Candide oder der Optimismus - François-Marie Arouet Voltaire - E-Book

Candide oder der Optimismus E-Book

François-Marie Arouet Voltaire

0,0

Beschreibung

Mit "Candide oder der Optimismus" legte Voltaire 1758 sein bekanntestes Buch vor, welches als eine der herrlichsten und bösesten Satiren der Weltliteratur bekannt wurde. Das Buch landete dann zunächst auch auf dem Index, wurde in seiner bleibenden Aktualität erst im 20. Jahrhundert erkannt. Candide übernimmt zunächst von seinem Hauslehrer die Überzeugung "Wir leben in der besten aller Welten". Doch dann küsst er die Tochter des Hausherrn und muss umgehend das Schloss verlassen. Draußen, in der bösen Welt und Wirklichkeit wird er mit allem konfrontiert, was Menschen widerfährt und sie sich gegenseitig antun können. Nachdem Candide seine Lektion gelernt hat, trifft er wieder auf seinen Lehrer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 175

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Erstes Kapitel

Wie Candid auf einem schönen Schlosse erzogen und dann von dort verjagt ward.

In Westfalen lebte auf dem Schlosse des Barons von Tundertentronck ein Knabe, dem die Natur das sanfteste Gemüt mit auf die Welt gegeben hatte. Sein Gesicht kündete von seiner Seele. Er verband einen recht gesunden Verstand mit großer geistiger Einfalt, und darum, glaube ich, hatte man ihm den Namen Candid gegeben. Die alten Diener des Hauses munkelten, er sei das Kind einer Schwester des Herrn Barons und eines guten braven Edelmannes aus der Nachbarschaft, den dies Fräulein jedoch niemals hatte heiraten wollen, weil er nur einundsiebenzig Ahnen aufzuweisen vermochte und der Rest seines Stammbaumes durch die Ungunst der Zeit verloren gegangen war.

Der Herr Baron war einer der mächtigsten Edelleute Westfalens, denn sein Schloß hatte eine Tür und Fenster, ja, der große Saal war sogar mit Tapeten geziert. Aus seinen Hofhunden ließ sich nötigenfalls eine Meute zusammenstellen, seine Stallknechte waren seine Jäger und der Dorfpfarrer sein Großalmosenpfleger. Sie nannten ihn alle Gnädiger Herr und lachten, wenn er Geschichten erzählte.

Die Frau Baronin wog ungefähr dreihundert Pfund, erwarb dadurch ein großes Ansehen und stand dem Hause mit einer Würde vor, die sie noch achtunggebietender machte. Ihre Tochter Kunigunde zählte siebzehn Jahre. Sie war rotbäckig, frisch, fett und appetitlich. Der Sohn des Barons schien in allen Stücken seines Vaters würdig zu sein. Der Hofmeister Pangloß war das Orakel des gesamten Hauses, und der kleine Candid lauschte seinem Unterricht mit der ganzen Vertrauensseligkeit seines Alters und seines Gemütes.

Pangloß lehrte die Metaphysico-theologico-nigologie. Er bewies aufs bewunderungswürdigste, daß es keine Wirkung ohne Ursache gäbe, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schloß des gnädigen Herrn Barons das allerschönste Schloß und die gnädige Frau die beste aller möglichen Baroninnen sei.

»Es ist erwiesen,« sagte er, »daß die Dinge nicht anders sein können, denn da alles zu einem Zwecke erschaffen worden ist, geschah es notwendigerweise zu einem besten Zwecke. Beachtet wohl, daß die Nasen zum Tragen von Brillen erschaffen wurden, und so haben wir denn auch Brillen! Beine sind offenbar zum Tragen von Stiefeln eingerichtet, und wir haben Stiefel! Die Steine sind so gebildet, daß man sie behauen und Schlösser daraus erbauen kann, und so hat der gnädige Herr denn auch ein sehr schönes Schloß, und zwar muß der größte Baron der Provinz am besten behaust sein! Da die Schweine zum Essen erschaffen wurden, so essen wir eben auch das ganze Jahr über Schwein. Aus allem diesen geht hervor, daß jene, so behauptet haben, alles sei gut, eine Dummheit sagten: sie hätten sagen müssen, alles sei zum besten.

