Butcher's Crossing - John Williams - E-Book + Hörbuch
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John Williams

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Beschreibung

Ein überwältigender Roman über die Zerbrechlichkeit von Menschlichkeit und Würde. Es ist um 1870, als Will Andrews der Aussicht  auf eine glänzende Karriere und Harvard den Rücken kehrt. Beflügelt von der Naturauffassung  Ralph W. Emersons, sucht er im Westen nach einer »ursprünglichen Beziehung zur Natur«. In Butcher's Crossing, einem kleinen entlegenen Städtchen in Kansas, wimmelt es von rastlosen Männern, die das Abenteuer suchen und schnell verdientes Geld ebenso schnell wieder vergeuden. Einer von ihnen lockt Andrews mit Geschichten von riesigen Büffelherden, die, versteckt in einem entlegenen Tal tief in den Colorado Rockies, nur eingefangen werden müssten: Andrews schließt sich einer Expedition an, mit dem Ziel, die Tiere aufzuspüren. Die Reise ist aufreibend und strapaziös, aber am Ende erreichen die Männer einen Ort von  paradiesischer Schönheit. Doch statt von Ehrfurcht  werden sie von Gier ergriffen – und entfesseln eine Tragödie. Ein Roman darüber, wie man im Leben verliert und was man dadurch gewinnen kann.

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Seitenzahl: 473

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John Williams

Butcher’s Crossing

Roman

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Es giebt Tage …, wo jedes Ding, welches Leben in sich hat, ein Zeichen der Zufriedenheit von sich giebt, und das Vieh, das hingestreckt liegt, große und ruhige Gedanken zu haben scheint. Nach diesem Halcyon kann man mit ziemlicher Gewißheit bei jenem reinen October-Wetter aussehen, welches wir mit dem Namen des indischen Sommers [richtig: indianischen, Anm. d. Verl.] bezeichnen. Der unendlich lange Tag ruht schlafend auf den breiten Hügeln und den warmen weiten Feldern. Alle seine sonnigen Stunden durchlebt zu haben, scheint langes Leben genug. Die einsamen Orte scheinen nicht ganz einsam. Beim Eintritt in den Wald ist der erstaunte Weltling gezwungen, seine großen und kleinen, weisen und thörichten Dinge, auf die er Werth in der Stadt legte, dahinten zu lassen. Der Knappsack der Gewohnheit fällt von seinem Rücken mit dem ersten Schritt, den er in diesen Bereich hinein thut. Hier ist ein Gottesfurcht, die unsere Religion beschämt, und Realität, die unsere Helden in Mißcredit setzt. Hier finden wir, daß die Natur der Umstand ist, der jeden andern Umstand klein für uns macht, und daß sie einem Gotte gleich alle Menschen richtet, die zu ihr kommen.«

Ralph Waldo Emerson, ›Nature‹, in: Essays, Second Series. Boston 1845, a.d. Amerikanischen von G. Fabricius, Hannover 1858

 

 

»Ja, und die Dichter schicken das kranke Gemüt auf die grünen Auen, wie man lahme Pferde unbeschlagen auf den Rasen schickt, damit ihre Hufe nachwachsen. Die Dichter, die auf ihre Art auch so was wie Kräuterdoktors sind, die meinen ja, die Natur ist die große Heilerin von Herzeleid und Lungenweh. Und wer hat meinen Fuhrmann in der Prärie zu Tode erfroren? Und wer hat den Wilden Peter zum Idioten gemacht?«

Herman Melville, Maskeraden oder Vertrauen gegen Vertrauen, a.d. Amerikanischen von Christa Schuenke, Berlin 1999

ERSTER TEIL

I

DIE KUTSCHE VON ELLSWORTH nach Butcher’s Crossing war eine umgebaute Dougherty, die Passagiere und kleinere Mengen Fracht befördern konnte. Vier Mulis zogen den Wagen über den holprigen, zerfurchten Weg, der von der Prärie nach Butcher’s Crossing leicht abfiel; und während die schmalen Räder der Überlandkutsche durch tiefe, von schwereren Wagen gezogene Fahrrinnen rumpelten, verrutschte die in Segeltuch gehüllte, mittig festgezurrte Ladung und prallte gegen aufgerollte Seitenplanen, welche darauf gegen die das lattenverstärkte Planendach tragenden Hickorystangen klatschten, so dass der einsame Fahrgast hinten im Wagen sich nicht anders zu helfen wusste, als sich gegen das schmale Seitenbrett zu stemmen, eine Hand flach gegen die hartledern bespannte Bank gepresst, während er mit der anderen eine der glatten Stangen umklammerte, die in die Eisenhülsen an den Seitenbrettern eingelassen waren. Der Kutscher, vom Passagier durch die knapp bis unters Wagendach gestapelte Fracht getrennt, übertönte das Schnauben der Mulis und Knarren der Räder mit dem Ruf:

»Nächster Halt Butcher’s Crossing!«

Sein Fahrgast nickte und lehnte sich mit Kopf und Schultern aus dem Wagen. Über die schwitzenden Hinterteile und wippenden Ohren der Mulis hinweg warf er einen ersten Blick auf die wenigen Zelte und schlichten Bretterbuden, die sich vor einem Gehölz mit vereinzelten hohen Bäumen zusammendrängten. Er hatte unmittelbar den Eindruck von Farbe – helles, in Grau übergehendes Sandbraun, abgesetzt mit einem satten Spritzer Grün. Dann zwang ihn das Geschaukel, sich wieder gerade hinzusetzen. Er schaute vor sich auf die hin und her schwankende Wagenladung, seine Augen blinzelten heftig. Der Mann war Anfang zwanzig und von schlankem Wuchs, die helle Haut nach dem Tag in der Sonne gerötet. Um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, hatte er den Hut abgenommen und nicht wieder aufgesetzt; das hellbraune Haar, blond wie Virginia-Tabak, war ordentlich gestutzt, klebte nun aber in feuchten, strähnigen Locken an Ohren und Stirn. Er trug beigefarbene, fast neue Nankinghosen, deren Bügelfalten im schweren Tuch noch undeutlich zu erkennen waren. Den dunklen Sackmantel hatte er bereits abgelegt, ebenso Schlips und Weste, doch trotz des leichten Lufthauchs in der langsam dahinrollenden Dougherty zeigten sich Schweißflecken auf dem weißen Leinenhemd, das schlaff an ihm herabhing. Der blonde Flaum seines Zweitagebartes schimmerte feucht, und manchmal fuhr sich der Mann mit einem schmutzigen Taschentuch übers Gesicht, als ob ihn die Stoppeln juckten.

Je näher sie der Stadt kamen, desto ebener wurde der Weg; der Wagen kam schneller voran und schwankte nur noch sanft hin und her, weshalb der junge Mann die Hickorystange loslassen und sich auf der harten Bank etwas bequemer hinsetzen konnte. Das Klappern der Hufe klang nun rhythmisch und gedämpft; eine Wolke von Staub, gelb wie Rauch, stieg über dem Wagen auf und wogte hinterdrein. Durch das Rasseln des Zaumzeugs, den schweren Atem der Mulis, ihr Hufklappern und das unregelmäßige Knarzen der Kutsche drang aus der Ferne gelegentlich der Ruf einer menschlichen Stimme oder das Wiehern eines Pferdes. Neben dem Weg tauchten im Gras der weiten Prärie kahle Flächen auf; hier und da waren die verkohlten, überkreuz liegenden Scheite eines erloschenen Lagerfeuers zu sehen; einige gehobbelte Pferde weideten auf dem kurzen gelben Gras, rissen aber beim Geräusch des vorbeirumpelnden Wagens den Kopf hoch, die Ohren nach vorn gerichtet. Eine wütende Stimme wurde immer lauter; jemand lachte; ein Pferd schnaubte und wieherte, und eine plötzliche Bewegung ließ das Zaumzeug klirren; in der heißen Luft hing ein schwacher Geruch nach Mist.

