Rouge - Mona Awad - E-Book

Rouge E-Book

Mona Awad

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Beschreibung

»Awad hat sich als eine der innovativsten und originellsten Autorinnen erwiesen, die es gibt.« Los Angeles Times

Für die perfekte Haut tun Mirabelle und ihre Mutter Noelle alles: Skincare-Videos, Kollagen-Smoothies und Dreifach-Peelings bestimmen ihren Tag, in ihren Wohnungen türmen sich die Tiegel und Fläschchen. Doch würde die Mutter für die Schönheit sterben? Nach ihrem mysteriösen Unfalltod sucht Mirabelle in Kalifornien nach Antworten und stößt auf La Maison de Méduse, das sektenartige Luxus-Spa, in dem ihre Mutter Stammkundin war. Nach und nach gerät auch sie immer tiefer in die Fänge der Betreiber – eine surreale Reise in die Abgründe des Schönheitskults und zum Kern ihrer Beziehung zu Noelle beginnt ...

Mit schwarzem Humor zeigt die Bunny-Kultautorin, wie viel Neid, Eitelkeit und Unsicherheit unter einer dicken Schicht Rouge lauern können.

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Seitenzahl: 642

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Für die perfekte Haut tun Mirabelle und ihre Mutter Noelle alles: Skincare-Videos, Kollagen-Smoothies und Dreifach-Peelings bestimmen ihren Tag, in ihren Wohnungen türmen sich die Tiegel und Fläschchen. Doch würde die Mutter für die Schönheit sogar sterben? Nach ihrem mysteriösen Unfalltod sucht Mirabelle in Kalifornien nach Antworten und stößt auf La Maison de Méduse, das sektenartige Luxus-Spa, in dem ihre Mutter Stammkundin war. Nach und nach gerät auch sie immer tiefer in die Fänge der Betreiber – eine surreale Reise in die Abgründe des Schönheitskults und zum Kern ihrer Beziehung zu Noelle beginnt …

Mit schwarzem Humor zeigt die Bunny-Kultautorin, wie viel Neid, Eitelkeit und Unsicherheit unter einer dicken Schicht Rouge lauern können.

Zur Autorin

Mona Awad, geboren in Montreal, studierte Kreatives Schreiben und Englische Literatur. Sie ist die Autorin von Bunny und drei weiteren Romanen, zuletzt erschien ihr Roman Rouge. Bunny entwickelte sich zur TikTok-Sensation und wurde u. a. für den New England Book Award und einen Goodreads Choice Award nominiert. Für ihren ersten Roman, 13 Ways of Looking at a Fat Girl, erhielt Mona Awad den Colorado Book Award und den Amazon Canada First Novel Award. In einem Artikel im New York Times Style Magazine bezeichnete Margaret Atwood sie als ihre literarische Erbin. Awad lebt in Boston und unterrichtet an der Syracuse University Kreatives Schreiben.

Mona Awad

Rouge

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Rouge« bei Marysue Rucci Books, Simon & Schuster, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Motto stammt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags aus: Elena Ferrante: Tage des Verlassenwerdens. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. Berlin: Suhrkamp 2019, S. 102.

Copyright der Originalausgabe ROUGE © Mona Awad, 2023

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025, btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle Rechte vorbehalten.

Translation rights arranged by The Clegg Agency, Inc., USA

Covergestaltung: semper smile, München,

nach einem Entwurf von Oliver Munday und

unter Verwendung eines Motivs von © Freder / Getty Images

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32991-4V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für meine Mutter

Denn was sind das Gesicht und die Haut auf unserem Fleisch anderes als eine Hülle, eine Verkleidung, Tarnung des unerträglichen Grauens unserer Lebendigkeit.

— Elena Ferrante, Tage des Verlassenwerdens

Prolog

Abends hat sie dir immer Märchen erzählt, weißt du noch? Es war einmal … ein verträumtes, trauriges kleines Mädchen. Jeden Abend lagst du in deinem Prinzessinnenbett, zwischen all deinen Puppen mit den gläsernen Augen, und wartetest auf sie wie auf die Erfüllung eines Wunsches. Tick-tick strichen die Sekunden auf deiner Schneewittchen-Uhr vorbei. Der Mond erhob sich weißlich aus schwarzen Wolken. Und dann …

»Klopfklopf«, flüsterte Mutter von der Zimmertür.

»Herein«, riefst du mit deiner Kinderstimme.

Und sie kam herein und setzte sich wie eine Königin zu dir auf die Bettkante, nicht wahr? Eine Zigarette zwischen den weißen Fingern, ihren Duft nach Veilchen und Rauch verströmend.

»Also«, sagte Mutter, »welche Geschichte möchtest du heute hören, Belle?«

Belle. Französisch für »schön«. So nannte sie dich, obwohl du so ein hässliches kleines Ding warst. Ganz anders als Mutter. Sie war hellhäutig, schlank und geschmeidig, erinnerst du dich? Wie eine Figur aus dem Märchen. Wie die Puppen in deinem Zimmer. Mutter hatte dir die Puppen gekauft. Und Mutter hatte sie auch in jeder Ecke und jedem Winkel deines Zimmers platziert, sodass du, wohin du auch blicktest, überall ihre glänzenden Haare und ihre blasse Haut sahst. Und ihre roten Lippen, die dich immer irgendwie anzulächeln schienen, als hätten sie ein Geheimnis vor dir.

»Nun, Belle?« Sie lächelte genau wie die Puppen, erinnerst du dich?

Sie trug den Morgenmantel aus roter Seide, den du am liebsten mochtest. Wenn sie nicht zu Hause war, probiertest du ihn manchmal an und atmetest ihren Duft nach Veilchen und Rauch ein. Sie hatte auch dazu passende rote Schuhe, mit Absatz und roten Federn an der Spitze – deine Lieblingsschuhe. Auch die hast du anprobiert, aber das ging nicht gut aus, nicht wahr? Zwei wacklige Schritte, dann lagst du am Boden.

»Welche Geschichte?«, fragte Mutter. Langsam machte deine Verträumtheit sie ungeduldig. Weil du sie anstarrtest wie eine kleine Psychopathin.

»Die mit der schönen Jungfrau«, sagtest du.

Schon wieder? Und ein wenig sah es aus, als würde sie dich bedauern, als wärst du verflucht. Auf jeden Fall. Es gab schließlich auch andere Geschichten, nicht wahr? Zum Beispiel die vom Hasen und der Schildkröte. Oder die vom Wolf und den drei kleinen Schweinchen. Eine Geschichte von einem Mädchen, das sich in eine Robbe verwandelt, die war wirklich niedlich. Aber die anderen Geschichten waren dir schon immer scheißegal gewesen. Du hattest dich längst entschieden, nicht wahr?

Du nicktest. »Die schöne Jungfrau«, sagtest du. »Schon wieder.«

Und Mutter seufzte. Oder lächelte sie? Sie brauchte das Buch mit dem oft gebrochenen Rücken gar nicht erst aus dem Regal zu holen. Dank dir kannte sie die Geschichte in- und auswendig.

»Es war einmal in einem fernen Land«, begann sie, »da lebte eine wunderschöne Jungfrau in einem Schloss am Meer.«

So fing es jedes Mal an. Auch du seufztest. Ein fernes Land. Eine schöne Jungfrau. Ein Schloss, das Meer. Du machtest die Augen zu, um alles genau vor dir sehen zu können.

»Wie schön?«, fragtest du Mutter, die Augen fest geschlossen.

»So unglaublich schön«, sagte Mutter, »dass alle Menschen nah und fern sie bewunderten.« Sie klang gelangweilt. Sie kannte diese Ausschmückung längst. Du wolltest sie jeden Abend hören, nicht wahr?

»Ja.« Du nicktest. »Nah und fern.« Natürlich taten sie das.

»Nah und fern«, bestätigte Mutter.

»Und viele beneideten sie auch«, fügte sie an jenem Abend mit gesenkter Stimme hinzu, dem Abend, an dem alles begann. Dein persönliches Es-war-einmal. Erinnerst du dich an den Wolfsmond vor dem Fenster? An die beiden grauen Spinnen, die an deinen rosa Wänden in ihren Netzen baumelten? Die rothaarige Puppe mit dem Sprung im Gesicht, die auf ihrem Satinkissen saß und dich anstarrte?

»Beneideten?«, fragtest du und schlugst die Augen auf. Mutter war vom Bett aufgestanden. Jetzt saß sie an dem kleinen weißen Frisiertisch mit dem dreiteiligen Spiegel, den sie dir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr selbst hatte dieses Geschenk solche Freude bereitet, dass du so tatst, als würdest du dich ebenfalls freuen. Aber du mochtest den Spiegel nicht. Dir reichte es völlig, dich einmal zu sehen, dreimal war wirklich nicht nötig. Schlimm genug, dass du überhaupt die Augen öffnen und dich selbst ansehen musstest. Doch Mutter liebte den Spiegel. In diesem Moment betrachtete sie ihr dreifaches Ebenbild und fuhr sich mit deiner langstieligen Bürste durch die Haare. Die Bürste war, passend zu den Zierleisten des Frisiertisches, goldfarben lackiert und auf der Rückseite mit bunten Plastikstückchen besetzt, die für dich Edelsteine waren. Die Borsten waren für deine dicken, spröden Haare völlig unbrauchbar. Doch für die deiner Mutter eigneten sie sich perfekt. Mit langen, langsamen Strichen bürstete sie sich die dunkelroten Haare.