Candid lauschte aufmerksam und glaubte unschuldsvoll, denn er fand Fräulein Kunigunde über die Maßen schön, wenn er sich auch niemals die Kühnheit herausnahm, es ihr zu sagen. Er meinte, daß nach dem Glück, als Baron von Tundertentronck geboren zu sein, der zweite Grad der Glückseligkeit darin bestände, Fräulein Kunigunde zu sein, der dritte sie täglich zu sehen und der vierte Meister Pangloß zu hören, als welcher der größte Philosoph der Provinz und folglich der ganzen Erde war.

Als nun Kunigunde eines Tages in der Nähe des Schlosses in einem kleinen Gehölz, das man Park benannte, spazieren ging, sah sie durch die Büsche, wie der Doktor Pangloß der Kammerfrau ihrer Mutter, einem kleinen, sehr hübschen und äußerst gelehrigen Blondkopf, Unterricht in der Experimentalphysik erteilte. Da Fräulein Kunigunde eine große natürliche Begabung für die Wissenschaften besaß, beobachtete sie atemlos das oft wiederholte Experiment, dessen Zeuge sie geworden. Sie erkannte klar den zureichenden Beweggrund des Doktors, die Wirkungen und die Ursachen, und ging aufgeregt, nachdenklich und ganz von dem Wunsche erfüllt, gleichfalls gelehrt zu sein, von dannen und meinte, sie ihrerseits könnte recht wohl den zureichenden Beweggrund für den jungen Candid abgeben und er seinerseits wiederum für sie.

Auf dem Rückwege zum Schloß begegnete sie Candid und errötete, und Candid errötete ebenfalls. Mit halb erstickter Stimme wünschte sie ihm einen guten Morgen, und Candid sprach zu ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Als man am nächsten Tage von Tische aufgestanden war, kamen Kunigunde und Candid von ungefähr hinter einen Wandschirm zu stehen. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen, und Candid hob es auf; da faßte sie ihn unschuldsvoll bei der Hand, und der junge Mann küßte die Hand des jungen Fräuleins ebenso unschuldsvoll mit einer sehr besonderen Lebhaftigkeit, Empfindung und Anmut. Ihre Lippen fanden sich, ihre Augen sprühten, ihre Kniee zitterten, und ihre Hände verirrten sich. Der Herr Baron von Tundertentronck kam ebenfalls von ungefähr an dem Wandschirme vorbei, und sobald er diese Ursache und Wirkung wahrgenommen, jagte er Candid mit wuchtigen Tritten in den Hintern aus dem Schloß. – Kunigunde fiel in Ohnmacht, und sobald sie wieder zu sich gekommen, wurde sie von der Frau Baronin geohrfeigt, und alles in dem schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser war bestürzt.

Zweites Kapitel

Was aus Candid unter den Bulgaren wurde.