Butcher’s Crossing war fast mit einem Blick zu überschauen. Ein schmaler Sandweg teilte eine Ansammlung von sechs grob gezimmerten Gebäuden, hinter denen auf beiden Seiten Zelte standen. Zuerst passierte der Wagen auf der Linken ein Zelt aus locker gespanntem, armeegrauem Tuch; die Seitenbahnen waren aufgerollt und hielten ein Brett mit groben, rot aufgemalten Lettern: JOE LONG, BARBAR. Auf der anderen Seite des Wegs stand ein flacher Bau, fast quadratisch, fensterlos, mit einem Stück Segeltuch als Tür; quer über die Vorderfront aus ungehobelten Brettern hing ein Schild mit schwarzen, sorgfältiger ausgeführten Lettern: BRADLEY KURZWAREN. Der Überlandwagen hielt schließlich vor dem nächsten Haus, einem lang gezogenen, zweistöckigen Bau, aus dessen Innerm leise und anhaltend Stimmengewirr drang; in unregelmäßigen Abständen hörte man Gläser klirren. Ein langer Dachvorsprung sorgte für Schatten, in dessen Dämmer über dem Eingang ein mit Schnörkelbuchstaben verziertes Schild zu sehen war; darauf stand in roten, schwarz geränderten Lettern: JACKSON’S SALOON. Auf der langen Bank vorm Gebäude hockten mehrere Männer, die lethargisch zusahen, wie der Wagen anhielt. Der junge Passagier nahm die zuvor wegen der Tageshitze abgelegte Kleidung von der Rückbank, setzte seinen Hut auf, zog den Mantel an und stopfte Weste und Schlips in der Reisetasche, auf die er bis eben noch seine Füße abgelegt hatte. Er hob die Tasche übers Seitenbrett, ließ sie zu Boden fallen, schwang gleichzeitig ein Bein übers Brett und trat auf die vorstehende Eisenplatte, die es ihm erlaubte, auf die Straße zu springen. Sobald die Stiefel den Boden berührten, wirbelten seine Füße ein Wölkchen Staub auf, der sich auf dem neuen schwarzen Leder und den unteren Hosenbeinen absetzte, weshalb sie fast dieselbe Farbe annahmen. Er griff nach der Tasche und trat unter das vorspringende Dach in den Schatten; in seinem Rücken mischten sich in das gelegentliche Scheppern von Eisen und das Klirren des Zaumzeugs die Flüche des Kutschers, der den hinteren Wagenbaum zu lösen versuchte. In vorwurfsvollem Ton rief er: »Kann mir mal einer von euch Jungs zur Hand gehen?«

Der junge Mann, der gerade aus der Kutsche gestiegen war, drehte sich auf den groben Planken des Gehwegs um und sah zu, wie der Kutscher mit den Zügeln hantierte, die sich in den Zugriemen verfangen hatten. Zwei der Männer, die auf der Bank gesessen hatten, standen auf, schoben sich an ihm vorbei und traten langsam auf die Straße; sie musterten das Seil, mit dem die Fracht gesichert war, und begannen dann ohne jede Eile, die Knoten zu lösen. Mit einem letzten Ruck gelang es dem Kutscher, die Zügel zu entwirren; und er führte die Mulis in einer langen Diagonale über die Straße zum Stall, einem niedrigen, offenen Gebäude mit einem von ungeschälten Stämmen getragenen Dach aus Spaltholzschindeln.

Sobald der Kutscher das Gespann im Stall untergebracht hatte, senkte sich erneut Stille über die Straße. Eins nach dem anderen lockerten die beiden Männer alle um die abgedeckte Fracht gespannten Seile; die Geräusche aus dem Saloon klangen wie von Staub und Hitze gedämpft. Vorsichtig ging der junge Mann die ungleich langen, direkt auf dem blanken Boden ausgelegten Planken Abfallholz entlang. Ihm gegenüber, auf der anderen Straßenseite, war ein halb in die Erde eingelassener Unterstand mit steil abfallendem Dach, an dessen Vorderseite ein aufgeklappter, von zwei schräg stehenden Pfosten gehaltener Türlappen hing, der über den breiten Eingang herabgelassen werden konnte; im Unterstand selbst lagen auf Bänken und Regalen verteilt einige Sättel und ein halbes Dutzend oder mehr Stiefel; lange Streifen Rohleder baumelten an einem Haken, der aus der Grassodenwand gleich neben dem Einlass ragte. Links von diesem kleinen Unterstand befand sich ein doppelstöckiges Bauwerk, frisch gestrichen, weiß, an den Rändern rot abgesetzt und fast so lang wie Jackson’s Saloon, wenn auch ein wenig höher. In der Mitte der Vorderfront war eine breite Tür, über der auf einem ansprechend gerahmten Schild BUTCHER’S HOTEL stand. Und darauf ging der junge Mann nun langsam zu, wobei er beobachtete, wie jeder seiner Schritte den Straßenstaub in rasch verfliegenden Wirbeln vor sich herstieß.

Er betrat das Hotel und blieb einen Moment stehen, damit sich seine Augen ans Dämmerlicht gewöhnen konnten. Rechts ragten die unbestimmten Konturen eines Tresens auf, dahinter stand regungslos ein Mann in weißem Hemd. Im Raum verteilt sah er ein halbes Dutzend gerader, ledergepolsterter Stühle. Durch quadratische Fenster, die man in regelmäßigen Abständen in jene drei Wände eingelassen hatte und die er von hier aus sehen konnte, fiel Licht; die Öffnungen waren mit durchsichtigem Tuch bespannt, das sich sacht einwärts wölbte, als wären das Halbdunkel und die leichte Kühle ein Vakuum. Er ging über die nackten Dielen zu dem wartenden Hotelangestellten.

»Ich hätte gern ein Zimmer.« Seine Stimme hallte dumpf in der Stille wider.

Der Angestellte schob ihm das offene Gästebuch hin und reichte ihm eine Feder mit Stahlspitze. Bedächtig trug der junge Mann seinen Namen ein: William Andrews; die Tinte war dünn, fahles Blau auf grauem Papier.

»Zwei Dollar«, sagte der Angestellte, zog das Buch wieder an sich und schielte auf den Namen. »Zwei extra, wenn Sie heißes Wasser raufgebracht haben wollen.« Plötzlich schaute er Andrews direkt an. »Bleiben Sie lang?«

»Bin mir nicht sicher«, erwiderte Andrews. »Kennen Sie einen J.D. McDonald?«

»McDonald?« Der Angestellte nickte bedächtig. »Der Fellgerber? Klar. McDonald kennt jeder. Freund von Ihnen?«

»Nicht unbedingt«, sagte Andrews. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

Der Angestellte nickte. »Hat ein Büro unten bei den Solegruben. Zu Fuß knapp zehn Minuten.«

»Ich will morgen zu ihm«, sagte Andrews. »Bin erst vor wenigen Minuten aus Ellsworth angekommen und müde.«

Der Angestellte klappte das Buch zu, wählte von einem großen Ring einen Schlüssel und gab ihn Andrews. »Ihre Tasche müssen Sie selbst nach oben tragen«, sagte er. »Das Wasser bringe ich, wann immer Sie wollen.«

»Ungefähr in einer Stunde«, sagte Andrews.

»Zimmer fünfzehn«, sagte der Angestellte. »Gleich an der Treppe.«

Andrews nickte. Eine Treppe ohne Geländer und mit Stufen ohne Stoßbretter stieg an der hinteren Wand steil nach oben und führte zu einer kleinen rechtwinkligen Öffnung im ersten Stock. Vor Andrews erstreckte sich ein enger Flur, an den sich zu beiden Seiten Zimmer reihten. Er fand seine Kammer und öffnete die unverschlossene Tür. Drinnen war nur Platz für ein schmales Seilbett mit dünner Matratze, einen grob gehauenen Tisch mit Lampe und Blechschüssel, einen Spiegel und einen geraden Stuhl, ähnlich jenen, die er unten in der Eingangshalle gesehen hatte. Das Fenster ging auf die Straße, in die Öffnung war ein leichter, herausnehmbarer, mit gazeähnlichem Stoff bespannter Holzrahmen eingesetzt. Ihm fiel auf, dass er seit seiner Ankunft in dieser Stadt keine Glasscheiben gesehen hatte. Er stellte die Reisetasche auf die unbezogene Matratze.

Nachdem er seine Sachen ausgepackt hatte, schob er die Tasche unter das niedrige Bett und streckte sich auf der knotigen Matratze aus; knirschend gab sie unter seinem Gewicht nach; und er konnte spüren, wie sich die Seile spannten, welche die Matratze gegen seinen Leib drückten. Kreuz, Hintern, selbst die Oberschenkel pochten dumpf; er hatte gar nicht gemerkt, wie anstrengend die Fahrt gewesen war.

Jetzt aber war seine Reise zu Ende, und als sich die Muskeln entspannten, verfolgte er in Gedanken den Weg zurück, den er gekommen war. Fast zwei Wochen lang hatte er sich von Kutsche und Bahn durchs Land schaukeln lassen. Von Boston nach Albany, von Albany nach New York, von New York – die Namen der Städte wirbelten in seiner Erinnerung durcheinander, ganz unabhängig von der tatsächlich genommenen Route: Baltimore, Philadelphia, Cincinnati, St. Louis. Er dachte an die ermüdend unbequemen, harten Kutschsitze und das untätige Warten auf Lattenbänken in schmuddeligen Hallen. All die Widrigkeiten der Reise ließen ihn jeden einzelnen Knochen im Leib spüren, was er nun offenbar noch deutlicher wahrnahm, weil er wusste, dass er angekommen war.

Er ahnte, dass ihm morgen alles weh tun würde, aber er lächelte, schloss die Augen vor dem hellen, bespannten Fenster, zu dem sein Bett ausgerichtet war, und nickte ein.

