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Die ausgewählten Texte des Schreibwettbewerbs campus:KRIMI. Ein Projekt des Career Service der Universität Siegen und des Emons-Verlags Köln. Mit Texten von Kevin Hupertz, Maria Dackweiler, Darya Sigal und Franziska Franke, Ankay Black, Kevin Volkmer, Martin Reinschmidt, Katharina Knipp, Maike Bieler, Lukas Müller, Elena Schäfer, sowie einem Essay von Ralf Strackbein.
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Zur Einleitung
Eine Lektorin zu Gast
Krimi Jury
Die Krimis
Kevin Hupertz:
Totes Starren
Maria Dackweiler:
Mord in der Universitätsbibliothek
Darya Sigal und Franziska Franke:
Auf der schiefen Bahn
Ankay Black:
Der Fall des Dr. Dalca
Kevin Volkmer:
Altstadtnebel
Martin Reinschmidt:
Traum Raum
Katharina Knipp:
Porträt eines Mordes
Maike Bieler:
Markierungen
Lukas Müller:
Passio Ducit Ad Mortem
Elena Schäfer:
Der Eskapist
Essay
Ralf Strackbein:
Von der Kunst, eine spannende Geschichte zu erzählen
Aufgabe des Career Service ist es, Studierende dabei zu unterstützen ihren Weg in den Beruf zu finden. Klassischerweise machen wir das mit Seminaren, Trainings, Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen: Vielfältige Möglichkeiten sich der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten bewusst zu werden, authentisch Erfahrung zu sammeln und Kontakte zu knüpfen. Als Ergänzung unserer klassischen Angebote versuchen wir auch immer wieder Studierenden in Projekten die Möglichkeit zu eröffnen, direkt Praxiserfahrung zu sammeln. Damit das gelingen kann, brauchen wir Partner aus der Praxis. In diesem Fall entstand das Projekt, dessen sichtbares Ergebnis Sie jetzt in Händen halten, aus einer unserer Vortragsveranstaltungen.
Im Sommersemester 2016 war im Rahmen des career:FORUMs Stefanie Rahnfeld zu Gast an der Universität Siegen. Der Titel ihres Vortrags: „Traumberuf Lektorin“. Die Veranstaltung war sehr gut besucht. Ein übervoller Hörsaal, viele Studierende und viele Fragen.
Intention des career:FORUMs ist es, Studierenden zu ermöglichen, sich im direkten Kontakt mit berufserfahrenen Referenten ein Bild von für sie möglichen Berufsfeldern und Tätigkeitsbereichen zu machen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung mit Stefanie Rahnfeld stand deshalb, was so alles zum Arbeitsbereich einer Lektorin gehört. Doch von Teilnehmern der Veranstaltung kamen auch Fragen, die zeigten, dass bei vielen das Interesse da war, als Autor eigene Texte bei einem Verlag zu platzieren. Eine der Fragen ganz direkt: „Wie werde ich Autorin?“ Die Antwort: „Sie können mir gerne Ihren Text schicken.“
Einige Wochen nach der Veranstaltung kam, unter dem Eindruck dieser Fragen, im Team des Career Service die Idee auf, die zu erwartenden Einsendungen zu bündeln. So entstand der Wettbewerb campus:KRIMI.
In seiner ganzen Vielfalt lässt sich der Beruf des Autors in kein Schema pressen. Alle Abläufe der Entstehung eines belletristischen Buches, zumal eines Sammelbandes, realistisch in einem Lernprojekt abzubilden, war gar nicht so einfach. Dass Sie jetzt das fertige Buch in den Händen halten zeigt, dass es geklappt hat.
An dieser Stelle allen Beteiligten, dem Team der Jury und vor allem dem Emons Verlag und Stefanie Rahnfeld ein herzliches Dankeschön für das großartige Engagement.
