Canceln -  - E-Book

Canceln E-Book

0,0

Beschreibung

Muss Pippi Langstrumpf sterben? Welche Bedeutung hat die »Cancel-Culture« für die Literatur?

Kein vernünftiger Mensch will Literatur verbieten – oder etwa doch? Die Diskussionen werden hitziger. Wie gehen wir mit rassistischen Stereotypen in literarischen Klassikern um? Wollen wir ein Buch noch weiterlesen, wenn gegen dessen Autor:in schwere moralische Vorwürfe erhoben werden? Droht tatsächlich eine neue Zensur, wie manche befürchten? Für die einen ist das „Canceln“ ein notwendiger Schritt im Kampf gegen Diskriminierung, für die anderen ein Schreckgespenst, das die Freiheit der Kunst bedroht. Klar ist: Die Debatte berührt nicht nur einen Kern der Literatur, sondern auch unseres Zusammenlebens. Sie ist ein notwendiger Streit – dem die Autor:innen dieses Bands klug, pointiert und aus verschiedenen Perspektiven auf den Grund gehen.

Mit Beiträgen von Asal Dardan, Adrian Daub, Hanna Engelmeier, Jürgen Kaube, Konrad Paul Liessmann, Ijoma Mangold, Lothar Müller, Mithu Sanyal, Marie Schmidt, Johannes Schneider, Anna-Lena Scholz und Daniela Strigl.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 291

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das ist das Cover des Buches »Canceln« von Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald

Über das Buch

Muss Pippi Langstrumpf sterben? Welche Bedeutung hat die »Cancel-Culture« für die Literatur?Kein vernünftiger Mensch will Literatur verbieten — oder etwa doch? Die Diskussionen werden hitziger. Wie gehen wir mit rassistischen Stereotypen in literarischen Klassikern um? Wollen wir ein Buch noch weiterlesen, wenn gegen dessen Autor:in schwere moralische Vorwürfe erhoben werden? Droht tatsächlich eine neue Zensur, wie manche befürchten? Für die einen ist das »Canceln« ein notwendiger Schritt im Kampf gegen Diskriminierung, für die anderen ein Schreckgespenst, das die Freiheit der Kunst bedroht. Klar ist: Die Debatte berührt nicht nur einen Kern der Literatur, sondern auch unseres Zusammenlebens. Sie ist ein notwendiger Streit — dem die Autor:innen dieses Bands klug, pointiert und aus verschiedenen Perspektiven auf den Grund gehen.Mit Beiträgen von Asal Dardan, Adrian Daub, Hanna Engelmeier, Jürgen Kaube, Konrad Paul Liessmann, Ijoma Mangold, Lothar Müller, Mithu Sanyal, Marie Schmidt, Johannes Schneider, Anna-Lena Scholz und Daniela Strigl.

Canceln

Ein notwendiger Streit

Mit Beiträgen von Asal Dardan, Adrian Daub, Hanna Engelmeier, Jürgen Kaube, Konrad Paul Liessmann, Ijoma Mangold, Lothar Müller, Mithu Sanyal, Marie Schmidt, Johannes Schneider, Anna-Lena Scholz und Daniela Strigl

Hanser

Vorwort

Niemand mit Verstand und Herz will Literatur verbieten — oder doch? Seit einigen Jahren häufen sich die Auseinandersetzungen um Bücher und Autoren. In dem Streit darüber, was Literatur denn nun sei und was sie solle, sind neue Töne zu hören. Sollen wir Karl May noch lesen, obwohl seine Werke voller längst überholter ethnischer Stereotype stecken? Wie gehen wir mit den Büchern einer Autorin um, wenn gewichtige moralische oder juristische Vorwürfe im Raum stehen — die in der literarischen Arbeit möglicherweise gar keine Spuren hinterlassen haben? Was tun mit historisch belasteten Begriffen aus einer Zeit, als weite Teile der Gesellschaft von Überzeugungen durchdrungen waren, die heute als rassistisch gelten? Und wie steht es um das, was man früher den »Kanon« nannte, wenn immer mehr Stimmen laut werden, die dessen männlichen Blick oder kolonialistische Perspektive kritisieren?

Die Rede ist von einer »Cancel-Debatte«. Dabei gibt schon der Begriff des »Cancelns« Rätsel auf. Was bedeutet er in einer pluralistischen Gesellschaft? Wie unterscheidet sich »Canceln« von Kritik? Und was geschieht mit Werken und Personen, die gecancelt werden? Verschwinden sie von der Bildfläche? Oder erlangen sie gerade besonderen Ruhm?

Literatur ist ein Raum der Möglichkeiten. Aktuell stehen sich zwei Lager gegenüber, die offenbar vollkommen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie dieser Raum zu nutzen ist. Jedes Lager belegt das andere mit allerhand klingenden Namen. Da sind auf der einen Seite die »Woken«, die die Literatur auf einem Irrweg sehen, wenn darin rassistische, sexistische, kolonialistische, homophobe und auf andere Weise diskriminierende Narrative weitergetragen werden — im Wissen um die Macht der Fiktion auf die außerliterarische Wirklichkeit, in der Menschen wegen ebenjener Ausgrenzungen um ihre Sicherheit fürchten müssen. Auf der anderen Seite stehen die »Bewahrer«, von ihren Gegnern und Gegnerinnen oft als »alte weiße Männer« über einen Kamm geschoren, die die literarische Überlieferung gefährdet sehen, wenn Texte der Vergangenheit an moralischen Maßstäben der Gegenwart gemessen werden.