Wenig später brachte der Hotelangestellte einen Holzzuber und einen Eimer mit dampfendem Wasser. Andrews erhob sich und schöpfte ein wenig davon in die Blechschüssel, seifte das Gesicht ein und rasierte sich. Der Angestellte kehrte mit zwei weiteren Eimern zurück, kaltes Wasser, das er in den Zuber goss. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, zog Andrews sich bedächtig aus, schüttelte den Staub aus den Kleidern und legte sie ordentlich auf den Stuhl. Dann stieg er in den Zuber und setzte sich, die Knie bis ans Kinn gezogen. Langsam seifte er sich ein, schläfrig vom warmen Wasser und der spätnachmittäglichen Stille. Er saß im Zuber, bis der Kopf vornüber sackte; erst als die Stirn seine Knie berührte, richtete er sich auf und stieg aus dem Wasser. Er stand auf dem nackten Boden, tropfnass, und blickte sich um. Da er kein Handtuch entdeckte, nahm er das Hemd vom Stuhl und trocknete sich damit ab.

Die Dämmerung kroch ins Zimmer; das Fenster war nur noch ein fahles Hell im zunehmenden Dunkel; eine kühle Brise blähte das Spanntuch und ließ es erzittern; wie etwas Lebendiges schien es zu beben, größer und kleiner zu werden. Von der Straße war stetig anschwellendes Gemurmel zu hören und das Geräusch von über die Brettersteige polternden Stiefeln. Lachend brandete eine Frauenstimme auf und verstummte abrupt wieder.

Das Bad hatte ihn entspannt und das Pochen in den gemarterten Rückenmuskeln gelindert. Noch nackt schob er die gefaltete, halbwollene Decke zu einem Kissen zusammen und legte sich auf die unbezogene Matratze. Sie fühlte sich rau auf der Haut an, doch schlief er ein, noch ehe es im Zimmer völlig dunkel geworden war.

Im Laufe der Nacht wurde er mehrmals von Geräuschen geweckt, die sein am Rand des Schlafs dahintaumelnder Verstand nicht einzuordnen wusste. Während dieser Wachphasen blickte er sich um und konnte in der völligen Dunkelheit die Wände nicht sehen, die Grenzen seines Zimmers, weshalb er meinte, blind zu sein und reglos im Nichts zu hängen. Er spürte, dass das Lachen, die Stimmen, das unterdrückte Quietschen und rhythmische Wummern, das Geläut der Zaumglöckchen und Geschirrketten, dass all dies von seinem eigenen Kopf ausging und darin herumwirbelte wie Wind in einer hohlen Kugel. Einmal glaubte er eine Stimme zu hören, dann ein Lachen, eine Frau, ganz in der Nähe, irgendwo auf dem Flur, in einem der Zimmer. Mehrere Augenblicke lang lag er wach und lauschte aufmerksam, hörte sie aber nicht wieder.

II

ANDREWS FRÜHSTÜCKTE IM HOTEL. In einem schmalen Raum am hinteren Ende des ersten Stocks befand sich ein einziger langer Tisch, um den herum eine Reihe jener geraden Stühle stand, aus denen das Mobiliar des Hotels vorwiegend zu bestehen schien. An einem Ende saßen drei Männer nah beieinander und unterhielten sich; Andrews hatte sich allein ans andere Ende gesetzt. Der Angestellte, der ihm gestern das Wasser gebracht hatte, kam in den Speiseraum und fragte Andrews, ob er Frühstück haben wollte; als Andrews nickte, wandte er sich um und ging in die kleine Küche im Rücken der drei Männer. Er hinkte leicht, was man aber nur von hinten sehen konnte, und kehrte mit einem Tablett zurück, darauf ein großer Teller mit Bohnen und Maisgrütze sowie ein Becher mit dampfendem Kaffee. Er stellte das Essen vor Andrews ab und langte zur Tischmitte nach einem Schälchen Salz.

»Wo kann ich McDonald um diese Uhrzeit finden?«, fragte Andrews.

»In seinem Büro«, antwortete der Angestellte. »Da ist er meistens, Tag wie Nacht. Gehen Sie die Straße runter bis zum Bach, und unmittelbar bevor Sie zu dem Pappelhain kommen, biegen Sie links ab. Sein Büro ist die kleine Hütte gleich vor den Solegruben.«

»Solegruben?«

»Für die Felle«, erwiderte der Angestellte. »Sie können es nicht verfehlen.«

Andrews nickte. Der Angestellte drehte sich wieder um und verließ den Raum. Andrews aß langsam; die Bohnen waren lauwarm und schmeckten selbst mit Salz eigentlich nach nichts; der Maisbrei war zerkocht und nur halb aufgewärmt. Der Kaffee aber war heiß und bitter und betäubte die Zunge, so dass sich die Lippen über seine geraden weißen Zähne spannten. Er trank ihn bis auf den letzten Tropfen, so rasch, wie es ihm das heiße Gebräu nur erlaubte.

Als er mit dem Frühstück fertig und auf die Straße hinausgegangen war, stand die Sonne hoch über den wenigen Gebäuden der Stadt und strahlte mit einer Kraft herab, die fast etwas Stoffliches hatte. Heute waren mehr Menschen unterwegs als am Nachmittag zuvor bei seiner Ankunft; Herren mit dunklem Anzug und Melone mischten sich unter eine größere Anzahl eher nachlässig gekleideter Männer in verblichenen Jeans, dreckigem Drillich oder dunklem Tuch. Sie gingen auf den Gehwegen oder auf der Straße ihren Geschäften nach, wenn auch ohne besondere Eile, und unter dem Grau ihrer Kleider tauchte nur vereinzelt ein wenig Farbe auf, das Rot, Lavendelblau oder reine Weiß eines Rocks, einer Bluse. Andrews zog sich die Krempe seines Schlapphuts in die Stirn, bis seine Augen beschattet waren, und folgte der Straße in Richtung Pappelhain.

Er kam am Geschäft für Lederwaren vorbei, am Stall und an einer offenen Schmiede. Hier endete die Stadt, und er trat vom Gehweg auf die Straße. Nach knapp zweihundert Metern sah er den Abzweig, den der Angestellte beschrieben hatte, kaum mehr als zwei parallele, von Rädern kahl gefahrene Wegspuren. Am Ende, etwa hundert Meter von der Straße entfernt, stand eine kleine Flachdachhütte, dahinter einige Stangenzäune, deren Anordnung sich ihm aus dieser Entfernung nicht erschloss. Bei den Zäunen sah er mehrere leere, in unterschiedlicher Richtung abgestellte Wagen, deren Deichseln zaunabgewandt auf dem Boden lagen. Je näher Andrews dem Büro und den Zäunen kam, desto stärker wurde ein diffuser, ihm unbekannter Gestank.

Die Hüttentür stand offen. Andrews verharrte, die geballte Hand zum Klopfen gehoben; in dem einzigen Raum herrschte ein großes Durcheinander an Büchern, Papieren und Kladden, die verstreut auf dem nackten Holzboden lagen, sich in den Ecken zu ungleichen Haufen stapelten und aus Kisten entlang der Wand quollen. In der Mitte saß, bedrängt von allen Seiten, ein Mann in Hemdsärmeln über einen einfachen Tisch gebeugt, blätterte hastig die schweren Seiten eines Hauptbuches um und fluchte dabei leise und monoton vor sich hin.

»Mr. McDonald?«, fragte Andrews.

Der Mann blickte auf, der kleine Mund stand offen, die Brauen waren über blauen, hervorquellenden Augen hochgezogen, deren Weiß von derselben abgetönten Farbe wie das Hemd war. »Herein, nur herein«, sagte er, riss eine Hand hoch und fuhr sich abrupt durchs schüttere Haar, das ihm in die Stirn hing. Er stieß den Stuhl vom Tisch und machte Anstalten aufzustehen, lehnte sich dann aber mit zusammengesackten Schultern müde wieder zurück.

»Kommen Sie herein, bleiben Sie nicht einfach da stehen.«

Andrews betrat den Raum, verharrte aber gleich hinter der Schwelle. McDonald deutete mit einer Handbewegung auf eine Ecke in Andrews’ Rücken und sagte:

»Holen Sie sich einen Stuhl, junger Mann, und setzen Sie sich.«

Andrews zog einen Stuhl hinter einem Stapel Papiere hervor und stellte ihn vor McDonalds Tisch.

»Was wollen Sie – was kann ich für Sie tun?«, fragte McDonald.

»Ich heiße Will Andrews. Ich schätze, Sie können sich nicht mehr an mich erinnern.«

»Andrews?« McDonald runzelte die Stirn und musterte den jungen Mann beinahe abweisend. »Andrews …« Die Lippen spannten sich, die Mundwinkel zogen sich zu den Falten hinab, die vom Kinn emporliefen. »Vergeuden Sie meine Zeit nicht, verdammt; wenn ich mich an Sie erinnern könnte, hätte ich was gesagt, als Sie hereinkamen. Und jetzt …«

»Ich habe hier einen Brief«, sagte Andrews und fasste in seine Brusttasche, »von meinem Vater. Benjamin Andrews. Sie kennen ihn aus Boston.«

McDonald nahm den Brief, den Andrews ihm reichte. »Andrews? Boston?« Er klang gereizt, abgelenkt und hielt beim Öffnen des Briefes den Blick auf Andrews gerichtet. »Aber natürlich. Warum haben Sie nicht gleich gesagt, wer Sie sind – na klar, dieser Prediger.« Er las den Brief aufmerksam und bewegte ihn dabei vor den Augen hin und her, als könnte er auf diese Weise seine Lektüre beschleunigen. Kaum war er fertig, faltete er den Brief wieder zusammen und ließ ihn auf einen Stapel mit Dokumenten fallen. Dann trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. »Mein Gott! Boston! Das muss jetzt zwölf, vierzehn Jahre her sein. Vor dem Krieg. Ich habe bei Ihnen im Wohnzimmer oft Tee getrunken.« Verwundert schüttelte er den Kopf. »Bestimmt habe ich Sie das eine oder andere Mal gesehen, kann mich aber nicht daran erinnern.«

»Mein Vater hat oft von Ihnen erzählt«, sagte Andrews.