Siegen, im Februar 2018
Marcellus Menke,
Leitung Career Service der Universität Siegen
Der Stapel mit den ausgedruckten Krimis liegt bereit, ein gemütlicher Sessel steht am Fenster und von einem kleinen Tisch daneben verbreitet eine Tasse Tee ihren Duft im Raum. Das Smartphone wird auf lautlos gestellt, der Fernseher ausgeschaltet. Nicht einmal das Radio dudelt im Hintergrund. Was man jetzt braucht ist Zeit. Jede Menge Zeit. Denn die Jury haben etliche Krimis erreicht, die darauf warten durchwälzt zu werden.
Mit jedem neuen Krimi taucht man ab und lässt sich auf das Geschehen ein. Die so bekannten Orte, die man tagtäglich aufsucht, sei es der Hörsaal, die Bibliothek oder die Bushaltestelle, verwandeln sich auf einmal in einen Tatort. Die vertrauten Dinge sieht man plötzlich mit anderen Augen, häufig aus der Perspektive eines Kommissars, manchmal auch direkt aus der des Opfers. Jeder Krimi spricht auf seine Art und Weise den Leser an. Mal ist es das bis auf das letzte Detail durchdachte Motiv des Täters. Ein anderer Krimi überzeugt durch seine starken Dialoge. Wieder ein anderer beeindruckt durch einen außergewöhnlichen Schreibstil. Jeder Krimi hinterlässt Spuren und keiner gleicht dem anderen.
Ein paar Wochen später, nicht mehr im gemütlichen Sessel zu Hause, sondern auf einem Bürostuhl an der Uni: Teamsitzung der Jury. Eine Auswahl muss getroffen werden. Bei den vielen Einsendungen die besten Texte auszuwählen fällt nicht leicht. Jeder in der Jury hat da einen anderen Favoriten. Da merkt man, wie verschieden die Geschmäcker sind. Worauf kommt es wirklich an?
„Alles, was man für einen Krimi braucht, ist ein guter Anfang und ein Telefonbuch, damit die Namen stimmen“, hat der belgische Krimi-Autor Georges Simenon einmal gesagt. Wer wie er fünfundsiebzig Krimis und über tausend Kurzgeschichten geschrieben hat, müsste es wissen. Aber reichen allein ein Telefonbuch und ein gelungener Anfang für die Diskussion in der Jury? Da braucht es doch schon konkretere Kriterien. Um wirklich als campus:KRIMI gewertet zu werden, muss die Handlung natürlich an der Universität Siegen spielen oder die Personen stehen in einer Beziehung zu ihr. Ob es eine gute Idee ist, einen ungeliebten Dozenten eines grausamen Todes sterben zu lassen? Da hält sich die Jury zurück. Aber wer echte Personen beschreibt und deren Namen nennt, der verletzt Persönlichkeitsrechte. So also keine gute Idee. In jedem Fall sollte etwas aufgeklärt werden, ein Ermittler an der Arbeit sein und vor allem sollte die Handlung spannend sein. Denn nur ein fesselnder Krimi weckt Neugierde und lässt den Leser bis zur letzten Seite nicht los. Ob die Tat dann tatsächlich aufgedeckt wird, das bleibt natürlich den Autoren überlassen.
Und dann sind es die Details, die darüber entscheiden, ob ein Krimi veröffentlicht werden kann oder nicht. Da hat die Jury bei der Lektüre viele Überraschungen erlebt. Ob brutale Mordszenen, verschwörerische Theorien oder schizophrene Figuren, gelesen wurde alles. Die Jury hat sowohl gelacht als auch an so mancher Stelle geschaudert. Die intensive Beschäftigung mit den Krimis wird dann wohl noch einige Nachwirkungen zeigen: Es könnte zum Beispiel sein, dass sich einige Mitglieder der Jury nach 22 Uhr nicht mehr alleine in die Universitätsbibliothek trauen. Denn hinter so manchem Bücherregal könnte sich ja einer der Krimi-Bösewichte verstecken.