Aus dem irdischen Paradiese verjagt, taumelte Candid lange Zeit dahin, ohne zu wissen, wohin er ging, weinte, hob die Augen zum Himmel empor, wendete sie wieder zurück nach dem schönsten aller Schlösser, worin das schönste aller Freifräuleins lebte, und legte sich endlich ohne Nachtmahl inmitten der Felder zwischen zwei Ackerfurchen zum Schlafen nieder. Der Schnee fiel in großen Flocken. Bis auf die Haut durchnäßt, schleppte sich Candid am nächsten Morgen ohne Geld und halbtot vor Hunger und Müdigkeit nach der nächsten Stadt, welche Waldberghofftrarbkdikdorff hieß. Vor der Tür einer Herberge blieb er traurig stehen. Dort wurden zwei junge Männer seiner gewahr. »Kamerad,« sagte der eine von ihnen zum andern, »dort steht ein junger, wohlgewachsener Mann, der die erforderliche Gestalt hat.« Sie näherten sich Candid und luden ihn aufs höflichste zum Mittagessen ein. »Meine Herren,« sagte Candid mit berückender Bescheidenheit zu ihnen, »Sie erweisen mir eine große Ehre, aber ich habe kein Geld, meine Zeche zu bezahlen.« »Oh, mein Herr,« erwiderte einer der Blauen, »Leute Ihrer Gestalt und Ihres Talentes brauchen niemals etwas zu bezahlen! Messen Sie denn nicht vielleicht fünf Fuß fünf Zoll?« »Ja, meine Herren, das ist mein Wuchs,« erwiderte Candid mit einer Verbeugung. »Oh, so nehmen Sie bitte Platz, mein Herr, wir werden Sie nicht nur frei halten, sondern auch niemals leiden, daß es einem Manne gleich Ihnen an Geld gebricht. Die Menschen sind ja eigens dazu erschaffen, einander beizustehen.« »Recht gesprochen,« erwiderte Candid, »auch Herr Pangloß hat mir dies stets versichert, ich sehe nun wohl, daß alles zum besten eingerichtet ist.« Man bat ihn nun, einige Taler anzunehmen, er nahm sie und wollte einen Wechsel ausstellen, man wies dies jedoch zurück und setzte sich zu Tisch. »Lieben Sie nicht aufs innigste ...?« »Oh ja,« antwortete Candid, »aufs innigste liebe ich Fräulein Kunigunde.« »Nicht doch, Herr,« rief nun einer der beiden, »wir fragen Sie, ob Sie den König der Bulgaren nicht inniglich lieben?« »Keineswegs,« entgegnete Candid, »denn ich habe ihn niemals gesehen.« »Was Sie sagen! Er ist der reizendste aller Könige, wir wollen auf seine Gesundheit trinken!« »Von Herzen gern, meine Herren!« Und ertrank. »Das genügt,« sprach man nun zu ihm, »damit sind Sie der Halt, die Stütze, der Verteidiger, der Held der Bulgaren geworden. Ihr Glück ist gemacht, Ihr Ruhm gesichert.« Mit diesen Worten legten sie ihm Eisen um die Füße und führten ihn auf der Stelle zum Regiment. Dort mußte er rechtsum und linksum machen, den Ladestock handhaben, zielen, schießen, laufen, und zu alledem bekam er noch dreißig Stockschläge. Am nächsten Tage machte er seine Sache schon etwas besser und bekam nur zwanzig Hiebe, am übernächsten gab man ihm nur noch zehn, und darob ward er von seinen Kameraden wie ein Wunder angestaunt.