»Von mir?« Wieder stand McDonald der Mund offen, und langsam schüttelte er den Kopf; seine runden Augen schienen dabei in ihren Höhlen zu rollen. »Warum? Wir haben uns doch höchstens ein dutzend Mal gesehen.« Sein Blick wanderte an Andrews vorbei, als er ausdruckslos hinzusetzte: »Ich war niemand für ihn, über den er viel hätte erzählen können. Ich war Angestellter irgendeiner Kurzwarenfirma. Kann mich nicht mal mehr an ihren Namen erinnern.«

»Ich glaube, Mr. McDonald, mein Vater hat Sie bewundert«, sagte Andrews.

»Mich?« Er lachte auf, dann stierte er Andrews misstrauisch an. »Jetzt hören Sie mal zu, junger Mann. Ich bin in die Kirche Ihres Vaters gegangen, weil ich dachte, ich würde wen kennenlernen, der mir einen besseren Job verschaffen könnte, und aus demselben Grund fing ich an, zu seinen kleinen Treffen zu gehen. Die meiste Zeit habe ich überhaupt nicht kapiert, wovon die reden«, sagte er bitter. »Ich habe immer nur genickt, wenn was zu mir gesagt wurde. Genützt hat’s einen Dreck.«

McDonald schüttelte den Kopf. »Boston«, flüsterte er halblaut. »Meine Güte!«

Er starrte weiter an Andrews vorbei. Dann hob er die Schultern und holte tief Luft. »Und wie hat der alte Mr. Andrews rausgekriegt, wo ich bin?«

»Ein Mann von Bates und Durfee kam durch Boston und hat erwähnt, dass Sie für eine Firma in Kansas City arbeiten. In Kansas City wurde mir dann gesagt, dass Sie gekündigt haben und hierhergezogen sind.«

McDonald grinste angespannt. »Ich hab jetzt meine eigene Firma. Bin vor vier, fünf Jahren bei Bates und Durfee weg.« Er zog ein finsteres Gesicht, und eine Hand wanderte zu dem Hauptbuch, das er zugeklappt hatte, als Andrews hereinkam. »Mach jetzt alles selbst … Egal.« Er richtete sich wieder auf. »In dem Brief steht, dass ich Ihnen helfen soll, so gut ich kann. Aber weshalb sind Sie eigentlich hier?«

Andrews stand auf, ging im Zimmer auf und ab und betrachtete dabei die Papierstapel.

McDonald grinste und senkte die Stimme. »Ärger? Haben Sie daheim irgendwelchen Ärger?«

»Nein«, antwortete Andrews rasch. »Nichts dergleichen.«

»Haben viele junge Männer«, sagte McDonald. »Deshalb kommen sie ja hier raus. Auch Söhne von Predigern.«

»Mein Vater ist Laienpriester in der Unitarischen Kirche«, sagte Andrews.

»Ist doch alles eins.« McDonald winkte ungeduldig ab. »Also? Wollen Sie einen Job? Teufel auch, Sie können bei mir anfangen. Ist ja wohl offensichtlich, dass ich kaum nachkomme. Sehen Sie sich nur dies viele Zeug an.« Er richtete einen bebenden Zeigefinger auf die Papierstapel. »Ich hinke zwei Monate hinterher, und das wird von Tag zu Tag schlimmer. Find keinen, der lang genug still sitzen kann, um …«

»Mr. McDonald«, unterbrach ihn Andrews. »Ich weiß nicht das Geringste über Ihre Geschäfte.«

»Was? Sie wissen nicht was? Na ja, Felle, junger Mann. Büffelfelle. Ich kaufe und verkaufe. Ich schicke Jagdtrupps los, die mir die Felle besorgen, und verkaufe sie in St. Louis. Erledige hier vor Ort das Salzen und Gerben selbst. Hatte letztes Jahr fast hunderttausend Felle. Dieses Jahr? Zwei-, dreimal so viel. Großartige Gelegenheit, junger Mann. Meinen Sie, Sie könnten mir bei dem Papierkram zur Hand gehen?«

»Mr. McDonald …«

»Der Papierkram macht mich fertig.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die dünnen, schwarzen Haarsträhnen, die ihm über die Ohren fielen.

»Ich bin Ihnen ja wirklich sehr dankbar«, sagte Andrews, »aber ich bin mir nicht sicher …«

»Teufel auch, ist nur ein Anfang. Sehen Sie.« Wie eine Klaue griff seine hagere Hand nach Andrews’ Arm, fasste ihn kurz überm Ellbogen und zog ihn zur Tür. »Sehen Sie da raus.« Sie traten ins gleißende Sonnenlicht; Andrews blinzelte, und die Helligkeit ließ ihn zusammenzucken. Ohne Andrews’ Arm loszulassen, zeigte McDonald auf die Stadt. »Als ich vor einem Jahr herkam, gab es da drei Zelte und einen Unterstand – einen Saloon, ein Bordell, einen Kurzwarenladen und eine Schmiede. Und jetzt sehen Sie selbst.« Er beugte sich vor, um Andrews heiser und mit süßsaurem Tabakatem direkt ins Gesicht zu flüstern: »Behalten Sie das für sich – aber noch zwei, drei Jahre, und aus dieser Stadt wird was. Ich hab mir schon ein halbes Dutzend Parzellen abgesteckt, und wenn ich das nächste Mal nach Kansas City fahre, besorge ich mir noch mal so viele. Hier stehen die Zeichen auf Zukunft!« Er schüttelte Andrews’ Arm wie einen Stock und senkte wieder die Stimme, die schrill geworden war: »Verstehen Sie, junger Mann. Hier hängt alles von der Eisenbahn ab. Erzählen Sie’s nicht weiter, aber wenn die kommt, wird das hier eine echte Stadt. Bleiben Sie bei mir, ich führe Sie auf den richtigen Weg. Das Land hier draußen kann jeder für sich beanspruchen, Sie brauchen bloß im Staatlichen Liegenschaftsamt Ihren Namen auf ein Stück Papier zu setzen. Dann lehnen Sie sich zurück und warten ab; das ist alles.«

»Danke, Sir«, erwiderte Andrews. »Ich werde drüber nachdenken.«

»Drüber nachdenken?« McDonald ließ seinen Arm los und wich erstaunt einen Schritt zurück. Dann warf er die Hände in die Höhe und fuchtelte damit herum, während er wütend einen engen, kleinen Kreis abschritt. »Drüber nachdenken? Warum denn, junger Mann? Das ist die Gelegenheit. Hören Sie, was haben Sie in Boston gemacht, ehe Sie herkamen?«

»Ich war am Harvard College im dritten Jahr.«

»Sehen Sie?«, rief McDonald triumphierend. »Und was hätten Sie nach dem vierten Jahr gemacht? Sie hätten angefangen, für irgendwen zu arbeiten, oder Sie wären Lehrer geworden so wie der alte Mr. Andrews oder – hören Sie. Hier draußen gibt’s nicht viele wie uns. Männer mit Weitblick. Männer, die über den Tellerrand schauen.« Er wies mit zittriger Hand auf die Stadt. »Haben Sie die Leute da gesehen? Haben Sie mit denen geredet?«

»Nein, Sir«, sagte Andrews. »Ich bin erst gestern Nachmittag aus Ellsworth gekommen.«

»Jäger«, sagte McDonald. Seine trocknen schmalen Lippen verzogen und öffneten sich, als hätte er etwas Faules gegessen. »Alles Jäger und Versager. So wäre es um dieses Land bestellt, wenn es keine Männer wie uns gäbe. Die Leute leben nur vom Land und wissen nicht, was sie sonst damit anfangen sollen.«

»Sind überwiegend Jäger in der Stadt?«

»Jäger, Versager, ein paar Faulpelze aus dem Osten. In dieser Stadt dreht sich alles um Büffelfelle, aber das ändert sich. Warten Sie nur die Eisenbahn ab.«

»Ich glaube, ich würde gern mit denen reden«, sagte Andrews.

»Mit wem?«, rief McDonald. »Den Jägern? Ach, du meine Güte! Sagen Sie nicht, Sie sind wie die anderen jungen Burschen, die hierherkommen. Drei Jahre Harvard, und das wollen Sie damit anfangen? Ich hätte es wissen müssen. Hätte es wissen müssen, als ich Sie kommen sah.«

»Ich will doch bloß mit einigen von ihnen reden«, sagte Andrews.