Eine intensive Diskussion hat dann zu einer Auswahl für die Liste der Top Ten Campus-Krimis geführt. An dieser Stelle an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein großes Dankeschön für die spannenden und wirklich kreativen Krimis. Die von der Jury ausgewählten Texte finden Sie jetzt in diesem Band. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und gerne ab und zu auch ein Schaudern…
als Mitglied der Jury aufgeschrieben
im Dezember 2017
von Annkatrin Mariele König
Mürrisch hob Kriminaloberkommissarin Sabine Deutz den Blick. Das Wetter war genauso trist wie ihre Stimmung; der Himmel war bedeckt von tiefschwarzen Sommergewitterwolken, die einige kräftige Regenschauer ankündigten.
Es war früh am Morgen, als der Anruf kam: „Wir haben eine Leiche an der Uni gefunden. Adolf-Reichwein-Campus, Blauer Hörsaal.“
„Blauer Hörsaal“, murmelte Sabine verdrossen. „Wer streicht denn bitte einen Hörsaal blau?“ Ihr Kollege, Kommissar Bastian Hardt, lachte kurz auf, erwiderte jedoch nichts. Er war Anfang dreißig, stämmig gebaut, von durchschnittlicher Größe, mit langen, schwarzen Haaren, die im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren und mit einem unauffälligen Gesicht ausgestattet. Die steten Lachfalten um die Augen verrieten seine Frohnatur. Er wirkte auf Anhieb sympathisch. Doch die Oberkommissarin kannte auch seine andere Seite. Er war mit einem unheimlichen Ehrgeiz versehen, der ihm schlaflose Nächte bescherte, wenn er anstatt zu schlafen, wieder über einem kniffligen Fall brütete. Er konnte auch sehr ernst sein. In solchen Momenten hatte sein Blick stets etwas Furchteinflößendes. Ein bisschen wie Jack Nicholson, hatte Sabine einmal gedacht. Obwohl er noch nicht lange bei der Kripo war, war sich Sabine sicher, dass dem Mann eine steile Karriere bevorstand.
Sie selbst war hochgewachsen, überragte Bastian um eine Handbreite. Das Aussehen der sportlichen Mittvierzigerin verriet auch ihre Persönlichkeit; die braunen Haare waren kurz geschoren und zeigten erste Graustiche. Die ebenfalls braunen Augen blickten wachsam. Sie strahlte eine immense Autorität aus. Dass sie lachen könnte, war schwer vorstellbar.
Ein uniformierter Polizist ließ sich ihre Marken zeigen und hob dann das Absperrband an, um die beiden in das Universitätsgebäude zu lassen. Ein weiterer Uniformierter führte sie zum Hörsaal. Bevor er die Tür öffnete, beschrieb er in knappen Worten die Szene, die sie erwartete.
„Lara Baumann, 25, Studentin hier. Das Reinigungsteam der Uni hat sie gefunden. Der Täter hat uns freundlicherweise ihre Handtasche mitsamt ihrem Ausweis und allem anderen Inhalt da gelassen. Der Gerichtsmediziner ist sich sicher, dass sie vergiftet wurde. Das Besondere ist aber: Die Leiche wurde auf einem Sitzplatz mitten in den Reihen des Hörsaals festgeklebt. Wir können daher ziemlich sicher von Mord ausgehen“, sagte er, drückte die Klinke herunter und ließ die beiden Kommissare eintreten.
Der Geruch, der ihnen entgegenschlug, war überwältigend. Aber Sabine kannte das bereits: Fäkalien und Erbrochenes, häufig gemischt mit der metallischen Duftnote von Blut und dem süßlichen Gestank verwesenden Fleisches; der Geruch des Todes.
Die beiden letzten Aspekte fehlten hier jedoch. Die Leiche war scheinbar noch zu frisch, als dass der Verwesungsprozess weit fortgeschritten sein könnte. Da der Blutgeruch ebenfalls fehlte, wies der Körper vermutlich keine offenen Wunden auf.
