Carlotta und die weiße Genoveva - Holger Krauße - E-Book

Carlotta und die weiße Genoveva E-Book

Holger Krauße

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Beschreibung

Ein uraltes Gemäuer, hoch über dem Rhein. Rätselhafte Inschriften und ein Gräberfeld. Ein Frischling namens Sterling, ein verdächtiger Reporter und eine Legende, von der niemand gehört hat außer einem undurchsichtigen Schotten: Carlottas neues Zuhause ist alles andere als gewöhnlich. Und wirft mit jedem Tag mehr Fragen auf. Werden Carlotta und ihr Freund Sanjay das Geheimnis von Aberwinter ergründen? Was haben Ockhams Rasiermesser und eine List aus dem alten China damit zu tun? Wer sind die drei Heinrichs? Und wie schlägt man den karierten Affenkönig beim Hua Chok Pei? Carlotta und Sanjay haben alle Hände voll zu tun. Und begeben sich, ohne es zu wissen, in höchste Gefahr.

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Seitenzahl: 214

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Eine eigenartige Erbschaft

Ein unheimliches Heim

Alte Gräber und ein neuer Freund

Frau Guptas Gulab Jamun

Die Birnbaum und der Entenmann

Der Ring des Nibelung

Ein kratziger Kamerad

Der Duft von Heidekraut und Meer

Duell der Beamten

Im Heimatmuseum

Professor Moosbichler murmelt

Die drei Heinrichs und die weiße Genoveva

Ockhams Rasiermesser

Im hellen Licht

Das Wiederkreuz

Finsternis

Epilog

1

EINE EIGENARTIGE ERBSCHAFT

Niemand in der Familie wollte etwas mit Großonkel Habakuk zu tun haben. Niemand außer Carlotta.

Das verwunderte keinen, am wenigsten ihn selbst. Denn Habakuk war kein einfacher Mensch. Er war ein polternder, rauer Geselle, der auf keinerlei Befindlichkeiten Rücksicht nahm und Leuten mit großem Vergnügen und einem Schuss Boshaftigkeit Dinge an den Kopf warf, auf die sie keine Antwort hatten.

Schon seine Erscheinung war einschüchternd: Er war groß und breit wie ein Bär, sein Ehrfurcht gebietender grauer Bart hätte jedem Seeräuber gut angestanden und sein tiefes, an Donnergrollen erinnerndes Lachen tat ein Weiteres. Doch mehr noch scheute man es, ihm in die Augen zu sehen, die tiefer in einen hineinschauten als es angenehm war.

Warum er sich überhaupt mit den Butterwecks – so hieß Carlottas Familie – abgab, war ein Rätsel. Man hatte sich nichts zu sagen, in seiner Gegenwart war allen unwohl, und er selbst schweifte so unstet durch Haus und Garten wie ein Gefangener. Doch so fehl am Platz er auch war, erschien er dennoch zuverlässig zu allen Familienfeiern bei Onkel Wilhelm, selbst wenn man vergaß ihn einzuladen. Und so gingen ihm alle Geschwister, Cousins, Schwippschwager und Tanten dritten Grades weiträumig aus dem Weg und niemandem fiel auf, dass der Grund für seine Besuche rothaarig und mit ein paar frechen Sommersprossen und einem ebensolchen Mundwerk ausgestattet war.

Warum sich der seltsame Kerl stets zu der Kleinen auf die Bank im Garten setzte, fragte niemand. Selbst Carlottas Eltern zuckten mit den Schultern, wenn sie es sahen. Dass ihre Tochter merkwürdige Vorlieben hatte, hatten sie längst akzeptieren müssen. Und wenn Habakuk auf diese Weise nicht im Weg stand war ja allen gedient. Saßen die beiden zusammen, sprachen sie manchmal stundenlang gar nichts und zwinkerten sich nur zu, im fröhlichen Bewusstsein ihrer Gegenwart. Manchmal quasselten sie auch bis in die Nachtstunden über Dinge, aus der der gelegentliche Zuhörer kopfschüttelnd Worte wie “Tidenhub”, “Amortisation” oder “Sakkara” herauszuhören glaubte, alles im selben Satz und mit einer Leidenschaft, die den Flüsterton, in dem sie vorgetragen wurden, Lügen strafte. Großonkel Habakuk, von dem man nicht einmal wusste, ob das sein richtiger Name war und wie genau er eigentlich zur Familie gehörte (denn niemand traute sich zu fragen), war schon ein eigenartiger Kauz dachte man und beließ es dabei.

