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Wider die Willkür der Herrschenden! In der 1759 erstmals erschienenen satirischen Novelle durchschreitet der gutgläubige Candide Länder, durchleidet Kriege, durchlebt Liebesabenteuer – und muss erkennen, dass es mit der besten aller möglichen Welten nicht weit her ist. Bis heute hat Voltaires brillante, spritzig-spöttische Novelle nichts von ihrer Faszination verloren. – Mit einer kompakten Biographie des Autors. »Wenn er nicht geschrieben hätte, hätte er gemordet.« Ein Zeitgenosse über Voltaire
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2025
Voltaire
Reclam
Französischer Originaltitel: Candide ou l’optimisme.
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RECLAMS Nr. 962340
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Porträt von Voltaire, Stich des 19. Jahrhunderts – © Stefano Bianchetti / Bridgeman Images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962340-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020755-0
reclam.de | [email protected]
Wie Candide in einem schönen Schloss aufgezogen wurde, und wie man ihn aus selbigem fortjagte
Was bei den Bulgaren aus Candide wurde
Wie Candide von den Bulgaren fortkam und was aus ihm wurde
Wie Candide seinen alten Philosophielehrer Pangloss wiedertraf und was sich daraus ergab
Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und wie es dem Doktor Pangloss, Candide und dem Wiedertäufer Jakob erging
Wie man, um Erdbeben zu verhindern, ein schönes Autodafé veranstaltete, und wie Candide ausgepeitscht wurde
Wie eine Alte für Candide sorgte, und wie er wiederfand, was er liebte
Die Geschichte Kunigundes
Wie es Kunigunde, Candide, dem Großinquisitor und einem Juden erging
In welcher Bedrängnis Candide, Kunigunde und die Alte Cádiz erreichen, und von ihrer Einschiffung
Die Geschichte der Alten
Fortsetzung der Leiden der Alten
Wie Candide gezwungen wurde, sich von der schönen Kunigunde und der Alten zu trennen
Wie Candide und Cacambo bei den Jesuiten von Paraguay empfangen wurden
Wie Candide den Bruder seiner lieben Kunigunde tötete
Wie es den beiden Reisenden mit zwei jungen Mädchen, zwei Affen und den Ohrianer genannten Wilden erging
Wie Candide und sein Diener im Land Eldorado ankamen und was sie dort sahen
Was sie in dem Land Eldorado sahen
Was sie in Surinam erlebten und wie Candide Martin kennenlernte
Was Candide und Martin auf See erlebten
Candide und Martin nähern sich den Küsten Frankreichs und diskutieren
Was Candide und Martin in Frankreich erlebten
Candide und Martin kommen an die englische Küste; was sie dort sehen
Von Paquette und von Bruder Giroflée
Besuch bei dem Signor Pococurante, venezianischer Edelmann
Von einem Souper, das Candide und Martin in Gesellschaft von sechs Fremden einnahmen, und wer sie waren
Candides Reise nach Konstantinopel
Wie es Candide, Kunigunde, Pangloss und Martin erging, usw.
Wie Candide Kunigunde und die Alte wiederfand
Schluss
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Nachwort
Zeittafel
Inhalt
Erstes Kapitel
In Westfalen, auf dem Schloss des Herrn Baron von Thunder-ten-tronckh, gab es einen jungen Burschen, dem die Natur das sanfteste Wesen mitgegeben hatte. Sein Antlitz war der Spiegel seiner Seele. Er besaß ein redliches Urteilsvermögen und dazu das schlichteste Gemüt; dies war, glaube ich, der Grund, weshalb man ihn Candide nannte. Die langjährigen Bedienten des Hauses munkelten, er sei womöglich ein Abkömmling der Schwester des Herrn Barons und eines wackeren und ehrbaren Edelmanns aus der Gegend, mit dem dieses Fräulein sich nie hatte vermählen wollen, weil er nur einundsiebzig Vorfahren in direkter Linie hatte nachweisen können und der Rest seines Stammbaums vom Dunkel der Zeit verschlungen worden war.
