Bürgerstaat und Staatsbürger - Andreas Müller - E-Book

Bürgerstaat und Staatsbürger E-Book

Andreas Müller

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Beschreibung

Das Schweizer Milizsystem ist einzigartig. In keinem anderen Land sind in so umfassender Weise 'normale' Bürger als Politiker im Nebenamt für die Geschicke des Landes verantwortlich. Es schafft Nähe zur Bevölkerung und hält das Wachstum des Staates im Zaum. In den letzten Jahren ist dieser Erfolgsfaktor zunehmend unter Druck geraten: Ein Mangel an Kandidaten infolge steigender Belastung und wachsender Anforderungen macht dem Milizsystem vor allem auf lokaler Ebene zu schaffen, während sich das Bundesparlament durch stetige Professionalisierung vom Ideal entfernt. Ob das Milizsystem als wesentlicher Pfeiler des Staatsaufbaus den hohen Erwartungen noch gerecht wird und welche Reformen es für ein erfolgreiches Weiterbestehen benötigt, zeigen die Autoren anhand empirischer und essayistischer Beiträge. Sie kommen unter anderem zum Schluss, dass die Schweiz die Einführung eines allgemeinen Bürgerdienstes für Männer, Frauen und niedergelassene Ausländer erwägen sollte. Mit Beiträgen von Sarah Bütikofer, Hans Geser, Martin Heller, Georg Kohler, Andreas Ladner, Andreas Müller, Patrik Schellenbauer und Hanna Ketterer'/'Stefan Tomas Güntert'/'Theo Wehner.

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Bürgerstaat undStaatsbürger

Milizpolitik zwischenMythos und Moderne

Andreas Müller

mit Beiträgen von Sarah Bütikofer, Hans Geser, Martin Heller, Georg Kohler, Andreas Ladner, Patrik Schellenbauer und Hanna Ketterer, Stefan Tomas Güntert, Theo Wehner

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag © 2015 Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung, ZürichDer Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2015 (ISBN 978-3-03810-039-3)

Herausgeber Andreas Müller, Avenir Suisse

Planung, Koordination Simon Hurst, Jörg Naumann, Avenir Suisse

Titelgestaltung Charis Arnold, www.charisarnold.ch

Korrektorat n c ag, www.ncag.ch

Datenkonvertierung CPI books GmbH, Leck

Zitierweise Andreas Müller: Bürgerstaat und Staatsbürger

(Zürich: Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben – auch bei nur auszugsweiser Verwertung – vorbehalten. Da Avenir Suisse an der Verbreitung der hier präsentierten Ideen interessiert ist, ist die Verwertung der Erkenntnisse, Daten und Grafiken dieses Werkes durch Dritte hin-gegen ausdrücklich erwünscht, sofern die Quelle exakt und gut sichtbar angegeben wird und die gesetzlichen Urheberrechtsbestimmungen eingehalten werden. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03810-076-8

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

Zu diesem Buch

Der Name «Avenir Suisse» ist Programm. Er bringt zum Ausdruck, dass sich der Think-Tank zur Aufgabe gesetzt hat, mit seinen Analysen und Ideen zur Zukunftssicherung des Landes beizutragen. Er signalisiert aber auch, dass es um die Zukunft nicht irgendeines Landes, sondern um jene der Schweiz geht. Und deshalb gehört zur Zukunftssicherung auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit den Wurzeln, mit jenen institutionellen und mentalen Eigenheiten, die den Erfolg der Schweiz in der Vergangenheit erklären. Man darf angesichts des enormen Wandels diese Spezifika nicht verklären, man kann sie auch nicht einfach fortschreiben, man sollte sie aber ebenso wenig als völlig veraltet abschreiben. Wir sind überzeugt, dass man diese spezifischen Eigenschaften pflegen und gerade deswegen zugleich auch weiterentwickeln muss. Sie machen die DNA der Schweiz aus, sie unterscheiden dieses Land von anderen Ländern, sie geben ihm ein eigenes Profil.