»Was ist Neid?«, fragtest du sie.

»Neid ist, wenn man jemanden dafür hasst, dass er oder sie etwas hat, das man selbst will«, sagte sie schlicht.

Du schautest ihr dreifaches Spiegelbild an.

»Wie hübsch zu sein«, sagtest du.

»Ganz genau.« Sie gähnte. Kurz sahst du ihre rote Kehle. »Wie hübsch zu sein. Oder jung«, fügte sie hinzu und warf dir im Spiegel einen Blick zu. Die glänzenden roten Haare flossen über ihre weiße Schulter. Der rote Morgenrock betonte ihre strahlend blauen Augen. Er war ein Geschenk aus dem fernen Land gewesen, aus dem dein Vater stammte. Er hatte ihr diese Morgenröcke in vielen leuchtenden Farben mitgebracht, und alle waren sie golddurchwirkt. Du kannst dich kaum an deinen Vater erinnern, aber du hast Fotos gesehen, und dabei musstest du an die Oger aus den Märchenbüchern denken. Stämmig und dunkelhäutig war er, genau wie du. Du sahst deine Augen in seinen Augen, deine Haut in seiner Haut. Eine Zeit lang fürchtetest du sogar, selbst zur Hälfte Oger zu sein, weißt du noch?

Mutter war in hysterisches Gelächter ausgebrochen, als du ihr davon erzähltest. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und gelacht, bis ihr die Tränen kamen. Und dir kamen ebenfalls die Tränen. Es stimmte also, du warst wirklich zur Hälfte Oger, wie du befürchtet hattest. Hör auf, sagte sie, und dann schlug sie dir mit der flachen Hand ins Gesicht. Sofort brannten neue Tränen in deinen Augen. Hör mir zu, zischte sie. Hör mir gut zu. Und dann versicherte sie dir in ihrer allersanftesten Stimme, dass dein Vater natürlich kein Oger gewesen sei. Er war ein gut aussehender Mann, Gott hab ihn selig. Viele Frauen fanden ihn sogar äußerst attraktiv. Er kam einfach aus einer Gegend, in der zufällig öfter die Sonne schien, das war alles. Menschen aus dieser Gegend hatten dunklere Haut und mehr Haare. Und deshalb hattest auch du dunklere Haut und mehr Haare. »Du bist schön. Und du hast Glück«, hatte sie gesagt, dabei ihre weißen Hände auf deine Schultern gelegt und dich leicht geschüttelt. Glück, verstehst du? Sie selbst wünschte sich, solche Haut und solche Haare zu haben, ganz bestimmt. Auf jeden Fall. Dann tätschelte sie dich wie einen Hund und lächelte dich aus drei Spiegeln an. Und in diesem Moment wusstest du, dass sie log. Sie wünschte es sich nicht. Ganz und gar nicht.

Jetzt beobachtetest du sie im Spiegel, bis sie den Blick abwandte, an ihrer Zigarette zog und sich wieder mit deiner goldenen Spielzeugbürste durch die Haare strich.

»Jedenfalls«, sagte Mutter, »besaß die schöne Jungfrau einen Spiegel. Und dieser Spiegel sprach zu ihr.«

Ja, o ja, diesen Teil der Geschichte mochtest du am liebsten. Dass die Jungfrau mit dem Spiegel sprach. Dass ihr dieser Spiegel ein Freund war. Du warst so ein einsames kleines Mädchen, nicht wahr? Du führtest flüsternde Gespräche mit Gräsern und freundetest dich mit Ästen an, träumtest dich in Bücher und Filme hinein. Jede Szene, jede Seite war eine Tür in eine andere Welt, erinnerst du dich?

»Was hat er zu ihr gesagt?«, fragtest du, als wüsstest du es nicht. Als hätte Mutter dir diese Stelle nicht schon Tausende Male erzählt.

»Dass sie wunderschön war«, sagte Mutter, als wäre das selbstverständlich. »Die Schönste im ganzen Land.«

Du nicktest, und eine Sehnsucht kam in dir auf. Eine tiefe, tiefe Sehnsucht. Wonach? Nach einem anderen Leben, einem anderen Du, einem anderen Körper. In einem fernen Land. In einem Schloss am Meer.

»Doch eines Tages«, jetzt veränderte sich Mutters Tonfall, »eines Tages sagte der Spiegel das nicht.« Bei diesen Worten blickte sie ihre drei Ebenbilder an.

»Nein?«

»Nein.«

Und da sahst du eine Bewegung im Spiegel, ein schillerndes Etwas, das vorher nicht da gewesen war.

»Mutter?«, flüstertest du, den Blick auf den Spiegel gerichtet.

Jetzt war es mehr als nur ein Schillern, es hatte eine Form. Ein dunkel flirrender Schatten hinter Mutters Spiegelbild. Mutter blickte hinein und schüttelte den Kopf. Sie zog an ihrer Zigarette. Auch sie starrte den Schatten an. Als wäre sie kein bisschen überrascht, ihn dort zu sehen.

»Er sagte etwas anderes«, flüsterte Mutter, den Blick auf den Schatten gerichtet. Was war das für ein Umriss? Ein Etwas oder ein Jemand?

Ein Jemand.

Eine schemenhafte Gestalt. Und diese Gestalt starrte Mutter an. Das wusstest du, obwohl du keine Augen sehen konntest. Nur einen Schatten, weißt du noch?

»Was hat er gesagt?«

»Etwas Schreckliches.« Mutter starrte die Erscheinung an, und die Erscheinung starrte zurück. »Etwas Unvermeidliches. Etwas Wahres.«

Was denn? Was denn?

Mutter schüttelte den Kopf, wieder und wieder. Sie blickte mit einer Miene in den Spiegel, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Die Gestalt blickte voller Sorge zurück. Doch es war nur gespielte Sorge, das wusstest du, ohne dass du hättest sagen können, woher. Und dann hob der Schemen den Kopf, löste den Blick von Mutter und sah stattdessen dich an. O ja, er hatte Augen, auch wenn du sie nicht sehen konntest. Du spürtest seinen Blick. Die Kälte darin. Er starrte dich an und lächelte. Du wusstest, dass er lächelte, obwohl da auch kein Mund war. Nur ein Schatten in Form eines Mannes. Nur dieser schillernde Umriss.

Du hättest Angst haben müssen, ganz klar. Auf jeden Fall. Aber die hattest du nicht, oder? Als du seinen Blick spürtest, fing auf einmal alles in dir an zu leuchten. Wie die Klebesterne an deiner Zimmerdecke, wie der Kronleuchter bei deiner Grand-Maman. Du lächeltest.

»Und was ist dann passiert, Mutter?« Du sahst ihm direkt in die Augen. Irgendwie konntest du sie jetzt sehen. Du wusstest, dass er Augen hatte und dass sie in deine Seele blickten. Und du wusstest, dass es ein Er war, nicht wahr?

Mutter sah jetzt nicht mehr die Gestalt an, sondern dich.

»Mutter?«, haktest du nach, und spürtest dabei den Blick der Gestalt auf dir ruhen. »Was ist dann passiert?«

Doch Mutter lächelte nur düster in den Spiegel.

»Dann brach die Hölle los.«

Teil I

1

2016

La Jolla, Kalifornien

Nach der Beerdigung. Ich verstecke mich in Mutters Badezimmer und sehe mir ein Skincare-Video über Hälse an. Ein billiges, scheuerndes schwarzes Kleid, eine verbotene Zigarette. Zwischen Mutters dekorativen Flechtkörbchen, ihren roten, quallenförmigen Seifen und ihren schwarzen Handtuchsets sitze ich auf dem Toilettendeckel. Der Rauch strömt in formlosen grauen Wolken aus meinem Mund. Ich blase ihn aus dem Fenster, wo sich immer noch die Palmen wiegen und immer noch die fremde Sonne scheint und der Himmel so blau ist, dass es mir in den Augen wehtut. Hinter mir steht eine Kosmetiktuchschachtel aus scharfkantigen Muscheln – wahrscheinlich hatte Mutter nie Kosmetiktücher hineingetan. Ihr Spiegel über dem Waschbecken, das Glas ist in der Mitte gesprungen. Wenn ich mich darin betrachte, sehe ich kaputt aus. Gespalten. Auf der Marmorablage steht das Parfum, das sie an jedem Tag ihres Lebens getragen hat, daneben der Rouge-Allure-Lippenstift von Chanel in seiner schwarz-goldenen Hülle. Eine Sammlung von Tiegeln und Fläschchen auf einem Silbertablett. Für das Gesicht, meine Liebe. Für das Gesicht, höre ich Mutter zu mir sagen. Es braucht jede Hilfe, die es kriegen kann, nicht wahr? Das zynische Lächeln der Schönheit, die weiß, dass sie ihren Zenit überschritten hat.

Ja, Mutter, sagte ich dann. Aber du doch nicht. Du brauchst keine Hilfe.

Nichts von alldem sehe ich mir genauer an.

Stattdessen starre ich auf mein Handy, auf dem das Skincare-Video läuft. Meine Augen sind trocken, mein Blick konzentriert. Konzentriert auf Dr. Marva, die mir in ihrem vertrauenerweckenden britischen Akzent alles über meinen armen, armen Hals erklärt. Das Video heißt sogar »So schaffst du dir das Alter vom Hals«. Ich kenne es schon. Es ist eins meiner Lieblingsvideos.

Mutters Badezimmer füllt sich mit Dr. Marvas sanften und zugleich bestimmten Worten.

