcher ist. Und dass sie meine Seele, meine Kreativität abtötet. Das weiß sie aus eigener Erfahrung, denn sie war an der Kunstuni nebenan immatrikuliert, die fast genauso berühmt und elitär wie Warren ist und fast ihre Seele abgetötet hätte. Aber das ließ sie nicht zu. Vorher brach sie nämlich ihr Studium ab. Scheiß drauf. Scheiß auf die. Und jetzt arbeitet sie im Keller des Naturkundelabors am Fuß des Hügels und sortiert dort tote Käfer. Jeder einzelne tote Käfer bekommt nämlich seine eigene, gläserne Schublade zugewiesen. Irgendwie ist das rührend – und ihrem seelischen sowie kreativen Wohlbefinden tausendmal zuträglicher, als sich mit all den Pseudoarmen und Modegestörten, aka der Studentenschaft, herumzuschlagen.
Das Einzige, was Ava an Warren gut findet, sind die Müllcontainer hinter den Bachelorwohnheimen, die sie gern plündert, und die Campustouren für die angehenden Studenten, die sie oft aufmischt. Ab und zu betrinken wir uns sogar auf einer Bank in der Nähe der berüchtigten Statue des fliegenden Hasen und warten, bis eine Schar Möchtegern-Studis mit ihren Eltern vorbeikommt. Jedes Mal sehen sich die Mütter auf dem Campus um, als wären sie wahnsinnig interessierte Käuferinnen, und reiben ihren rehkitzartigen Sprösslingen mit klunkerbesetzten Händen den Rücken, als wollten sie sagen: Schau mal, das könnte alles dir gehören. Und die angehenden Studenten beäugen gierig oder mit einer Selbstverständlichkeit, als würde alles schon längst ihnen gehören, den Rasen des Campus, der mit ihrer Haut um die Wette strahlt. Vielleicht stellen sie sich dabei die üppig ausgestatteten Wohnheime oder die Uniorgien vor, von denen sie gehört haben und von denen Ava behauptet, sie würden nur von den langweiligsten und unerregendsten aller Nackedeis frequentiert werden. Was sie aber mit Sicherheit nicht auf dem Schirm haben, ist das tatsächliche Risiko, auf dem nächtlichen Heimweg aus einer Studentenbar enthauptet zu werden. Oder von den umherstreifenden Gangs, die sich nachts auf dem Campus und in der Umgebung herumtreiben, mit dem Brecheisen verprügelt zu werden. Denn die Brutalität, die dem zerbrechlichen Herzen eines so armen Ortes innewohnt, wird im Skript der Warren-Campustour – meistens angeführt von einem BA-Trottel in Designer-Sportkleidung, der ziemlich geübt darin ist, im Rückwärtsgang heimelige Halbwahrheiten über die Anbringung von Statuen und Kronleuchtern herauszuplärren – nicht wirklich erwähnt. Daher auch Avas lauter Einwurf.
Die Warren University wurde 1775 gegründet. Und hier drüben …
Bla, Bla, BLA, vollendet Ava auf der Bank neben mir oft den Satz. Dabei verschweigt er euch aber, dass es hier auf dem Campus Leute gibt, die euch den Kopf abhacken, ruft sie den bestürzt dreinblickenden Müttern zu. Ganz genau. Mit einer Axt! Genau so. Und dann steht sie auf, geht auf sie zu, holt mit einer unsichtbaren Axt aus und bringt ein paar oder sogar alle zum Schreien.
Obwohl ich selbst entsetzt bin, muss ich jedes Mal lachen, bis mir die Tränen kommen.
Mittlerweile ist diese Bank zu unserem inoffiziellen Treffpunkt geworden. Und genau da sollte sie jetzt eigentlich sitzen, die flanierenden Studenten beobachten und wie gewohnt die, wie sie es nennt, monströse Wahrheit in ihrem Skizzenbuch festhalten.
Beim Anblick der leeren Bank werde ich panisch. In meinem Herzen steigt die Erinnerung an all die einsamen Tage des letzten Jahrs hoch und meine Sicht verschwimmt. Aber dann packt mich jemand am rechten Arm und ein vertrauter Geruch umwogt mich. Zwei Hände in Netz halten mir die Augen zu.
»Buh!«, flüstert sie mir ins Ohr.
Obwohl ich genau weiß, wer das ist, schnappe ich mit gespielter Überraschung nach Luft.