Die junge Frau saß mitten im Hörsaal kerzengerade auf einem der Klappsitze, den Kopf nach links gedreht, als würde sie die Wand anstarren. Sabine und Bastian gingen auf den Gerichtsmediziner zu, der neben der Leiche kniete und ihnen den Rücken zugewandt hatte. Als er ihre Schritte hörte, richtete er sich auf und drehte sich zu ihnen um.
„Ah, die Kommissare Deutz und Hardt, willkommen.“ Er schüttelte beiden die Hände. „Auf jeden Fall ein Giftmord. Ich tippe auf Arsenik, vermutlich in Wasser gelöst, dann lässt es sich einfacher zuführen. Die Verätzungen in Mund und Rachen sprechen für das Gift. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“
Er führte die beiden an der Leiche vorbei auf die andere Seite, sodass Sabine das Gesicht der Toten begutachten konnte. Der Mund war offen, die leeren Augen starrten ins Nichts. Der Pathologe öffnete den Mund der Leiche etwas weiter und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Die Umstehenden konnten die Wunden im Rachenraum erkennen. Sabine nickte, was der Pathologe als Zeichen sah, fortzufahren.
„Sie ist aber nicht unmittelbar an dem Gift gestorben. Eine akute Arsenvergiftung bewirkt unter anderem Durchfall, heftige Schmerzen und Erbrechen.“ Er zog einen Beweisbeutel aus der Tasche, in dem sich ein Stück Klebeband befand. „Sie wurde geknebelt, und konnte sich aufgrund des Klebers nicht bewegen. Sie erstickte an ihrem eigenen Erbrochenen.“
Sabine kniff die Lippen zusammen und begutachtete die Frau genauer. „Todeszeitpunkt?“
„Vor weniger als fünf Stunden.“
„Wieso wurde der Kopf in dieser Position festgeklebt?“, fragte Bastian. Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Der Täter wird seinen Grund gehabt haben, befürchte ich. Aber das herauszufinden, ist nicht mein Job“, merkte er grinsend an. Bastian zog eine Grimasse und äffte ihn stumm nach, was ihm einen missbilligenden Blick von seiner Vorgesetzten einbrachte. Manchmal verstand sie ihren Kollegen nicht. Er kniete sich hin, um das Umfeld der Toten zu untersuchen. Plötzlich hielt er inne.
„Mir fällt da gerade etwas ein“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu einem der anderen Anwesenden. Doch er schien noch mit sich zu hadern.
„Ich kann keine Gedanken lesen. Jetzt sag schon“, knurrte Sabine.
„Ich habe mal von Statuen oder Denkmälern gelesen, die mit ihren Gesten in Richtung bestimmter Orte zeigen. Orte, an denen historisch wichtige Dinge geschehen sind, oder ähnliches. Was, wenn der Täter mit der Haltung der Leiche auch etwas in dieser Art ausdrücken will?“
Sabine starrte erst ihn, dann die Leiche an. „Er will uns irgendeinen Hinweis geben“, murmelte sie. Jäh erhob sie sich. „Ich will Suchtrupps, Spürhunde, das volle Programm! Sucht das gesamte Blickfeld der Toten ab, mit Priorität auf allem, was in Uni-Nähe liegt. Wenn es hier etwas gibt, dass uns hilft den Fall aufzuklären, will ich, das es gefunden wird!“ Die Mannschaft nickte und einige rannten hinaus, um ihre Anweisungen auszuführen.
Die Suche blieb erfolglos, egal wie sehr Sabine den Suchbereich vergrößerte. Als ihre Leute nach zwei Tagen noch immer nichts gefunden hatten, war sie verärgert. Das war reine Zeitverschwendung. Bastians Idee war für sie nicht mehr nachvollziehbar. Wo trieb er sich überhaupt herum? Er war nirgends zu finden. Als sie gerade ihr Handy zückte, um ihn anzurufen, kam er in ihr Büro gestürmt. Sie wollte ihrem Unmut Luft machen, doch er kam ihr zuvor.