Candid war ganz bestürzt und vermochte noch nicht recht zu erkennen, in welchem Sinne er denn eigentlich ein Held sei. An einem schönen Frühlingstage ließ er es sich beifallen, einen Spaziergang zu machen. Er ging immer gerade vor sich hin in dem festen Glauben, es sei ebensosehr ein Vorrecht der menschlichen wie der Tiergattung, sich seiner Beine zu seinem Vergnügen zu bedienen. Aber er hatte noch nicht zwei Meilen zurückgelegt, da holten ihn auch schon vier andere sechs Fuß lange Helden ein, banden ihn und schleppten ihn in einen Kerker. Hier fragte man ihn auf dem Gerichtswege, ob er lieber von dem ganzen Regiment sechsunddreißigmal ausgepeitscht werden oder auf einmal zwölf Bleikugeln ins Hirn bekommen wolle. Er mochte nun immer hervorheben, daß des Menschen Wille frei sei und er keines von beidem wolle, es half ihm nichts, er mußte eine Wahl treffen, und so entschloß er sich denn kraft der Gottesgabe, die man Freiheit nennt, sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen, und zwei dieser Spaziergänge hielt er auch aus. Das Regiment bestand aus zweitausend Mann, das bedeutete viertausend Rutenschläge für ihn, welche ihm vom Nacken bis zum Hintern hinab Muskeln und Nerven bloßlegten. Als man zum dritten Gange schreiten wollte, konnte Candid nicht mehr und bat, man möchte dann doch schon lieber die Güte haben, ihm den Schädel zu zertrümmern. Die Gunst ward ihm gewährt, man verband ihm die Augen und ließ ihn niederknien. In diesem Augenblick kam der König der Bulgaren vorbei und erkundigte sich nach dem Verbrechen des armen Sünders, und da dieser König einen großen durchdringenden Verstand besaß, erkannte er aus allem, was er über Candid hörte, daß er ein junger, in Dingen dieser Welt völlig unwissender Metaphysiker sei, und begnadigte ihn mit einer Milde, die in allen Zeitungen und allen Jahrhunderten gepriesen werden wird. Ein wackerer Wundarzt heilte Candid in drei Wochen durch jene von Dioskorides gelehrten Umschläge. Schon hatte er wieder etwas Haut und konnte gehen, als der König der Bulgaren dem Könige der Avaren eine Schlacht lieferte.

Drittes Kapitel

Wie Candid von den Bulgaren entfloh und was aus ihm ward.

Etwas Schöneres, Hurtigeres, Glänzenderes und Wohlgeordneteres als die beiden Heere konnte es gar nicht geben. Die Trompeten, Pfeifen, Hörner, Trommeln und Kanonen bildeten zusammen eine Harmonie, dergleichen es nicht einmal je in der Hölle gegeben. Die Kanonen mähten zuerst auf jeder Seite ungefähr sechstausend Mann nieder, dann nahm das Gewehrfeuer ungefähr neun- bis zehntausend Schurken fort, welche die Oberfläche dieser besten aller Welten verpestet hatten, und das Bajonett ward ebenfalls der zureichende Grund für den Tod einiger tausend Mann. Alles in allem mochte sich das Ganze etwa auf dreißigtausend Seelen belaufen. Candid, der wie ein Philosoph zitterte, versteckte sich während dieser heroischen Schlächterei so gut er konnte. Als dann endlich die beiden Könige ein jeder auf seinem Schlachtfelde ein Tedeum anstimmen ließen, faßte er den Entschluß, wo anders über Ursachen und Wirkungen nachzudenken.

Er eilte über große Haufen Toter und Sterbender dahin und erreichte zunächst ein benachbartes Dorf: es lag in Schutt und Asche. Es war ein Avarendorf gewesen, das die Bulgaren nach den Gesetzen des Völkerrechts niedergebrannt hatten. Hier sahen von Schlägen verkrümmte Greise ihre erwürgten Weiber, welche noch ihre Kinder an blutende Brüste preßten, den Geist aufgeben, dort stießen Mädchen mit aufgeschlitzten Leibern ihren letzten Seufzer aus, nachdem sie die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt hatten; andere flehten halbverbrannt, man möge ihnen vollends den Tod geben ... und rings auf der Erde lagen verspritzte Gehirne neben abgeschossenen Armen und Beinen.

Candid floh, so schnell er konnte, in ein anderes Dorf; es gehörte den Bulgaren und war von den avarischen Helden auf gleiche Weise zugerichtet worden. Candid eilte, immer über Trümmer oder zuckende Gliedmaßen schreitend, unaufhörlich weiter und gelangte endlich aus dem Gebiet des Kriegstheaters, in seinem Quersack einen geringen Mundvorrat und in seinem Kopf ohne Unterlaß gar viele Gedanken an Fräulein Kunigunde! Als er nach Holland gelangt war, fing sein Mundvorrat an auf die Neige zu gehen; da er jedoch sagen gehört, in diesem Lande sei jedermann reich und christlich gesinnt, zweifelte er nicht daran, daß man ihn hier ebensogut behandeln würde, wie ihm im Schlosse des Herrn Barons geschehen, ehe er daraus wegen der schönen Augen des Fräuleins Kunigunde verjagt worden war.