* * *

Carlotta war kein besonders hübsches Mädchen. Das wusste sie und es war ihr gleichgültig. Sie wusste es, weil Erwachsene andere Mädchen fast unweigerlich als bezaubernd, entzückend oder eben hübsch priesen, ihnen bei ihr aber die passenden Worte fehlten. Bestenfalls nannten sie sie „besonders“, aber man merkte, dass sie sich nicht wohl damit fühlten. Wie ein Kompliment hörte es sich jedenfalls nicht an.

Gleichgültig war es ihr, weil sie der Ansicht war, dass es weitaus wertvollere Eigenschaften gab. Neugierde zum Beispiel, Unabhängigkeit, Mut oder Hilfsbereitschaft. Jedenfalls hatte sie weder das Talent noch den Wunsch, daran etwas zu ändern. Warum um alles in der Welt sollte sie ihre Zeit mit dem Zusammenstellen eines Outfits verplempern, sich das Gesicht anzupinseln oder mit Glitzerkram zu behängen? War der Tag nicht ohnehin schon viel zu kurz für all das, was es zu entdecken galt?

Das waren keine leeren Worte. Denn Carlotta konnte mühelos am gleichen Tag eine Dokumentation über japanische Gärten anschauen, sich in ein Buch über die italienische Renaissance versenken und im Wald auf die Suche nach neuen Spezies begeben. Was konnte es Schöneres geben! Was konnte wichtiger sein! Ihre Interessen waren so zahlreich wie die Sandkörner am Strand von Sansibar und wechselten so schnell wie das Wetter über den schottischen Highlands.

Es war daher nicht verwunderlich, dass Carlotta keine richtigen Freunde hatte. Sie hatte sich das nicht ausgesucht, aber so war es nun einmal. Zudem waren ihre wechselnden Leidenschaften der Grund dafür, dass ihre Schulnoten nicht die besten waren. Sie mochte mehr sehen und verstehen als ihre Klassenkameraden, aber diese Art von Wissen war im Unterricht nur selten gefragt. Immerhin reichten ihre Leistungen zuverlässig für die nächste Versetzung, wenn auch nur gerade so. Sie mochte nicht wissen, wohin sie das Leben führen würde, aber sie wusste sehr genau was sie wollte – und was nicht. Was andere darüber dachten, kümmerte sie kein bisschen.

Es versteht sich, dass ihre Eltern hierüber nicht allzu glücklich waren. Aber was sollten sie schon tun, als mit unschöner Regelmäßigkeit auf die Bedeutung der Schule im Allgemeinen und guter Noten im Besonderen hinzuweisen? Und was sollte Carlotta anderes tun, als ihnen mit derselben Regelmäßigkeit Recht zu geben, um dann doch wieder das zu tun, was ihr gefiel. So war sie eben, auch wenn es niemanden gab, der dies verstand. Niemanden außer Großonkel Habakuk.

* * *

Als Habakuk für einige Monate nicht mehr gesehen worden war und selbst zum traditionellen Beisammensein am Neujahrstag nicht erschien, wurde dies mit allgemeiner Erleichterung aufgenommen. Fragen wurden nicht gestellt. Bis auf unsere rothaarige Freundin vermisste ihn keiner.

Dann kam die Nachricht, dass er verstorben sei. Wie und wo sich Habakuk vom irdischen Leben verabschiedet hatte und was aus seinen sterblichen Überresten wurde, blieb im Dunkeln. So genau wollte man es auch gar nicht wissen.

Verständlicherweise kam niemand auf die Idee, zu einer Trauerfeier einzuladen. Was hätte man auch sagen sollen über einen alten Mann, von dem man im Grunde ja nichts wusste und über den es wenig Freundliches zu sagen gab. Und so ließ jedermann die Sache auf sich beruhen und ging seinem Leben nach, als wäre nichts geschehen. Bald würde der alte Sonderling zu einer blassen Erinnerung werden, einem Kuriosum der Familiengeschichte, das auf alten Fotos, auf denen er stets am Rand stand, vergilbte.

Außer, natürlich, für Carlotta, die die Nachricht schwer getroffen hatte.