Ein heiseres Lachen. Sie klatscht in die Hände. »Meine Güte, du bist echt ein leichtes Opfer.«
»Ich weiß. Wo warst du?«
»Da haben zwei Idioten mit einer so geheuchelten Ernsthaftigkeit über Virginia Woolf diskutiert, dass ich flüchten musste. Und was in aller Welt hat dich so lange aufgehalten? Du warst ja fast fünf Jahre weg.«
Ich erinnere mich an die Einladung in meiner Hosentasche, an den Schwan, dessen Schnabel mir gerade in die Hüfte pikst. »Hab noch mit Jonah gequatscht.«
»Der verträumte Dichterkerl, der dich ficken will?«
»Will er gar nicht.«
»Es ist geradezu lächerlich, wie sehr er das will.«
»Er hat mich düster, pervers und gemein genannt.«
»Niedlich. Er ist also in dich verknallt.«
»Können wir über was anderes reden?«
Sie sieht mich vielsagend an. »Da ist noch was anderes passiert. Raus damit.«
»Ach, nichts. Ich hatte nur … einen Zusammenstoß. Fast. Mit … Na, du weißt schon.«
Ava nickt. Natürlich weiß sie Bescheid. »Habt ihr euch endlich ausgesprochen?«
»Ich konnte ihn nicht … du weißt schon … konfrontieren. Nach, ach, nach alledem …«
Ihr durchdringender Blick lässt mich verstummen. Ich weiß nicht, ob sie enttäuscht von mir oder wütend auf ihn ist.
»Du solltest ernsthaft in Erwägung ziehen, sein Büro in Brand zu stecken«, sagt sie schließlich lächelnd. »Für einen kurzen Moment hatte ich schon befürchtet, die Bonobos hätten dich entführt.«
»Bunnys«, korrigiere ich sie und spüre, wie ich rot anlaufe. Ich denke an die Smileys auf der Einladung, an die handgezeichneten Herzen.
»Egal. Jedenfalls hab ich mir Sorgen gemacht.«
Der Anblick der stattlichen Bäume lässt sie erschaudern, als wären das eigentlich keine Bäume, sondern etwas wahrhaft Widerwärtiges, als würde das rosa-goldene Licht, das den Campus auf ewig zu durchfluten scheint, jeden Moment wie die geballte Faust der Reichen in ihrem Gesicht landen. Sie betrachtet alles voller Abscheu: die hohen, altehrwürdigen Bauten; die in verzierten Spitzen auslaufenden Tore; die endlose grüne Rasenfläche, duftend und perfekt getrimmt, auf der sich quietschfidel die Eichhörnchen und Kaninchen tummeln; die Studenten, die hier und da vorbeispazieren, während sie sich über Derrida und ihre letzte Nasen-OP unterhalten und sich das Haar vom goldenen, makellosen Septemberlicht umspielen lassen, als hätten sie die Sonne eigens dafür bezahlt, sie aus genau diesem Winkel anzustrahlen. Gegen so viel Schönheit bin ich keineswegs immun. Das gesamte letzte Jahr habe ich auf dem Campus tonnenweise Fotos geschossen – klick, klick, klick – mit meinem gesprungenen, uralten Smartphone, zu allen Jahres- und Tageszeiten, in allen erdenklichen Lichtsituationen. Weder habe ich die Fotos jemandem gezeigt noch schaue ich sie mir heute noch an: eine mit Plakaten tapezierte Bank zwischen zwei Trauerweiden, ein 200 Jahre alter Glockenturm und ein Kamin, der groß genug ist, um darin aufrecht zu stehen, so wie der aus Citizen Kane. Es gibt ein Selfie von mir im Kamin. Und eines von Ava und mir davor, Schläfe an Schläfe, mit ernsten Gesichtern, ganz in unserem Stil. Ihren Arm, gehüllt in löchrige Spitze, hat sie darauf um meine Schultern gelegt. Und dann gibt es noch ein Foto, auf dem Ava allein vor den Flammen steht wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen.
Sie legt mir die Hand auf die Wange und lächelt mich müde an. »Können wir jetzt bitte endlich abhauen? Du weißt, dass ich nur deinetwegen hier bin.«
Die Einladung der Bunnys erwähne ich Ava gegenüber den ganzen Tag nicht. Stattdessen feiern wir meinen, wie sie es immer wieder nennt, letzten Tag in Freiheit mit einem Besuch im Monster-Diner, wo sie zeichnet und ich schreibe. Vermeintlich zumindest. Eigentlich sitze ich nur mit aufgeschlagenem Notizbuch da und sehe ihr beim Zeichnen zu. Anschließend gehen wir in den Zoo, um dem Schwarzbären in seiner Grube Hallo zu sagen. Und dann gönnen wir uns vietnamesischen Eiskaffee in dem zwielichtigen Laden in der Innenstadt, den wir beide so mögen und wo ich einmal fast erschossen wurde.