Einer dieser Erfolgsfaktoren ist das Milizsystem, also der republikanische Grundgedanke, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur wählen und abstimmen können sollen, sondern dass sie auch in der Lage sind, im weitesten Sinne exekutive Verantwortung im Gemeinwesen, im Staat, zu übernehmen – und dass sie dies auch tun sollten. Globalisierung, Individualisierung, gesellschaftlicher Wandel und technischer Fortschritt nagen an diesem System. Es wird immer schwieriger und unattraktiver, sich neben Beruf und Familie auch noch für das bonum commune einzusetzen. Dieses Buch geht der Frage nach, ob dies tatsächlich so ist, was die Ursachen dafür sind und was man sinnvollerweise dagegen tun könnte. Einmal mehr wird dabei der von Avenir Suisse bereits im Buch «Ideen für die Schweiz» gemachte Vorschlag eines obligatorischen Bürgerdienstes für alle präsentiert. Um allerdings das Thema nicht zu breit anzulegen, fokussiert die vorliegende Publikation fast ausschliesslich auf die politischen Institutionen, auf den Milizgedanken in der Politik.

Das Buch verfolgt verschiedene Absichten:

– Es soll, wie so oft bei Avenir Suisse, mit fundierter Provokation eine Diskussion anstossen; das Thema ist zu wichtig, als dass man darüber nur im stillen Kämmerlein forschen und debattieren sollte.

– Es soll ein klares Bekenntnis zur grossen, geradezu staatstragenden Wichtigkeit des Milizsystems sein; eine Schweiz mit lauter Berufspolitikern wäre nicht mehr die Schweiz und wäre nicht mehr gleich erfolgreich.

– Es soll eine Lanze brechen für Laientum und Amateurismus in der Politik; Bürgernähe, Identifikation mit dem Staat und Wissenstransfer aus dem privaten in den staatlichen Sektor sind so grosse Gewinne aus diesem System, dass es sich lohnt, dafür manche Nachteile in Kauf zu nehmen.

– Es soll deutlich machen, dass man das Milizsystem nicht mit vielen kleinen Anpassungen retten kann; der schleichenden Verberuflichung und Professionalisierung, die letztlich der Abschaffung des Milizsystems gleichkommt, kann man nur mit einem veritablen Gegenmodell wie dem Bürgerdienst begegnen.

– Das Buch soll eine wissenschaftliche Lücke füllen; in den letzten 20 Jahren gab es nämlich keine einzige grössere Studie, die sich des politischen Milizsystems in seiner enormen Breite, nicht zuletzt auch auf den drei Staatsebenen Gemeinde, Kanton und Bund, angenommen hat.

– Es soll zum Ausdruck bringen, dass Avenir Suisse, obwohl oft als Think-Tank der Schweizer Wirtschaft bezeichnet, nicht nur die Ökonomie im Kopf hat; Soziologen und Philosophen, Ökonomen und Kulturschaffende, Praktiker und Theoretiker haben zu diesem Band beigetragen.

Mein Kollege Andreas Müller hat sich seit über einem Jahr mit dem Milizsystem beschäftigt, er hat Workshops zum Thema veranstaltet, hat mit Persönlichkeiten mit höchst unterschiedlichen Einstellungen zum Milizsystem zahlreiche Gespräche geführt und hat auch die vielen Autoren, die wichtige Beiträge zu diesem Buch geliefert haben, zusammengebracht. Es sind dies in der Reihenfolge der Beiträge Georg Kohler, Martin Heller, Hans Geser, Sarah Bütikofer, Andreas Ladner sowie Hanna Ketterer, Stefan Tomas Güntert und Theo Wehner. Intern haben Patrik Schellenbauer und Simon Hurst zu dieser Publikation beigetragen. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank, ebenso wie den Mitgliedern der Programmkommission von Avenir Suisse, die das Buch getreu ihrem Auftrag wohlwollend und zugleich kritisch begleitet haben.

Das Buch ist alles in allem eine Art Lesebuch zum Milizsystem. Es kann also durchaus in anderer als der hier präsentierten Reihenfolge gelesen werden, und die einzelnen Kapitel sind auch jeweils für sich allein verständlich. Das Schlusskapitel bündelt die verschiedenen Stränge und enthält nicht nur die zentralen politischen Botschaften, sondern stellt auch eine Art kommentierte Zusammenfassung dar. Wenn diese Publikation einen Beitrag dazu leistet, dem Milizsystem sowohl neues Leben als auch Reformgeist einzuhauchen, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.