»Wir achten nicht genug auf unseren Hals«, sagt sie traurig. In ihrer seidig weißen Bluse sieht sie wirklich sehr betrübt aus. Als würde sie um uns und unsere Hälse trauern. »Er wird oft vernachlässigt, nicht wahr?«

Ihre goldenen Augen blicken mich direkt an, und ich merke, dass ich nicke, wie ich es immer tue.

»Ja, Marva«, flüstere ich. Ja, er wird vernachlässigt.

»Und das ist verhängnisvoll«, führt Marva aus. »Weil die Haut dort ohnehin schon so dünn ist.«

Hatte Mutter mir das nicht auch immer gepredigt? Der Hals lügt nicht, Belle. Der Hals ist wahrhaftig und grausam. Ein Spiegel der Seele. Er enthüllt alles, siehst du? Dann deutete sie auf ihren eigenen Hals, wo ich jedoch rein gar nichts sah. Nur eine weiße, von blauen Adern durchzogene Fläche.

Ich sehe es, Mutter, antwortete ich stets.

Auf meinem Handybildschirm schüttelt Marva den Kopf, als wäre diese Wahrheit über Hälse etwas Unaussprechliches. »Welche Abscheulichkeiten«, flüstert sie, ihren Hals streichelnd, »könnten hier entstehen? Rötungen natürlich«, beginnt sie aufzuzählen. »Pigmentflecken. Dünne, erschlaffte Haut. Im Grunde …«, fügt sie mit einem Lachen hinzu, »die Dreifaltigkeit des Schreckens.«

Während sie das sagt, legt Marva den Kopf in den Nacken und präsentiert ihren eigenen unglaublich glatten, weißen Hals. Makellos. Mit rot lackierten Fingernägeln streicht sie sacht über ihre Haut.

Während ich ihr dabei zusehe, streiche ich ebenfalls über meinen Hals. Ich kann gar nicht anders.

Vor meinem inneren Auge taucht wieder Mutters Hals auf: glatt und blass, genau wie der von Marva. Immer mit einem Kettenanhänger, der ihre Halsmulde betonte. Dann, kurz vor dem Ende, ihre plötzliche Vorliebe für leuchtend bunte Glassteine in den seltsamsten Formen. Ein Obsidiandolch, ein verformtes, dunkelrotes Herz. Wie sie dieses Herz mit den Fingern umschloss. In unseren Videotelefonaten sah sie mich an, als hätte sie sich verirrt, als wäre mein Gesicht ein dunkler Wald, ein Spiegel, in dem sie sich kaum noch erkannte.

Während ich über meinen eigenen Hals streiche, breitet sich Grauen in mir aus. Nicht wegen der Erinnerung an Mutter, wie ich beschämt zugeben muss, sondern weil ich die schlaffe Haut und die unansehnlichen Bänder spüre, hier, hier und hier.

»Dein armer, armer Hals«, flüstert Marva und schüttelt abermals den Kopf, als könne sie mich tatsächlich sehen. »Er könnte wirklich ein bisschen Straffung und Aufhellung vertragen, nicht wahr?«

Ja, Marva, das könnte er wirklich.

Klopfklopf.

Das muss Sylvia sein. Ihre kleine Hand pocht an die Tür. Dann der zuckersüße Ton, der mir bis in die Zahnwurzeln dringt. »Mirabelle?«, fragt sie. »Mira, bist du da drin?«

Es ist schrecklich zu hören, wie diese Stimme meinen Namen sagt. Ich denke an Mutters Stimme. Voll und tief, mit französischem Akzent. Mirabelle hieß ich nur, wenn sie böse auf mich war. Zu Mira hat sie sich nie herabgelassen, auch wenn ich heute von den meisten so genannt werde. Für sie war ich immer Belle. Wobei, kurz vor dem Ende sah sie mich nur noch verwirrt an und flüsterte: Wer bist du? Wer bist du?

Ich schließe die Augen, als hätte mich jemand geschlagen. Die Zigarette ist Asche in meiner Hand.

Wieder ein Klopfen, diesmal nachdrücklicher. »Hallo? Bist du da drin?«

Ich darf sie nicht ignorieren. Sie wird versuchen, die Tür zu öffnen. Sie wird am Kristallknauf rütteln, und wenn sie merkt, dass abgeschlossen ist, wird sie einen Schraubenzieher oder eine Kreditkarte holen. Vielleicht tritt sie sogar mit ihren kleinen, Gucci-besohlten Füßen die Tür ein. Alles unter dem lächelnden Deckmantel der Besorgnis.

Ich öffne die Tür, trete einen Schritt zurück und streiche mir das kleine Schwarze glatt. Ist es überhaupt ein Kleid? Eher ein seltsam geschnittener Sack. Es hängt an mir herunter, als wäre es zutiefst deprimiert. Vielleicht ist es das ja wirklich. Das Kleid ist eine Leihgabe von Sylvia. Natürlich. Von Belle of the Ball, der Boutique, die ihr und meiner Mutter gehört hat. Dort habe ich früher auch gearbeitet – bevor ich Kalifornien verließ und nach Montreal zurückging. Bevor ich Mutters Boutique verließ, um in einer anderen zu arbeiten. Mich hast du verlassen, würde sie vielleicht sagen.

Hier, bitte schön, Liebes, hatte Sylvia gestern gesagt, als sie mir den Holzbügel mit dem traurigen schwarzen Sack reichte. Meine Seele erschauderte, als sie mich Liebes nannte.

Falls du etwas zum Anziehen brauchst. Für die … Party. So nennt man Beerdigungen in Kalifornien jetzt offenbar. Partys. Ich betrachtete das schwarze, formlose Etuikleid und dachte: Seit wann verkauft Mutter so trübselige Ware? Ich wollte rundweg ablehnen. Mit meinem festesten, kühlsten Nein, danke. Aber ich brauchte wirklich etwas zum Anziehen. Ich hatte nichts eingepackt. Seit letzter Woche nehme ich alles wie durch einen Nebelschleier wahr. Seit dem Tag, als mich der Polizist bei der Arbeit anrief. Mirabelle Nour?, fragte er.

Ja?

Sind Sie die Tochter von Noelle De… De…

Des Jardins, sagte ich. Das ist Französisch für »von den Gärten«. In dem Moment, als ich diese Worte aussprach, wusste ich, warum der Mann anrief. Allem Anschein nach ein Unfall. Ein spätabendlicher Spaziergang auf den Klippen am Meer. Abgestürzt auf die darunterliegenden Felsen. Aufgefunden an diesem Morgen, von einem Mann, der mit seinem Bernhardiner am Strand spazieren ging.

Mutter hat Bernhardiner geliebt, sagte ich, ohne zu wissen, warum. Ich habe keine Ahnung, wie Mutter zu Bernhardinern stand. Langes Schweigen. Meine Kehle fühlte sich an, als würde sie von einer Faust zusammengedrückt. Das Feuchtigkeitsspray, das ich gerade aufgetragen hatte, trocknete auf meinem Gesicht ein und wurde klebrig.

Wir gehen nicht von einem Verbrechen aus, sagte der Polizist schließlich.

Natürlich nicht, sagte ich. Warum sollten Sie auch. Mein Körper schien sich aufzulösen. Im Spiegel an der Wand sah ich mich in meinem schwarzen Vintage-Kleid steif hinter der Kasse stehen, das Handy in der Hand. Man hätte meinen können, ich telefonierte mit einer Kundin.

Mein aufrichtiges Beileid, sagte der Polizist.

Ich sah, wie mein Spiegelbild die Worte formte, die ich wohl auch gesagt haben muss: Danke. Vielen Dank, dass Sie mir Bescheid gegeben haben. Sehr freundlich von Ihnen, sich die Zeit für den Anruf zu nehmen.

Er zögerte, schien noch nicht auflegen zu wollen. Vielleicht erwartete er, dass ich anfing zu weinen, doch das tat ich nicht. Zum einen war ich bei der Arbeit, und zum anderen stand meine Chefin Persephone direkt neben mir.

Mira, fragte sie, als ich das Handy vom Ohr nahm, ist alles in Ordnung? Wie immer sah sie aus, als wäre sie gerade auf dem Sprung zu einem Gothic-Tanztee. Auf ihrem blassen, gepuderten Gesicht lag so etwas wie Besorgnis. Im Schein der Ladenbeleuchtung musterte ich die Risse in ihrer Foundation.

Meine Mutter ist gestorben, sagte ich, als würde ich den Wetterbericht vorlesen. Sie ist irgendwo auf Felsen gestürzt. Ein Bernhardiner hat sie gefunden.

Und dann? Jemand schob einen Stuhl hinter mich, und ich fiel darauf. Man führte mir eine Flasche russischen Schnaps an die Lippen, der nach kalten, bitteren Pflaumen schmeckte. Ein Halbkreis aus Verkäuferinnen in Vintage-Kleidern baute sich vor mir auf, meine Kolleginnen, und sie flüsterten auf Französisch, wie schrecklich das alles sei, einfach schrecklich. Wie leid es ihnen täte. Sie schüttelten ihre Beehives und Bananen. Lauter traurige Cat Eyes blickten mich an. Ich konnte förmlich spüren, wie sie darauf warteten, dass ich mitten in der Boutique anfing zu weinen. Und wie sie sich davor fürchteten. Im Radio lief »It’s My Party«, was mir quasi die Erlaubnis zum Heulen erteilte. Ich entschuldigte mich für die unangenehme Situation. Das tut mir alles so leid, sagte ich, und wich ihren Blicken aus.