»Du wärst nicht fast erschossen worden, Smackie. Herrgott noch mal. Das war ein Auto, das zurücksetzen wollte oder so«, erwidert sie auf meine Erwähnung hin.
»Doch.«
»Du musst nur öfter deine Bude verlassen.«
»Tu ich doch. Schließlich bin ich ja gerade mit dir unterwegs, oder?«
Dann sitzen wir wieder bei ihr zu Hause und trinken die selbst gemachte Sangria, die so stark ist, dass ich mir ziemlich sicher bin, Ava vergiftet uns. Sie nennt diese Zeit am Abend die Stunde zwischen Hund und Wolf – eine Zeit, zu der dieser armselige Landstrich New Englands unter dem flamingofarben auflodernden Abendhimmel tatsächlich schön aussieht. Wir sitzen auf ihrem durchhängenden Dach und hören argentinischen Tango, um die ohrenbetäubend lauten mexikanischen Klänge von nebenan zu übertönen. Wie schon den ganzen Sommer üben wir dabei das Tanzen und mimen abwechselnd Diego. Diego ist ein imaginärer Mann mit Panthertatzen, der in unseren Träumen eines Tages in unser Leben tritt und unsere riesigen Füße vom Boden hebt, um uns mitzunehmen. Er sieht so verrucht, gefährlich und betörend wie Rudolph Valentino aus, allerdings mit Paul Newmans vertrauenswürdiger Augenpartie, dem wahnsinnigen Grinsen und der Körpergröße von Lux Interior und mit der Ernsthaftigkeit von Jacques Brel, die einfach nur zum Dahinschmelzen ist. Diego trägt weiße Anzüge oder schwarze Hawaiihemden mit orangefarbenem Flammenmuster. An diesem Morgen backt er für uns Brot. Er holt frische Blumen und verteilt sie in Gläsern überall in der Wohnung. Er schreibt keine Gedichte – die liest er nur zur Unterhaltung. Er besitzt eine kleine Zweitwohnung in Paris und eine Villa in Buenos Aires. Aber was am wichtigsten ist: Er tanzt traumhaft Tango. Gerade bin ich Avas Diego, was bedeutet, dass ich führe und sie dabei die Augen schließt.
Die Einladung der Bunnys tickt in meiner Hosentasche wie eine kleine Zeitbombe vor sich hin.
›Kommst du heute Abend? ‹, hat mich eine von ihnen heute Nachmittag via Textnachricht gefragt.
»Ich kann mir doch nicht vorstellen, du wärst Diego, wenn du wie ein Nerd aus den Ingenieurwissenschaften tanzt. Mit der Anmut eines Panthers, weißt du noch?«
»Tut mir leid.«
»Du wirkst abgelenkt.«
Ich sollte einfach schreiben ›Sorry, bin krank‹ und die Sache beenden. Ich sollte nicht hingehen. Weil ihre bloße Anwesenheit, der Klang ihrer kindischen Stimmen auf der anderen Seite des Seminarraums schon ausreicht, um mir Zahnschmerzen zu bereiten. Und doch ist die Sonne untergegangen, ohne dass ich abgesagt habe. Wahrscheinlich wollen sie sowieso nicht wirklich, dass ich dort aufkreuze. Wahrscheinlich wollten sie nur nett sein. Nett? Nein. Nett ist nicht ganz das richtige Wort. Nur um sagen zu können: Tja, immerhin haben wir’s versucht. Sie ist diejenige, die uns versetzt hat.
Siehst du, Bunny? Ich hab dir ja gesagt, sie kommt nicht. Sie will es so. Haargenau so.
Aber warum?, würde Creepy Doll mit den Katzenöhrchen fragen, die sie ihr letztes Halloween aufgesetzt haben und die sie seitdem nicht abgenommen hat.
Ich hab’s dir ja gesagt, würde Cupcake antworten und sie streicheln, weil sie ein Freak ist.
Du bist so witzig, Bunny. Ich hab dich lieb.
Ich hab dich lieb, Bunny.