Gerhard Schwarz

Direktor von Avenir Suisse

01Einleitung

Staatspolitisches Ideal mit hohen VoraussetzungenAndreas Müller

Das Wesen der Milizarbeit

Bedingungen für die Teilnahmebereitschaft zu einem Milizamt

Fragestellungen und Aufbau der Publikation

Staatspolitisches Ideal mit hohen VoraussetzungenAndreas Müller

Wieso interessiert sich Avenir Suisse für das Milizsystem? Eine erste Antwort lautet: Für einen schweizerischen Think-Tank ist es naheliegend, sich für typisch Schweizerisches zu interessieren. Es ist ein Faktum, dass das Milizsystem bis heute nicht willentlich abgeschafft worden ist oder aufgrund mangelnder Partizipation abgeschafft werden musste. Noch relevanter ist aber die Frage nach der Zukunft des Milizsystems: Hat es Bestand? Sind Reformen nötig? Was sind die Alternativen?

Das Schweizer Milizsystem wird von verschiedenen Seiten hinterfragt. Es gibt, erstens, die traditionellen Kritiker, die die Nachteile des Milizsystems herausstreichen.1 Sie lehnen das Milizsystem als Ideal ab. Es gibt, zweitens, diejenigen, die aufgrund der komplexer werdenden Politik die Teilnahmefähigkeit aller Bürger und die Qualität nebenamtlich betriebener Politik zur Diskussion stellen. Unabhängig davon gibt es, drittens, schliesslich die Befürworter des Milizsystems, die befürchten, dass die Teilnahmebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in der modernen Gesellschaft nachlasse und so das Milizsystem unter Druck komme. Avenir Suisse geht davon aus, dass das Milizsystem als Verwirklichung eines Ideals aktiver Bürgerbeteiligung verstanden werden kann. Das bedeutet indirekt eine grosse Wertschätzung der Politik und eine Absage an eine entideologisierte «Post-Politik», die gegenwärtige politische Entscheidungen als alternativlos definiert und alle Rahmenbedingungen als gegeben annimmt.

1Als Beispiel sei der ehemalige Freiburger Ökonomieprofessor Walter Wittmann erwähnt, der die Funktionsfähigkeit und das Ideal des Milizsystems seit Jahrzehnten hinterfragt (Wittmann 1985).

Avenir Suisse hat sich 2014 in Workshops, Veranstaltungen und Gesprächsrunden mit der Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Milizsystems auseinandergesetzt. Dabei erwies sich eine interdisziplinäre Herangehensweise als fruchtbar, da das Milizsystem in viele Bereiche hineinspielt. Es geht um die «Staatsidee Schweiz», um das soziale und politische Kapital der Gesellschaft und um die Opportunitätskosten der Bürger, wenn sie am Milizsystem teilnehmen. Gleichzeitig kommt man in der Behandlung des Themas um eine gewisse Konzentration und Beschränkung nicht herum.

Eine erste Eingrenzung besteht darin, dass sich die Publikation auf das typisch schweizerische Milizsystem konzentriert. Ehrenamtliche Funktionäre etwa von Sportvereinen gibt es in vielen Ländern; sie stellen – so wichtig sie sind – keine Besonderheit der Schweiz dar. Aber die Bereitschaft zur allgemeinen Freiwilligenarbeit hat natürlich sehr wohl auch mit dem spezifisch schweizerischen Milizsystem zu tun. Diese Verbindung wird in den Kapiteln «Wir sind der Staat» und «Schwächen des Milizsystems und Vorschläge zur Revitalisierung» behandelt.

Eine zweite Eingrenzung besteht darin, dass die Publikation auf das politische, nicht das militärische Milizsystem fokussiert. Die historisch wichtige verteidigungspolitische Seite des Milizsystems sowie Armeefragen kommen daher in dieser Publikation nur vereinzelt zur Sprache.

Das Wesen der Milizarbeit

«Der Begriff Milizsystem bezeichnet ein im öffentlichen Leben der Schweiz verbreitetes Organisationsprinzip, das auf der republikanischen Vorstellung beruht, dass jeder dazu befähigte Bürger neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben zu übernehmen hat» (HLS 2009). Diese Definition des Milizsystems im «Historischen Lexikon der Schweiz» weist auf drei Besonderheiten hin, die hier näher interessieren: Das Milizsystem als schweizerische Besonderheit, als Ausdruck republikanischen Gedankenguts und als Ort für neben- oder ehrenamtlich ausgeübte Ämter.

Das Milizsystem als schweizerische Besonderheit

Das Milizsystem wird in der politikwissenschaftlichen Forschung wenig thematisiert.2 Es wird zwar als Teil der Schweizer Identität nebenbei immer wieder erwähnt, steht aber im Schatten von «direkter Demokratie», «Neutralität», «Föderalismus» oder «Gemeindeautonomie». Das kommt nicht von ungefähr: Schon der Terminus «Milizsystem» ist sehr schweizerisch. Oft wird er im Ausland falsch interpretiert und vor allem mit militärischen Milizen in Verbindung gebracht. Der schweizerische Milizbegriff findet also wenig Widerhall in der internationalen Forschung und fällt auch in der hiesigen weitgehend aus den Traktanden.