Zugegeben, die Darstellung ist verkürzt. Die Cancel-Debatte ist in den letzten Jahren um zahllose Nuancen reicher geworden, sodass es kaum noch möglich ist, sie in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Ist das Canceln von Literatur grundsätzlich falsch? Manchmal notwendig? Immer richtig, wenn es dem »richtigen« Ziel dient? Auch wenn die hitzig eskalierenden Diskussionen bisweilen einen anderen Eindruck vermitteln — pauschale Antworten auf solche Fragen sind bei genauerer Betrachtung kaum möglich. Zu wichtig ist der Kontext, zu wichtig sind die inneren Zusammenhänge und Zwischentöne, zu wichtig ist die Einbettung des jeweiligen Werkes in die gesellschaftliche Realität seiner Entstehung und seiner Rezeption. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Cancelns kann ohne genaue Lektüre, ohne Sensibilität für die Macht von Sprache und ohne immer neue Kontextualisierung nicht gelingen.

Es gehört zu den Vorteilen von Anthologien, dass sie der Forderung nach Differenzierung und Vielstimmigkeit schon durch die Zahl der Beitragenden nachkommen können. In einer Debatte, die Internet, Feuilletons und Köpfe regelmäßig zum Glühen bringt, sucht auch dieser Band den Streit — aber nicht den erbitterten, bei dem es nur darum geht, recht zu haben. Sondern den produktiven Streit, der dazu zwingt, die eigene Haltung zu hinterfragen und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, auch eine andere Sicht könne gerechtfertigt sein. Wer Literatur liest, setzt sich Welten aus, die nicht die eigenen sind. Das ist ihr Trick. Wir hoffen, dass die grundverschiedenen Ansätze und Perspektiven dieses Bandes solche Bewegungen in Gang setzen mögen.

Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald

An ihren Worten sollt ihr sie erkennen!

Ijoma Mangold

Für mich ist der Kulturkampf um die Cancel Culture gegessen, seit es der Begriff Cancel Culture ins öffentliche Bewusstsein geschafft hat. Und seit der Ausdruck »woke« nicht mehr eigens erklärt werden muss, um ein bestimmtes akademisch-kulturelles Milieu zu kennzeichnen, ist mein inneres Feuer, gegen das woke Meinungsklima anzuschreiben, fast schon erloschen.

Wenn man sich in der Diskurslandschaft umschaut, wird man beobachten können, dass sich Vertreter des woken Lagers auf Twitter mittlerweile bitterlich beklagen über den inflationären Gebrauch des Schlagworts »woke«. Ich kann es ihnen nachempfinden. Zu lange hatten sie sehr gut davon gelebt, dass ihre Meinungen und ihre Empörungsbereitschaft als ganz natürliche Haltung und Reaktion moralisch sensibler Seelen gewertet wurden. Schlagworte gab es in Fülle, aber nur für die Ewiggestrigen, die weißen alten Männer, die Sexisten, Rassisten und TERFs auf der anderen Seite, der der Finsternis. Seit nun aber auch die Woken, die Social Justice Warriors, einen Namen haben, ist ihre Macht gebrochen. Es ist ganz wie im Märchen der Brüder Grimm: »Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!« Solange etwas keinen Namen hat, kann man es nicht adressieren. Jetzt hat sich Rumpelstilzchens Name indes herumgesprochen, und mit dem Safe Space der Namenlosigkeit ist es vorbei.

Das Gleiche gilt für den Sachverhalt der Cancel Culture: Solange es keinen Namen dafür gab, wenn man verhinderte, dass Menschen, deren Meinungen man nicht billigte, eine Bühne bekamen, war es extrem einfach, Deplatforming zu betreiben, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Die Öffentlichkeit hatte einige Jahre in Schreckstarre verharrt, bis sie den sehr anschaulichen Begriff der Cancel Culture für diese Vorgänge gefunden hatte — seither ist der Bann dahin, und es cancelt sich wesentlich schwerer.

Man sieht das unmittelbar an den Reaktionen derer, die dieses einst namenlose Geschäft lange erfolgreich betrieben hatten. Auf die neue Situation reagieren sie mit dem trotzigen Satz, es gebe gar keine Cancel Culture, diese sei nur ein Phantom, von rechten Konterrevolutionären in die Welt gesetzt. Solange nicht jemand mit Polizeigewalt von der Bühne weg abgeführt werde, könne nicht von Cancel Culture, sondern nur von einer ganz normalen zivilgesellschaftlichen Gegenreaktion auf menschenverachtende Haltungen die Rede sein. Die selbst ernannten Opfer der nicht existenten Cancel Culture verwechselten, so heißt es, Meinungsfreiheit mit dem Recht, sich keine Kritik anhören zu müssen.

Je öfter sich indes die Anlässe häufen, die das woke Lager nötigen zu erklären, dass es Cancel Culture gar nicht gebe, desto offensichtlicher wird der performative Widerspruch.

Die Rückzugsposition lautet seither: Die Opfer der angeblichen Cancel Culture sollten nicht so jammern, sie bekämen in Wahrheit ja sogar besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit, sie würden nicht gecancelt, sondern exponiert, weshalb sich der Verdacht aufdränge, dass es die Akteure in Wahrheit gerade auf die aufmerksamkeitsökonomisch vorteilhaften Effekte der Cancel Culture (die es im Übrigen nicht gebe) abgesehen hätten.

Halten wir fest: Cancel Culture meint nicht staatliche Zensur. Es geht nicht um Zensur von oben, sondern um Zensur von unten. Nicht um hierarchische, sondern um dezentrale Macht. Nicht der Obrigkeitsstaat ist das Problem, sondern das, was man früher mal das gesunde Volksempfinden genannt hat, also eine von einer starken moralischen Stimmung aufgeheizte Menge. Was in Rede steht, ist mithin ein kulturelles Klima, das ohne staatliche Durchgriffsrechte dafür zu sorgen vermag, dass Meinungen, die vom im jeweiligen sozialen Aktionsradius kulturell dominanten Milieu als unerträglich empfunden werden, keine Bühne mehr bekommen. Der Druck kommt von der Straße, und es sind dann Universitätsleitungen, Chefredaktionen, Festivalveranstalter oder Verlagshäuser, die sich ihm beugen.