Der Herr Baron war einer der mächtigsten Edelmänner Westfalens, denn sein Schloss hatte eine Tür und Fenster. In seinem Großen Saal hing sogar ein Wandteppich. Die Hunde, die sich in seinen Höfen herumtrieben, konnten bei Bedarf eine Meute bilden; seine Stallknechte dienten als Piköre; der Dorfpfarrer war sein Hofprediger. Alle nannten ihn Durchlaucht, und alle lachten, wenn er seine Geschichten zum Besten gab.
Die Frau Baronin, die ungefähr dreihundertundfünfzig Pfund wog, stand aufgrund dessen in sehr hoher Achtung, und sie kam ihren Pflichten als Gastgeberin mit einer Würde nach, die ihr noch größeren Respekt verschaffte. Ihre Tochter Kunigunde, siebzehn Jahre alt, war frisch und rosig und appetitlich rund. Der Sohn des Barons schien in allem das Ebenbild seines Vaters. Der Hauslehrer Pangloss war das Maß aller Dinge bei ihnen, und der kleine Candide lauschte seinem Unterricht mit der ganzen Gutgläubigkeit, die seinem Alter und seiner Wesensart entsprach.
Pangloss lehrte die Metaphysico-Theologo-Kosmolo-Nigologie. Er bewies auf bewundernswerte Weise, dass es eine Wirkung ohne Ursache nicht gibt und dass in dieser besten aller möglichen Welten das Schloss Seiner Durchlaucht des Barons das schönste aller möglichen Schlösser und die Frau Baronin die beste aller möglichen Baroninnen war.
»Es ist bewiesen«, sagte er, »dass die Dinge anders nicht sein können; denn da alles zu einem Zweck geschaffen wurde, existiert mit Notwendigkeit alles zu dem besten Zweck. Merket wohl: Nasen wurden dazu gemacht, dass sie Brillen tragen, daher haben wir Brillen. Und die Beine sind offensichtlich dafür geschaffen, dass man Hosen darüber zieht – und wir haben Hosen. Steine wurden dazu gebildet, dass man sie behaut und damit Schlösser baut, daher hat Seine Durchlaucht ein sehr schönes Schloss: Der größte Baron im Lande muss auch der am besten behauste sein. Und nachdem Schweine dazu geschaffen wurden, dass man sie isst, essen wir das ganze Jahr lang Schweine; folglich haben diejenigen, die behauptet haben, alles sei gut, eine Dummheit verkündet; sie hätten sagen müssen, dass alles bestens ist.«
Candide lauschte mit großer Hingabe und glaubte in aller Unschuld, denn er fand Fräulein Kunigunde ungeheuer schön, auch wenn er nie die Kühnheit hatte, es ihr zu sagen.
Er zog den Schluss, dass der höchste Grad des Glücks darin bestehe, als Baron Thunder-ten-tronckh geboren zu sein, der nächstfolgende darin, Fräulein Kunigunde zu sein, der dritte, sie tagtäglich zu sehen, und der vierte, Meister Pangloss zuzuhören, dem größten Philosophen des Landes und folglich der ganzen Erde.
Eines Tages, als Kunigunde in der Nähe des Schlosses in einem Wäldchen, das man Park nannte, einen Spaziergang machte, sah sie im Gebüsch, wie der Doktor Pangloss einer Zofe ihrer Mutter, einer kleinen, sehr hübschen und sehr gelehrigen Brünetten, Unterricht in experimenteller Physik erteilte. Da Fräulein Kunigunde sich für die Wissenschaften sehr erwärmte, beobachtete sie reglos die wiederholten Experimente, deren Zeugin sie wurde; in aller Deutlichkeit sah sie den zureichenden Grund des Doktors, die Wirkungen und die Ursachen, und sie ging ganz aufgewühlt zurück, ganz in Gedanken, ganz erfüllt von dem Verlangen, sich der Wissenschaft zu widmen, und dachte bei sich, sie könnte wohl der zureichende Grund des jungen Candide sein, und er auch der ihre.