2Jüngste Beispiele sind Adrian Vatters «Das politische System der Schweiz» (Vatter 2014) oder Markus Freitags «Das soziale Kapital der Schweiz» (Freitag 2014). Das Milizsystem kommt zwar in beiden Publikationen direkt oder indirekt zur Sprache, aber kein Kapitel wird gänzlich dem Milizsystem gewidmet.

Allerdings gibt es historisch orientierte Publikationen3, in denen dem Milizsystem eine grössere Wichtigkeit zugedacht wird. Aber auch unter diesen Publikationen gibt es wenige, die sich dem politischen Milizsystem in seiner ganzen Breite widmen.

3Siehe u. a. Guggenbühl (1967), Im Hof (1991) oder Widmer (2007), die das Milizsystem ausgiebiger thematisieren. Einige grundsätzliche Gedanken ausserhalb des militärischen Bereichs finden sich auch in Saladin (2012).

Auch wenn der Historiker und Ex-Diplomat Paul Widmer das Milizsystem nicht zu den vier zentralen Säulen des «Sonderfalls Schweiz» zählt, ist es doch aufschlussreich, wie er sich zu diesem äussert (Widmer 2008):

«Der Sonderfall ist […] ein fragiles Gebilde. Er ist von aussen wie von innen stets latent gefährdet. Von aussen mehren sich Sachzwänge und politischer Druck. Die Schweiz bezahlt fraglos für ihre Eigenständigkeit einen Preis. Aus dem Innern kommen die Gefahren von den Bürgern selbst. Denn die Eidgenossenschaft ist ein anspruchsvolles Staatswesen. Sie ermöglicht ihren Bürgern zwar eine einzigartige Mitsprache in Staatssachen, aber dafür fordert sie auch ein wesentlich höheres Engagement als eine parlamentarische oder präsidiale Republik, angefangen von den vielfältigen Rechten und Pflichten des Stimmbürgers bis zu den Tausenden von Ämtern, die im feinmaschigen Milizsystem zu vergeben sind. Die Schweiz lebt von der aktiven Mitarbeit der Bürger in Gemeinde, Kanton und Bund. Erlahmt diese, dann erlischt auch ein Staatswesen wie die Schweiz.»

Das Fortbestehen der Schweiz in ihrer heutigen Form wird hier geradezu an das Milizsystem geknüpft. Lässt sich aufgrund des Zustands des Milizsystems feststellen, wie es um den Sonderfall Schweiz steht?

Was macht das Milizsystem so besonders? Was beinhaltet es als staatspolitisches Ideal? Lassen wir einige Stimmen zu Wort kommen, die das Milizsystem vehement verteidigen, etwa Adolf Guggenbühl: «Der Staat bin ich, kann der Schweizer Bürger mit Fug und Recht sagen» (Guggenbühl 1967: 66). Und an anderer Stelle: «Die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren der direkten Demokratie ist ein grosses allgemeines Interesse für den Staat, dass der Bürger nicht in erster Linie ein homo oeconomicus, sondern ein homo politicus ist» (Guggenbühl 1967: 67). Paul Widmer schreibt: «Das Milizwesen erlaubt einer grossen Anzahl von Bürgern, gesellschaftliche Probleme nicht bloss aus ihrer persönlichen Sicht, sondern auch aus der Optik der Öffentlichkeit zu erfahren, in einem Teilbereich Verantwortung zu übernehmen und Entscheide im Interesse der Allgemeinheit zu fällen. Erst dadurch entfaltet sich der Gemeinsinn voll» (Widmer 2007: 182). Und weiter: «Nirgends ist die Identität von Regierenden und Regierten so stark wie in einer auf dem Milizwesen beruhenden Demokratie.» Schliesslich: «Praktische Erfahrung (im Milizsystem) ist die beste Schule für ein vertieftes Staatsverständnis. Sie verschafft Einblick in das Gemeinwohl und schärft auch das Verständnis für die Anliegen anderer. Ohne diesen Erfahrungsraum wäre das riskante Experiment einer direkten Demokratie in der Schweiz wohl längst […] gescheitert. Der gesunde, erfahrungsgeübte Menschenverstand dämpft die radikale Intoleranz, zu der der demokratische Gedanke, wenn man ihm freien Lauf lässt, immer wieder neigt» (Widmer 2007: 203).