Er ging mehrere würdige Bürger um ein Almosen an, und diese antworteten ihm allesamt, wenn er nicht aufhöre, dies Handwerk zu betreiben, würde man ihn in eine Besserungsanstalt sperren, um ihn leben zu lehren.

Er wandte sich nun an einen Mann, der soeben ganz allein eine volle Stunde lang in einer Versammlung über Wohltätigkeit gesprochen hatte. Dieser Redner durchbohrte ihn mit seinen Blicken und fragte ihn: »Was wollen Sie hier, verursacht die gute Sache Ihr Hiersein?« »Es gibt kein Ding ohne Ursache,« erwiderte Candid bescheiden, »alles ist notwendig verknüpft und zum besten gerichtet: ich mußte Fräulein Kunigundens wegen verjagt werden, mußte Spießruten laufen und muß mir nun auch mein Brot erbetteln, bis ich selber welches verdienen kann; alles dies könnte gar nicht anders sein!« »Mein Freund,« sagte der Redner, »glaubst du, daß der Papst der Antichrist ist?« »Ich habe das noch nicht sagen gehört,« antwortete Candid, »aber ob er's nun ist oder ob er's nicht ist, ich habe nichts zu essen!« »Du verdienst auch nichts,« erwiderte der andere, »fort, du Schurke, fort, du Elender, und komme mir niemals wieder in den Weg.« Die Frau des Redners hatte aus dem Fenster gesehen, und als sie nun eines Mannes ansichtig wurde, der bezweifelte, daß der Papst der Antichrist sei, goß sie ihm einen vollen ... auf den Kopf. Oh Himmel, zu welchem Überfließen kann bei einem Weibe der Religionseifer nicht führen!

Ein Mann, der nicht getauft worden war, ein braver Wiedertäufer namens Jakob, sah die grausame und schändliche Weise, mit der einer seiner Brüder, ein Wesen auf zwei Füßen ohne Federn, das eine Seele hatte, behandelt wurde. Er nahm ihn mit in sein Haus, reinigte ihn, gab ihm Brot und Bier, machte ihm zwei Gulden zum Geschenk und wollte ihn sogar in seiner Fabrik für persische Stoffe, die in Holland verfertigt wurden, arbeiten lehren. Candid warf sich ihm beinahe zu Füßen und rief: »Meister Pangloß hat wahr gesprochen, als er sagte, daß in dieser Welt alles zum besten eingerichtet sei, denn Ihre außerordentliche Großmut beeindruckt mich unendlich tiefer, als die Härte jenes schwarz bemäntelten Herren und seiner Frau Gemahlin getan.«

Am nächsten Morgen begegnete Candid auf einem Spaziergange einem über und über mit Pusteln bedeckten Bettler, dessen Augen erloschen, dessen Nasenspitze zerfressen, dessen Mund gespalten und dessen Zähne schwarz waren. Unaufhörlich von einem heftigen Hustenreiz geplagt, krächzte er mit heiserer Stimme und spie bei jedem neuen Hustenanfall einen neuen Zahn aus.

Viertes Kapitel

Wie Candid seinen alten Philosophielehrer, den Doktor Pangloß, wiederfand, und was daraus entsprang.