»Also gut«, sagt Ava, »lassen wir’s gut sein.«
»Hey, warum?«
»Weil du heute Abend offensichtlich keine Lust hast.«
»Doch, hab ich«, lüge ich. »Hab ich wirklich.«
»Was ist mit dir los?«
Es ist jetzt 18:30 Uhr. Ich muss mich entscheiden. Ich sollte nicht hingehen. Ich werde einfach nicht hingehen.
»Ich bin heute Abend vielleicht noch verabredet«, sage ich.
Sie hebt eine Braue. Verständlicherweise. An keinem der Tage seit unserem ersten Treffen im letzten Frühling hatte ich etwas anderes vorgehabt.
»Ist bloß eine Univeranstaltung.«
»Waren wir da nicht erst letztens?«
»Das war was anderes.«
Sie sieht mich an. »Du hast von mir aber nicht die Schnauze voll, oder?«
»Nein, niemals!«, antworte ich energisch, weil das die Wahrheit ist.
»Kannst du mir ruhig sagen. Ich werd nicht gleich losheulen oder so.«
Ich ziehe die Einladung aus der Hosentasche und reiche sie ihr.
Sie betrachtet sie, ohne sie anzufassen.
»Die ist wahrscheinlich von Caroline. Du weißt schon, Cupcake«, erkläre ich, als mir auffällt, dass ich ihr gegenüber nie ihre echten Namen erwähnt habe.
Sie blinzelt mich verständnislos an.
»Die Blonde mit dem perfekt geföhnten Bob, den Perlen und dem blauen Orchideenarmband. Du hast mal gesagt, sie sieht aus wie ein Twinkie oder wie eins von den Kindern des Zorns beim Abschlussball.«
»Die sehen für mich alle wie Twinkies aus, Smackie: eklig-süß und matschig-weich, genau wie auf der Verpackung. Ich wette, das ist Dufttinte.« Sie reißt mir die Einladung aus der Hand, reibt mit dem Finger über das herzlich und hält es sich unter die Nase. »Seit wann hast du das Ding eigentlich?«
»War heute Morgen in meinem Unipostfach.«
»Deswegen hast du dich also den ganzen Tag so merkwürdig verhalten.«
»Ich weiß einfach nicht, wie ich darauf reagieren soll. Und ich hab das Gefühl, wenn ich nichts tue, dann …«
»Hier«, sagt sie, zückt ihr Zippo und hält es unter die Ecke der schillernden Einladung.
»Warte, was machst du da?«
»Du denkst doch nicht allen Ernstes darüber nach, auf diese Deppenparty zu gehen, oder?«
»Nein.«
»Also.« Wieder hält sie das Feuerzeug unter die Einladung, diesmal noch näher, und sieht mir in die Augen. Das Papier knistert.
»Warte, warte, warte!«
»Was?«
»Es ist nur … Na, das Seminar findet morgen zum ersten Mal statt.«
»Und?«
»Und dieses Semester werde ich wieder allein mit ihnen im Seminar sitzen. Nur wir fünf.«
»Und?«
»Ich überlege, wie ich absagen kann, ohne unhöflich zu sein. Also, natürlich werde ich absagen. Es ist nur … Das sind die Frauen aus meinem Studiengang, verstehst du … meine … Kommilitoninnen.«
»Die du sonst als einzige Fotzkapade bezeichnest.«
»Ich muss einfach nur die richtigen Worte finden. Damit sie nicht denken, ich würde sie hassen.«
Sie starrt mich verständnislos an. »Aber Smackie, du hasst sie.«
Ich erwidere ihren Blick hinter meinem Pony, den ich auf ihre Ermutigung hin über meine Augen habe wachsen lassen. Damit siehst du punkig aus. Ich betrachte ihre verschiedenfarbigen Augen, ihr wasserstoffgebleichtes, fedriges Haar, das exakte Gegenteil der Bunnyfrisuren – asymmetrisch geschnitten und an manchen Stellen ausrasiert –, und den Netzschleier, den sie wie eine Schwelle trägt, über die sich nur die Mutigsten trauen. Und dabei wird mir klar: Sie würde nie im Leben Katzenhandschuhe oder Kleider mit Bubikragen tragen. Sie würde nie schickes Kleid sagen, wenn sie in Wahrheit findet, dass es scheiße aussieht. Sie würde nie Wie geht’s dir? fragen, wenn es ihr egal ist. Sie würde nie Lavendel-Cupcakes essen, die nach Parfüm schmecken, oder Parfüm tragen, das nach Cupcake riecht. Sie würde nie aus ästhetischen Gründen Lippenbalsam auflegen – allerhöchstens wenn ihre Lippen richtig aufgesprungen wären. Und selbst dann würde sie eher zu Lady Danger greifen, dem leuchtend blau-roten Lippenstift, der so surreal schön an ihr aussieht, der mich aber, als ich ihn einmal ausprobiert hatte, wie eine Wahnsinnige hatte wirken lassen. Ihr Parfüm riecht nach Rauch und Regen, ihr Augen-Make-up verschreckt kleine Kinder, und sie trägt Pumps, obwohl sie mich um mindestens fünf Zentimeter überragt – und dabei gelte schon ich als Freak. Und warum? Weil das Leben kürzer ist als wir, sagt sie, warum also ein unnötiges Geheimnis daraus machen?