Sie begegnete Candide auf dem Weg zurück ins Schloss und errötete; auch Candide errötete; stockend wünschte sie ihm einen guten Tag, und Candide sprach zu ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Am nächsten Tag, als man sich vom Tisch erhoben hatte, trafen Kunigunde und Candide hinter einem Paravent aufeinander. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen, Candide hob es auf, sie fasste ihn in aller Unschuld bei der Hand, der junge Mann küsste in aller Unschuld die Hand des jungen Fräuleins mit ganz besonderer Lebhaftigkeit, Empfindsamkeit und Anmut; ihre Münder fanden zueinander, ihre Augen entflammten, ihre Knie erbebten, ihre Hände gerieten auf Abwege. Der Herr Baron von Thunder-ten-tronckh kam dort vorbei, und als er diese Ursache und diese Wirkung erblickte, jagte er Candide mit kräftigen Tritten in sein Hinterteil aus dem Schloss; Kunigunde fiel in Ohnmacht. Sobald sie wieder zu sich gekommen war, versetzte ihr die Frau Baronin eine Ohrfeige; und im schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser herrschte allgemeine Bestürzung.
Zweites Kapitel
Candide, der aus dem irdischen Paradies vertrieben war, ging lange seines Wegs, ohne zu wissen, wohin; weinte, richtete seinen Blick zum Himmel, wandte sich oft um zum schönsten aller Schlösser, das die schönste aller Baronessen in sich barg; ohne ein Abendessen legte er sich auf freiem Feld zwischen zwei Furchen nieder; der Schnee fiel in großen Flocken. Völlig durchgefroren schleppte Candide sich am folgenden Tag zur nahe gelegenen Stadt, die Waldberghoff-Trarbk-Dikdorff hieß, ohne einen Pfennig, halbtot vor Hunger und Erschöpfung.
Niedergeschlagen machte er vor einer Schänke Halt. Zwei Männer ganz in Blau wurden auf ihn aufmerksam: »Kamerad«, sagte der eine, »da wäre ein wohlgeratener junger Mann, er hat auch die erforderliche Größe.« Sie gingen auf Candide zu und baten ihn sehr sittsam an ihren Tisch. »Ihr Herren«, sagte Candide mit entzückender Bescheidenheit zu ihnen, »ihr erweist mir große Ehre, doch habe ich nicht die Mittel, meinen Anteil zu bezahlen.« – »Aber mein Herr«, sprach der eine der Blauen, »Leute von Eurer Statur und Eurem Wert zahlen niemals etwas. Seid Ihr nicht fünf Fuß und fünf Zoll groß?« – »Ja, ihr Herren, das ist meine Körpergröße«, sagte er mit einer Verbeugung. »Oh, mein Herr, setzt Euch zu Tisch; wir zahlen nicht nur für Euch, sondern sorgen auch dafür, dass es einem Mann wie Euch niemals an Geld mangelt – Menschen sind doch dazu da, dass sie sich gegenseitig helfen.« – »Ihr habt recht«, sagte Candide, »das hat Herr Pangloss mir auch immer gesagt, und ich sehe wohl, dass alles bestens ist.« Man bittet ihn, ein paar Taler entgegenzunehmen, er nimmt sie und möchte einen Schuldschein ausstellen, man duldet es nicht, und man begibt sich zu Tisch. »Seid Ihr nicht in zärtlicher Liebe …« – »O ja!«, antwortet er, »ich bin in zärtlicher Liebe Fräulein Kunigunde zugetan.« – »Nein«, sagte der eine dieser Herren, »wir fragen, ob Ihr nicht in zärtlicher Liebe dem König der Bulgaren zugetan seid?« – »Ganz und gar nicht«, antwortet er, »ich habe ihn ja noch nie gesehen.« – »Was? Das ist der reizendste aller Könige, und man muss auf sein Wohl trinken.« – »Oh, sehr gern, ihr Herren«, und er trinkt. »Das genügt«, sagt man ihm, »Ihr seid jetzt der Halt, die Stütze, der Verteidiger, der Held der Bulgaren; Euer Glück ist gemacht, Euer Ruhm ist Euch sicher.« Man legt ihm auf der Stelle Fußeisen an und bringt ihn zum Regiment. Man lässt ihn Rechtsschwenk machen und Linksschwenk, hoch den Ladestock und Ladestock an Ort, angelegt und Schuss, im Laufschritt marsch! Und gibt ihm dreißig Stockhiebe. Am nächsten Tag exerziert er schon etwas weniger schlecht und erhält nur zwanzig Hiebe, am übernächsten Tag nur noch zehn, und seine Kameraden halten ihn für ein Wunder.