„Wir haben einen Verdächtigen“, rief er.
Auf dem Weg informierte Bastian sie über die neusten Erkenntnisse. „Das Arsenik stammt aus den Beständen der Uni, wurde gestern Abend nach einer Routinekontrolle als gestohlen gemeldet. Das Opfer hatte zwar einen Schlüssel für das Lager, aber das Gift wurde nicht bei ihr gefunden, weder in ihren Habseligkeiten, noch bei ihr Zuhause.“
„Und was ist mit dem Verdächtigen?“, drängte Sabine. Der Kommissar grinste.
„Bei der Befragung ihrer Freundinnen haben wir herausgefunden, dass sie eine Affäre mit einem ihrer Dozenten hatte. Ein Dr. Schwarzbruch. Es könnte sein, dass sie ihn erpresst und damit gedroht hat, die ganze Sache auffliegen zu lassen. Das hätte ihn seine Stellung kosten können.“
Sabine überlegte. Das war zwar tatsächlich ein Motiv, aber sollte es wirklich so einfach sein?
Dr. Schwarzbruch war sichtlich beunruhigt, als die beiden den Verhörraum betraten. Er sprang auf und begann seine Unschuld zu beteuern. Sabine versuchte, ihn zu beruhigen, und bugsierte ihn sanft zurück auf seinen Stuhl. Mit Tränen in den Augen erzählte er ihnen bereitwillig alles, was die beiden von ihm wissen wollten. Die Frage, ob die Studentin ihn erpresst hätte, verneinte er vehement. Immer wieder betonte er, dass er der jungen Frau kein Haar gekrümmt hätte, und er auch länger das Lager nicht mehr betreten hätte.
„Ich bin hauptsächlich in der Didaktik tätig. Da verschlägt es mich selten in die Lagerräume“, behauptete er noch, bevor seine Stimme brach und er anfing zu weinen. Eine Weile schluchzte er vor sich hin, und Sabine war sich unschlüssig, was sie tun sollte. Gerade wollte sie aufstehen, als Dr. Schwarzbruch sich nochmal aufsetzte.
„Warten Sie“, bat er und zog die Nase hoch. „Bei unserem letzten Treffen erzählte sie mir, dass Sie jemanden kennengelernt habe, und unsere Beziehung beenden wolle. Ich fragte, mit wem sie sich traf, aber sie wollte mir das nicht verraten.“ Sabine zog die Augenbrauen hoch und tauschte einen schnellen Blick mit Bastian. Dieser zückte sein Notizbuch.
„Wann war das?“, fragte er.
„Vor zwei Wochen“, flüsterte der Dozent. „Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“
„Unschuldiger geht's nicht“, murmelte Sabine und zog die Tür des Verhörraumes hinter sich zu.
„Bist du dir sicher?“, fragte Bastian. Seine Zweifel standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Er könnte das auch alles gespielt haben.“ Sabine schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Die Möglichkeit bestand natürlich, aber sie vertraute auf ihren Instinkt. Sie wusste einfach, dass sie ihr Augenmerk nicht auf Schwarzbruch richten sollte.
„Befrag nochmal die Familie und die Freunde des Opfers“, trug sie ihrem Kollegen auf. „Schwarzbruch schicken wir nach Hause. Er hat meine Nummer, falls ihm noch etwas einfällt.“ Bastian nickte knapp und machte sich auf den Weg.
Einige Stunden später saß Sabine in ihrem Büro und grübelte. Sie trat auf der Stelle, und das behagte ihr nicht. In ihr nagte die Ungewissheit, das peinigende Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Doch sie kam nicht darauf, egal wie sehr sie auch überlegte und abwägte. Schließlich stand sie frustriert auf, um sich einen Kaffee zu machen.