Mon dieu, Mira, du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, flüsterten sie. In diesem Moment betrat eine Kundin den Laden und betrachtete nervös das Menschenknäuel, das wir bildeten. Kann ich Ihnen helfen?, rief ich ihr zu. Suchen Sie etwas Bestimmtes? Bitte. Ich ging auf die Kundin zu, als wäre sie das Licht am Ende eines sehr langen Tunnels. Bitte, sagen Sie mir, wonach Sie suchen.

Auf der Uber-Fahrt zu meinem Apartment buchte ich ein Flugticket nach San Diego und trank dabei reichlich aus der Schnapsflasche, die mir Persephone mitgegeben hatte. Zu Hause angekommen, war ich hackedicht. Ich schaffte es gerade noch über den Flur, um meine Katze Luzifer nebenan bei Monsieur Lam abzugeben, den sie ohnehin lieber mochte als mich. Er hatte kaum die Tür geöffnet, da sprang sie schon von meinem Arm und verschwand in seiner Wohnung. Meine Mutter ist gestorben, erklärte ich ihm blinzelnd an der Tür. Oje, sagte er und kratzte sich an der Wange. Monsieur Lam hat ausgezeichnete Haut. Richtig schimmernd, darum beneide ich ihn. Ich frage mich oft, was sein Geheimnis ist – benutzt er eine fermentierte Essenz oder irgendein Elixier aus Pilzen und Wurzeln? –, aber ich traue mich nie, ihn danach zu fragen. Möchten Sie auf einen Tee reinkommen?, bot er an. Ich sah ihm an, dass er innerlich sterben würde, wenn ich ja, gern sagte. Monsieur Lam kommt nicht gegen seine Manieren an, da ist er wie ich. Ach, nein, sagte ich. Vielen Dank. Ich sollte für morgen packen und so. Er nickte. Natürlich sollte ich das. Wir beide wussten, dass ich nichts dergleichen tun würde. Ich würde die ganze Nacht Marva gucken, währenddessen im Dunkeln ein Double Cleansing und ein Peeling durchführen und anschließend meine zahlreichen Schichten aus Essenzen und Seren auftragen, wobei ich jede Schicht mit den Handflächen beider Hände in meine brennende Haut einmassieren würde. Monsieur Lam würde die Videos hören, wie jede Nacht, schließlich waren unsere Schlafzimmer nur durch eine ziemlich dünne Wand voneinander getrennt.

Als ich am nächsten Tag im Hotel in La Jolla meinen Koffer aufklappte, fand ich darin nur einen französischen Krimi, ein bisschen Unterwäsche und sieben Plastikbeutel mit Kosmetikprodukten. Ich hatte an mein Botanical Resurrection Serum gedacht, an meine revitalisierende Eye Formula mit Diamantenextrakt und an meine drei derzeitigen Lieblingssäurepeelings. Ich hatte an den Kollagenbooster-Peptidkomplex mit Orpheusblume, an die belebende Grüntee-und-Aronia-Essenz und das Liquid Gold gedacht. Ich hatte an den Dewy Bio-Radiance Snow Mushroom Mist gedacht und an den Advanced-Luminosité-Schneckenschleim, genau wie an reichlich weitere MDEs (Marvas Dringende Empfehlungen). Aber nicht an ein einziges Kleid. Daher war Sylvia meine letzte Rettung.

Da steht sie also in der Badezimmertür, das Gesicht voll von ekligem Mitgefühl.

»Geht’s dir gut, Liebes?«, fragt sie. Schon wieder Liebes. Wieder überläuft ein Schaudern meine Seele. Ihre Stimme verströmt dieselbe widerwärtige Süße wie die Lilien und Paradiesvogelblumen im Wohnzimmer. Sie sieht mich an, als würde ich weinen. Aber das tue ich natürlich nicht. Wahrscheinlich tut mir nur das grelle Sonnenlicht in den Augen weh. Oder meine Eye Formula mit Diamantenextrakt. Ein hochwirksames Kraftpaket, das liftet, festigt und aufhellt und manchmal verläuft, sodass es aussieht, als würden die Augen tränen. Also wirkt es vielleicht, als würde ich weinen. Vielleicht spüre ich tatsächlich, wie Tränen über meine Wangen laufen und ausgetrocknete, salzige Rinnen hinterlassen. Vielleicht sieht es so sehr nach Weinen aus, dass ein durchschnittlicher Mensch, der mit den Eigenheiten der Eye Formula nicht vertraut ist, sich zu einem Alles okay? verpflichtet fühlen würde. Aber solchen Menschen erkläre ich nie, was es mit der Formula auf sich hat. Ich sage immer nur Alles okay, ja.

»Alles okay, ja«, sage ich zu Sylvia.

»Bist du sicher?« Ich weiß, dass sie sauer ist, weil ich von der Trauerfeier geflüchtet bin. Aus dem Esszimmer voller adretter Blumenarrangements und dreieckiger Sandwiches, voller Menschen, die ich noch nie im Leben gesehen habe und die alle behaupten, Mutter zu kennen. Die alle mit ihren Kondolenzplatitüden ankommen.

Mein herzliches Beileid.

Sie ist jetzt sicher an einem besseren Ort, nicht wahr?

Die Seele lebt ewig, nicht wahr?

Tut sie das?, frage ich. Das würde ich wirklich gern wissen, erhalte von diesen Leuten aber nur ein stummes Blinzeln als Antwort. Ich hätte einfach dankbar nicken und Das ist sie. Das tut sie. Sicher. Danke für Ihre Worte, sagen sollen. Stattdessen starrte ich sie an. Tut sie das?, fragte ich noch einmal im Flüsterton und nippte an meinem Glas, von dem ich dachte, es enthielte Champagner. Es war Apfelschorle, serviert in einem hohen schmalen Glas, als wäre es Champagner. Das ist kein Champagner.

Appletiser, sagte jemand. Ist das nicht fantastisch? Sylvia denkt einfach an alles.

Sicher, stimmte ich zu. Und dann sagte ich: Ich muss einen Moment allein sein, entschuldigen Sie mich.

Und genau das sage ich jetzt zu Sylvia, die in der Tür steht. Ich sage: »Ich habe einen Moment für mich gebraucht. Entschuldige.«

Sie mustert mich auf diese forsche Art, die mich immer zurückschrecken lässt wie vor zu grellem Licht. Als suche sie nach dem Schlüssel zu meiner verschlossenen Miene. Sie entdeckt mein Handy auf der Ablage. Auf dem Bildschirm ist Marva mitten in der Bewegung eingefroren, wie sie sich über ihren weißen Hals streicht. Schnell lasse ich das Handy in meiner Tasche verschwinden.

»Ich hoffe, die Party ist okay?«, fragt sie.

»Ganz wunderbar, Sylvia«, lüge ich und nicke. »Danke. Danke für die Organisation.«

»Wir hätten sie natürlich auch bei mir abhalten können, aber das Apartment deiner Mutter hat einfach die viel schönere Aussicht.« Sie schaut über meine Schulter hinweg aus dem Badezimmerfenster aufs Meer. Das Meer. Seit meiner Ankunft hier habe ich es nicht ansehen können, obwohl ich mich wegen des Wellenrauschens jede Nacht in meinem Bett hin- und herwälze, bis ich endlich das Bewusstsein verliere. Und dann sickert es in meine Träume.

Diesen Ozean, in dem Mutter ihr Ende fand, lächelt Sylvia versonnen an. Sie sieht dort nichts als hübsche Wellen, die schöne Aussicht – die bald ihre Aussicht sein wird, wenn sie es richtig anstellt – und vielleicht noch ihr Spiegelbild, das ihr Lächeln erwidert. Plötzlich juckt es mich in den Fingern, ihren kleinen, dünnen Hals zu würgen. Die Haut dort ist fleckig, fällt mir auf. Sylvia benutzt offenbar weder Sonnenschutz noch Serum.

»Wunderschöne Aussicht, findest du nicht?« Sie betrachtet Mutters Parfum auf der Ablage, den Lippenstift, die roten Tiegel und Fläschchen für das Gesicht. »Sie hat ihre Kosmetika wirklich geliebt, oder?«

»Allerdings.«

»Wir haben alle unsere kleinen Schwächen. Bei mir sind es Schuhe.« Sie strahlt mich an und blickt dann auf ihre winzigen Füßchen in den langweiligen flachen Designerschuhen. »Die hat deine Mutter natürlich auch geliebt.«

»Ja.« Vor Sylvias Augen zünde ich mir eine neue Zigarette an. Ich spüre, wie sie mich dafür verurteilt. Sie sieht mich durch die Rauchwolke hindurch an, sagt jedoch nichts. Schließlich bin ich die Hinterbliebene, das räumt einem gewisse Sonderrechte ein, oder? Am liebsten möchte ich ihr den Rauch ins Gesicht pusten, aber natürlich wedle ich ihn weg und entschuldige mich. Sie lächelt dünn.

»Also. Wie lange wirst du hierbleiben?«

Ich denke an den Transkontinentalflug, mit dem ich vor drei Tagen angekommen bin – ist das wirklich erst drei Tage her? Die Tabletten, der Flughafenwein und der Flugzeugwein hatten dafür gesorgt, dass ich tief in meinem Sitz am Fenster versank. Die Beauty-Videos, die ich auf dem Handy ansehen wollte, blieben immer wieder hängen, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als in den Himmel zu schauen. Die Sonnenbrille behielt ich auf, auch als es dunkel wurde und nichts mehr zu sehen war außer ein rotes Lämpchen, das an der Spitze der Tragfläche in die schwarze Nacht hineinblinkte.