Candide, völlig entgeistert, durchschaute noch immer nicht recht, inwiefern er ein Held war. Eines schönen Frühlingstages kam er auf den Gedanken, einen Spaziergang zu machen, schritt geradewegs dahin in dem Glauben, es sei das Vorrecht des Menschengeschlechts wie auch der Tierwelt, sich nach Belieben seiner Beine zu bedienen. Er hatte noch nicht zwei Meilen zurückgelegt, als vier andere Helden von sechs Fuß Größe ihn einholen, ihn fesseln und ihn in einen Kerker stecken. Man befragt ihn gerichtlich, ob es ihm lieber wäre, sich sechsunddreißigmal vom ganzen Regiment auspeitschen zu lassen oder zwölf bleierne Kugeln auf einmal ins Hirn zu bekommen. Vergeblich brachte er vor, dass des Menschen Wille frei ist, dass er weder das eine noch das andere wolle – er musste seine Wahl treffen. Er entschied sich, kraft der göttlichen Gabe, die man Freiheit nennt, dafür, sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen; zwei Läufe hielt er aus. Das Regiment bestand aus zweitausend Männern, das bedeutete für ihn viertausend Schläge, die ihm vom Nacken bis zum Hintern Muskeln und Nerven freilegten. Als man den dritten Lauf angehen wollte, bat Candide, der es nicht mehr ertragen konnte, man möge ihm die Gnade gewähren, ihm gütigerweise den Schädel einzuschlagen. Diese Gunst wurde ihm gewährt: Man verbindet ihm die Augen, man lässt ihn niederknien. Der König der Bulgaren kommt in diesem Augenblick vorbei und lässt sich über das Verbrechen des Delinquenten unterrichten; und da dieser König über große Geistesgaben verfügte, begriff er, nach allem, was er von Candide erfuhr, dass der ein junger Metaphysiker war, der von den Dingen dieser Welt keinerlei Ahnung hatte, und gewährte ihm seine Gnade mit einer Milde, die man in allen Journalen und für alle Zeiten rühmen wird. Ein tüchtiger Wundarzt heilte Candide innerhalb von drei Wochen dank der Mittel, die Dioskurides lehrt. Er hatte schon wieder etwas Haut und konnte laufen, als der König der Bulgaren gegen den König der Abarer in die Schlacht zog.
Drittes Kapitel
Nichts war so schön, so gewandt, so prachtvoll, so wohlgeordnet wie die beiden Heere. Die Trompeten, die Querpfeifen, die Oboen, die Trommeln, die Kanonen erklangen in einer Harmonie, wie es sie in der Hölle nie gab. Zunächst streckten die Kanonen auf jeder Seite annähernd sechstausend Männer nieder; dann befreiten die Musketiere die beste aller Welten von ungefähr neun- bis zehntausend Schlingeln, die ihre Oberfläche verpesteten. Auch die Bajonette waren der zureichende Grund für den Tod einiger Tausend Männer. Das Ganze mochte sich auf gut dreißigtausend Seelen belaufen. Candide, der zitterte wie ein Philosoph, verbarg sich so gut er konnte während dieser heroischen Schlächterei.
Endlich, während die beiden Könige, ein jeder in seinem Lager, das Te Deum singen ließen, beschloss er, Wirkungen und Ursachen anderswo zu ergründen. Er stieg über Berge von Toten und Sterbenden und erreichte zunächst ein nahe gelegenes Dorf: Es lag in Schutt und Asche. Dabei handelte es sich um ein abarisches Dorf, das die Bulgaren nach allgemeiner Rechtslage niedergebrannt hatten. Hier sahen von Wunden übersäte Greise ihre hingemetzelten Frau sterben, die ihre Kinder an ihre blutigen Brüste pressten; dort gaben junge Frauen ihren letzten Seufzer von sich, die man aufgeschlitzt hatte, nachdem sie die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt hatten; andere, die zur Hälfte verbrannt waren, schrien, man möge sie ganz erledigen. Überall auf dem Boden war Hirn verspritzt zwischen abgeschlagenen Armen und Beinen.