Als einige Wochen später der Brief eines Notars mit der Einladung zu einer Testamentsverlesung eintraf, herrschte große Aufregung im Hause Butterweck. Denn Butterwecks waren beileibe keine reiche Familie.

Nun gab es zwar keinen Grund für übertriebene Erwartungen, schließlich hatte Großonkel Habakuk nie den Eindruck erweckt, wohlhabend zu sein. Ganz gewiss nicht. Aber es würde die erste Erbschaft der Butterwecks sein – und aller Wahrscheinlichkeit auch die letzte – da war ihre Aufregung nur allzu verständlich.

Und so schossen die Mutmaßungen alsbald ins Kraut. Vor allem Frau Butterweck, die schon immer geglaubt hatte, dass das Schicksal etwas Besonderes für Sie vorgesehen hatte, ja, ihr im Grunde schuldete, sah sich schon mit einer goldenen Kreditkarte durch elegante Läden schlendern und Cocktails auf dem Sonnendeck einer Yacht schlürfen. Gewiss hatte der liebe, gute Habakuk erkannt, wie sehr sie ihm doch zugetan gewesen waren, im Gegensatz zum Rest der Familie. Vielleicht würde es aber auch, sie wollte ja nicht gierig sein, einen Hinweis geben auf einen längst verschollen geglaubten Verwandten, einen unehelichen Sohn Habakuks vielleicht, der heute ein erfolgreicher Unternehmer in Amerika war oder ein Rockstar oder gar Mitglied eines Fürstenhauses!

Herr Butterweck versuchte vergeblich seine Frau auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Denn zum einen war Herr Butterweck nicht mit allzu viel Phantasie gesegnet, sondern Beamter, und zum anderen kein Optimist. Für hochfahrende Hoffnungen gab es nun wirklich keinen Anlass. Niemand hatte Habakuk jemals am Steuer eines teuren Wagens oder auch nur in Kleidern gesehen, die nicht mindestens ein Jahrzehnt auf dem Buckel hatten.

Nein, man musste wohl davon ausgehen, dass er nicht mehr besaß als jenen unerschöpflichen Fundus von Geschichten, den er mit ihrer Tochter geteilt hatte. Er rechne, gab er kund, mit nicht mehr als einem Karton mit angeschlagenen Kaffeetassen, Weltkriegsorden und alten Büchern.

Carlotta hingegen blieb still und beteiligte sich nicht an den Spekulationen ihrer Eltern.

* * *

Am Abend nach der Testamentsverlesung kamen Carlottas Eltern mit strahlenden Gesichtern heim. Er sei ja gewiss ein komischer Kerl gewesen, sagte Herr Butterweck, aber das Herz habe er am rechten Fleck gehabt. Und Frau Butterweck, die immer ein wenig fromm war, beeilte sich hinzuzufügen, er möge, wenn es nach ihr ginge, schnell in den Himmel kommen. Nun waren die beiden im Grunde herzensgute Menschen, wenn man davon absah, dass Herr Butterweck beim Finanzamt arbeitete und Frau Butterweck bis vor kurzem als Politesse Strafzettel verteilt hatte, aber die gute Rede über den “lieben Onkel” hatte einen handfesten Grund.

Denn Großonkel Habakuk – der Notar hatte ihn zur allseitigen Verwunderung Herrn Dr. Habakuk Nibelung genannt, obwohl der Familienzweig der Nibelungs seit Jahrzehnten als ausgestorben galt – hatte den Butterwecks tatsächlich eine Erbschaft hinterlassen.

Eine Erbschaft, die sich sehen lassen konnte. Sie bestand aus einem nicht näher beschriebenen Haus nebst einer runden Summe Geldes.

Das Geld sollte zu gegebener Zeit ein Studium, gleich welcher Art, für Carlotta finanzieren. Das Haus jedoch – und hier wurde es seltsam – gab es nur unter der höchst merkwürdigen Maßgabe, dortselbst an einem bestimmten Tag in drei Monaten einzuziehen, ohne es vorher gesehen zu haben. Selbst die genaue Adresse würde vom Notar erst dann bekanntgegeben werden, wenn sie bereits auf dem Weg dorthin wären.