»Ich habe mir bei der Arbeit eine Woche freigenommen«, sage ich.

»Arbeit?« Sie wirkt überrascht, dass ich überhaupt etwas mache. Bin ich nicht einfach in der Versenkung verschwunden, nachdem ich aus La Jolla weggegangen bin? »Ach, diese Boutique, oder? Wie heißt sie noch mal? Damsels in irgendwas?«

»Damsels in This Dress.«

»In Distress. Wie witzig. Wie die Mutter, so die Tochter.« Sie lächelt beim Gedanken an das Geschäft, das sie zusammen mit meiner Mutter geführt hat. Unser kleiner Laden, nannte sie es immer. Niemals Belle of the Ball. Es passte ihr nicht, dass der Name mit mir zu tun hat und vor ihrer Zeit entstanden ist. Nachdem ich weg war, hat Sylvia dort mehr Verantwortung übernommen, aber das hatte sich schon lange vorher angedeutet. Ständig sah ich ihre gestärkte weiße Bluse und die Perlenkette am Rande meines Blickfelds, während sie unnötigerweise die Accessoires gerade rückte. Sie ist so organisiert, hatte Mutter immer über Sylvia gesagt. Sozusagen das Yin zu meinem Yang. Woraufhin Sylvias Lächeln steif wurde. Ach, Sylvia, was würde ich nur ohne dich tun, fragte Mutter dann. Untergehen, sagte Sylvia, und nur ich wusste, dass sie das teilweise ernst meinte.

»Montréal«, seufzt sie jetzt. Sie versucht sich an der französischen Aussprache und massakriert sie natürlich. Ihr Blick ist sehnsüchtig, obwohl sie noch nie dort war. »So elegant. Ihren Stil hatte Noelle zweifellos von dort. Deine Mutter hatte so viel Stil.« Ihr Blick schweift durchs Bad. »Du wirst vermutlich Hilfe brauchen, um hier alles zusammenzupacken, meinst du nicht?«

»Das schaffe ich schon, Sylvia, wirklich«, sage ich in ruhigem Ton. Unendlich höflich.

»Ich kann sehr gern vorbeikommen«, beharrt sie. »Du brauchst nur einen Ton zu sagen.«

»Ganz bestimmt. Danke. Fürs Erste würde ich jetzt gern in mein Hotel fahren und mich ausruhen. Hab letzte Nacht nicht so gut geschlafen.«

Ich hatte überhaupt nicht geschlafen, sondern mich in der parfümierten Dunkelheit hin- und hergewälzt. Immer ein Auge offen. Beim Einchecken meinte der Mann am Empfang, er werde mir ein Zimmer mit Meerblick geben, als wäre das ein Privileg. Die Wellen, sagte er, würden mich sofort in den Schlaf wiegen. Das tun sie immer. Er lächelte. Vertrauen Sie mir. Sie taten es nicht. Die donnernden Wellen krachten donnernd auf die Felsen, das war kein bisschen einschläfernd. Und außerdem hatte ich sogar im Dunkeln immer dieses eine Bild vor Augen: Mutter in ihrem Morgenrock aus roter und weißer Seide. Wie sie auf die scharfkantigen Felsen im schwarzen Wasser stürzt.

»Natürlich«, sagt Sylvia. »Du bist sicher müde.« Ein großherziges Lächeln. So viel Mitgefühl. »Also gut. Und bevor du zurückfliegst, komm doch bitte in unserem kleinen Laden vorbei. Deine Mutter hat noch einige Sachen dort. Und wir müssten noch … na ja, etwas besprechen. Wenn du dich dazu bereit fühlst.«

Etwas besprechen? »Was müssen wir besprechen, Sylvia?« Jetzt liegt eine gewisse Schärfe in meiner Stimme.

»Alles zu seiner Zeit, meine Liebe. Jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort.« Das sagt sie sehr nachdrücklich, fast schon tadelnd, als wäre ich hier diejenige, die sich komplett danebenbenimmt.

»Alles zu seiner Zeit. Natürlich. Entschuldige.« Ich zwänge mich an ihr vorbei und schlüpfe hinaus in den Flur, der auf ganzer Länge verspiegelt ist. Auch hier hat das Glas einen Sprung, genau wie im Bad. Als wäre Mutter im Vorbeigehen mit einem Diamanten darübergefahren. Seltsam. Beim Anblick dieser Spiegel wird mir kalt. Im Wohnzimmer hängen noch mehr davon, in allen möglichen Formen und Größen. Eine Wand voller zerbrochener Glasscheiben, jede in ihrem eigenen, schweren schwarzen Rahmen.

Das Wohnzimmer ist jetzt voller Menschen, und die Spiegel lassen es so aussehen, als wären es unendlich viele Trauergäste. Hat Mutter diese Leute wirklich alle gekannt? Die meisten von ihnen sind mir fremd. Sie sagen: »Es ist ein Jammer, so ein Jammer. So jung. Ist sie gestürzt oder gesprungen? So furchtbar.« Und dann blicken sie schaudernd hinaus aufs Meer oder lenken das Gespräch auf etwas anderes. Den nächsten Urlaub, den Verkehr auf der 805, was Trump gestern bei Fox News gesagt hat, niemals wird der gewählt werden. »Wenn wir Obama doch nur für immer behalten könnten.« Alle halten Gläser mit Sylvias falschem Champagner in der Hand, als wäre er gar nicht falsch, und lächeln mitfühlend, als ich ins Wohnzimmer komme. Gemurmel und leise Worte erfüllen den Raum. »Das muss die Tochter sein. Es ist schwer, nicht wahr? Ach, das Leben. Ein Mysterium.« Unerträgliches Kopfschütteln. Ich muss weg von diesen mitleidvollen Blicken und den weichgespülten Worten, die absolut nichts bedeuten. Ich setze die Sonnenbrille auf, die Lippen zu einem starren Strich zusammengepresst, und durchquere das Wohnzimmer auf dem kürzesten Weg. Die Eingangstür fest im Blick. Ich habe einen Plan. Ich werde in Mutters dunkelsilbernen Jaguar steigen, in mein rosa Hotel fahren, den Aufzug zu meinem Zimmer nehmen und die Tür hinter mir abschließen. Ich werde mich ins Bett legen und einfach dort liegen bleiben. Dem Ticken der Uhr und dem Brechen der Wellen lauschen. Und dann wird gnädigerweise endlich die Sonne untergehen und diesem Tag ein Ende bereiten. Und die Nacht wird kommen, nicht wahr? Es ist ein Versprechen.

Bist du sicher, dass du nicht noch bleiben willst?, fragen ihre Gesichter, während sie meine Flucht beobachten. Gehst du schon? Sie sehen die Zigarette in meiner Hand, die Augen hinter der Sonnenbrille verborgen, während ich mich an ihnen vorbeischiebe und widerwillig murmle: »Tut mir so leid, entschuldigen Sie bitte.«

Als ich das Apartment verlasse, kommt Ruhe in das Tosen in meinem Herzen. Die Schwere lässt ein wenig nach, lässt mich atmen. Ich stehe auf der Veranda und atme. Palmen. Der endlose, strahlend blaue Himmel ist nicht mehr ganz so fremd. Aber auch hier draußen schlendern noch ein paar Menschen umher. Man kann ihnen nicht entkommen. Ich will doch nur fort von diesen Leuten, die es nicht wissen und nie gewusst haben.

Die was nicht gewusst haben?, fragt eine Stimme in mir.

Da sehe ich noch eine Person. Sie steht ein Stück abseits der murmelnden Grüppchen und blickt aufs Wasser. Sie lächelt. Die Hände auf dem Verandageländer, als wären wir auf einer Kreuzfahrt. Eine Frau in einem roten Kleid. Rot zu einer Beerdigung? Sehe ich richtig? Ja. Ein Kleid aus dunkelroter, fließender Seide. Wunderschön, das kann man nicht leugnen. Mutter hätte es gefallen. Noch etwas an ihr ist ungewöhnlich, aber was? Etwas an ihrem Gesicht. Die elegant geschnittenen Züge, die Haut so glatt wie Glas. Habe ich sie schon mal irgendwo gesehen? Sie sieht fröhlich aus. So fröhlich, dass ich beinahe glaube, sie innerlich singen zu hören. Auch ihre Haare sind rot, wie Mutters. Rote Haare, rotes Kleid, rote Lippen. Sie sieht aus wie Feuer. Ein Feuer auf Mutters Veranda. Während ich sie betrachte, dreht sie sich zu mir um. Ihre Miene verfinstert sich zuerst und hellt sich dann auf. Ihre hellblauen Augen sehen geradewegs in meine inneren Abgründe. Und etwas in mir öffnet seinen Rachen. Sie beobachtet mich so voller Neugier. Als wäre ich ein Geist. Oder ein Traum.

»Sie ist den Weg der Rosen gegangen«, sagt die Frau zu mir und lächelt dabei, als wäre das ganz wunderbar. Bei dem Wort Rosen blitzt etwas Rotes vor meinen Augen auf. Für einen Moment legt sich ein roter Nebelschleier über alles. Dann ist es wieder verschwunden, und die Frau in Rot zeichnet sich klar vor dem strahlend blauen Himmel ab.