»Na klar«, sagte McDonald bitter. »Und als Nächstes wollen Sie bloß noch fort.« Sein Ton wurde ernst. »Hören Sie zu, mein Junge. Hören Sie mir gut zu. Wenn Sie sich den Männern anschließen, ist das Ihr Untergang. Ach, ich hab’s oft genug erlebt. Es kommt über Sie wie die Büffellaus. Alles andere wird dann egal. Diese Männer …« McDonalds Klauenhand fuhr durch die Luft, als suchte sie nach dem passenden Wort.

»Mr. McDonald«, erwiderte Andrews leise, »ich weiß zu schätzen, was Sie für mich tun wollen, aber lassen Sie mich Ihnen etwas erklären. Ich bin hergekommen …« Er verstummte und ließ seinen Blick an McDonald vorbeiwandern, zur Stadt und über den Erdwall hinaus, hinter dem er den Fluss vermutete, hin zu dem flachen, gelbgrünen Land, das sich im Westen bis zum Horizont erstreckte. Er versuchte, sich in Gedanken zurechtzulegen, was er McDonald sagen wollte. Es war ein Gefühl, ein Drang, den er benennen musste, obwohl er wusste, was immer er auch sagte, es wäre letztlich doch nur ein anderes Wort für die Wildheit, nach der er suchte. Es ging ihm um Freiheit und das Gute, um Hoffnung und eine Lebenskraft, die allem Altbekannten in seinem Leben zu unterliegen schien, das weder frei noch gut oder lebendig war. Was er suchte, war das, was seine Welt nährte und sie erhielt, eine Welt, die sich stets ängstlich von ihrer Quelle abzuwenden schien, statt danach zu suchen, so wie das Präriegras um ihn herum faserige Wurzeln in die satte, dunkle Feuchte schickte, in die Wildnis, und sich so erneuerte, Jahr um Jahr. Plötzlich kam ihm mitten in dieser großen weiten, so geheimnisvollen und menschenleeren Prärie das Bild einer Bostoner Straße in den Sinn, mitsamt Kutschen und Spaziergängern, die unter dem Gewölbe der in gleichmäßigem Abstand gepflanzten Ulmen mühselig ihren Tagesgeschäften nachgingen, Bäume, die man, wie es schien, dazu gebracht hatte, direkt aus dem Pflaster der Bürgersteige und Straßen zu wachsen; ihm kam das Bild hoher Gebäude in den Sinn, dicht an dicht, mit ihren von Rauch und Stadtdreck überzogenen, reich verzierten Quadern; ihm kam das Bild des Charles’ in den Sinn, jenes Flusses, der sich durch gepflügte Äcker wand, vorbei an Dörfern und Städten, um den Unrat von Mensch und Stadt hinaus in die große Bucht zu spülen.

Ihm wurde bewusst, wie krampfhaft er die Hände ballte, wie seine Fingerspitzen innen an den feuchten Handflächen abglitten. Er öffnete die Fäuste und wischte sich die Hände an der Hose ab.

»Ich bin hierhergekommen, weil ich so viel wie möglich vom Land sehen möchte«, sagte er leise. »Ich will es kennenlernen. Ich muss das einfach tun.«

»Diese jungen Leute«, sagte McDonald in sanftem Ton. Glitzernde Schweißtropfen verbanden sich zu flachen Rinnsalen auf seiner Stirn und verliefen sich in den wirren Brauen, die sich wieder zu den Augen hinabgesenkt hatten. McDonald musterte Andrews nun mit festem Blick. »Die wissen einfach nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Mein Gott, wenn Sie jetzt loslegen würden – wenn Sie den Verstand hätten, jetzt loszulegen, dann könnten Sie mit vierzig …« Er zuckte die Achseln. »Ach, gehen wir raus aus der Sonne.«

Sie traten wieder in die dämmrige kleine Hütte. Andrews merkte, wie schwer sein Atem ging; das Hemd war schweißnass, klebte an der Haut und scheuerte bei jeder Bewegung. Er zog den Mantel aus, ließ sich auf den Stuhl vor McDonalds Tisch sinken und spürte, wie sich eine eigenartige Schwäche und Mattigkeit über Brust, Schultern und Fingerspitzen legte. Tiefe Stille breitete sich aus. McDonalds Hand lag auf dem Hauptbuch, ein Finger schwebte ziellos über der Seite, berührte sie aber nicht. Schließlich seufzte McDonald und sagte: »Also schön. Gehen Sie und reden Sie mit ihnen, aber ich warne Sie: Die meisten Männer hier draußen arbeiten für mich; und es dürfte Ihnen nicht leichtfallen, sich ohne meine Einwilligung einem der Jagdtrupps anzuschließen. Also versuchen Sie lieber gar nicht erst, mit meinen Leuten loszuziehen. Lassen Sie die Männer in Frieden. Ich will nicht für Sie verantwortlich sein. Ich will Sie nicht auf dem Gewissen haben.«

»Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich mit auf die Jagd gehen möchte«, kam es träge von Andrews. »Ich will nur mit den Männern reden.«

»Abschaum«, brummte McDonald. »Sie kommen den weiten Weg aus Boston in Massachusetts, um sich mit diesem Abschaum einzulassen.«

»Mit wem sollte ich reden, Mr. McDonald?«, fragte Andrews.

»Wie?«

»Mit wem sollte ich reden?«, wiederholte Andrews. »Es sollte jemand sein, der sich auskennt, aber Sie sagen mir, von Ihren Leuten hätte ich mich fernzuhalten.«

McDonald schüttelte den Kopf. »Sie hören auch nicht auf das, was man Ihnen sagt, oder? Sie haben längst alles geplant.«

»Nein, Sir«, erwiderte Andrews. »Ich habe noch gar nichts geplant. Ich möchte einfach mehr über dieses Land erfahren.«

»Also gut«, sagte McDonald müde, schloss das Hauptbuch, auf dem seine Hand gelegen hatte, und warf es auf einen Stapel mit Dokumenten. »Reden Sie mit Miller. Er ist Jäger, aber nicht ganz so schlimm wie der Rest. Hat fast sein ganzes Leben da draußen zugebracht. Ist immerhin nicht so übel wie die Rebellen und die radikalen Yankees. Vielleicht redet er mit Ihnen, vielleicht auch nicht. Das müssen Sie selbst rausfinden.«

»Miller?«, fragte Andrews.

»Miller«, sagte McDonald. »Er hat unten am Fluss einen Unterstand, aber wahrscheinlich finden Sie ihn im Jackson’s. Da treiben sie sich meist rum, von morgens bis abends. Fragen Sie sich durch; Miller kennen alle.«

»Danke, Mr. McDonald«, sagte Andrews. »Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«

»Danken Sie mir nicht«, sagte McDonald. »Ich hab nichts für Sie getan, hab Ihnen nur den Namen eines Mannes genannt.«

Andrews erhob sich. Die Mattigkeit hatte nun auch seine Beine erfasst. Das kommt von der Hitze, dachte er, und weil hier alles so fremd ist. Er verharrte einen Moment, um Kraft zu sammeln.

»Noch eines«, sagte McDonald. »Nur eines, um das ich Sie bitte.« Andrews kam es vor, als wiche McDonald immer weiter ins Dämmerlicht zurück.

»Natürlich, Mr. McDonald. Was denn?«

»Geben Sie mir Bescheid, ehe Sie losziehen, falls Sie sich denn dazu entschließen. Kommen Sie einfach her und lassen Sie es mich wissen.«

»Gern«, sagte Andrews. »Ich hoffe doch, Sie noch öfter zu sehen. Ich werde bestimmt noch eine Weile brauchen, bevor ich mich zu etwas entschließe.«

»Sicher«, sagte McDonald bitter. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Davon haben Sie genug.«

»Auf Wiedersehen, Mr. McDonald.«

McDonald winkte ab, verärgert, und wandte seine Aufmerksamkeit abrupt wieder den Papieren auf dem Tisch zu. Andrews trat aus der Hütte, ging bedächtig über den Hof und bog in den Weg ein, der zurück zur Straße führte. Dort hielt er an. Ihm gegenüber, wenige Schritte zur Linken, standen die Pappeln; dahinter musste der Fluss sein, der die Straße kreuzte; er konnte zwar kein Wasser sehen, machte aber die aufgeworfene, mit flachem Gestrüpp und Gras bewachsene Uferböschung aus, die sich in der Ferne verlor. Er wandte sich um und kehrte zurück in die Stadt.

Es war fast Mittag, als er wieder ins Hotel kam; die Mattigkeit, die ihn in McDonalds Hüte ergriffen hatte, blieb. Im Speiseraum aß er ein wenig Bratfleisch mit gekochten Bohnen und nippte an bitterem Kaffee. Der Hotelangestellte kam in den Raum gehinkt und fragte, ob er McDonald gefunden habe; das habe er, erwiderte Andrews; der Angestellte nickte und sagte nichts weiter. Bald darauf verließ er den Speiseraum, ging auf sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Er sah zu, wie die Gaze in seinem Fenster sanft nach innen gebläht wurde, und schlief bald ein.