»Ich hasse sie wirklich«, sage ich gedämpft. »Also sollte ich einfach absagen. Aber … was meinst du dazu?«
Mit der Abendhitze steigt ein schwacher Müllgestank auf. Ich blicke sie eine Weile an, aber sie zeigt keine Regung. Sie steckt sich eine Zigarette an. Ich betrachte meine schwarzen, langweiligen Jeansbeine.
Nach einer unerträglichen Ewigkeit, in der eine kräftige Böe durch die Platane rauscht, die mir kurzzeitig den Atem raubt und mich daran erinnert, dass das Meer ganz in der Nähe ist, auch wenn ich es nie mit eigenen Augen gesehen habe – ganz anders als die Bunnys, von denen eine einen Mercedes-Geländewagen besitzt, in dem sie an den Wochenenden dorthin fahren, um einander in Badeanzügen à la Esther Williams zu fotografieren und lachend Arm in Arm durch die weißen Schaumkronen zu waten –, sagt Ava: »Wenn du möchtest, solltest du hingehen.«
»Was? Aber ich möchte gar nicht.«
»Genauso wenig möchtest du aber unhöflich sein, oder? Das sind schließlich die Frauen aus deinem Studiengang.«
Sie fixiert mich, bis ich den Kopf senken muss.
»Hey, du hast keine Ahnung, wie es ist, mit denen im Seminar zu sitzen. Vielleicht geben sie sich dieses Jahr wirklich Mühe. Du weißt schon, um nett zu sein oder so.«
Sie schnaubt.
»Ich mein’s ernst. Und wenn ich sie vor den Kopf stoße, dann werden sie vielleicht …«
»Was? Sag mir, was sie schlimmstenfalls tun könnten.«
Ich denke an das letzte Jahr, als sie auf jeden Text, den ich eingereicht hatte, herabschauten, als wäre er ein Baby, das ihnen gerade den Mittelfinger ins Gesicht reckt, und einander dann lange, vielsagende Blicke zuwarfen.
Das klingt sehr … wütend.
Ja, geradezu aggressiv, finde ich.
Genau. Vielleicht ein bisschen zu verliebt ins eigene Außenseitertum? In den eigenen Nonkonformismus? Aber das ist natürlich nur meine Meinung. (Darauf ein subtiles, rücksichtsvolles Lächeln.) Trotzdem. Ich wünschte wirklich, der Text wäre zugänglicher.
»Ich werde nur eine Stunde bleiben. Maximal! Nur um mich kurz blicken zu lassen.«
»Wie du meinst.«
»Ich schick dir Bilder von der Wohnung, damit du siehst, wie schrecklich kitschig alles ist.«
Sie nickt. »Alles klar.«
»Du könntest mitkommen, wenn du Lust hast«, biete ich halbherzig an.
»Mach dir keinen Kopf, Smackie. Selbst für alles Geld der Welt würde ich nicht zu dieser kleinen Soiree aufkreuzen. Apropos, du solltest nicht trödeln. Hops lieber gleich los.«
»Ich bin bald zurück. Vielleicht sogar noch heute Abend. Ich schreib dir.«
Sie schweigt nur und blickt missbilligend auf das Buch, das sie in der Zwischenzeit aufgeschlagen hat, als hätte es ihr die Zunge herausgestreckt.
»Hey«, glaube ich auf der Dachleiter nach unten zu hören, aber als ich aufblicke, ist sie nach wie vor in ihr Buch vertieft. Der Wind setzt wieder ein und blättert die Seiten um, weht sie mal in die eine, dann in die andere Richtung, aber sie liest einfach weiter, als hätte sie ihre Stelle nicht aus den Augen verloren.