Das Milizsystem als republikanisches Erbe

Das Milizsystem gehört zum republikanischen Erbe der Schweiz.4 Der Republikanismus geht von der Existenz von Bürgertugenden aus und setzt auf die politische Freiheit zu aktiver Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten. Verantwortung übernimmt, wer sich einbringt. Das Milizsystem ist auf die Teilnahmebereitschaft und -fähigkeit der Bürger angewiesen. Sie braucht es, weil ein unverbindlicher Republikanismus nicht ausreicht, um den Staat zu betreiben. Das Milizsystem ist nicht nur Leitidee, sondern konkretes Organisationsprinzip auf allen Stufen. Unterhalb einer bestimmten Teilnahmequote würde das Milizsystem seine Funktionsfähigkeit einbüssen. Das Milizsystem ist somit auch ein Mass, an dem sich zeigen lässt, wie es um die republikanische Teilnahmebereitschaft steht, die über Wahlen und Abstimmungen hinausgeht.

4Siehe hier grundlegend Münkler (1994) sowie Kussau et al. (2007).

Dieses Verständnis der republikanischen Beteiligungspflichten ist in der Defensive. Das illustriert der «Amtszwang». Während man ihn im Sinne freiwilliger Selbstbindung aus republikanischer Perspektive sehr wohl als logisch betrachten kann, erscheint diese äusserste Massnahme, das Milizsystem als kollektives Gut aufrechtzuerhalten, in der heutigen Gesellschaft doch oft als (ungeliebter und unverstandener) Zwang. Gegenüber den militärischen und zivilen Dienstpflichten wird heute oft die Exit-Option gewählt, wenn Aufwand und Ertrag aus persönlicher Sicht nicht übereinstimmen. Aus dieser individualistisch-liberalen Sicht ist es den Bürgern überlassen, ob sie am öffentlichen Leben teilnehmen oder nicht. Aus welchen Motiven sie allenfalls daran teilnehmen – Gemeinwohl oder «nur» individuelles Nutzenkalkül –, ist ihnen überlassen, und sie sollen dazu nicht verpflichtet werden.

Die Besonderheit der politischen Milizarbeit

Drittens besagt die erwähnte Definition des «Historischen Lexikons», dass es um öffentliche Ämter und Aufgaben geht, die neben- oder ehrenamtlich erfüllt werden sollen – im Gegensatz zu einem Beruf. Die Milizarbeit ist von ihren Eigenschaften her zwischen Freiwilligenarbeit und Erwerbsarbeit anzusiedeln.5 Es gibt wesentliche Unterschiede zu diesen beiden Betätigungsformen.

5Eine hilfreiche Verortung des Milizsystems findet sich in Kussau et al. (2007).

Im Vergleich zur allgemeinen Freiwilligenarbeit (z. B. Vereinstätigkeit oder Nachbarschaftshilfe), die in allen Ländern existiert, bezeichnet das Milizsystem spezifisch die neben- und ehrenamtliche Tätigkeit für den Staat. Zudem ist die Miliztätigkeit stärker organisiert und institutionalisiert als die Freiwilligenarbeit. Sie lässt insofern weniger Autonomie und Gestaltungsfreiheit zu. Die konkrete Beteiligung hängt zudem – im Gegensatz zur Freiwilligenarbeit – nicht nur von der Teilnahmebereitschaft der Einzelnen ab, sondern es sind Nominierungsverfahren und eine Volkswahl zu durchlaufen.

Das Milizsystem ist Bürgersache und muss somit auch von den Bürgerinnen betrieben werden. Eine Wahloption besteht nur auf der Ebene des Individuums, da weniger Ämter besetzt werden müssen, als Bürger vorhanden sind. Wer eine Miliztätigkeit antritt, ist grundsätzlich verpflichtet, diese auszuüben. Für Miliztätigkeiten werden in der Regel (teils geringe) Entschädigungen bezahlt. Allerdings darf die Entschädigung nicht so hoch liegen, dass sie einem Erwerbseinkommen entspräche, denn damit würde aus der Miliztätigkeit Erwerbsarbeit. Im Gegensatz zur Erwerbsarbeit setzt die Miliztätigkeit zudem keine spezifischen beruflichen Fähigkeiten voraus; jeder Laie kann potenziell ein Amt übernehmen.