Dass das häufig genug nach hinten losgeht, dass es der Gecancelte danach überhaupt erst zu Bekanntheit und Ruhm schafft, möchte ich gar nicht bestreiten, aber eine gescheiterte Lösegelderpressung bleibt gleichwohl noch der Versuch einer Lösegelderpressung.

Die Promotionsstudentin Marie-Luise Vollbrecht wurde der Öffentlichkeit erst bekannt, nachdem die Leitung der Humboldt-Universität dem Druck einer studentischen Aktivistengruppe nachgegeben hatte und Vollbrechts Vortrag zur Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaft gecancelt hatte.

Der Wissenschaftsredakteur der New York Times Donald McNeil war schon als Berichterstatter über die Covid-Pandemie ein mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter journalistischer Star in den USA, aber erst nachdem er bei seinem jahrzehntelangen Arbeitgeber den Hut nehmen musste, weil er im Gespräch mit einer weißen Studentin über Hip-Hop und das N-Wort ebendieses zitiert hatte, wurde er weltweit zu einer Chiffre des Kulturkampfes.

Die Kabarettistin und Schriftstellerin Lisa Eckhart war auch vorher schon bekannt aus Funk und Fernsehen und für viele ein rotes Tuch, weil ihre Pointen davon lebten, gezielt gegen politische Korrektheit zu verstoßen. Aber zu einem Begriff für jeden Zeitungsleser wurde sie erst, als ihre Teilnahme am Harbour Front Literaturfestival wegen Antisemitismus-Vorwürfen abgesagt wurde, weil die Veranstalter wegen befürchteter linker Proteste die Sicherheit der Besucher wie der Künstlerin nicht gewährleisten zu können meinten.

Nur bei Woody Allen war das Canceln von Erfolg gekrönt — zumindest in den USA: Allens ursprünglicher amerikanischer Verlag löste den Buchvertrag über dessen Memoiren auf, weil der Druck der Verlagsmitarbeiter zu groß war: Obwohl es keinerlei juristische Erhärtung gibt, sind der Filmemacher und sein Werk wegen Missbrauchsvorwürfen in den USA geächtet (sein Film A Rainy Day in New York hat keinen amerikanischen Verleih gefunden). Anders in Deutschland: Hier drohten deutsche Rowohlt-Autoren zwar auch ihrem Verlag in einem offenen Brief, doch Rowohlt blieb standhaft, und Woody Allens Erinnerungen konnten erscheinen.

Hinter der Cancel Culture steckt die seltsame Vorstellung, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn nur noch das Richtige und Gerechte gesagt würde, nicht mehr das Falsche und Verwerfliche. Auf keinen Fall dürfe man dieser oder jener fragwürdigen Position eine Bühne geben. Ich kann den Grundimpuls nachvollziehen, auch mir wäre es lieber, wenn nicht mehr die hässlichen, gemeinen und falschen, sondern nur noch die schönen, guten und wahren Dinge ausgesprochen und publiziert würden — das Problem ist nur, um zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können, müssen sowohl die richtigen wie die falschen Argumente erst einmal auf den Tisch, damit ihnen jeder auf den Zahn fühlen kann. Außerdem: Wer führt die Sortierung durch, zumal richtig und falsch, besonders wenn es um moralische Bewertungen geht, extrem zeitabhängig sind — was uns heute als die einzig richtige Haltung erscheint, dürfte schon in zehn Jahren so antiquiert erscheinen, wie uns Heutigen die viktorianische Sexualmoral vorkommt. (Wobei manche davon sprechen, sie erlebe gerade unter dem Warnschild »toxic masculinity« eine Renaissance.)

Das jedenfalls waren die Kämpfe der zehner Jahre. Damals brauchte das woke Lager einfach nur von der Kanzel herab zu predigen und der bürgerlichen Mitte den Kopf zu waschen, damit diese schuldbewusst und reumütig nickte, weil sie, feige, wie sie seit je ist, sich von der rhetorischen Wucht des woken Manichäismus so sehr einschüchtern ließ, dass sie lieber erst gar nicht »piep« sagte. Heute hingegen erfahren woke Glaubenssätze Widerspruch und müssen nun ihrerseits begründet werden. Damit ist viel gewonnen.

Zwar kommt es auch weiterhin vor, siehe oben, dass eine Universitätsleitung eine Veranstaltung absagt, aber der Vorgang führt mittlerweile dazu, dass die These in der Breite und von verschiedenen Blickwinkeln aus diskutiert wird und sich die Öffentlichkeit ein Bild von der Zivilcourage von Universitätsleitungen macht. Mehr braucht es nicht für meinen Geschmack.

In der bleiernen Zeit war es dem woken Milieu gelungen, die absolute Lufthoheit über den akademischen Stammtischen zu erringen und die eigene Haltung gewissermaßen zu naturalisieren: als würde man nicht eine spezifische ideologische Position vertreten, sondern die einzig denkbare moralische Haltung einnehmen, und wer davon abwich, galt als rechts und als Beispiel für eine gefährliche Radikalisierung der Mitte, wie es damals gerne hieß.

Es war eine Zeit, in der die wichtigste Haltung war, Haltung zu zeigen. Und Haltungen sind ja genau jene scheinbaren moralischen Selbstevidenzen, über die man gar nicht mehr mit Argumenten streiten muss, weil sie sich eben von selbst verstehen. Wer über ein Gegenargument auch nur nachdenkt, ist in diesem Sinne bereits zum Verräter an seiner Haltung geworden. Doch diese bleierne Zeit, in der selbst Journalisten stolz waren, Haltung zu zeigen, ist vorbei.