Candide flüchtete sich so schnell er konnte in ein anderes Dorf. Es gehörte den Bulgaren, und die abarischen Helden hatten es genauso behandelt. Candide, der immer weiter auf zuckende Glieder trat oder Ruinen durchquerte, gelangte schließlich aus dem Kriegsschauplatz heraus, mit nur wenig Proviant im Beutel und in Gedanken noch immer bei Fräulein Kunigunde. Sein Proviant war erschöpft, als er in Holland ankam; doch weil er gehört hatte, dass in jenem Land jedermann reich war und christlich gesinnt, zweifelte er nicht, dass man ihn dort ebenso gut behandeln werde wie im Schloss des Herrn Baron, bevor er der schönen Augen Fräulein Kunigundes wegen daraus fortgejagt wurde.
Er bat eine Reihe würdiger Personen um Almosen, die ihm alle antworteten, dass er, wenn er weiter dieser Beschäftigung nachgehe, ins Zuchthaus gesteckt werde, um ihn auf den rechten Weg zu führen.
Er wandte sich dann an einen Herrn, der ganz allein eine volle Stunde lang vor einer großen Versammlung über Nächstenliebe gesprochen hatte. Dieser Redner sah ihn schräg an und sagte zu ihm: »Wozu seid Ihr hergekommen? Seid Ihr hier der guten Sache wegen?« – »Es gibt keine Wirkung ohne Ursache«, gab Candide ganz bescheiden zurück, »alles hängt notwendig miteinander zusammen und ist aufs Beste eingerichtet. Es musste sein, dass ich bei Fräulein Kunigunde fortgejagt wurde, dass man mich Spießruten laufen ließ, und es muss sein, dass ich um etwas Brot für mich bitte, bis dass ich es mir selber verdienen kann; all dies konnte nicht anders sein.« – »Mein guter Freund«, sprach der Redner, »glaubt Ihr, dass der Papst der Antichrist ist?« – »Davon habe ich noch nie etwas gehört«, antwortete Candide, »doch mag er es sein oder auch nicht, ich brauche Brot.« – »Du bist es nicht wert, Brot zu essen«, gab der andere zurück, »scher dich fort, Schurke, scher dich fort, Elender, und komm mir nicht mehr unter die Augen.« Die Frau des Redners, die ihren Kopf zum Fenster hinausgestreckt hatte und einen Mann gewahrte, der daran zweifelte, dass der Papst der Antichrist war, leerte einen ganzen … über ihm aus. Gütiger Himmel! Zu welchen Exzessen führt doch religiöser Eifer bei den Damen!
Ein Mann, der gar nicht getauft war, ein wackerer Wiedertäufer namens Jakob, sah mit an, auf welch grausame und schändliche Weise man einen seiner Brüder da behandelte, ein zweibeiniges Wesen ohne Federn, das eine Seele besaß. Er nahm ihn mit nach Hause, reinigte ihn, gab ihm Brot und Bier, schenkte ihm zwei Gulden und wollte ihm sogar beibringen, in einer seiner Manufakturen für Perserstoff zu arbeiten, den man in Holland herstellt. Candide, der sich beinahe vor ihm niederwarf, rief aus: »Meister Pangloss hatte es mir doch gesagt, dass alles bestens ist auf dieser Welt; Eure außerordentliche Großzügigkeit berührt mich weitaus mehr als die Hartherzigkeit jenes Herrn mit dem schwarzen Mantel und seiner Frau Gattin.«
Am nächsten Tag traf er beim Spazierengehen auf einen ganz und gar von Pusteln übersäten Bettler mit erloschenen Augen, zerfressener Nasenspitze, schiefem Mund, schwarzen Zähnen, der aus tiefem Halse sprach, von Hustenschauern geschüttelt wurde und bei jedem neuen Stoß einen Zahn spuckte.