»Den Weg der Rosen«, wiederhole ich. Ich bin hingerissen, obwohl sich Kälte in meinem Körper ausbreitet. »Was ist der Weg der Rosen?«

Sie lächelt nur.

»Was ist der Weg der Rosen?«, frage ich noch einmal. »Wer sind Sie?«

Doch jemand zieht mich von ihr weg. Ein verschwitzter Mann, den ich nicht kenne, und seine mürrische Frau. Sie wollen mir sagen, wie sehr sie meinen Verlust bedauern. Der Mann legt mir die Hand auf die Schulter. Sie ist schwer und quetscht meinen Arm. »Wir haben Ihre Mutter in einer Vorstellung gesehen«, sagt er. »Diesen Abend haben wir nie vergessen, nicht wahr?«, fügt er an seine Frau gewandt hinzu, die nichts darauf erwidert. Nun, er hat es jedenfalls nie vergessen. Die Frau nickt mürrisch. »Sie hat auf der Bühne gestrahlt«, sagt der Mann. Seine Augen sind wässrig und gerötet. Irgendwo gibt es auf dieser Party also doch Alkohol, denke ich. »Wie ein Stern.« Der Mann lässt nicht locker. Und er werde nie vergessen, wie nett sie anschließend zu ihnen gewesen sei. So nett. So gütig und bescheiden. Keinerlei Allüren, trotz ihrer Schönheit und dem großen Talent. So geerdet. Ich kann mir vorstellen, wie sie Interesse an den beiden heuchelt. Wie sie die Bewunderung aus ihm heraussaugt wie das Mark aus den Kalbsknochen, die sie so gern mit Salz und Petersilie aß.

Ich möchte ihnen am liebsten ins Gesicht lachen. Meine Mutter – geerdet? Und dann denke ich daran, was jetzt aus ihr geworden ist. Bald wird sie wirklich für immer geerdet sein. Plötzlich bleibt mir wieder die Luft weg. »Entschuldigen Sie«, sage ich und schiebe mich an ihnen vorbei.

Doch die Frau in Rot ist verschwunden. Wo sie gestanden hat, ist jetzt nur ein leerer Fleck. Ich starre auf die Rosensträucher auf der anderen Seite des Geländers. Ihr Rot strahlt so intensiv, dass es mir in den Augen wehtut. Die Blütenblätter zittern in der blauen Brise. Leuchten so lebendig.

2

Im rosa Hotel am Meer gibt es eine Bar direkt am Wasser. Keine Ahnung, warum ich hier bin. Leisten kann ich mir den Laden ganz bestimmt nicht. Und dem Tonfall des Anwalts am Telefon nach zu urteilen, wird sich daran auch nichts ändern. Wir besprechen alles morgen früh, antwortete Chaz, als ich wissen wollte, wie schlimm es stand. Bitte sag es mir, bat ich. Morgen, erwiderte er. Ich wohne in diesem Hotel, seit ich gelandet bin. Natürlich habe ich Angst vor der Rechnung, aber noch mehr Angst habe ich davor, allein in Mutters Apartment zu sein. Morgen werde ich mich dem stellen müssen und die Wohnung auflösen. Aber nicht jetzt. Noch nicht.

»Einen Tisch für eine Person, bitte«, sage ich an der Bar zum Kellner. Wenn ich schon untergehe, dann wenigstens mit Stil. Das hätte dir gefallen, Mutter, nicht wahr?

»Sehr gern.« Der Kellner sieht ein bisschen aus wie Tom Cruise, das ist witzig. Auch witzig ist, wie mir plötzlich ein wenig schwindelig wird, als ich ihn ansehe. Vielleicht liegt es nur daran, dass er mich so intensiv anlächelt. Er führt mich zu einem Tisch mit Meerblick und wirkt irritiert, als ich mich mit dem Rücken zum Wasser setze. Ich lächle nur. »Ein Glas Champagner, bitte.«

Er starrt mich an. Immer noch dieses Lächeln und der irritierte Blick. Was ist?, möchte ich sagen. Er blickt auf meine Stirn. Sieht er die verblasste Narbe dort? Sie ist wie ein schiefer Stern geformt. Verblasst, aber trotz aller Säurekuren und Aufhellungsmittel nie ganz verschwunden. Kaum noch vorhanden, versicherte mir Mutter stets. Niemand außer dir kann sie sehen. Doch dieser Mann sieht sie. Oder? Es ist unhöflich, Menschen anzustarren, würde ich ihm gern sagen. Als ich schon glaube, dass er mich darauf ansprechen wird, sagt er stattdessen: »Haben Sie einen Ausweis?«

Jetzt bin ich diejenige, die ihn anstarrt. Ist das sein Ernst?

Er zuckt mit keiner Wimper. Er meint es tatsächlich ernst.

Ich hatte vergessen, dass das in Amerika so ist. Dass hier Menschen, die ganz offensichtlich älter als dreißig sind, nach dem Ausweis gefragt werden. Ich reiche ihm meinen Führerschein und er starrt eine Ewigkeit lang mit zusammengekniffenen Augen darauf. Wissen Sie, meine Mutter ist gestorben, möchte ich sagen. Ich komme gerade von der Trauerfeier. Ich brauche diesen Drink wirklich. Es juckt mich in den Fingern, ihm das Geburtsdatum auf dem Führerschein zu zeigen. Es ist ein kanadischer, deshalb weiß er wohl nicht, wo es steht. Ich sollte Geduld haben, sollte ihm helfen. Aber ich bin ein bisschen hypnotisiert davon, wie lange es dauert. Wie oft er mich ansieht und dann wieder den Führerschein.

Endlich gibt er ihn mir zurück. »Entschuldigen Sie …«

»Ja?« Ich mache mich auf seine Worte gefasst. Dass sie solche ausländischen Ausweisdokumente nicht akzeptieren, dass er bitte meinen Pass sehen müsse.

Aber er sieht mich nur irgendwie verträumt an. »Ich weiß ja nicht, was Sie machen«, sagt er mit gesenkter Stimme, »aber es funktioniert.«

Gegen meinen Willen muss ich lächeln. Ein hässlicher Anflug oberflächlichen Glücks. »Tatsächlich?«

»Auf jeden Fall«, sagt er. »Auf jeden Fall.«

Es sollte mir egal sein, was dieser Fremde über meine Haut denkt. Trotzdem berühre ich meine Wange und blicke zu seiner wohlwollenden Miene auf.

»Vielen Dank«, flüstere ich und denke an meine Badezimmerablage, auf der lauter von Marva empfohlene Tiegel und Fläschchen und Ampullen stehen. An meine Handtasche voller Sonnenschutzmittel und Verjüngungssprays. »Ich mache eine ganze Menge«, erkläre ich ihm gegen meinen Willen. Ich spreche nie darüber, mit niemandem. Weil es nur dir gehört, nicht wahr?, sagt Marva. Es ist ein Geheimnis zwischen dir und deinem Spiegel.

Er lächelt. »Ich bringe Ihnen den Champagner.«

Er wird in einem gekühlten Glas serviert, die Bläschen darin blubbern wie in einem Hexenkessel. Mutter hätte gesagt: Das ist, als würde man Sterne trinken, Belle. Früher habe ich immer die Augen verdreht, wenn sie das sagte, aber jetzt sitze ich hier mit meinem Glas. Marva sagt, Alkohol zerstört Kollagen und trocknet die Haut aus. Wenn du schöne Haut haben willst, musst du sofort aufhören zu trinken, sagt sie ernst. Und während ich mir ein Video anschaue, in dem sie das sagt, habe ich normalerweise einen mit Champagner gefüllten Kaffeebecher in der Hand. Manchmal eine Zigarette in der anderen, was Marva ebenfalls streng verbietet. Und dann fühle ich mich getadelt, abscheulich und schuldig. Doch Marva sagt auch: Wir sind alle nur Menschen, oder etwa nicht? Wir haben alle unsere kleinen Helferlein, unsere Schwächen und Trösterchen, um die Mühsal des irdischen Lebens zu ertragen, nicht wahr?

Ja, das haben wir, stimme ich ihr zu, und Marvas Mitgefühl, ihr Verständnis für Paradoxien, treibt mir die Tränen in die Augen. Du solltest netter zu dir selbst sein, sagt sie sanft und sieht mir dabei fest in die Augen. Als ob sie es wüsste. Als ob sie haargenau wüsste, wie grausam ich sein kann.

Erst ein Glas, dann ein zweites. Ich gehe nicht ins Hotelzimmer, um mit meiner Abendroutine zu beginnen, obwohl ich den Schmutz und den Staub und die Ablagerungen auf meiner Gesichtshaut fühlen kann. Die vielen freien Radikale, die sich in diesem Moment durch meine Hautbarriere fressen und meine Zellen oxidieren lassen. Ich brauche dringendst eine klärende Reinigung, gefolgt von einer regenerierenden Reinigung, gefolgt von einem Dreifach-Peeling, und dann werde ich mein Gesicht mit Barriere reparierendem Zink einkleistern. Aber jetzt noch nicht. Der Himmel steht in sündig pinken Flammen, die Palmen färben sich schwarz. Hinter meinem Rücken spüre ich das Tosen der Wellen. Heute Abend sind kaum Menschen in der Bar. Nur ein Mann, der ein paar Tische weiter konzentriert auf seinen Laptop starrt und vor sich hin klickt. Überstunden, nehme ich an. Ein leichter Wind weht über die Terrasse. Warm und sanft. Ich hatte vergessen, dass das in Kalifornien so ist. Dass sogar der Wind ein Traum ist. Was würde ich jetzt zu Hause in Montreal machen? Wahrscheinlich auch Überstunden. Auf den schwarz-weiß karierten Ladenfußboden starren, um nicht in die Wandspiegel schauen zu müssen.Ich will mein Gesicht nicht sehen, nachdem es den ganzen Tag im grellen Licht lächeln musste. Es lächelt immer noch, für den Fall, dass in letzter Minute noch jemand zur Tür hereinkommt und das kleine Silberglöckchen klingeln lässt. Dieses Klingeln höre ich in meinen Träumen, und ich höre es sogar jetzt. Die Menschen kommen so voller Hoffnung in die Boutique. Sie suchen niemals nur ein Kleid, das hat mir Mutter beigebracht. Sie wollen ein Erlebnis, eine Transformation. Einen Hauch Magie.