Es waren die identitätspolitischen Diskurse, die irgendwann um 2013 hegemonial wurden. Plötzlich ging es nicht mehr um materialistische politische Kämpfe, sondern ausschließlich um die symbolische Ordnung. Darum, welche Worte man noch verwenden durfte und welche nicht. An ihren Worten sollt ihr sie erkennen! Es war ein Distinktionsprogramm, bei dem man durch den Gebrauch eines bestimmten Vokabulars seine moralische Fortschrittlichkeit unter Beweis stellen konnte. Die Linke war kulturalistisch geworden, und sie genoss es in vollen Zügen, Abweichungen vom vorgesehenen Vokabular wie ein Bademeister zu maßregeln und mit aufwallender Empörung zu quittieren.

Und weil es um Worte ging, war die rhetorische Lufthoheit spielentscheidend. Die kulturalistische Linke hatte ein ganzes Arsenal an Phrasen und Schlagworten entwickelt, die jederzeit zum Einsatz bereitlagen. Sagte jemand etwas Verdächtiges, so konnte gewissermaßen auf Knopfdruck erklärt werden: Das ist Mansplaining, das ist Täter-Opfer-Umkehr, das ist Slut Shaming, das ist Lookism — oder etwas pauschaler: Das ist patriarchalisch-rassistische Kackscheiße. Für alles gab es eine Schublade — und man konnte gar nicht so schnell schauen, wie die entsprechenden Schubladen geöffnet, der Gegner darin verräumt und die Schublade wieder geschlossen wurde. Wessen Ansichten einem nicht passten, der wurde — gern auch unabhängig von Alter und Hautfarbe — als alter weißer Mann inkriminiert, und damit war die Sache entschieden, denn in identitätspolitischen Diskursen zählt die Sprecherposition, nicht das, was der Sprecher sagt und gemeint haben könnte.

Der rhetorische Rollangriff der kulturalistischen Linken verschlug der bürgerlichen Mitte buchstäblich die Sprache. Ihre Vertreter hatten keine Worte mehr beziehungsweise fürchteten, dass ihre Sprache möglicherweise wirklich so kontaminiert war, wie die identitätsapolitischen Präzeptoren behaupteten. Sie schwiegen. So wurde es von ihnen auch erwartet, denn wenn man zu den Privilegierten zählte und selber Rassismus, Sexismus, Ableismus und Transphobie noch nicht am eigenen Leib erfahren hatte, sollte man, wie es auf Twitter hieß, lieber mal die Klappe halten.

Ich glaube, dieses Klappe-Halten war es, was meinen Trotz damals herausforderte. Es war diese Mischung aus Mut- und Sprachlosigkeit, mit der jede Uni-Präsidentin, jede Kunsthallen-Direktorin, jeder Theaterintendant und jeder Verwaltungsbürgermeister, kurz jeder, den die starke Sorge plagte, womöglich selbst zu jenen Privilegierten zu zählen, die ihre Privilegien nicht ausreichend gecheckt hatten, in vorauseilendem Gehorsam das woke Vokabular nachbetete, um sich aus der Schusslinie zu nehmen. Konformismus zog ein ins akademisch-kulturelle Milieu.

Doch das hat sich nun gedreht. Langsam entstand auch ein Gegenvokabular, das nun seinerseits wie eine Schublade hervorgezogen werden konnte — dazu zählen zum Beispiel die Ausdrücke »woke« und »Cancel Culture«. Nun herrscht rhetorisch Waffengleichheit. Nun stehen sich die beiden Phrasenarsenale gegenüber — und es wäre für beide Seiten lohnend, verbal abzurüsten, Schlagworte abzubauen, um sich in offene Diskussionen zu begeben.

Mir geht es nämlich gar nicht um die Wahrheitsfrage. Ich möchte nur, dass alles sportlich ausdiskutiert und Meinungsverschiedenheiten nicht abgewürgt werden wie vor hundert Jahren im Konfirmationsunterricht. Der Rest ist mir dann mehr oder weniger Banane. Vielleicht haben am Ende die Vertreter der Identitätspolitik mit ihren Positionen und Ansichten recht, wer kann das schon wissen, das werden wir in zwanzig Jahren im Rückblick klarer sehen — aber was mich lange bedrückt hat, war deren hegemonialer Diskurs. Sie hatten einen Durchmarsch, als hätte sich die gegnerische Mannschaft aus lauter Zaghaftigkeit und Mutlosigkeit an die Seitenlinie zurückgezogen, sodass das Tor offen lag und die Id-Pol-Mannschaft anstrengungslos ein Tor nach dem anderen schießen konnte. Was ihnen — logisch — nicht gutgetan hat, denn Widerstandslosigkeit im Meinungskampf macht automatisch dümmer. Was ich der Identitätspolitik übel nehme, ist, dass sie darauf hingearbeitet hat, dass ihre Sicht der Dinge rechtfertigungsfrei als die einzige galt, mit der man nicht als Schurke und ewig gestriger alter weißer Mann dastand — so konnten sie die Welt nach ihrem Willen und ihrer Vorstellung modellieren.

Doch die identitätspolitische Orthodoxie hat sich zu Tode gesiegt. Je erwartbarer ihre Rituale durchexerziert wurden, desto mehr verloren sie durch schiere Wiederholung an Glaubwürdigkeit. Das Einstudierte des Drehbuchs bot zunehmend Gelegenheit für parodistische Gegenattacken. Wenn die Empörung zu oft wie auf Knopfdruck aufkocht, verliert sie an Authentizität. Mit der »Alles Nazis außer icke«-Haltung kommt man heute nicht mehr durch — und das ist gut für den Diskurs.