Viertes Kapitel
Candide war mehr noch als von Grauen von Mitleid bewegt und gab diesem schauderhaften Bettler die zwei Gulden, die er von seinem ehrbaren Wiedertäufer Jakob bekommen hatte. Das Gespenst betrachtete ihn eingehend, Tränen stiegen ihm in die Augen, und es fiel ihm um den Hals. Candide weicht vor Schreck zurück. »O weh«, spricht der Elende zu dem anderen Elenden, »erkennt Ihr Euren lieben Pangloss nicht mehr?« – »Was höre ich da? Ihr, mein lieber Meister! Ihr, in diesem furchtbaren Zustand! Welches Unglück mag Euch denn zugestoßen sein? Warum seid Ihr nicht mehr in dem schönsten aller Schlösser? Was ist aus Fräulein Kunigunde geworden, der Perle unter den jungen Frauen, dem Meisterwerk der Natur?« – »Ich kann nicht mehr«, sagte Pangloss. Sogleich brachte Candide ihn in die Stallungen des Wiedertäufers, wo er ihm ein wenig Brot zu essen gab; und als Pangloss wieder bei Kräften war, sagte er zu ihm: »Nun denn, Kunigunde?« – »Sie ist tot«, fuhr der andere fort. Bei diesen Worten fiel Candide in Ohnmacht. Sein Freund brachte ihm mit ein paar Tropfen schlechten Essigs, der sich zufällig dort fand, die Lebensgeister zurück. Candide schlug die Augen wieder auf. »Kunigunde ist tot! Ach, beste aller Welten, wo seid Ihr? Aber an welcher Krankheit ist sie denn gestorben? Doch nicht vielleicht daran, dass sie sah, wie man mich mit kräftigen Fußtritten aus dem schönen Schloss ihres Herrn Vater fortjagte?« – »Nein«, sagte Pangloss, »aufgeschlitzt ist sie worden von bulgarischen Soldaten, nachdem sie so oft es nur ging vergewaltigt wurde; dem Herrn Baron, der sie beschützen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen, und die Frau Baronin in Stücke gehauen; meinen armen Schüler haben sie genauso behandelt wie seine Schwester; und das Schloss, von dem steht kein Stein mehr auf dem anderen, keine Scheune ist mehr da, kein Schaf, keine Ente, kein Baum; doch sind wir tüchtig gerächt worden, denn die Abarer haben es mit einem benachbarten Schloss, das einem bulgarischen Grundherrn gehörte, ganz genauso gemacht.«
Bei dieser Rede fiel Candide erneut in Ohnmacht, doch nachdem er wieder zu sich gekommen war und alles gesagt hatte, was dazu zu sagen war, erkundigte er sich nach der Ursache und der Wirkung und dem zureichenden Grund, warum Pangloss sich in einem solch erbärmlichen Zustand befand. »O weh!«, sagte dieser, »die Liebe ist es; die Liebe, die Trösterin des Menschengeschlechts, die Erhalterin des Universums, die Seele aller fühlenden Wesen, die zärtliche Liebe.« – »O weh«, sagte Candide, »ich habe sie kennengelernt, diese Liebe, diese Gebieterin der Herzen, diese Seele unserer Seele; sie hat mir niemals mehr eingebracht als einen Kuss und zwanzig Tritte in den Hintern. Wie hat denn diese schöne Sache bei Euch eine derart grauenhafte Wirkung haben können?«
Pangloss antwortete mit diesen Worten: »Ach, mein lieber Candide! Ihr habt doch Paquette gekannt, diese hübsche Zofe unserer erlauchten Baronin; in ihren Armen habe ich die Freuden des Paradieses genossen, die diese Höllenqualen verursacht haben, von denen Ihr mich gemartert seht; sie war damit infiziert, vielleicht ist sie daran gestorben. Paquette hatte dieses Präsent von einem sehr gelehrten Franziskanermönch, der es bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt hat; denn er hatte es von einer alten Gräfin, die es von einem Rittmeister bekommen hatte, der es einer Marquise verdankte, die es von einem Pagen hatte, der es von einem Jesuiten erhalten hatte, der es, als Novize noch, in direkter Linie von einem Gefährten von Christoph Kolumbus hatte. Was mich nun betrifft, so werde ich es an niemanden weitergeben, denn ich sterbe daran.«