Candid fühlte sich mehr von Mitleiden denn von Abscheu bewegt und schenkte dem grauenhaften Bettler die beiden Gulden, die er von seinem wackeren Wiedertäufer Jakob bekommen hatte. Das Gespenst sah ihn starr an, vergoß Tränen und sprang ihm an den Hals. Entsetzt wich Candid zurück. »Ach,« sprach nun der eine Elende zu dem andern Elenden, »erkennst du deinen lieben Pangloß nicht wieder?« »Was höre ich, Sie, mein geliebter Meister, Sie in diesem grauenhaften Zustande; welches Unglück ist Ihnen denn zugestoßen, warum sind Sie nicht mehr in dem schönsten aller Schlösser, und was ist aus der Perle der Mädchen, aus dem Meisterwerk der Natur, was ist aus Fräulein Kunigunde geworden?« »Ich bin am Ende,« stöhnte Pangloß. Sofort führte Candid ihn in den Stall des Wiedertäufers und gab ihm ein wenig Brot zu essen, und als er sah, daß sich Pangloß ein wenig erholt hatte, rief er aus: »Nun, und Kunigunde?« »Sie ist tot,« erwiderte der andere. Bei diesen Worten fiel Candid in Ohnmacht. Sein Freund brachte ihn mit etwas schlechtem Essig, der sich zufällig im Stalle fand, wieder zur Besinnung. Candid schlug die Augen auf: »Kunigunde ist tot, oh beste der Welten, wo bist du? An welcher Krankheit ist sie nur gestorben? Geschah's etwa, weil sie hatte mit ansehen müssen, wie ich aus dem schönen Schlosse ihres Herrn Vaters mit wuchtigen Fußtritten vertrieben wurde?« »Nein,« erwiderte Pangloß, »sie ist von bulgarischen Soldaten aufgeschlitzt worden, nachdem man sie so gründlich vergewaltigt hatte, wie dieses nur irgend möglich ist. Dem Herrn Baron, der sie verteidigen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen, die Frau Baronin ist in Stücke zerhackt worden, mein armer Zögling ward genau wie seine Schwester behandelt, und von dem Schlosse selber ist kein Stein mehr auf dem anderen, keine Scheune, keine Hammel, keine Enten und keine Bäume sind übrig geblieben, aber wir sind gut gerächt worden, denn die Avaren haben auf einer benachbarten, einem bulgarischen Edelmanne gehörigen Freiherrschaft ebenso gehaust.«

Nach dieser Rede fiel Candid abermals in Ohnmacht. Als er dann jedoch wieder zu sich gekommen und alles gesagt hatte, was er sagen mußte, forschte er nach der Wirkung und der Ursache und nach dem zureichenden Grunde, der Pangloß in einen so jämmerlichen Zustand versetzt. »Ach,« erwiderte dieser, »die Liebe hat's getan, die Liebe, die Trösterin der Menschheit, die Erhalterin des Weltenalls, die Seele aller fühlenden Wesen, die zarte Liebe.« »Oh,« rief Candid, »auch ich habe die Liebe gekannt, diese Beherrscherin der Herzen, diese Seele unserer Seele! Mir hat sie niemals mehr eingetragen als einen Kuß und unzählige Fußtritte in den Hintern. Wie hat nur diese so gar schöne Ursache in Ihnen eine so entsetzliche Wirkung hervorbringen können?«

Pangloß antwortete mit den folgenden Worten: »Oh mein teurer Candid, du hast Paquette gekannt, jenes hübsche Kammermädchen unserer erlauchten Baronin? Ich habe in ihren Armen alle Wonnen des Paradieses genossen und die haben die Höllenqualen hervorgebracht, von denen du mich verzehrt siehst: sie war damit angesteckt und ist inzwischen vielleicht daran gestorben. Paquette hatte dieses Geschenk von einem außergewöhnlich gelehrten Franziskaner erhalten, der bis zur Quelle hinaufgestiegen war, denn er seinerseits hatte es von einer alten Gräfin bekommen, die es von einem Rittmeister empfangen, der es einer Marquise verdankte, die es von einem Pagen besaß, dem's ein Jesuit verschafft, welcher es während seiner Novizenschaft in gerader Linie von einem Gefährten des Christoph Columbus bekommen hatte. Was mich angeht, so werde ich es an niemanden weitergeben, denn ich sterbe.«