4
Wie lange stehe ich eigentlich schon hier draußen vor der Tür und betrachte die tulpenähnliche Blume, die sie neben die Messingklingel und den geschwungenen Schriftzug – ihren echten Nachnamen – gemalt hat? Lange genug jedenfalls, um mitzubekommen, wie sich der Himmel verdunkelt, wie die Straße süßlicher riecht, wie die Schatten wachsen und Zähne ausbilden. Aus einem der oberen Fenster dringt gesittetes Frauengelächter. Ich verlagere mein Gewicht vom rechten Fuß auf den linken und drehe mich um. Noch ist es nicht zu spät, umzukehren und der Waschbärenfamilie vor Avas Wohnung wie jeden Abend dabei zuzusehen, wie sie durch das Regenrohr rutscht; den Kleinen anzufeuern, der immer ein bisschen ängstlich ist. Na los, Kleiner!, rufen Ava und ich oft und prosten ihm zu. Nur Mut. Trau dich!
Ihre Nachbarschaft ist abartig schön. Ich komme nicht umhin, das zu bemerken, als ich auf den Marmorstufen zwischen den steinernen Greifen stehe, deren Schnäbel zu einem stummen Schrei geöffnet sind. Eine Reihe herrschaftlicher Villen, ein Blätterbaldachin über erhaben geneigten Bäumen. Das Haus befindet sich nur einen Block vom Campus entfernt, abseits einer vornehmen, malerischen Straße, gesäumt von Bistros, die Champagner im Glas anbieten, und Cafés, die jene Cortados mit den detaillierten Milchschaumkunstwerken servieren, die der gesamte Lehrkörper trinkt. Im Gegensatz zu meiner Straße, die nach der Pisse der Ausgestoßenen stinkt, duftet ihre nach frischem Herbstlaub.
Während mein Finger über der Klingel verharrt, verwandelt sich das Gelächter in Höllenkreischen. Vier laute Schreie. Da drücke ich auf den Knopf, aber nicht weil ich das möchte, sondern weil es hier draußen langsam kühl wird und diese Stadt – was sogar Cupcakes Nachbarschaft einschließt – ab einer gewissen Uhrzeit absurd gefährlich wird. Ich muss nicht hochblicken, um die vier Köpfe zu bemerken, die plötzlich am oberen Fenster auftauchen, flankiert von wogenden weißen Vorhängen: vier Gesichter mit weißen, kieferorthopädisch korrigierten Zahnreihen, umrahmt von so schimmerndem Haar, dass man bei direktem Hinsehen wie bei einer Sonnenfinsternis geblendet wird. Mein Smartphone vibriert. Textnachricht von Unbekannt: ein Affen-Emoji, das sich die Augen zuhält.
Ich sollte abhauen, ich sollte abhauen, ich sollte abhauen. Aber ich bleibe an Ort und Stelle stehen. Und warte. Die Dämmerung schreitet weiter voran. In den süßlichen Duft der Straße mischt sich jetzt ein Hauch von Verwesung. Einer der prachtvollen Bäume verliert ein paar Blätter. Ich zähle sie im Fallen.
Eins. Zwei. Drei.
5
Ich blicke in die Augen des Mädchens, das ich Cupcake nenne, weil sie wie ein Cupcake aussieht und sich wie einer kleidet. Weil sie den Duft von gebackenem Zitronenzucker verströmt. Sie ist hübsch auf eine Art, die an Zuckergussornamente erinnert, allerdings nicht die waldgrünen und grellblauen Abscheulichkeiten aus dem Supermarkt, sondern den pastellfarbenen Dekor, den man auf Hochzeiten und geschmackvollen Osterfeiern vorfindet.
Ihre Ähnlichkeit mit einem Cupcake geht so weit, dass ich bei unserer ersten Begegnung auf der Einführungsveranstaltung tatsächlich den Drang verspürt hatte, sie aufzuessen. Am liebsten hätte ich ihr eine Gabel in die Wange gerammt und meine Zähne bis zum Anschlag in ihrer blassen Schulter versenkt. Heute Abend trägt sie ein himmelblaues Kleid mit einem Muster aus fluffigen weißen Wolken und darüber eine ihrer vielen passenden Strickjacken. Ihr strohblondes Haar ist frisch geglättet. Die Lippen glänzen farblos, weil Lippenstift nur was für Nutten ist, Bunny, wie ich sie habe sagen hören, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das scherzhaft oder todernst gemeint war. Um den Hals trägt sie die glitzernde Perlenkette, die sie nie abnimmt. Oft zupft sie diese leicht zurecht, während sie ihre Texte vorliest – der neueste ein postfeministischer Dialog zwischen ihr und diversen Küchenutensilien.