»O Pangloss«, rief Candide aus, »welch seltsamer Stammbaum! Hockt nicht vielleicht der Teufel an seiner Wurzel?« – »Ganz und gar nicht«, erwiderte dieser große Geist, »in der besten aller Welten war etwas Derartiges unerlässlich, ein notwendiger Bestandteil; denn hätte sich Kolumbus nicht auf einer der Inseln in Amerika diese Krankheit eingefangen, die den Quell der Fortpflanzung vergiftet, die häufig sogar die Fortpflanzung verhindert, was ganz offensichtlich dem großen Zweck der Natur zuwiderläuft, so hätten wir weder Schokolade noch Schildläuse. Man sollte auch noch darauf hinweisen, dass diese Krankheit auf unserem Kontinent bis zum heutigen Tag auf uns beschränkt ist, wie auch der Glaubensstreit. Die Türken, die Inder, die Perser, die Chinesen, die Siamesen und die Japaner kennen sie noch nicht; doch gibt es einen zureichenden Grund, weshalb sie sie ihrerseits in ein paar Jahrhunderten kennenlernen werden. Währenddessen hat sie bei uns wunderbare Fortschritte gemacht, vor allem in den großen Heeren aus ehrbaren, wohlerzogenen Söldnern, die über das Schicksal von Staaten entscheiden. Man kann gewiss sein, dass es, wenn dreißigtausend Männer in geschlossener Schlachtreihe gegen eine der Zahl nach gleich große Truppe antreten, auf jeder Seite ungefähr zwanzigtausend Syphilitiker gibt.«
»Das ist wahrlich bewundernswert«, sagte Candide, »doch Ihr müsst Euch heilen lassen.« – »Und wie könnte ich das wohl?«, fragte Pangloss, »ich habe keinen Heller, lieber Freund, und auf der ganzen weiten Welt bekommt man nicht einen Aderlass, nicht einen Einlauf, ohne dass man dafür bezahlt oder ohne dass jemand für uns zahlt.«
Diese Worte genügten Candide; er ging zu seinem mildtätigen Wiedertäufer Jakob, warf sich vor ihm nieder und schilderte ihm in so bewegenden Worten den Zustand, dem sein Freund preisgegeben war, dass der gute Mann nicht zögerte, Pangloss bei sich aufzunehmen und ihn auf seine Kosten kurieren zu lassen. Bei der Heilung verlor Pangloss lediglich ein Auge und ein Ohr. Er hatte eine schöne Handschrift und beherrschte die Arithmetik zur Perfektion. Der Wiedertäufer Jakob machte ihn zu seinem Buchhalter. Nach zwei Monaten, als seine Geschäfte eine Reise nach Lissabon notwendig machten, nahm er seine zwei Philosophen mit auf sein Schiff. Pangloss legte ihm dar, dass alles besser nicht hätte sein können. Jakob war nicht dieser Ansicht: »Man muss doch annehmen«, sagte er, »dass die Menschen die Natur ein wenig entstellt habe, denn sie wurden nicht als Wölfe geboren, und Wölfe sind sie geworden. Gott hat ihnen weder Vierundzwanzigpfünder-Kanonen noch Bajonette gegeben, sie haben sich Bajonette und Kanonen gemacht, um sich gegenseitig zu vernichten. Ich könnte noch die Bankrotte hinzunehmen, und die Justiz, die sich des Vermögens der Bankrotteure bemächtigt, um die Gläubiger zu hintergehen.« – »All dies war unerlässlich«, erwiderte der einäugige Doktor, »und das Unglück des Einzelnen dient dem allgemeinen Wohl, so dass, je öfter das Unglück den Einzelnen trifft, alles um so besser ist.« Während er seinen Gedanken weiterspann, verdunkelte sich die Luft, es blies aus allen vier Windrichtungen, und das Schiff wurde im Angesicht des Hafens von Lissabon von dem fürchterlichsten Sturm gepackt.
Fünftes Kapitel