Eigentlich müsste der Adressat meines Unmuts die bürgerliche Mitte sein, die nicht wagte, auch nur den Kopf zu schütteln, aus lauter Angst, sonst gesellschaftlich gebrandmarkt zu sein. Heute arbeiten die Diversity-Beauftragten der Konzerne und die Gleichstellungsbeauftragten in den Verwaltungen zwar auf Hochdruck an der neuen symbolischen Ordnung, aber auch der Gegendiskurs hat zu seiner eigenen Sprache gefunden. So sehr, dass ihm nun seinerseits das Schicksal der intellektuellen Bequemlichkeit, Orthodoxie und Selbstgefälligkeit droht, in der das woke Lager in den zehner Jahren gefangen war. Das Wort »Hypermoralisierung« zum Beispiel erlebt nun ebenfalls eine ungesunde Konjunktur. Zu viel Gemeinschaftsbildung, zu viele fertige Formulierungshilfen machen jeden automatisch weniger klug. Oder wie Heiner Müller gesagt hatte: »Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf.«

Man sollte sich nie im Kreise von Menschen blicken lassen, die sich um ein Phrasenvokabular wie um ein warmes Lagerfeuer versammeln. Deshalb habe ich mir vorgenommen, daran zu arbeiten, das Wort »woke« in Ferien zu schicken. Für diesen Essay ist mir das noch nicht gelungen, aber jedes Ding hat seine Zeit. Die beste Art, einen Kulturkampf zu beenden, ist Gleichgültigkeit. Die allerdings muss von Herzen kommen.

Bist du noch zu retten? Dorothee Elmiger überschreibt Die Verlobung in St. Domingo

Hanna Engelmeier

Im Februar 2021 fand auf Twitter ein kurzer Austausch zwischen dem Germanisten Helmut Müller-Sievers, Professor an der amerikanischen Universität in Boulder (Colorado), und Steffen Siegel, Professor für Fotografiegeschichte an der Folkwang-Universität in Essen, statt.1 Müller-Sievers hatte kurz zuvor Heinrich von Kleists Novellen Die Verlobung in St. Domingo und Die Marquise von O… in einem Seminar für Undergraduates, also Studierende vor dem ersten (Bachelor-)Abschluss, behandelt:

MÜLLER-SIEVERS Ich glaube, das war das letzte Mal, dass ich Kleist für undergraduates unterrichtet habe. Wenn bei jeder Sitzung eine halbe Stunde trigger warnings notwendig sind, sollte man einen Text erst mal ruhen lassen.

SIEGEL Vor ’ner Weile hat hier auf Twitter jemand über Die Marquise von O… dümmlich gelästert, ich las das zufällig kurz vorm Boarding, hab noch am Gate ärgerlich bei Google Books die Erstausgabe geladen, auf dem Flug gelesen und vor erneuter Begeisterung Herzklopfen gehabt. Bester Flug!

MÜLLER-SIEVERS Ich sage das ganz ohne Häme: ja, für einen weißen Mann wie Sie und mich können die Marquise oder die Verlobung spannend sein. Aber nicht für meine StudentInnen, nicht in diesem Land.

SIEGEL Einverstanden.

In den genannten Novellen von Kleist stehen zwei derjenigen Themen im Vordergrund, die in den vergangenen Jahren stets in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten, wenn Trigger-Warnungen in der universitären Lehre diskutiert wurden. Die Handlung von Die Marquise von O… wird wesentlich durch die Vergewaltigung der titelgebenden Figur motiviert; in Die Verlobung in St. Domingo geht es um die Revolution auf Haiti ab dem Jahr 1793 und die Gewalt zwischen ehemals Versklavten und der französischen Kolonialmacht, mithin also auch um Rassismus.

Problematisch ist an beiden Texten nicht, dass Rassismus und sexuelle Gewalt dargestellt werden. Es muss aber erheblicher Aufwand darauf verwendet werden zu verstehen, wer sich hier Rassismus wie zu eigen macht: die Figuren? Der Erzähler oder gar der Autor? Hinzu kommt der Umstand, dass das Phänomen, das heute als Denk- und Handlungsmuster oder soziale Abwertungs- und Benachteiligungsstruktur Rassismus genannt wird, 1811 weder Rassismus hieß, noch allgemein als Problem betrachtet wurde. Gleiches gilt für die Darstellung sexueller Gewalt.

Im Literaturseminar geht es darum, ein Verständnis dafür zu erarbeiten, wie diese sozialen Phänomene literarisch modelliert und fiktionalisiert werden. Gefragt ist nicht die moralische Bewertung ihrer historischen Realität: Ein literaturwissenschaftliches Seminar, das als Diskussionsergebnis zu Die Verlobung in St. Domingo festhält, dass Sklaverei zu verurteilen und Gewalt schlecht ist, hat seinen Zweck verfehlt. Oder? Während sich auch Akteurinnen und Akteure in der antirassistischen Bildungsarbeit für eine Vorabinformation über bestimmte Inhalte, nicht aber für deren Ausschluss aus der universitären Lehre aussprechen, wächst unter Lehrenden die Verunsicherung, Resignation oder der Zweifel an dem, was in der eigenen Ausbildung als kanonisch oder mindestens grundsätzlich diskutabel galt: siehe oben, siehe diese Anthologie.2

In Frage stehen dabei stets nur diejenigen Texte, deren Autorinnen und Autoren entweder gerade eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren oder die traditionell Gegenstand von philologischer Zuwendung oder sogar Zuneigung geworden sind. Es werden solche literarischen Texte zu Problemfällen, deren Bedeutung für (Literatur-)Geschichte und Ästhetik als so hoch eingeschätzt wird, dass man von ihnen erwartet, dass sie auch in kommenden Generationen zu Bildungserlebnissen führen werden. Niemand beunruhigt sich darüber, dass Feld-Wald-und-Wiesen-Texte des Jahres 1811, die haarsträubende »Rassentheorien« ventilieren oder sich genießerisch der Misogynie befleißigen, gar nicht mehr oder nur von Forschenden gelesen werden, die sich der historischen Genese dieser Phänomene widmen. Die besorgte Frage danach, ob man diesen oder jenen Text im Seminar oder gar überhaupt noch lesen solle, richtet sich auf Romane, Erzählungen oder Gedichte von Autorinnen und Autoren, auf die man Wert legt und von denen man nicht durch das Anlegen neuerer ethischer Maßstäbe auf einmal enttäuscht werden möchte. Kleist ist so ein Fall (wenn auch erst seit dem 20. Jahrhundert, zuvor schätzte man ihn gar nicht so besonders).3 Allerdings nicht erst seit einigen Jahren, sondern schon viel länger.