Während die dunkle Flüssigkeit Tropfen für Tropfen die Kanne füllte, ging Sabine im Geiste nochmal alle Punkte durch. Die Position der Leiche, der Diebstahl des Giftes, die Beziehung des Opfers zu Schwarzbruch und dessen Rolle in all dem. Plötzlich runzelte sie die Stirn. Ihr war ein Gedanke gekommen. Das Chemielager befand sich in einem anderen Gebäudeteil als der Hörsaal. Selbst wenn die Studentin einen Schlüssel für das Lager besaß, so war es doch unwahrscheinlich, dass sie auch einen für jeden Gebäudeeingang hatte. Wie konnte der Täter also zum Hörsaal gelangen?
Sie fluchte leise. Das rückte den Dozenten wieder näher in den Kreis der Verdächtigen. Hatte sie sich von ihm täuschen lassen? Schwarzbruch besaß sicherlich Schlüssel für alle möglichen Türen. Sie musste zu ihm fahren. Sofort.
Als sie schon in der Tür stand, klingelte ihr Handy Im Laufen zückte sie es und sah aufs Display. Unbekannte Nummer. Sie ging dran.
„Deutz?“
„Oh mein Gott, helfen Sie mir!“
„Dr. Schwarzbruch?“ Sabine blieb stehen. „Was ist geschehen?“
„Ich … ich weiß es nicht. Ich muss bewusstlos gewesen sein, ich bin gerade aufgewacht, und … ich bin an einen Stuhl geklebt. Ich konnte meine Hände losreißen!“
„Beruhigen Sie sich. Können Sie mir sagen, wo Sie sind?“
„Auf jeden Fall in einem Uni-Gebäude. Es ist dunkel, ich kann nicht viel erkennen … Doch! Eine Raumkennung! Gebäudeteil K. Ebene 3. Bei dem großen Turm.“ Er stöhnte plötzlich auf. „Beeilen Sie sich, bitte. Ich fühle mich nicht so gut...“
Die Verbindung brach ab. Während sie Bastians Nummer aus ihren Kontakten heraussuchte, versuchte sie, sich den Lageplan des Campus ins Gedächtnis zu rufen.
Sie fluchte erneut, diesmal laut. Der K-Turm befand sich gegenüber des Hörsaaltraktes, in dem die Leiche gefunden wurde.
Und er lag im Blickfeld der Toten.
Sabine traf Bastian vor dem Eingang, der zum Gebäudeteil K führte. Obwohl sie nicht davon ausging, dass der Täter noch anwesend war, hatte sie das SEK angefordert, auch für den Fall einer Geiselnahme. Sie ließen sich kugelsichere Westen anlegen und warteten ungeduldig, bis jeder in Position war. Als sie die Freigabe bekam, nickte Sabine Bastian zu, und gemeinsam betraten sie das Gebäude.
Bastian schickte sie durch den Aufzug hinauf, sie selbst nahm die Treppe. So waren die beiden möglichen Fluchtwege für den Täter blockiert. Mit gezückter Waffe rannte sie die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend. Als sie auf der dritten Ebene ankam, wartete Bastian bereits auf sie.
„Dr. Schwarzbruch?“, rief sie. Zunächst Stille. Dann:
„Hier“, kam es schwach aus dem Korridor. Sabine lief los, Bastian folgte ihr.
Schwarzbruch saß auf einem Stuhl, mitten im Korridor. Er hatte sich übergeben. Sein Hemd war gesprenkelt mit Erbrochenem. Sein leichenblasses Gesicht war schmerzverzerrt. Sabine meinte, auch den Geruch von Kot zu bemerken.
Er war vergiftet worden.
Sie steckte die Waffe weg und wollte zu ihm eilen. Doch als sie auf ihn zuging, weiteten sich seine Augen. Er wurde panisch.