Ich erwarte, dass sie mich wie üblich begrüßt: als wäre ich eine unheilvolle graue Wolke am Himmel, vor der sie Schutz suchen muss, oder ein hochgewachsener, kränkelnder Baum. In der Nähe meiner kahlen, unscheinbaren Äste wird einem ja so melancholisch und unheimlich zumute!
Wann immer sich unsere Blicke in den Gängen oder auf dem Campus begegnen, wickelt sie sich in ihre Strickjacke mit Spitzkragen ein und drückt sich die Bücher enger an die Brust, als könnte es jeden Moment losregnen.
Oh, hi, Samantha, sagt sie dann und sieht sich nach irgendetwas um, das ihr als Rettungsring dienen kann, um sie vor meiner unmittelbaren Anwesenheit zu bewahren, vielleicht ein Telefonmast in der Ferne oder eine Mücke, die nur sie sehen kann. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was ich Cupcake je getan habe. Vielleicht hat sie bei unserer ersten Begegnung meinen Hunger gespürt und hält seitdem verständlicherweise Abstand.
Aber heute Abend lächelt mich Cupcake sogar an. Ihr rosig-bleiches Gesicht strahlt förmlich.
»Samantha, hi!« Als wäre sie wirklich erfreut, mich zu sehen. Als wäre ich ein farbenprächtiges Strickjäckchen, eine Erstausgabe der Glasglocke oder ein Marzipaneichhörnchen. Ein Friseur, der ganz genau weiß, in welchem Winkel man ihren strohblonden Bob nach innen föhnt.
»Ich bin ja so froh, dass du’s hierher geschafft hast. Bunnys! Seht mal, wer da ist! Sie ist gekommen!«
Sie nimmt mich an der Hand – nimmt mich wirklich und wahrhaftig an der Hand – und führt mich in ihr gigantisches Wohnzimmer, das genau so ist, wie ich es mir ausgemalt hatte, und doch ganz anders. Es gibt jede Menge weicher, üppiger Stoffe, schier endlos hohe Decken und einen weißen Kamin, in dem eine Vase voller filigraner rosafarbener Blüten steht. Die Bunnys sitzen um einen von Kerzen erleuchteten Couchtisch herum, als würden sie auf einen Gast warten: Creepy Doll, aka Kira; Vignette, aka Victoria; und natürlich die Herzogin, die in einem anderen Leben nur Eleanor heißt. Auf meinem Weg hierher hatte ich mir in verschiedensten Albtraumszenarien ausgemalt, was mich wohl erwarten würde. Ich hatte befürchtet, sie würden sich nackt auf irgendwelchen skurrilen Möbeln wie aus Alice im Wunderland rekeln oder sich in pastellfarbener Reizwäsche mit Anaïs-Nin-Romanen Luft zufächeln und einander zu Stereolab den Rücken massieren. Und dazu gäbe es obskure Arthouse-Pornos auf einer riesigen Leinwand, während sie Sex-Manifeste aus den 70ern vorlesen und pastellfarbene Dildos als Mikrofone missbrauchen. Vielleicht auch eine Etagere voller erotischer Cupcakes, keine Ahnung. Aber stattdessen sitzen sie einfach nur in ihren üblichen Klamotten im Kreis da, wie im Seminar, und halten ihre Notizbücher wie Handtäschchen auf dem Schoß fest. Wenn ich normalerweise zum Seminar komme, pressen sie ein knappes Hi heraus und fletschen kurz die Zähne. Beim Hinsetzen fühle ich mich oft, als hätte sich ein unheilvoller Nebel im Zimmer ausgebreitet. Aber diesmal lächeln sie mich aufrichtig – bis zu den Augen – an, als wäre ich die personifizierte Sonne.