Da die Butterwecks in einer Mietwohnung wohnten, die längst zu klein geworden war, und schon lange von einem eigenen Haus träumten, war die Freude groß. Die Umstände mochten, nun ja, ein wenig befremdlich, vielleicht sogar beunruhigend sein, doch jegliche Bedenken schoben sie kategorisch von sich. Meine Güte, sollte es ein wenig zu renovieren geben, würden sie das schon schaffen. Ein kleiner Preis für ein eigenes Haus! Eine solche Gelegenheit würde nie wiederkommen, was gab es da noch zu überlegen!

Dass Carlotta die Schule würde wechseln müssen, vergaßen ihre Eltern im Überschwang der Gefühle. Doch Carlotta hatte nichts dagegen. Sie gab ja im Grunde nichts auf. Im Gegenteil, das war ein neuer Anfang, vielleicht sogar ein Abenteuer. Und wer konnte sie schon von einem solchen abhalten?

Dass es tatsächlich ein Abenteuer werden sollte, konnte Carlotta da noch nicht ahnen. Doch einen kleinen Vorgeschmack darauf, den gab es wohl. Denn mit den guten Nachrichten von der Erbschaft brachten ihre Eltern auch eine kleine, staubbedeckte Holzkiste mit, kaum größer als ein Schuhkarton, mit eisernen Scharnieren beschlagen und mit einem massiven Vorhängeschloss versehen. Sie, die Kiste, so hatte es der Notar verkündet, sei Carlotta persönlich und niemandem sonst auszuhändigen. Allerdings dürfe sie sie, wolle sie nicht ihres Studiengeldes verlustig gehen, keinesfalls vor ihrem nächsten Geburtstag öffnen, welcher wenige Tage nach dem vorgeschriebenen Umzugsdatum war – eine Bedingung, die einmal mehr für Kopfschütteln sorgte und dann rasch in Vergessenheit geriet. Wie die Kiste, die bald in einem Winkel von Carlottas Zimmer vor sich hin staubte.

In Vergessenheit? Nicht ganz, denn Carlotta vergaß die Kiste keineswegs. Ihr Inhalt änderte sich allerdings auf mysteriöse Weise von Woche zu Woche. Anfangs vermutete Carlotta einen Zauberstab oder eine Wunderlampe darin, später Juwelen und Geschmeide von piratösen Raubzügen, dann wieder Schrumpfköpfe aus Borneo, einen Kristall aus den tiefen Regenbergwäldern Afrikas oder eingelegte Reptilien vom Amazonas. Oder waren es nicht vielmehr verschwunden geglaubte Gedichte von William Shakespeare oder ein Rezept für einen Wundertrank, der Haarausfall kurierte? Vielleicht handelte es sich aber auch nur um ein Kochbuch für die glückliche Hausfrau aus dem Jahr Achtzehnhundertdingens oder Fotos aus der Jugend des Großonkels? Vielleicht auch um Aufzeichnungen über ein schmutziges Familiengeheimnis oder die Liebesbriefe, die er an seine vielen unbekannten, aber zweifellos wunderschönen und aufregenden Geliebten geschrieben hatte? Die Noten zu einer selbstkomponierten Oper? Der Anfang eines Romans? Oder einfach – zuzutrauen war es ihm – nur eine Tüte Gummibären?

Carlotta konnte ihren Geburtstag kaum erwarten.

2

EIN UNHEIMLICHES HEIM

Am Tag des Umzugs zogen dunkle Wolken über das Land. Immer wieder klatschten Regenschauer auf die Windschutzscheibe des alten Fords der Butterwecks. Ihre ganze Habe befand sich im Heck des Kombis und dem gemieteten Anhänger, denn der Notar hatte ihnen mit Nachdruck aufgegeben, keines ihrer Möbel mitzunehmen – diese würden sie nicht brauchen können.

Nicht minder mysteriös waren die anderen Anweisungen. Am vorherbestimmten Tag sollten sie aus der Stadt fahren, die Landstraße Richtung Süden nehmen und dann auf seinen Anruf warten. Um mehr bräuchten sie sich nicht zu kümmern. Mit der Schule, an die Carlotta wechseln würde, sei alles arrangiert. Und Herr Butterweck könne seine Stelle beim Finanzamt behalten, nur würde sich sein Arbeitsweg ein klein wenig verlängern.