Unmöglich, möchte ich ihnen sagen. Sie sind, wer Sie sind. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Es gibt kein Entkommen. In meinen Träumen sage ich es ihnen. Da sage ich ihnen die ganze, schreckliche Wahrheit. Aber in der Wirklichkeit lächle ich nur und sage, das sieht hinreißend aus, auch wenn es scheußlich aussieht. Wow, sage ich. Und wenn Sie es mit diesem Blazer kombinieren, ist der Look perfekt. Es ist eine Lüge. Es gibt keinen Look. Da ist nichts, was der Blazer perfekt machen könnte. Aber sie glauben mir jedes Mal. Sie bedanken sich bei mir, während sie sich selbst noch stirnrunzelnd im Spiegel betrachten. Und ich stehe daneben, selbst eine Art Spiegel, und lächle, die Hände vor dem Schritt gefaltet, darauf wartend, dass sie stattdessen mich ansehen.

Um diese Zeit, wenn der Laden leer ist, lasse ich die Maske fallen, zu der mein Gesicht geworden ist. Mein Lächeln verschwindet. Ich spiele Musik für mich, nicht für die Kundinnen. Etwas Düsteres, Verträumtes mit Verzerrer. Musik, zu der ich die Augen schließen und in der ich wunderschön versinken kann. Meine Mutter nannte meinen Musikgeschmack gern »gespenstische Beerdigung« oder »trostlose Party«. Kannst du die trostlose Party ein bisschen leiser drehen, Liebling? Manche von uns möchten das Leben genießen. Um diese Stunde verschwören sich die Schaufensterpuppen und wirken bedrohlich. Ein süffisantes Lächeln scheint ihre Mundwinkel zu umspielen. Ihre makellos weiße Haut erinnert mich an Mutter. Manchmal rief ich sie dann sogar an. Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte oder sie sogar vermisste. Bei unseren letzten Gesprächen klang sie merkwürdig. Hallo? Hallo?, rief sie ins Telefon. Als ob sie nicht wüsste, wo sie war, und in eine nächtliche Finsternis riefe.

Mutter, sagte ich und sah dabei eine der Schaufensterpuppen an.

Wer ist da?

Deine Tochter.

Pause. Wer?

Belle. Deine Tochter. Mutter, was ist …

Ach, Belle of the Ball. Sonnenschein, ja, natürlich. Sonnenschein war ihr Spitzname für mich – weil ich wie sieben Tage Regenwetter war, wie sie sagte. Ein Trauerkloß. Sonnenschein, um mich zu ärgern.

Hier sind es zweiundzwanzig Grad, die Sonne scheint. Der Himmel ist so blau und verwundbar. Das müsstest du sehen, Belle.

Verwundbar?

Habe ich »verwundbar« gesagt? Ich meinte natürlich wunderbar. Das müsstest du sehen.

Ich habe den Himmel schon mal gesehen, Mutter. Ist alles okay mit dir? Du klingst ein bisschen …

Ich bin Rosen. Ich trage ein Leid … ein Kleid aus lauter Sternen. Die Frage ist, wie es dir geht, Sonnenscheinchen. Peelst du dir immer noch das Gesicht weg?

Nein, sagte ich, obwohl ich es natürlich tat. Ich benutze sieben verschiedene Säuren im Wechsel, jede für eine andere Hautmisere, wie Marva es nennt. Ich habe die Universal Brightening Peel Pads und die Overnight Glycolic Resurfacing Matrix und natürlich die dreifach peelende Lotion Magique, ein französisches Kultelixier, das in einigen Staaten illegal ist – das mit dem verbotenen, nach Schwefel stinkenden Inhaltsstoff, von dem das Gesicht taub wird. Außerdem besitze ich das berüchtigte blutrote Auslöschungs-Ambrosia, das nach Terpentin riecht und aussieht wie frische Ziegenplazenta. Jeden Abend reibe ich mein Gesicht mit einem oder mehrerer dieser Produkte ein und meine Haut schreit einfach herrlich, färbt sich sündig rot. Ich sehe im Spiegel zu, wie sie brennt, während sich im Bad ein animalischer Geruch ausbreitet wie der Rauch bei einem Brandopfer.

Nein, tue ich nicht, log ich Mutter an.

Und Mutter schnalzte mit der Zunge. Du weißt, dass sich deine Zellen ganz von allein erneuern. Deine Tat ist von alleine schön.

Meine Tat?

Dein Teint natürlich, warum sollte ich Tat sagen? Witzig. Aber wie dem auch sei, der Punkt ist, Mutter Natur ist ein verdammtes Wunder.

Wirklich? Ich starrte die Schaufensterpuppe an. Ein kleines süffisantes Lächeln. Ein kurzer Seitenblick aus ihrem schimmernden Auge. Mutter sagte nichts. Wie so oft bei uns, herrschte Stille in der Leitung. An ihrem Ende konnte ich das Rauschen der Wellen hören. Es klang vorwurfsvoll. Ich hätte in Kalifornien bleiben sollen, wo ich glücklich gewesen wäre, wo ich mehr Sonne im Kopf und im Herzen gehabt hätte. Aber nein, ich musste mich ja für die Dunkelheit entscheiden, nicht wahr? Ich musste mich in unsere alte Heimat davonstehlen, wo alles voller Schnee und Eis war. Um Grand-Maman zu pflegen, warf ich jedes Mal ein. Aber dann war Grand-Maman gestorben, nicht wahr? Und ich war trotzdem nicht zurückgekommen. Nein, ich musste ja im Schatten von Montreal vor mich hin grübeln. Und in einer Boutique arbeiten. Ausgerechnet. Wenn das kein Schlag ins Gesicht war. Während sie selbst eine Boutique im Paradies besaß, wo wir beide hätten zusammenarbeiten können, oder etwa nicht?

Und dann war da unser letztes Telefonat gewesen. Vor ein paar Wochen. Eine Spätschicht im Damsels. Keine Kundinnen. Vor dem Fenster rieselte der Schnee in dicken, langsamen Flocken. Ich weiß noch, wie die Schaufensterpuppen unter den Strahlern schimmerten. Wie sie an jenem Abend breiter zu lächeln schienen. Mutter sprach so schnell und atemlos und wechselte immer wieder ins Französische, was ihr nur passierte, wenn sie extrem aufgeregt war.

Mutter, bitte, was hast du gesagt?

Ich trage ein Leid aus flüssigem Gold, das brennt wie die Sonne. Ich trage Schuhe aus tiefrotem Blut. Um mich herum zerbrechen die Spiegel. Die Wellen sagen entrez, entrez.

Was? Mutter, du machst mir Angst.

Belle, schaust du je in den Spiegel und siehst …? Ihre Stimme verlor sich. Ihr Atem am anderen Ende der Leitung beschleunigte sich. Ich glaubte, ihr Herz schlagen zu hören. Oder war es mein eigenes Herz, das in meinen Ohren pochte?

Mutter, was siehst du?

Ich gehe den Weg der Rosen, Belle, sagte sie schließlich verträumt. Erinnerst du dich an die Rosen? Te souviens-tu?

Kurz nahm mir ein roter Nebelschleier die Sicht. Mutter, du hasst Rosen.

An ihrem Ende der Leitung machte es klick.

Ich saß auf meinem Hocker hinter der Kasse, das Handy in der Hand, und fragte mich: Was war das denn bitte? Sie hatte geredet wie ein Wasserfall, und jetzt war sie weg, wie von einer tosenden Strömung davongerissen. Und ich blieb allein zurück. Obwohl ich Tausende Meilen weit entfernt in einem anderen Land war, kam es mir vor, als würde sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Ich spürte, wie der Luftzug meine Haare zurückwehen ließ. Roch ihre Duftwolke aus Veilchen und Rauch, die ihr überallhin folgte. Was zum Teufel hatte sie genommen? Drogen? Nein, sagte ich mir, während ich durch das verschneite Dunkel nach Hause trottete, Drogen bestimmt nicht. Nicht Mutter. Sicher waren nur ihre gewohnte Romantik und Lebenslust außer Kontrolle geraten. Mit dem Alter wurde sie einfach seltsamer. Versank ein bisschen mehr in ihrer eigenen Welt, ihrem eigenen Spiegelbild. (Da musste ich aufpassen, ging es bei mir nicht in dieselbe Richtung? O ja, allerdings.) Oder, o Gott, könnte es ein Frühstadium von Demenz sein? Ich nahm mir vor, Sylvia deswegen anzurufen. Und mich am nächsten Tag noch einmal zu erkundigen, wie es Mutter ging. Wenn nicht morgen, sagte ich mir, dann auf jeden Fall bald. Außerdem würde ich sie bald besuchen und persönlich mit ihr zum Arzt gehen.