Natürlich kann man einfach zu einem anderen Text als ausgerechnet zur Verlobung in St. Domingo greifen, Kleists Werk mag im Vergleich zu dem einiger anderer schmal sein, aber es ist vielfältig. Es stellen sich dann jedoch lediglich neue Fragen, ohne dass sich diejenigen, die sich anlässlich einer Auseinandersetzung mit der Verlobung in St. Domingo ergeben, gelöst hätten: Ist es eine Art Verzerrung, zunächst mit den Texten anzufangen, die zeitgenössische politische Sensibilitäten weniger irritieren, als das bei Die Verlobung in St. Domingo der Fall ist? Ist es sinnvoll oder sogar geboten, die Widerstandskraft möglicherweise selbst von Rassismus betroffener Studierender dadurch herauszufordern, dass man ihnen diesen Text inklusive aller seiner historischen Kontexte vorsetzt? Gibt es eine Antwort auf diese Fragen, die in Boulder, Essen und an allen anderen Orten, an denen Kleist unterrichtet wird, gleichermaßen gültig sein könnte?

Entscheiden kann man sich nur dafür, welche Fragen man wie stellen will und an welche Antworten man sich zuerst herantasten möchte. (Behutsamkeit in der Lektüre selbst von brachialen Texten: was für eine schöne Idee.) In die Twitter-Diskussion darüber, wie es denn nun mit Kleist im Seminar weitergehen könnte, mischten sich damals auch der in Frankfurt lehrende Germanist Nathan Taylor und ich selbst mit einem Vorschlag dazu ein. Er bestand darin, sich Kleist doch über einen Umweg zu nähern, und zwar über die Lektüre einiger Stellen aus Dorothee Elmigers Essayroman Aus der Zuckerfabrik (2020), der eine komplexe Auseinandersetzung mit Kleists Die Verlobung in St. Domingo anbietet.

Elmigers Buch beginnt mit einem unguten Gefühl. Gleich zu Anfang schildert sie eine Szene, auf die sie im Verlauf des Buches gelegentlich zurückkommen wird. Ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 1986 zeigt eine Versteigerung in einem Gasthaus in Spiez im Schweizer Kanton Bern. Vor einem dicht gedrängt stehenden, überwiegend männlichen Publikum preist der Auktionator wie ein »Prediger einer vulgären Messe« seine Ware an:

»In seinen Händen zwei Figuren, die er über die Köpfe der Anwesenden streckt, zwei Frauenfiguren aus Holz oder aus blank poliertem schwarzem Stein, dreißig Zentimeter hoch vielleicht. Die im Licht glänzenden Körper sind bis auf ein lose um die Hüfte, den Kopf gewundenes Tuch, bis auf eine goldene Halskette unbekleidet. Sie knien, scheinbar selbstvergessen. Dann erhebt der Versteigerer die Stimme: Wer macht ein Angebot Ich bitte um Ruhe Zwanzig Zwanzig Franken Mehr Angebote Ein Fünfliber Fünfundzwanzig Fünfundzwanzig Weitere Angebote Schaut nur diese Brüste an Fünfunddreißig Wer geht noch ein bisschen höher Fünfunddreißig Fränkli sind geboten Fünfunddreißig Franken zum ersten Fünfunddreißig zum zweiten und zum dritten Mal Dann sind diese alten N———— auch weg da.«4

Elmiger führt die Szene als Quelle ein, in der sie etwas vorfindet, was sie »nicht formulieren« könne. Das stimmt nur zum Teil, denn eine Beschreibung dieser Szene gelingt ihr ja. Diese Beschreibung ist eine analytische Rekonstruktion, die durch Betonungen, Auslassungen und Zitat der Tonspur ein Tableau skizziert, dessen Hintergründe und Details ein Thema ihres Buches sind.

Im Verlauf von Aus der Zuckerfabrik erfahren die Leserinnen und Leser, dass es sich bei diesem Ausschnitt um einen Moment während der Auktion der Habseligkeiten des Schweizer Lottomillionärs Werner Bruni handelt und dass die Figuren, um die es geht, aus Haiti stammen. 1979 durch einen glücklichen Zufall zu einem Vermögen gekommen, verloren der Klempner Bruni und seine Frau in den kommenden Jahren durch Vertrauen in die falschen Berater, Aufenthalte in der Karibik und finanziellen Unverstand alles, was sie gewonnen hatten. Schließlich musste ihr Besitz versteigert werden.

Diese Geschichte wird von Elmiger Schritt für Schritt so zusammengebaut, dass die zentralen Themen des Buches kenntlich werden: Prekarität in abhängiger Lohnarbeit oder sogar Ausbeutung (insbesondere auf Plantagen in Übersee), Gier und Verschwendung, eine misogyne Körperkultur und der male gaze, Auswanderung in die Karibik und der sie begleitende Kolonialismus sowie dessen Wirken in der Gegenwart, in der zumindest in der Theorie schon längst der Postkolonialismus angebrochen ist.

Elmiger bereist in ihrem Buch ihre (Text-)Quellen wie fremde Landschaften, das heißt, sie durchschreitet sie staunend und zum Teil befremdet, sie rätselt, sie macht sich einen Reim auf das, was ihr unverständlich bleiben muss. Der Roman ist insofern auch ein Reisebericht. Elmiger baut eigene Erfahrungen assoziativ ein oder erzeugt vielsagende Brüche zwischen autobiographischem und erlesenem Material. Dazu gehören die Krankengeschichte der Anorektikerin Ellen West, abgekürzt als »EW« und Protagonistin der Untersuchung Der Fall Ellen West. Eine anthropologisch-klinische Studie aus dem Jahr 1944 von Ludwig Binswanger, genauso wie Karl Marx’ Kapital und dessen Rezeption oder eben Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo.