Bedingungen für die Teilnahmebereitschaft zu einem Milizamt

Was führt die Bürger zur Übernahme eines Amtes? Es braucht vor allem die Bereitschaft und die Fähigkeit6, in einem spezifischen Gefäss des Milizsystems mitzuwirken. Die Teilnahmebereitschaft kann an drei Stellen verortet werden. Erstens geht es um die intrinsische Motivation des Bürgers: Diese wird beeinflusst von dessen Wertvorstellungen im Kontakt mit den Erwartungen der Gesellschaft. Zweitens geht es um die Auseinandersetzung mit den Aufgaben und der Organisationsweise der entsprechenden Milizbehörde. Schliesslich spielen, drittens, die materiellen und immateriellen Rahmenbedingungen eine Rolle, z. B. die Entschädigung und das Ansehen. Anders gesagt: Motive existieren nicht freischwebend, sondern entfalten sich unter bestimmten Bedingungen (Abbildung 1). Schliesslich müssen – dies unterscheidet die Miliztätigkeit von Freiwilligenarbeit – der Rekrutierungsprozess und die Wahl durchlaufen werden.

6Zu Kriterien zur Teilnahmefähigkeit siehe Buchstein (2000).

Motive und normative Ansprüche

Die Motive können auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein. Milizarbeit kann grundsätzlich aus freiwilligem Interesse oder auch aus einem inneren Pflichtgefühl heraus erfolgen, etwas für die Gesellschaft tun zu müssen. Gerade bei politisch interessierten Bürgern können die Motive nicht nur aus einem inneren Gefühl der Verpflichtung bestehen, sondern müssen auch auf einer altruistischen Einstellung gründen oder auf der Suche nach Vorteilen, also einem instrumentellen Interesse.

Aufgaben

Sobald die prinzipielle Bereitschaft für ein Milizamt besteht, findet ungeachtet der Motive für das Engagement die Auseinandersetzung mit den spezifischen Anforderungen und Aufgaben des entsprechenden Amtes statt. Je nachdem wird ein Bürger dadurch angezogen oder abgeschreckt. Wenn sich etwa eine Behörde wandelt und immer mehr zu einem Fachgremium wird, fühlen sich andere Personen angesprochen als zuvor. Es geht hier um den Stellenwert des Laienwissens und der fachlichen Kompetenz.

Anforderungen und Aufgaben in Miliztätigkeiten werden von äusseren Gegebenheiten beeinflusst. Wenn sich die Balance in der Politik von einer möglichst umfassenden Partizipation an der Entscheidfindung (Input-Legitimation) hin zu möglichst hoher Effektivität und Effizienz (Output-Legitimation) verschiebt, hat dies Auswirkungen auf die Erwartungen an eine Milizbehörde. Genauso hat die Professionalisierung im Umfeld der Behörde (Stärkung von Sekretariat und Verwaltung) Auswirkungen auf Struktur und Aufgaben von Milizämtern.

Materielle und immaterielle Rahmenbedingungen

Neben der Motivlage und den Anforderungen des Amtes ist es wichtig, ob sich ein Bürger ein Milizamt «leisten» kann. Einige Bürger sind zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf eine Entschädigung angewiesen.

Es geht, erstens, um die wirtschaftliche und zeitliche Abkömmlichkeit. Wirtschaftlich leisten kann man sich ein gering entschädigtes Amt, wenn man über ein genügend grosses Einkommen verfügt. Zudem benötigt man Zeit, die man sich selbst nehmen kann oder die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird. Es ist aber je nach Situation nicht jedem möglich, Erwerbsarbeit, Familie und Freizeitaktivitäten mit einem Milizamt zu kombinieren. Wenn die Entschädigung für ein Milizamt eine gewisse Höhe aufweist und damit für einen Bürger lohnähnliche Wirkung hat, kann ein Miliztätiger auf das Amt angewiesen sein – etwa, wenn er andere Einkommensquellen verliert oder gar nie über solche verfügte.

Neben den angesprochenen materiellen Rahmenbedingungen sind die immateriellen Bedingungen für die Bereitschaft zu einer Kandidatur wichtig. Dazu gehören die Attraktivität und das Ansehen der entsprechenden Milizbehörde. Zudem könnten Kandidaten ein Amt als wichtig für die (politische) Karriere erachten, sodass sie wiederum auf ein solches angewiesen wären. Wenn die Attraktivität eines Milizamtes nachlässt, gleichzeitig aber die Anforderungen steigen, hat dies Auswirkungen auf die Rekrutierung und möglicherweise auch auf die Qualität der Kandidaten und die entsprechende Quote vorzeitiger Rücktritte.