III

ALS ER AUFWACHTE, WAR ES im Zimmer dunkel; nur das Spanntuch vorm Fenster ließ flackernde Helle von der Straße unten herein. Er hörte streitlustiges Gemurmel vieler Stimmen, von fernen Rufen übertönt, ein Pferd schnaubte, Hufe klapperten. Einen Moment lang konnte er sich nicht daran erinnern, wo er war.

Abrupt fuhr er auf und setzte sich an den Bettrand. Unter ihm ächzte die Matratze; er beruhigte sich und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, über Nacken und Hinterkopf, dehnte sich, reckte den Hals und genoss die Verspannung, die sich angenehm warm zwischen den Schultern ausbreitete. Im Dunkeln ging er durchs Zimmer zu dem kleinen Tisch, dessen Umrisse unter dem Fenster vage zu erkennen waren. Er fand darauf ein Streichholz und zündete die Lampe neben der Waschschüssel an. Im Spiegel zeigte sein Gesicht scharfe Kontraste zwischen gelb getönter Helle und dunklen Schatten. Er tunkte die Hände in das lauwarme Wasser der Schüssel, wusch sich und trocknete Hände wie Gesicht dann mit demselben Hemd, das er tags zuvor benutzt hatte. Im flackernden Licht der Lampe band er sich seine schmale schwarze Krawatte, zog den braunen Sackmantel an, der bereits nach seinem Schweiß zu riechen begann, und betrachtete sich im Spiegel wie einen Fremden. Dann blies er die Lampe aus und verließ das Zimmer.

Gelbes Licht ergoss sich aus den offenen Türen und Fenstern der wenigen Gebäude von Butcher’s Crossing und warf lange Schatten über die Straße. Aus dem Kurzwarenladen gegenüber dem Hotel fiel ein einzelner Lichtschimmer, in dem sich unförmige Gestalten bewegten, die durch ihre Schatten noch größer wirkten. Gelächter, lautes Füßescharren und mehr Licht drangen aus dem Saloon nebenan. Vor Jackson’s hatte man in zweieinhalb bis drei Metern Abstand zum Gehweg einen grob zusammengezimmerten Holm aufgestellt, an den einige Pferde festgebunden waren. Die Tiere rührten sich nicht, allein die Lichter spiegelten sich in ihren Augäpfeln und auf dem glatten Fell ihrer Flanken. Am oberen Ende der Straße, gleich hinter dem Unterstand, hingen Lampen an zwei Holzpfosten vor dem Pferdestall; hinterm Stall schimmerte die dumpfe rote Glut der Schmiede; außerdem konnte man das schwere Scheppern von Hammerschlägen auf Eisen hören sowie wütendes Zischen, wenn heißes Metall in Wasser getaucht wurde. In einer flachen Diagonale überquerte Andrews die Straße und betrat das Jackson’s.

Der Raum war lang und schmal und erstreckte sich im rechten Winkel zur Straße; es war dort so eng, dass vier Männer nicht bequem Schulter an Schulter stehen konnten. Ein halbes Dutzend Lampen hing von den ungestrichenen, rußgeschwärzten Dachsparren und warf ein scharf nach unten gerichtetes Licht, so dass alles direkt Angestrahlte in seinem gelben Schein aufleuchtete, alles übrige aber in unbestimmte Schatten versank. Andrews ging weiter. An der rechten Wand verlief fast über die gesamte Raumlänge ein Tresen, der aus zwei nebeneinandergelegten, grob behauenen Brettern bestand; sie ruhten auf Hackklötzen, die auf den unebenen Bodendielen standen. Andrews holte tief Luft, doch als das beißende Gemisch von Schweiß, Alkohol und Petroleum in seine Lungen drang, musste er husten. Er trat an den kaum hüfthohen Tresen; der Barkeeper, ein gedrungener, glatzköpfiger Mann mit mächtigem Schnauzbart und fahler Hautfarbe, blickte ihn an, sagte aber kein Wort.

»Ein Bier.«

Der Barkeeper holte unterm Tresen einen schweren Krug hervor und wandte sich zu einem der Fässer um, die auf großen Holzkisten standen; er drehte den Hahn auf, das Bier lief in weißen Blasen über den Rand und außen am Glas herunter. Als er den Krug vor Andrews abstellte, sagte er: »Macht einen Vierteldollar.«

Andrews kostete vom Bier; es schmeckte schal und war wärmer als die Luft im Raum. Er legte eine Münze auf den Tisch.

»Ich suche einen gewissen Mr. Miller«, sagte er. »Mir wurde gesagt, ich könne ihn hier finden.«

»Miller?« Der Barkeeper drehte sich gleichmütig zum anderen Ende des Raumes um, wo im Dämmerlicht zwei kleine Tische standen, an denen ein halbes Dutzend Männer still vor ihren Gläsern saß. »Scheint nicht da zu sein. Sind Sie ein Freund?«

»Hab ihn noch nie getroffen«, erwiderte Andrews. »Ich möchte etwas Geschäftliches mit ihm besprechen. Mr. McDonald meinte, er sei vermutlich hier.«

Der Barkeeper nickte. »Vielleicht finden Sie ihn im großen Saal.« Er deutete mit einem Blick auf eine Stelle hinter Andrews, der sich daraufhin umdrehte und eine geschlossene Tür entdeckte, die zu einem weiteren Raum zu führen schien. »Ist ein großer Kerl, glatt rasiert. Hockt da sicher mit Charley Hoge – kleiner Typ, grauhaarig.«

Andrews dankte dem Barkeeper, trank sein Bier aus und öffnete die Tür in der schmalen rückwärtigen Seite des Saloons. Der Raum, den er betrat, war größer, aber auch spärlicher beleuchtet als jener, den er verließ. An den Haken der rauchgeschwärzten Sparren hingen zahlreiche Lampen, doch waren nur wenige angezündet, weshalb sich zwischen einzelnen Lichtinseln unregelmäßig Schattentümpel ausbreiteten. Grobgehauene Tische waren so angeordnet, dass in der Mitte ein ovaler Platz frei blieb; am hinteren Ende führte eine steile Treppe in den ersten Stock. Andrews trat mit weit geöffneten Augen ins Dämmerlicht.

An einem der Tische saßen fünf Männer und spielten Karten; sie blickten nicht auf, als Andrews näher kam, redeten aber auch untereinander kein Wort. Nur das Klatschen der Karten und leise Klicken der Pokerchips durchbrach die Stille. Am Nachbartisch steckten zwei Frauen die Köpfe zusammen und tuschelten; nebenan hockte ein Pärchen; weitere Gruppen saßen an Tischen irgendwo im Dämmerlicht des großen Raumes verteilt. Die ganze Szene wirkte seltsam gedämpft und so, als würde die Zeit gedehnt, was Andrews eigenartig fand und so faszinierend, dass er einen Moment lang vergaß, weshalb er eigentlich gekommen war. Ganz am Ende des halbdunklen verrauchten Saals sah er zwei Männer und eine Frau an einem Tisch sitzen. Sie hielten offenbar Abstand zu den übrigen Gästen, und der kräftigere der beiden Männer starrte ihn direkt an. Andrews ging durch den Raum auf ihn zu.

Als er vor dem Tisch stehen blieb, schauten die drei zu ihm auf. Sie verharrten eine Weile stumm und ohne sich zu regen; Andrews Aufmerksamkeit war in erster Linie auf den kräftigen hochgewachsenen Mann vor ihm gerichtet, doch entgingen ihm weder das volle, eher blasse Gesicht der Frau mit dem hellen, offenbar über nackte Schultern fallenden Haar noch die lange Nase und das graustoppelige Gesicht des kleineren Mannes.

»Mr. Miller?«, fragte Andrews.

Der hünenhafte Mann nickte. »Ich bin Miller«, sagte er. Seine Pupillen waren schwarz und deutlich vom Weiß der Augen abgegrenzt, die dicht darüber liegenden Brauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen, das den breiten Nasenrücken kraus zog. Die Haut schimmerte leicht gelblich und war glatt wie gegerbtes Leder, von seinem vollen Mund verliefen tiefe Falten aus den Winkeln hoch zu einer kräftigen Nase. Das Haar war voll, schwarz, seitlich gescheitelt und legte sich in dicken Strähnen über die Ohren. Noch einmal sagte er: »Ich bin Miller.«

»Ich heiße Will Andrews. Ich – meine Familie ist seit langem mit J.D. McDonald befreundet. Mr. McDonald sagte, Sie würden vielleicht mit mir reden.«

»McDonald?« Millers schwere, fast haarlose Lider senkten sich langsam blinzelnd über die Augen. »Setzen Sie sich, Junge.«

Andrews setzte sich auf den freien Stuhl zwischen der Frau und Miller. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Und was will McDonald?«, fragte Miller.

»Wie bitte?«

»McDonald hat Sie hergeschickt, oder nicht? Also, was will er?«

»Nein, Sir«, erwiderte Andrews. »Sie verstehen nicht. Ich möchte mich einfach nur mit jemandem unterhalten, der dieses Land gut kennt. Und Mr. McDonald war so freundlich, mir Ihren Namen zu nennen.«

Miller schaute ihn eine Weile unverwandt an, dann nickte er. »McDonald versucht seit mittlerweile zwei Jahren, mich zum Anführer eines Jagdtrupps zu machen. Ich dachte, er probiert es wieder einmal.«

»Nein, Sir«, sagte Andrews.