»Samantha!«, ruft Creepy Doll atemlos. »Du bist hier! Wir haben schon befürchtet, du hättest dich verirrt oder so.«
Verirrt? Ich blicke derjenigen, die ich Creepy Doll nenne, geradewegs in die bernsteinfarbenen Augen. Sie erinnert mich an die gruseligen Püppchen, die ich mir als Kind immer gewünscht hatte, die mit den Kulleraugen und den Samtkleidchen, den blutroten Shirley-Temple-Locken und den o-förmig modellierten Schmollmündern, die in einem Ausdruck permanenter Verwunderung über die Welt erstarrt sind. Sie schreibt Märchen über Dämoninnen, Wolfsprinzen und die behagliche Phantasmagorie ihrer Heimat in New Hampshire; sammelt alte Schreibmaschinen, von denen ihr zufolge jeder eine ganze eigene Geisterenergie innewohnt, die sie in ihre Erzählungen einfließen lässt, indem sie den Kopf in den Nacken legt und mit geschlossenen Augen tippt. Sie ist buchstäblich das Hauspüppchen der anderen Bunnys, rollt sich auf dem Rockstoff ihrer Schöße ein, schnurrt, wenn sie sie streicheln, und faucht, wenn sie aufhören. Ihr zartes Babystimmchen erinnert an Horrorfilmkinder. Einmal habe ich gehört, wie ihre Stimme plötzlich um fünf Oktaven tiefer wird, wenn sie sich allein glaubt. Sie hat als Erste von ihnen einen Schritt auf mich zu gemacht, sei es in Form von zusammenhanglosen Troll-Emojis oder einer spontanen Einladung zu ihrem aktuellen Aufenthaltsort.
Hi, Samantha, wir essen gerade Bento. Du kannst dich gern zu uns gesellen.
Außerdem ist sie die Einzige der Bunnys, die auf sozialen Veranstaltungen versucht, sich mit mir zu unterhalten. Meistens kommt sie zu mir herüber und stellt mir Fragen, die sich wie kleine Widerhaken in meine Haut bohren, und während ich antworte, nickt sie und murmelt gelegentlich cool, während ihr Blick die ganze Zeit unruhig hin und her schweift, als wäre sie ein Kind, das als Mutprobe an Arthur Radleys Tür klopft und sich, sobald sie aufschwingt, unsicher ist, was es tun soll – wegrennen vielleicht?
Jetzt strahlen ihre goldenen Augen allerdings nichts als Wohlwollen aus. Sie ist die mit Abstand Schönste, Seltsamste, Attraktivste von ihnen. Sie trägt noch immer die Leopardenohren, die ihr die anderen während der letzten Halloweenfeier betrunken aufgesetzt haben (ich habe die Fotos auf Facebook gesehen), und dazu ein schwarzes Kleid mit einem Muster aus weißen Geistern, die Blutflecken statt Augen haben. Sie weiß bestimmt, dass ich mich keineswegs verirrt habe. Sie haben mich schließlich gut 15 Minuten lang vor der Haustür stehen sehen.
Ich spüre, wie mir die Hitze in die Ohren schießt. Mein Mund zuckt. »Ähm. Nein. Ich …«
»Bunny, das haben wir doch nicht wirklich geglaubt«, unterbricht mich Vignette. Sie sitzt links neben der Herzogin auf einer Chaiselongue unter einer Lampe in Form eines Schwanenhalses, die ihre kastanienbraunen Locken anstrahlt: Vignette, die sexy Punkerin der Clique, die Unverblümteste der Bunnys. Ihr braves Kleidchen konterkariert sie mit Springerstiefeln, ungekämmtem Haar und einem Mund, der immer halb offen steht. In ihren trüben grauen Augen blinkt ein permanentes Fick dich. Sie schreibt, um zu schockieren: existenzialistische Vignetten, die von Blutorgien feiernden Disney-Prinzessinnen handeln und von wilden Kindfrauen, die auf allen vieren auf dem Grund eines Beckett’schen Brunnens als Symbol für das eigene Bewusstsein herumkriechen und die zerstückelten Gliedmaßen einer Barbie fressen. Meistens sieht sie high aus, als stünde sie andauernd im Opiumnebel. Angeblich war sie einst, in einem anderen Leben, eine Ballerina gewesen, bevor sie auf die schiefe Bahn geriet und die Konzeptkunst und das Herumlümmeln für sich entdeckte. Aber trotz ihrer durchscheinenden, blaublütigen Schönheit, die Ava an eine Leiche und mich an eine viktorianische Edeldame erinnert, hat sie sich nicht immer wie aufgehübschtes Zuckerwerk gekleidet. Als ich sie bei der Willkommensveranstaltung des Instituts für Erzählende Künste kennenlernte, war sie ein ganz normales Mädchen in Jeans und Schottenmuster mit einem Plastikbecher voller Wein, den sie hielt, als hätte sie noch nie zuvor einen Becher in der Hand gehabt. Ich dachte noch, wir könnten Freundinnen werden. Einmal, bevor sie den Bunnys verfallen war, habe ich sie auf einer Party angesprochen, als sie allein herumstand. Hi, habe ich gesagt. Hi,