Rekrutierungsverfahren und Wahl

Die individuelle Teilnahmebereitschaft reicht nicht aus, um ein Amt zu besetzen. Es folgen die Rekrutierung, die Nominierung und die Wahl. Sie stellen den Mechanismus dar, durch den sich die Teilnahmebereitschaften und -fähigkeiten erst in tatsächliche Teilnahmechancen wandeln. Die Bürger müssen bereit sein, ein solches Verfahren zu durchlaufen.

Die Rekrutierung lässt grundsätzlich zwei Möglichkeiten zu: Die Suche nach Kandidaten und die Bewerbung von Kandidaten für ein Amt. Die Suche nach Kandidaten geschieht durch rekrutierungsfähige Gruppen, allen voran die politischen Parteien. Wenn sich Lokalparteien gerade in kleinen Gemeinden auflösen oder ihnen die Rekrutierungsbasis fehlt, wirkt sich dies auf die Kandidatensuche aus. Die zweite Möglichkeit einer Bewerbung für ein Amt besteht in der Regel in einer Selbstnominierung; auch ein Ausschreibungsverfahren ist denkbar.

Für gewisse Ämter auf lokaler Ebene gibt es parteiübergreifende Absprachen, also einen freiwilligen Proporz. Es gibt dann genauso viele Kandidaten, wie Ämter zu besetzen sind, was nicht selten in «stillen Wahlen» geschieht. Besonders für überlokale Ämter sind hingegen parteiinterne Kampfwahlen üblich. Die Stimmbürger haben somit eine echte Wahl, da mehr Kandidaten als Ämter zur Verfügung stehen. Diese müssen sich in solchen Fällen aber auch zutrauen, einen Wahlkampf zu führen und mit einer Niederlage umgehen zu können.

Fragestellungen für Miliztätige

Bürger, die sich überlegen, für ein Milizamt zu kandidieren, müssen sich folgende Fragen stellen:

– Warum engagiere ich mich und was erhoffe ich mir davon (normativ)?

– Was wird von mir erwartet (normativ)?

– Bin ich der Aufgabe gewachsen (kognitiv)?

– Kann ich das Amt mit meinem Umfeld vereinen (sozial und zeitlich)?

– Kann ich mit den Anforderungen eines öffentlichen Amtes umgehen (emotional)?

– Kann ich mit Unterstützung und mit der Wahl rechnen (politisch)?

Fragestellungen und Aufbau der Publikation

Der zweite Teil der vorliegenden Publikation wirft einen normativen Blick auf das Milizsystem: Was zeichnet es aus, mit welchen anderen Charakteristika des Sonderfalls Schweiz hängt es zusammen? Wie unterscheidet es sich von der professionalisierten Politik in anderen Staaten Europas? Welche Rolle sollen Laien spielen? Ist es so leistungsfähig, wie viele glauben (Teil 2, «Die Bedeutung des Milizsystems für die Schweiz und ihre politische Kultur»)?

Im dritten Teil ist die empirische Datenanalyse von Interesse. Wie steht es beispielsweise um die Schulpflege, die traditionelle demokratische Kontrolle der Schulen? Wie steht es um die Lokalexekutiven? Aber auch: Was geschieht in den Kantonen? Auf nationaler Ebene stellt sich die Frage, wie sich das Bundesparlament entwickelt hat und ob es noch als Milizgremium bezeichnet werden kann (Teil 3, «Empirische Erkenntnisse über das Milizsystem in Bund, Kantonen und Gemeinden»). Auf Bundes- wie auf Gemeindeebene geht es letztlich um das Selbstverständnis des Milizsystems, das durch gesellschaftliche Entwicklungen in Frage gestellt wird. Beide Ebenen sollten daher gemeinsam betrachtet werden.

Weiter stellt die Publikation die Frage nach dem Reformbedarf, der sich aus den Mängeln und Schwierigkeiten des Milizsystems ergibt. Je nachdem, wie man Zustand und Entwicklung des Milizsystems interpretiert, ist der Reformbedarf grösser oder kleiner. Avenir Suisse hat im Buch «Ideen für die Schweiz» einen sehr weitreichenden Vorschlag lanciert, einen allgemeinen Bürgerdienst, der im Militär oder in zivilen Bereichen geleistet würde und für Frauen, Männer und niedergelassene Ausländer obligatorisch wäre (Schellenbauer 2013). Die vorliegende Schrift vertieft diese Idee (Kapitel «Wir sind der Staat»).