Steht einem Kleist als Autor nahe, mag man schon bei Elmigers Transkription der Worte des Auktionators an ihn denken. Der angeblich berühmteste Gedankenstrich der deutschen Literatur, der sich in der Novelle Die Marquise von O… findet, verweist auf den Zeitpunkt der Vergewaltigung der Marquise und hat eine eigene Gedankenstrich-Philologie inspiriert.5 Der lang gezogene Geviertstrich bei Elmiger verweist ebenfalls auf einen Zeitpunkt. Und zwar den, in dem im Film mutmaßlich das N-Wort verwendet wird; markiert ist damit auch viel unspezifischer eine historische Epoche, zu der der Dokumentarfilm von 1986 gehört. Sie liegt an der Schwelle zu einem Zeitpunkt, ab dem im deutschen Sprachgebrauch das N-Wort als historisch und in der Gegenwart durch Rassismus belastetes Wort zum Teil problematisiert wird.6 Zum Teil ist es verschwunden, zum Teil wird es in verletzender Absicht oder in schlichtem Trotz weiterverwendet.

Elmiger entscheidet sich für eine metasprachliche Markierung des Wortes und damit auch für die Markierung des Diskurses, der es umgibt.7 Die Verwendung der Bezeichnung »N-Wort« verdeutlicht unter anderem das Anliegen, verletzende Sprache nicht reproduzieren zu wollen und, so gut es geht, Distanz zum rassistischen Erbe der deutschen Sprache einzunehmen, um damit die sprachliche Gewalt zu beenden, die von ihm ausgeht.

Der von Elmiger gewählte Geviertstrich kann allerdings auch kraftvoller gedeutet werden, als eine Ausstreichung, die durch den weißen Seitenraum fährt und sich dem, was im Film gesagt wird, verweigert, ohne zu leugnen, dass es eben da ist. Das »N————« ihres Zitats fungiert als eine Übersetzung der gesprochenen Sprache des Films in die Schrift ihres Textes. Das »N————« wird damit auch zu einer Überschreibung in einem neuen Medium und einer eigenen Sprache. Sie scheut zwar vor der Reproduktion des Rassismus, mit dem sich Elmiger das ganze Buch hindurch auseinandersetzt, nicht zurück. Aber sie setzt ganz andere Grenzen.8

Die Entscheidung für dieses Vorgehen ist dabei beispielhaft dafür, wie sich Elmiger auch Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo nähert. Aus der Zuckerfabrik kommt ohne Trigger-Warnungen aus und präsentiert dem Publikum doch die gesamte Kleist-Novelle — in einer neuen Gestalt. Die Verwendung von »N————« findet bei Elmiger nicht in der Rekonstruktion eines Textes aus dem fernen Jahr 1811, sondern in der Nacherzählung eines Films von 1986 statt (zugegeben: Das Jahr mag einigen beinahe ebenso fremd und eigenartig wie das Jahr 1811 erscheinen). Elmiger lenkt die Aufmerksamkeit auf den Sprachgebrauch der Zeit um ihr eigenes Geburtsjahr (1985), der durch ihre Streichung zunächst als bloße Abweichung auffällig wird. Die jüngere Vergangenheit, die gerade eben auch noch die der eigenen Biographie ist, wird zugleich Gegenstand von Korrektur. Diejenigen Stellen bei Kleist, die das gleiche Vokabular verwenden, zitiert sie nicht, sie überschreibt sie.

Insbesondere der erste Satz von Die Verlobung in St. Domingo ist besonders häufig und in der Regel unbekümmert kommentiert worden.9 Kleist führt darin das Panorama von Gewalt, vor dem sich der Plot entfaltet, drastisch und scheinbar parteiergreifend ein: »Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter N[…], namens Congo Hoango.«10

Im Folgenden wird davon erzählt, wie Congo Hoango, der im Zuge des haitianischen Aufstandes Villeneuve umgebracht hat, auf dessen Hof ein Regime errichtet hat, das vor allem auf die Rache an den weißen Kolonisatoren ausgerichtet ist. Die junge »Mestizin« Toni, die mit ihrer verschlagenen Mutter Babekan auf diesem Hof lebt, wird eines Nachts als Verführerin eines Schweizers namens Gustav von der Ried eingesetzt, der auf dem Hof in der falschen Annahme Schutz sucht, er sei hier vor der Rache Hoangos und seiner Leute sicher. Von Ried ist vom Liebreiz Tonis vor allem deshalb betört, weil er in ihren Gesichtszügen die einer weißen Frau, eventuell sogar einer ehemaligen Geliebten (die sich ebenfalls für ihn opferte), zu erkennen vermag.

Ried möchte von Anfang an auch seiner in der Nähe befindlichen Familie Schutz auf dem Hof bieten, den ihm Babekan zusichert, da sie darauf spekuliert, die versammelten Weißen so allesamt von Hoango ermorden lassen zu können. Bei Hoangos verfrühter Rückkehr versucht Toni, Gustav durch eine List zu retten, indem sie ihn fesselt, als er schläft: Congo Hoango soll glauben, sie sei auf seiner Seite. Als Gustav erwacht, glaubt er, hinters Licht geführt worden zu sein, erkennt Tonis Absicht zu spät und tötet sie in wütender Enttäuschung. Währenddessen kämpft seine Verwandtschaft gegen die Gruppe um Congo Hoango, die sie durch die Geiselnahme eines seiner Söhne schließlich besiegt. Danach bringen sich die Weißen in Sicherheit und verlassen den Ort des Geschehens.

Keine der zentralen Figuren dieser Erzählung ist nicht Gegenstand intensiver germanistischer Reflexion geworden. Dass die drastischen Schilderungen von Gewalt und Kleists durchgehend abschätzige Schilderung des Aufständischen Congo Hoango und des ihm folgenden »Räubergesindels« zumindest sehr auffällig sind, beunruhigt die Kleist-Forschung spätestens seit den 1970er Jahren.