„Nein, nicht! Bleib weg, weg, weg!“, kreischte er. Sabine blieb verwirrt stehen.
„Dr. Schwarzbruch? Ich will Ihnen helfen, was...“
„Nicht Sie! ER!“
„Leg die Waffe auf den Boden. Ich muss mit dir reden“, ertönte kalt Bastians Stimme hinter ihr. Sein entschlossener Tonfall ließ keinen Zweifel. Er meinte es ernst.
Langsam nahm sie ihre Pistole aus dem Holster, legte sie auf den Boden und kickte sie weit von sich weg.
„Gut so. Jetzt dreh dich um und gib mir dein Funkgerät.“ Auch das tat sie. Bastian nahm das Gerät, gab die Meldung durch, dass sie Schwarzbruch gefunden hatten, er wohlauf und vom Täter nichts zu sehen sei. Die Mannschaft draußen entspannte sich. Die ganze Zeit über hielt er seine Waffe auf Sabine gerichtet.
„Willst du mich verarschen, Bastian?“, fragte Sabine wütend. „Was soll das?“
„Ich musste sie bestrafen, alle beide!“, sagte Bastian und leckte sich die Lippen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, obwohl es im Gebäude sehr kühl war. „Das Miststück hat mich mit diesem halben Hemd dort vorne betrogen!“
„Himmel!“, stöhnte Schwarzbruch.
„Du hattest eine Beziehung mit Lara Baumann?“, fragte Sabine erstaunt. Sie hatte nicht einmal gewusst, ob ihr Kollege überhaupt in einer Beziehung lebte. Bastian nickte.
„Seit zwei Jahren. Was hat sie dir erzählt, Schwarzbruch? Sie hätte jemanden kennengelernt?“ Er lachte bitter auf. „Ich habe sie unterstützt, habe sogar ihre verdammten Semesterbeiträge bezahlt, damit sie ihr beschissenes Studium durchziehen konnte!“ Mit jedem Wort wurde er lauter. „Und wie dankt sie es mir? Sie steigt mit DEM DA ins Bett! ICH LASSE ES NICHT ZU, DASS MAN MICH BETRÜGT!“ Er blickte zu Schwarzbruch und grinste. Wahnsinn blitzte in seinen Augen auf. „Aber sie hat ihre Abrechnung bekommen, und du bist der Nächste!“
Ich muss Zeit gewinnen, ihn ablenken, dachte Sabine verzweifelt. „Wie bist du an das Gift gelangt?“, fragte sie Bastian.
„Lara hatte einen Schlüssel für das Lager. Es war nicht schwer, sie davon zu überzeugen, nachts dort einzusteigen. Sie fand es aufregend.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die anderen Türen waren nicht schwer zu knacken. So konnte ich sie auch in den Hörsaal verfrachten, nachdem ich sie bewusstlos geschlagen hatte.“
„Wieso hast du ihre Handtasche dagelassen? Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie vorerst unbekannt geblieben wäre?“
Bastians Kiefer mahlten. „Ich war zu ungeduldig. Der ursprüngliche Plan war, Schwarzbruch den Mord in die Schuhe zu schieben. Du solltest schnell von der Affäre erfahren. Doch dann habe ich im Verhörraum gesehen, wie schwach er war. So schwach, dass du sofort von seiner Unschuld überzeugt warst.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mich auch dafür verflucht, dir den Tipp mit der Position der Leiche gegeben zu haben. Anfangs wollte ich belastendes Beweismaterial hier im Turm verstecken. Den Behälter mit dem Arsen beispielsweise, zusammen mit dem Reagenzglas, in dem ich das Pulver in Wasser gelöst habe. Alles mit seinen Fingerabdrücken. Eigentlich wollte ich dich danach erst darauf hinweisen. Aber der Ermittler in mir hat in dem Moment überhandgenommen. Es war, als wäre ich jemand anderes, und nicht der Täter. Nun, es kam ohnehin alles anders. Als du ihn nach Hause schicktest, wurde ich panisch und fürchtete um meinen Plan. Er musste doch seine Strafe erhalten!“