Schliesslich werden im Kapitel «Schwächen des Milizsystems und Vorschläge zur Revitalisierung» die verschiedenen Beiträge zusammengefasst und diskutiert. Mit einer ganzen Reihe möglicher Reformen wird zudem eine breite öffentliche Debatte angeregt. Dabei wird verdeutlicht, dass das Menschenbild hinter dem Milizsystem ein positives, optimistisches ist. Es geht darum, Realität und Idealbild einander anzunähern.

02Die Bedeutung des Milizsystems für die Schweiz und ihre politische Kultur

Der flexible Mensch und die TalgenossenschaftGeorg Kohler

Milizprinzip und politische Kultur

Bürgerengagement ist unerlässlich für die direkte Demokratie

Notwendige Anpassung an eine veränderte Realität

Miliz macht MüheMartin Heller

Hintergründe

Eine Art Milizprinzip

Die Landesausstellung

Anschauliche Prägnanz

Einsichten

Ballast abwerfen

Das Programm

Rückenwind für AmateureHans Geser

Berufe: Restbestände einer früheren, ständischen Gesellschaftsform?

Beruflichkeit als Ursache sozialer Spannungen und Konflikte

Drei Quellen der Entberuflichung in der modernen Gesellschaft

Zur Modernität kommunaler Milizstrukturen

Optimistischer Ausblick

Der flexible Mensch und die TalgenossenschaftGeorg Kohler

Die Schweiz sei auf das Milizsystem angewiesen, schreibt Georg Kohler. Als Teil eines engen Geflechts von Institutionen und kollektiven Einstellungen präge es die politische Kultur des Landes, die sich durch Egalitarismus, Eigenverantwortung, Non-Zentralismus sowie Solidarität und Kompromissbereitschaft auszeichne. Da das Milizsystem durch Individualisierung und Globalisierung unter Druck stehe, seien auch diese Wesensmerkmale der Willensnation Schweiz in Gefahr. Eine Erneuerung des Milizsystems sei deshalb nötig. Dies entspricht dem Idealtyp einer «genossenschaftlich-liberalen, republikanischen Schweiz» in der abschliessenden Diskussion (siehe S. 196, «Welche Schweiz wollen die Schweizer?»). AM

Subsidiarität, Gemeindeautonomie, Föderalismus, Milizprinzip und direkte Demokratie sind Schlüsselbegriffe im politischen Selbstverständnis der Schweiz; dieser Nation, die sich gern als «Eidgenossenschaft» bezeichnet, als einen «Bund der Eidgenossen», in dem der Titel «Staat» nur den Kantonen, nicht aber der Zentralgewalt zusteht. Die Schweiz ist CH: confoederatio helvetica, Republik der Bürger und Bürgerinnen und Bund von sechsundzwanzig staatlichen Körperschaften.

Was vielen Zeitgenossen nur noch wie eine antiquierte Litanei vorkommt, umreisst – trotz allem – zentrale Problemfelder gegenwärtiger Politik. Die erfolgreiche Selbst- und Zukunftsgestaltung des Landes hängt nicht zuletzt davon ab, ob es ihm gelingt, seine kollektivhistorischen Bestände, die von den genannten Begriffen erinnert werden, mit notwendig gewordenen Verschiebungen institutioneller und identitätspolitischer Art in Einklang zu bringen. Dass Anpassungen notwendig sind, wird niemand leugnen, der den seit bald einem Vierteljahrhundert grundlegend geänderten Kontext beachtet, in dem sich unser Land zu behaupten hat.

Hier können weder diese neuen gesellschaftlichen und politischen Umweltbedingungen hinreichend genau analysiert noch die starken und komplizierten Zusammenhänge umfassend durchleuchtet werden, die sowohl zwischen den erwähnten innenpolitischen Kategorien (Föderalismus, Milizprinzip, direkte Demokratie) als auch mit deren aussenpolitischen Komplementären (Neutralität, militärische Eigenständigkeit, Souveränität) bestehen. Wichtig ist jedoch die Einsicht, dass wir es stets und sehr schnell mit einem intrinsisch wirksamen Ideengeflecht zu tun bekommen, mit einem Netzwerk von Voraussetzungen und Interessenbalancen, das es verunmöglicht, ein einzelnes Gestaltungsprinzip herauszulösen und für sich allein zu betrachten.