»Arbeiten Sie für McDonald?«

»Nein, Sir«, antwortete Andrews. »Er hat mir einen Job angeboten, aber ich habe abgelehnt.«

»Warum?«, wollte Miller wissen.

Andrews zögerte. »Ich wollte mich nicht binden. Deshalb bin ich nicht hierhergekommen.«

Miller nickte und verlagerte sein Gewicht. Andrews fiel auf, dass sich der Mann an Millers Seite bis zu diesem Augenblick nicht gerührt hatte. »Das hier ist Charley Hoge«, sagte Miller und deutete mit leichter Kopfbewegung in Richtung des grauhaarigen Mannes, der Andrews gegenübersaß.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Hoge«, sagte Andrews und wollte ihm über den Tisch die Hand reichen. Hoge grinste ihn schief an, das scharf geschnittene Gesicht halb versunken zwischen den schmalen Schulterblättern. Langsam hob er den rechten Arm und streckte dann den Unterarm mit einem Ruck über den Tisch. Er endete am Handgelenk in einem weißen, sauber vernarbten Stumpf voller Runzeln. Unwillkürlich zog Andrews seine Hand wieder zurück. Hoge lachte, ein nahezu lautloses Keuchen, das sich nur mühsam der mageren Brust zu entringen schien.

»Beachten Sie Charley gar nicht, Junge«, sagte Miller. »Das macht er jedes Mal. Er findet es lustig.«

»Hab sie im Winter zweiundsechzig verloren«, sagte Charley Hoge, der vor Lachen immer noch nach Luft rang. »War erfroren und wäre glatt abgefallen, wenn …« Plötzlich zitterte er und hörte auch nicht wieder auf, als würde er aufs Neue die Kälte spüren.

»Sie könnten Charley einen Whiskey spendieren, Mr. Andrews«, erklärte Miller in beinahe sanftem Ton. »Das fände er auch noch ganz lustig.«

»Natürlich«, sagte Andrews und erhob sich halb von seinem Stuhl. »Soll ich …«

»Lassen Sie nur«, sagte Miller. »Francine wird uns die Drinks besorgen.« Er nickte der Blonden zu. »Das hier ist Francine.«

Andrews verharrte in halb aufgerichteter Stellung. »Freut mich«, sagte er und verbeugte sich leicht. Die junge Frau lächelte; die blassen Lippen entblößten dabei sehr weiße und etwas unregelmäßige Zähne.

»Na klar«, sagte Francine. »Soll ich sonst noch was mitbringen?« Sie sprach langsam und mit leichtem deutschem Akzent.

»Für mich ein Bier«, sagte Andrews. »Und falls Sie auch etwas möchten?«

»Nein, danke«, erwiderte Francine. »Ich arbeite gerade nicht.«

Sie stand auf und entfernte sich vom Tisch; einen Moment lang folgte ihr Andrews’ Blick. Sie war kräftig gebaut, bewegte sich aber anmutig durch den Saal und trug ein Kleid aus einem glänzenden Stoff mit breiten weißen und blauen Streifen. Das Mieder saß eng, was ihre volle Figur betonte. Während er wieder Platz nahm, sah Andrews Miller fragend an.

»Arbeitet sie … hier?«, fragte Andrews.

»Francine?« Miller schaute ihn ausdruckslos an. »Francine ist eine Hure. In dieser Stadt gibt es neun oder zehn davon; sechs arbeiten hier und ein paar Indianerinnen bei den Unterständen am Fluss.«

»Eine gefallene Frau«, sagte der immer noch zitternde Charley Hoge. »Ein Sündenweib.« Er lächelte nicht.

»Charley ist ein Mann der Bibel«, sagte Miller. »Er kann ziemlich gut darin lesen.«

»Eine … Hure«, sagte Andrews und schluckte. Dann lächelte er. »Irgendwie sieht sie gar nicht aus wie … eine …«

Millers Mundwinkel zuckten leicht nach oben. »Was haben Sie gesagt, Junge? Woher kommen Sie?«

»Aus Boston«, sagte er. »Boston in Massachusetts.«

»Gibt’s keine Huren in Boston, Massachusetts?«

Andrews wurde warm im Gesicht. »Denk schon«, sagte er. »Denk schon«, sagte er noch einmal. »Ja.«

Miller nickte. »Es gibt also Huren in Boston. Aber eine Hure in Boston und eine Hure in Butcher’s Crossing, also, die kann man nicht über einen Kamm scheren.«

»Ich verstehe«, sagte Andrews.

»Das glaube ich nicht«, sagte Miller. »Doch Sie werden es schon noch verstehen. In Butcher’s Crossing gehört eine Hure notwendig zum Geschäftsleben dazu. Ein Mann braucht außer Essen und Schnaps schließlich noch etwas, wofür er sein Geld ausgeben kann, etwas, das ihn in die Stadt zurück lockt, wenn er draußen im Land unterwegs ist. In Butcher’s Crossing kann eine Hure wählerisch sein und selbst bestimmen, dabei aber immer noch ein hübsches Sümmchen verdienen, was sie fast zu einer Art Respektsperson macht. Ein paar von ihnen heiraten sogar und werden zu richtig guten Eheweibern für solche Männer, die ein Eheweib haben wollen.«

Andrews sagte nichts.

Miller lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Außerdem ist gerade nicht viel los, weshalb Francine nicht arbeitet. Und ich schätze, wenn eine Hure nicht arbeitet, dann sieht sie aus wie alle anderen Frauen auch.«

»Sünde und Verderben«, sagte Charley Hoge. »Sie trägt das in sich.« Mit der gesunden Hand umklammerte er den Tischrand so fest, dass die Knöchel unter der braunen Haut blauweiß hervortraten.

Francine kehrte mit den Getränken an den Tisch zurück und beugte sich über Andrews’ Schulter, um das Glas Whiskey vor Charley Hoge abzustellen. Andrews nahm ihre Wärme wahr, ihren Geruch und rückte beiseite. Sie stellte sein Bier vor ihm ab und lächelte; ihre Augen waren blass und rund, die rötlich blonden Brauen, weich wie Daunenfedern, ließen sie noch größer aussehen und so, als würden sie niemals blinzeln. Andrews fischte einige Münzen aus seiner Hosentasche und drückte sie Francine in die Hand.

»Soll ich gehen?«, fragte sie Miller.

»Setz dich«, erwiderte er. »Mr. Andrews möchte nur reden.«

Der Anblick des Whiskeys hatte Charley Hoge beruhigt; er nahm das Glas und trank es rasch aus; dabei warf er den Kopf in den Nacken, und sein Adamsapfel huschte wie ein kleines Tier unter dem grauen Fell seiner bärtigen Kehle auf und ab. Kaum hatte er ausgetrunken, sackte er auf seinem Stuhl wieder in sich zusammen, verharrte reglos und beobachtete die anderen aus seinen kalten, kleinen grauen Augen.

»Und worüber möchten Sie reden, Mr. Andrews?«, fragte Miller.

Andrews sah unbehaglich zu Francine und Charley Hoge. Dann lächelte er. »Sie fragen ziemlich direkt«, sagte er.

Miller nickte. »Das wollte ich auch.«

Andrews schwieg und sagte schließlich: »Ich schätze, ich will dieses Land kennenlernen. Ich war noch nie da draußen und will so viel wie möglich davon sehen.«

»Warum?«, wollte Miller wissen.

Andrews schaute ihn verständnislos an.

»Sie klingen, als wären Sie ein gebildeter Mann, Mr. Andrews.«

»Stimmt, Sir«, sagte er. »Ich war drei Jahre am Harvard College.«

»Aha«, sagte Miller, »drei Jahre. Nicht gerade wenig. Und seit wann sind Sie von dort fort?«

»Noch nicht lang. Ich bin vom College abgegangen, um hierherzukommen.«

Miller betrachtete ihn einen Moment. »Harvard.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe in einem Winter schreiben gelernt, in Colorado, eingeschneit in der Hütte eines Trappers. Und ich kann gerade mal mit meinem Namen unterschreiben. Was glauben Sie also, was Sie von mir lernen können?«

Andrews runzelte die Stirn und versuchte, sich die Verärgerung nicht anmerken zu lassen, die er in sich aufkommen spürte. »Ich kenne Sie doch überhaupt nicht, Mr. Miller«, entfuhr es ihm ein wenig aufgebracht. »Es ist so, wie ich gesagt habe. Ich möchte dieses Land kennenlernen. Mr. McDonald meinte, ich solle mit Ihnen reden, Sie seien der Richtige, weil Sie dieses Land besser kennen als die meisten. Und ich hatte gehofft, Sie wären so freundlich, sich ein Stündchen mit mir zu unterhalten, um mich …«

Wieder schüttelte Miller den Kopf und grinste. »Jedenfalls haben Sie ein flinkes Mundwerk, Junge, so viel steht fest. Haben Sie sich das am Harvard College angeeignet?«

Einen Moment lang schaute Andrews ihn wie erstarrt an. Dann lächelte er. »Nein, Sir. Wohl kaum. Am Harvard College redet man nicht; da hört man zu.«

»Verstehe«, sagte Miller. »Das dürfte für jeden Mann Grund genug sein, von dort zu verschwinden. Hin und wieder muss man schließlich auch mal auf sich selbst hören.«

»Genau, Sir«, sagte Andrews.