Es war das letzte Mal, dass ich mit ihr gesprochen habe.

Jetzt starre ich auf mein leeres Handydisplay. Für einen Moment sehe ich schwarz und bodenlos das Nichts vor mir aufklaffen. Sie ist den Weg der Rosen gegangen, hatte die Frau bei der Trauerfeier gesagt. Als wäre das etwas Wundervolles. Ihre blauen Augen hatten geleuchtet.

»Was ist der Weg der Rosen?«, frage ich laut.

In diesem Moment vibriert mein Handy. Ich wappne mich innerlich. Vielleicht wieder eine nichtssagende Beileidsbekundung von einer Kollegin. Oder Sylvia, die sich nur kurz melden wollte, um mich daran zu erinnern, morgen in unserem kleinen Laden vorbeizukommen. Oder Persephone, die wissen möchte, wann ich wieder ins Damsels komme. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, hatte sie gesagt und mir die Hand getätschelt. Aber in ihrer Stimme hörte ich schon die Uhr ticken.

Als ich aufs Handy schaue, habe ich eine Benachrichtigung von einem mir unbekannten Absender erhalten. ROUGE. Wer ist Rouge? Das Profilbild zeigt ein weit geöffnetes Auge in einem ovalen Spiegel. Es starrt mich an.

Schadet Trauer deiner Hautbarriere? Tippe hier für Live-Video, steht neben dem Auge.

Irgendetwas an diesem Auge … ein Schauer überläuft mich, als würde ich beobachtet. Ich sehe mich auf der Terrasse um. Da ist nur die Sonne, die blutig in den Wellen versinkt. Nur die Palmen, die sich schwarz färben und sich in der warmen Brise wiegen. Nur Tom Cruise, der an seiner Station pfeifend Serviettenschwäne faltet. Kaltes, glitschiges Unbehagen breitet sich in mir aus. Der Mann, der ein paar Tische weiter sitzt, klickt immer noch an seinem Laptop herum. Ich sehe wieder das Auge im Spiegel an. Ihr könnt mich mal, denke ich. Diese Scheißalgorithmen, die alles abhören. Können die jetzt schon unsere Gedanken hören? Gerade will ich das Handy ausschalten, als ich mein Spiegelbild in der gläsernen Tischplatte sehe. Von dem Anblick wird mir noch kälter. Elend. Ich sehe elend aus. Schadet Trauer deiner Hautbarriere?

»Ja«, sagt eine Stimme. Meine Stimme. Ich klicke auf den Link.

Auf meinem Display lächelt eine Frau in Rot. Die Frau in Rot, die von der Beerdigung. Sie steht auf einer Bühne mit roten Vorhängen. Was macht sie auf der Bühne? Was macht sie in meinem Handy? Sie blickt in die Kamera, sieht mich direkt an, wie Marva es tut. Eigentlich sieht sie Marva sogar ein bisschen ähnlich. Die gleichen hellen Augen, derselbe wissende Blick. Als sähe sie mich hier auf der Terrasse sitzen, mit dem angeschlagenen Gesicht und dem leeren Champagnerglas in der Hand. Sie sieht mich mitfühlend an.

»Bonsoir«, sagt sie. »Trauerst du im Moment?«

Sie schüttelt sanft den Kopf, als wüsste sie Bescheid. Im Hintergrund läuft leise »Lacrimosa« aus Mozarts »Requiem«. Ich höre Applaus von einem unsichtbaren Publikum. In der Bildschirmecke blinkt rot das Wort LIVE auf. »Natürlich tust du das. So wie wir alle, nicht wahr? Und man sieht es uns an. Auch wenn wir es nicht zeigen wollen, der Spiegel bringt es ans Licht.«

Jetzt zeigt die Kamera eine andere Frau in einem trostlos wirkenden Badezimmer. Sie sieht angeschlagen aus. Krank. Etwa in meinem Alter. Auch sie blickt direkt in die Kamera. Sie sieht mich an, als wäre ich ein Spiegel, in dem sie ihr eigenes Elend erblickt. Runzelt die Stirn über sich selbst. Im Takt der anschwellenden Mozartklänge schüttelt sie langsam den Kopf, als könne sie nicht glauben, dass das ihr Gesicht sein soll. Die Stimme der Frau in Rot als Voice-over: »Hier bei Rouge glauben wir daran, dass das Geheimnis sehr viel tiefer reicht als Peelings. Das wahre Geheimnis, das liegt woanders.«

Hier bei Rouge?Das wahre Geheimnis? Was soll das sein, Werbung? Schalt es aus, sage ich mir. Doch ich starre weiter auf den Bildschirm. Die Szenerie hat sich verändert. Jetzt kräuselt sich eine rote Qualle in dunklem Wasser. Das Rot pulsiert in einem Meer aus Schwarz. Mein Herz schlägt schneller. Was ist das für ein Scheiß? Und dann ist die Qualle verschwunden. Die Frau im Bad ist zurück, aber jetzt ist der Raum blendend weiß und ihre Haut schimmert richtig. Neben ihr stehen wunderschöne üppige Rosensträuße in schlanken schwarzen Vasen. Noch immer starrt sie mich an, als wäre ich ihr Spiegelbild, doch jetzt entlockt ihr der Anblick ein Lächeln. Ihre Haut ist glatt wie Glas und scheint von innen heraus zu leuchten.

»Mein Gott«, flüstere ich.

Als hätte sie mich gehört, hebt sich ihr Mundwinkel auf einer Seite. Sie hält einen roten Cremetiegel hoch, hält ihn direkt neben ihr strahlendes Gesicht, als wäre es ein Apfel. Habe ich genau solche Tiegel nicht auch heute Nachmittag in Mutters Badezimmer gesehen?

»Worin liegt das Geheimnis?«, fragt die Frau in Rot jetzt wieder. Das Voice-over klingt, als würde die Stimme direkt in mein Ohr flüstern, statt aus dem Handylautsprecher zu kommen. »Möchtest du es erfahren?«

Ja.

»Im Inneren«, flüstert die Stimme. Wieder ist die rote Qualle im schwarzen Wasser zu sehen. Und dann ist sie schlagartig verschwunden. Die Frau mit der schimmernden Haut lächelt breit. Sie führt den roten Tiegel an ihre Lippen, als wollte sie hineinbeißen. Da liegt so ein Ausdruck in ihren glänzenden Augen, als könne auch sie tatsächlich sehen, wie ich hier mit dem Rücken zum Meer sitze. Meine Zukunft nichts als gähnende Leere, und ich stehe vor dem schwarzen Abgrund und blicke hinein. Das alles sieht sie. Sie sieht es und sie erkennt es. Nicht nur die Wahrheit auf meinem Gesicht, sondern das, was sich dahinter verbirgt. »Die menschliche Seele, natürlich«, sagt die Stimme.

Ich schalte das Video aus und lasse das Handy sinken. Doch offenbar läuft es trotzdem weiter, denn ich höre: »Und wenn du dich für den Weg der Rosen entscheidest, wirst du es selbst erfahren.«

Was? Wo kommt die Stimme jetzt noch her? Mein Blick fällt auf den Mann, der ein paar Tische weiter an seinem Laptop sitzt. Ein rotes Einstecktuch sprießt aus seiner Sakkotasche. Er starrt genauso auf seinen Bildschirm wie ich bis gerade eben: wie hypnotisiert. Sieht dieser Mann dasselbe Skincare-Video? So muss es sein. Ich höre immer noch Mozart. Jetzt sieht er auf. Auch für ihn muss sich der Sound verändert haben, als ich mein Video gestoppt habe. Was ist passiert?, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ein unübersehbar attraktives Gesicht. Gebräunt, markant, elegant. Sehr gut hydriert. Sein Anzug und der Hut mit Krempe erinnern mich an alte Filme, wie Mutter sie gern mit mir geguckt hat, meistens Nouvelle Vague und Hollywood Noir. In diesen Filmen gab es einen bestimmten Typ Mann, den sie liebte. Geheimnisvoll und gebrochen. Schön, aber ein bisschen kaputt. Immer in Moll unterwegs, immer gerade dabei, sich eine Zigarette anzustecken. Immer ein schwaches Lächeln hinter der Rauchwolke, ein bisschen wie dieser Mann hier. Das ist Monty Clift, seufzte Mutter dann, auf den Fernseher deutend. Das ist Alain, flüsterte sie ehrfurchtsvoll, womit Alain Delon gemeint war. Oooh, Paul Newman. Ich liebe Paul, flüsterte sie. So sehr. Sie sprach von diesen Männern, als wären sie ihre Freunde. Jetzt fängt der Mann plötzlich meinen Blick auf. Das Handy in meiner Hand fühlt sich heiß an. Ich werde augenblicklich rot und kann spüren, wie überall auf meinem Gesicht hässliche Flecken sprießen. Schau weg, ermahne ich mich, aber ich kann es nicht. Ich hänge an seinen Augen, die sich kühl und hell gegen die olivfarbene Haut abzeichnen. Möglich, dass er verärgert aussieht. Als wäre er bei etwas ertappt worden, oder als hätte er mich bei etwas Peinlichem ertappt. Aber dann wird seine Miene weicher, beinahe ein Lächeln. Er schließt den Laptop, prostet mir mit seinem Champagnerglas zu und leert es in einem Zug, ohne den Blick von mir abzuwenden. Das ist Monty, sagte Mutter. Das ist Alain. Das ist Paul.