»Oh Pangloß,« rief Candid, »welch ein absonderliches Geschlechtsregister! Sollte es seinen Ursprung nicht im Teufel haben?« »Keineswegs,« erwiderte der große Mann, »das Ganze ist ein in der besten aller Welten völlig unentbehrliches Ding, ein notwendiger Bestandteil, denn hätte Christoph Columbus auf einer Insel Amerikas diese Krankheit nicht bekommen, als welche die Quelle der Fortpflanzung vergiftet, ja zuweilen sogar verstopft und ganz offenbar der Gegenpart des großen Zweckes der Natur ist, so hätten wir weder Schokolade noch Kochenille. Man muß ferner beachten, daß diese Krankheit bis auf den heutigen Tag ebenso wie die Religionsstreitigkeiten eine Besonderheit unseres Erdteiles ist. Die Türken, Inder, Perser, Chinesen, Siamesen und Japaner kennen sie noch nicht, aber es ist ein zureichender Grund dafür vorhanden, daß auch sie ihrerseits sie im Verlauf einiger Jahrhunderte kennen lernen werden. Inzwischen hat sie unter uns gar herrliche Fortschritte gemacht, vor allem in jenen großen, aus ehrenwerten wohlerzogenen Söldnern bestehenden Heeren, die über die Schicksale der Staaten entscheiden. Man darf versichern, daß, wenn dreißigtausend Mann gegen ein gleich großes Heer eine Schlacht liefern, auf jeder Seite ungefähr zwanzigtausend mit dieser Seuche behaftet sind.«

»Das ist wunderbar!« rief Candid, »aber Sie müssen kuriert werden.« »Wie sollte das wohl geschehen,« sagte Pangloß, »ich habe keinen gebogenen Heller, mein Freund, und auf der ganzen Breite dieses Erdenrundes kann man weder einen Aderlaß noch ein Klistier bekommen, ohne dafür zu bezahlen oder von jemand anderem dafür bezahlen zu lassen!«

Dies letzte Wort brachte Candid zu einem Entschluß; er warf sich seinem barmherzigen Wiedertäufer Jakob zu Füßen und machte ihm eine so rührende Schilderung von dem Zustande seines Freundes, daß der wackere Mann nicht länger zögerte, den Doktor Pangloß aufzunehmen und auf seine Kosten heilen zu lassen. Pangloß verlor in der Kur nur ein Auge und ein Ohr. Er schrieb gut und beherrschte die Arithmetik, der Wiedertäufer Jakob machte ihn also zu seinem Buchhalter, und als er sich nach Verlauf von zwei Monaten gezwungen sah, in Handelsgeschäften nach Lissabon zu reisen, nahm er seine beiden Philosophen mit sich auf sein Schiff. Pangloß setzte ihm auseinander, daß alles so gut sei, wie es gar nicht besser sein könnte. Jakob war nicht seiner Meinung. »Die Menschen«, sagte er, »müssen die ursprüngliche Natur wohl ein wenig verdorben haben, denn sie sind nicht als Wölfe geboren, sondern sind erst zu Wölfen geworden. Gott hat ihnen weder vierundzwanzigkalibrige Kanonen noch Bajonette gegeben, sondern sie haben sich Bajonette und Kanonen erst zu gegenseitiger Vernichtung selber erfunden. Ich könnte auch die Bankerotte und die Gerechtigkeit in Betracht ziehen, als welche sich der Güter der Pleitemacher bemächtigt, um die Gläubiger darum zu betrügen.« »Alles dies ist unerläßlich,« sagte der einäugige Doktor, »privates Unglück bildet das allgemeine Glück, so daß alles um so besser steht, je mehr privates Unglück es gibt.« Während er dergestalt vernünftelte, verdunkelte sich die Luft, die Winde bliesen aus allen vier Ecken der Welt und das Schiff ward angesichts des Hafens von Lissabon von dem schrecklichsten Unwetter überfallen.

Fünftes Kapitel

Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und was dem Doktor Pangloß,