»Also sind Sie hierhergekommen. Nach Butcher’s Crossing.«

»Ja, Sir.«

»Und wenn Sie gelernt haben, was Sie lernen wollen, was dann? Gehen Sie dann zurück zu Ihren Leuten und prahlen mit Ihren Erlebnissen? Schreiben was für die Zeitungen?«

»Nein, Sir«, sagte Andrews. »Deshalb bin ich nicht gekommen. Ich bin meinetwegen hier.«

Mehrere Augenblicke lang sprach Miller kein Wort. Dann sagte er: »Vielleicht geben Sie Charley noch einen Schluck aus; und ich nehme diesmal auch ein Glas.«

Francine erhob sich und fragte Andrews: »Noch ein Bier?«

»Whiskey«, sagte Andrews.

Nachdem Francine den Tisch verlassen hatte, blieb Andrews eine Weile stumm und sah keinen der beiden Männer am Tisch an.

Miller sagte: »Sie wollten also nicht bei McDonald bleiben.«

»Da hätte ich nicht das tun können, was ich wollte.«

Miller nickte. »Dies ist eine Stadt der Jäger, Junge. Wenn Sie bleiben, haben Sie keine große Wahl. Sie können die Stelle bei McDonald annehmen und ein bisschen Geld verdienen. Oder Sie machen Ihr eigenes kleines Geschäft auf und hoffen, dass eines Tages die Eisenbahn kommt. Oder Sie schließen sich einem der Trupps an und jagen Büffel.«

»Mr. McDonald hat ungefähr dasselbe gesagt.«

»Und die letzte Möglichkeit hat ihm überhaupt nicht gefallen.«

Andrews lächelte. »Nein, Sir.«

»Er mag keine Jäger«, sagte Miller. »Und die Jäger mögen ihn nicht.«

»Warum?«

Miller zuckte die Achseln. »Sie erledigen die Arbeit, und er kassiert das Geld. Sie halten ihn für einen Gauner, und er hält sie für Idioten. Man kann es keiner Seite verdenken, sie haben beide recht.«

»Sie sind doch aber selbst auch Jäger, Mr. Miller, oder nicht?«, fragte Andrews.

Miller schüttelte den Kopf. »Nicht wie die anderen hier und erst recht nicht für McDonald. Er richtet seine eigenen Trupps aus und gibt ihnen fünfzig Cents für jedes Stück Rohhaut – Sommerhäute, kaum mehr als dünnes Leder. Für McDonald sind ständig dreißig bis vierzig Trupps unterwegs, die ihm jede Menge Häute bringen, aber bei dem, was er zahlt, können die Männer froh sein, wenn sie damit über den Winter kommen. Ich jage deshalb nur auf eigene Faust – oder gar nicht.« Miller schwieg einen Moment; Francine hatte eine viertelvolle Flasche sowie saubere Gläser gebracht, für sich selbst ein Bier. Charley Hoge langte sofort nach dem Glas Whiskey, das sie vor ihn hinstellte; Miller hielt seinen Drink nachdenklich in der schweren, unbehaarten Hand; Andrews nahm rasch einen Schluck. Der Fusel wärmte ihm die Kehle und brannte so stark auf Lippen und Zunge, dass er rein gar nichts schmeckte.

»Ich bin vor vier Jahren hergekommen«, fuhr Miller fort, »zur selben Zeit wie McDonald. Mann, Sie hätten das Land damals sehen sollen. Blickte man im Frühling von hier aus über die Prärie, war sie schwarz vor Büffeln, Tiere so dicht an dicht wie Grashalme, und das meilenweit. Wir waren damals kaum mehr als eine Handvoll, und es war für einen Trupp nichts Besonderes, in zwei Wochen Jagd tausend bis anderthalbtausend Stück zu erledigen. Sogar im Frühling, also bestes Fell. Jetzt ist hier nicht mehr viel zu holen. Büffel ziehen noch in kleinen Herden durch, aber man kann von Glück reden, wenn man zwei-, dreihundert Stück erwischt. In ein, zwei Jahren gibt’s in Kansas nichts mehr, was man noch jagen könnte.«

Andrews nahm noch einen Schluck Whiskey. »Und was machen Sie dann?«

Miller zuckte die Achseln. »Ich werde wieder Fallensteller, versuch’s im Bergwerk oder jage was anderes.« Stirnrunzelnd blickte er in sein Glas. »Oder ich jage Büffel. Gibt immer noch Stellen, wo man welche finden kann, wenn man weiß, wo man suchen muss.«

»Hier in der Gegend?«, fragte Andrews.

»Nein«, sagte Miller. Sein großer, schwarz gekleideter Körper rutschte ruhelos auf dem Stuhl herum, dann schob Miller sein Glas, aus dem er noch keinen Schluck getrunken hatte, quer über den Tisch, bis es exakt in der Mitte stand. »Im Herbst ’63 war ich in Colorado auf Biberjagd. Das war das Jahr, nachdem Charley seine Hand verloren hatte, weshalb er in Denver blieb und nicht mitkam. In jenem Jahr wuchs den Bibern das Winterfell erst ziemlich spät, also stellte ich meine Fallen an dem Fluss auf, den ich mir als Jagdgebiet ausgesucht hatte, und ritt mit dem Muli in die Berge, weil ich hoffte, noch ein paar Bären zu fangen. Es hatte geheißen, ihr Fell sei in diesem Jahr besonders gut. Ich muss an die drei Tage durch die Berge gestiegen sein, ohne auch nur einen einzigen Bären gesehen zu haben. Am vierten Tag wollte ich dann höher rauf und weiter in den Norden, als ich zu einer Stelle kam, an der das Gelände steil zu einer schmalen Schlucht abfiel. Ich vermutete da unten einen Seitenarm, an dem die Tiere ihre Tränke hatten, weshalb ich in die Schlucht stieg, was mich fast den ganzen Tag kostete. Unten war aber kein Fluss, nur flacher, nackter Grund, drei, vier Meter breit und festgestampft wie Fels, weshalb es aussah, als ob ein Weg quer durch den Berg führte. Sobald ich ihn sah, wusste ich, was es war, konnte es aber kaum glauben. Ein Trail! Büffel hatten die Erde so festgetrampelt, weil sie diesen Weg nahmen, und das Jahr für Jahr. Ich folgte der Schlucht bis zum Abend und kam kurz vor der Dämmerung in ein Tal, flach wie ein See. Es schlängelte sich durch die Berge, so weit das Auge reichte, und darin verteilt grasten überall Büffel in kleinen Herden. Selbst ihr Herbstfell war besser und dicker als das Winterfell der Tiere, die über die Prärien zogen. Von meinem Standort aus zählte ich vielleicht drei-, viertausend Stück; und es gab noch mehr Tiere auf den Talflächen, die ich nicht einsehen konnte.« Er nahm das Glas von der Tischmitte, kippte den Whiskey hinunter und schüttelte sich kurz. »Allem Anschein nach hatte kein Mensch dieses Tal jemals betreten. Höchstens ein paar Indianer vor langer Zeit. Ich blieb zwei Tage und habe nicht eine einzige menschliche Spur entdeckt und auch niemanden aus dem Tal kommen sehen. Unten am Fluss lief der Trail an einer Bergflanke lang und wurde von Bäumen verdeckt; vom Wasser aus war er deshalb praktisch nicht zu sehen.«

Andrews räusperte sich, und als er sprach, klang seine Stimme in seinen Ohren seltsam und irgendwie hohl: »Sind Sie jemals wieder da gewesen?«

Miller schüttelte den Kopf. »Nein, bin nie wieder hin. Ich wusste, das bleibt mir. Kein Mensch findet das Tal, wenn er nicht weiß, wo es liegt, oder wenn er nicht zufällig drüber stolpert so wie ich, was ziemlich unwahrscheinlich ist.«

»Zehn Jahre«, sagte Andrews. »Warum sind Sie nicht zurück?«

Miller zuckte die Achseln. »Hat einfach nie geklappt. In dem einen Jahr war Charley fieberkrank, im nächsten hatte ich eine andere Verpflichtung, dann wieder fehlte es an den nötigen Mitteln. Meist aber konnte ich nicht den richtigen Trupp zusammenstellen.«

»Was für einen würden Sie brauchen?«, wollte Andrews wissen.

Miller sah ihn nicht an. »Einen, bei dem klar ist, dass es meine Jagd bleibt. Solche Orte gibt’s nicht mehr viele, und deshalb will ich keinen der anderen Jäger dabeihaben.«

Andrews spürte, wie ihn eine seltsame Erregung packte. »Wie viele Männer wären für so einen Trupp nötig?«