Bastian blickte sie beinahe flehend an, als ob er um ihr Verständnis bitten würde. „Also habe ich ihn betäubt und hierher gebracht. Irgendwie muss er mitbekommen haben, dass ich es war, sonst hätte er mich vorhin nicht erkannt.“ Ärger schlich sich in seine Stimme. „Scheinbar war ich auch mit dem Kleber zu sparsam, sonst hätte er sich nicht befreien und dich anrufen können. Nun, jetzt ist es auch egal. Er stirbt bald, und du mit ihm!“
Er richtete die Waffe auf Sabine, sein Finger krümmte sich um den Abzug. Doch er zögerte. Diesen Augenblick nutzte Sabine zum Angriff. Sie rannte auf ihn zu, duckte sich und rammte ihre Schulter in seinen Bauch. Das metallische Klappern verriet ihr, dass er seine Waffe fallen gelassen hatte. Sie schlugen auf dem Boden auf. Zunächst lag Sabine auf ihm, doch Bastian schlug ihr mit Wucht gegen die Schläfe, und sie sackte benommen von ihm herunter. Ächzend hockte Bastian sich auf sie und grinste.
„Du bist verrückt geworden“, krächzte Sabine, als er seine Hände um ihre Kehle schloss.
„Vielleicht“, antwortete er. Er schwitzte vor Erregung. „Aber mir gefällt‘s!“ Er drückte zu.
Sabine war schwindlig, sie konnte nicht klar denken. Die Luft wurde knapp, Panik stieg in ihr auf. Dann sah sie es.
Sein Zopf baumelte vor ihrem Gesicht. Ihr Sichtfeld konzentrierte sich nur darauf, und in ihrem Kopf stiegen Erinnerungen an zahllose Selbstverteidigungskurse auf. Das war ihre einzige Chance, ansonsten würde sie sterben.
Sie brachte ihre letzten Kräfte auf, packte den Pferdeschwanz mit der linken Hand und zog. Bastian stieß einen erschrockenen Schrei aus, sein Kopf schnappte nach hinten. Mit aller Kraft hämmerte Sabine ihre rechte Faust mehrmals gegen seinen Kehlkopf, bis dieser mit einem widerlichen Geräusch nachgab. Blubbernd ergoss sich ein Blutschwall aus Bastians Mund, und röchelnd sank er von ihr herunter. Zuckend und nach Luft ringend wälzte er sich über den Boden, während sie von ihm weg robbte und sich schwer atmend gegen eine Wand lehnte.
Sie wartete, bis er sich nicht mehr regte, bevor sie aufstand, ihm das Funkgerät abnahm und einen Notarzt verlangte. Zudem befahl sie einige Leute zu sich hinauf, um Schwarzbruch aus dem Gebäude zu bringen.
Sabine blickte zu dem Dozenten. Er atmete flach, seine Augenlider flatterten.
„Hil...fe...“, stöhnte er leise.
„Alles wird gut“, sagte Sabine beruhigend. „Es ist vorbei.“ In der Ferne hörte sie das rettende Martinshorn aufheulen.
Laut dem Psychologen hatte Bastian an der Schwelle zu einer Identitätsstörung gestanden. Dafür sprach das Überhandnehmen des Ermittlers bei der Untersuchung des Tatortes, wie er es genannt hatte. Scheinbar hatte die Erkenntnis, dass seine Freundin ihn betrogen hatte, ein schweres Trauma hinterlassen, welches bei seiner labilen Persönlichkeit auf fruchtbaren Boden traf. Es blieb nur die Frage offen, wie er durch die psychologischen Tests gelangen konnte, um bei der Kripo anzufangen. Doch damit musste sie sich nicht befassen.