Ein Beitrag von Peter Horn, erschienen in der renommierten Zeitschrift Monatshefte, fragt schon im Jahr 1975 in einer Mischung aus Provokation der Fachgemeinschaft und Angst vor ihrer Antwort: »Hatte Kleist Rassenvorurteile?«11 Horns Einschätzung fällt nach einer scharfen Kritik der einseitigen Parteinahme der Kleist-Forschung für die weißen Figuren in Die Verlobung in St. Domingo eindeutig aus: »Zwar erzählt Kleist von Menschen, die Rassenvorurteile haben, nirgendwo aber billigt er ihre Haltung.«12 Unabhängig davon, wie man zu diesem Fazit steht, fällt jedoch auf, dass die Schwarzen Menschen ab dem ersten Satz der Novelle ausschließlich durch das Gefühl der Rachsucht charakterisiert werden. Wenn man die Fürsprache Kleists für die Schwarzen im Text herausarbeiten will, muss man diese »energisch gegen den Strich lesen«.13

Das lässt sich beispielsweise bei Ruth Klüger beobachten, die Kleist in ihrem Aufsatzband mit dem symptomatischen Titel Katastrophen gegen jeden Verdacht des Rassismus in Schutz nimmt und ihn als »ein[en] Meister der Nuancen« einführt, »der nie müde wurde, auf der ›Goldwaage des Gefühls‹, wie es im Amphytrion heißt, zu wägen«.14 Auch Klüger widmet dem ersten Absatz von Die Verlobung in St. Domingo besondere Aufmerksamkeit und erkennt bereits auf der Ebene des Satzbaus Kleists Parteinahme für das »Herz auf verlorenem Posten«:15

»Kleist verwendet in seiner Prosa oft Werturteile und moralisch belastete Adjektive, nicht so sehr, um den Leser zu überzeugen, als vielmehr, um ein Problem herauszustreichen. Zudem enthalten seine Nebensätze oft wichtige Informationen, die der Leser erst später als wesentlich erkennt und die oft die nachdrücklich erteilten Aussagen des Hauptsatzes einschränken, ja sogar widerlegen.«16

Als Beispiel dafür gilt Klüger die Schilderung der Figur der Babekan, an der sie weniger deren Unterstützung Hoangos interessiert als die Motivation für ihren eigenen Hass auf die Weißen. Die Beiläufigkeit, mit der diese Motivation kenntlich wird, ist für Klüger ein Beleg dafür, dass das über Babekan und andere Figuren Mitgeteilte grundsätzlich eines zweiten Blickes oder einer zweiten Lektüre bedarf. Die Liebe zwischen dem Schweizer von der Ried und der »Mestizin« Toni gerät in Klügers Lesart deshalb zu einem vergeblichen und letztlich tödlichen Ereignis, weil sie beide Spielball einer geschichtlichen Lage sind, die von »totalitärer Notstandspolitik« gekennzeichnet ist.17 Laut Klüger verlieren alle von Kleists Figuren ihren moralischen Kompass, weil sie sich nicht aus der Verstrickung in ihre historischen Umstände (Hermannschlacht oder Haiti) befreien können:

»Das ist eine moderne politische Welt, kein metaphysischer Bereich reiner Ideen und alter Märchen. Die Kämpfe sind blutig und mit einer christlichen und humanistischen Sittlichkeit nicht in Einklang zu bringen. Die Gefühle sind in der Sexualität und nicht der Sentimentalität verankert. Überall dort, wo Kleist für die Zeitgenossen exzentrisch und abwegig gewesen sein mag, war er ein Vorläufer, ist er unser Zeitgenosse.«18

Ruth Klüger, die als Auschwitzüberlebende und spätere Germanistikprofessorin an den Universitäten Princeton und Irvine so kenntnisreich über den Antisemitismus schrieb, nennt in ihrem ebenfalls Ende der 1970er Jahre erstmals erschienenen Aufsatz den Begriff Rassismus nicht. Einerseits ist das auch nicht notwendig, um in ihrer Darstellung der Revolution in Haiti auch eine Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt zu erkennen. Andererseits nennt sie Kleist im letzten Satz ihres Aufsatzes »unseren« Zeitgenossen — was dafür zu sprechen scheint, dass sie nicht nur ihn, sondern auch ihr Publikum und sich selbst vom Rassismus freispricht. Das mag zwar einem nachvollziehbaren Wunsch entsprechen — sollte für seine Erfüllung aber die Identifikation mit Kleists politischer Position ausreichend sein, die festzuklopfen mindestens schwierig ist? Durch die Lektüre von Kleist lässt sich laut Klüger über alle Katastrophen der deutschen (Literatur-)Geschichte hinweg ein Bogen von der Aufklärung in die Gegenwart spannen, der durch Menschenfreundlichkeit bestimmt ist. Die Idee ist zu befürworten, weil sie so wohlwollend ist. Ist sie dadurch auch richtig? Zumindest ist es möglich, auch mit einem solchen Wohlwollen zu einem anderen Ergebnis zu kommen.

Elmiger assoziiert sich an ihre Auseinandersetzung mit Kleist heran. Eben noch war sie mit einer Stelle bei Marie Luise Kaschnitz beschäftigt, in der diese von einem verlorenen Lotteriespiel erzählt, als ihr im Kapitel »Plaisir« einfällt, wie der Millionär Walter Bruni fünf Jahre nach seinem spektakulären Lottogewinn nach Haiti flog (um dann die Figuren zu kaufen, von denen zu Beginn des Buches die Rede ist?). Von dort ist es gar nicht weit zu einer Erinnerung an die erste Begegnung mit einem Freund, die in die Zeit fällt, während derer sie Die Verlobung in St. Domingo erstmals las:

»The Betrothal in Santo Domingo.

A terrible book.