Der Anruf kam denn auch prompt, nachdem sie die Stadtgrenze überquert hatten. Die Adresse, die der Notar ihnen mitteilte, schien nicht ungewöhnlich. Tatsächlich konnte sich Herr Butterweck erinnern, besagte Straße schon mehr als einmal entlang gefahren zu sein, freilich ohne hier jemals ein Haus bemerkt zu haben. Seltsam hingegen war der Hinweis, dass sie zwar die Straße, nicht aber die Hausnummer im Navigationssystem oder auf Google Maps finden würden. Aber sie würden schon wissen, wenn sie da wären.

Diese Umstände sorgten bei den drei Insassen des Fords wahlweise für Nervosität (Frau Butterweck), Kopfschütteln (Herr Butterweck) und spannungsgeladene Erwartung (Carlotta). Und das nicht zu Unrecht. Denn nachdem sie die Straße erreicht hatten, waren sie diese bereits zweimal auf- und abgefahren ohne die Hausnummer zu finden, die ihnen genannt worden war. Wo zum Henker sollte dieses Haus denn sein? Die Straße führte unmittelbar am Rhein entlang und auf der Flussseite gab es schlicht keine Häuser, nicht einmal ein Hausboot. Auf der anderen Straßenseite hingegen erhob sich ein dicht bewaldeter Hang, der viel zu steil war, als dass man dort hätte bauen können.

Frau Butterwecks Nervosität begann bereits in pure Verzweiflung umzuschlagen, als Carlotta aufschrie: „Da!“

Niemand außer ihr hatte gesehen, was sie zu sehen geglaubt hatte und so fuhr Herr Butterweck mangels Möglichkeit anzuhalten erst einmal weiter und wendete erst Kilometer später am nächsten Ortseingang. Als sie wieder kurz vor der besagten Stelle waren, fuhr er so langsam, dass andere Autos ihn wütend hupend überholten. Dann sahen es alle: Zwei vom Wald fast gänzlich verschluckte steinerne Säulen, zwischen welchen ein völlig verwilderter und zugewachsener Pfad steilauf in das Dunkel der Bäume führte. An einer der Säulen hingen ein verwittertes Schild mit der Aufschrift „Privat“ und ein weiteres mit der Hausnummer, die ihnen der Notar genannt hatte. Kein Wunder, dass sie sie übersehen hatten. Aber das musste es sein – kein Zweifel.

Herr Butterweck wartete eine Lücke im Gegenverkehr ab, überquerte flugs die andere Fahrspur und rollte mit größter Vorsicht durch das Tor. Hier war schon lange kein Auto mehr durchgefahren. Wildes Gebüsch wucherte zu beiden Seiten und hatte längst auch vom Weg Besitz ergriffen. Dieser war voller Schlaglöcher, in denen sich das Regenwasser gesammelt hatte und Herr Butterweck fürchtete schon um seine Achsaufhängung. Doch hatte er in jungen Jahren nicht davon geträumt Rallye-Fahrer zu werden um jetzt zu kneifen. Und so humpelte und wankte der Wagen den lächerlich steilen Weg hinauf, während die Zweige der Sträucher an den Flanken des Autos entlangstrichen. Mehrmals drehte ein Rad in einem der Schlaglöcher durch, doch Herr Butterweck wusste, was er zu tun hatte. Bald wuchtete er den Wagen um eine Haarnadelkurve und dann um die nächste, während unter ihnen der Abgrund gähnte. Nach einer weiteren schwindelerregend engen Kurve wurde der Weg flacher und endete schließlich vor einem herrschaftlichen schmiedeeisernen Tor. Was sie hinter dem Tor sahen, machte sie sprachlos.

Man habe ja mit allem gerechnet, würde Mutter Butterweck später ihren Freundinnen beim Kaffee in der Stadt erzählen, aber nicht damit. Vor dem Hintergrund des Waldes und der Gewitterwolken, im wiedereinsetzenden Regen, erhellte ein Blitz die Szene. Der Donner ließ ihnen den Schrecken in die Glieder fahren. Vor ihnen ragte eine enorme Mauer aus grob behauenen Steinen auf, die scheinbar zufällig aufeinandergestapelt worden waren und nur durch ein physikalisches Prinzip zusammengehalten wurden, das noch der Entdeckung harrte. Sie wurde geteilt von mehreren nicht minder hohen, abweisenden Türmen, die zunächst für einige Meter schräg anstiegen, um dann geradewegs zum Himmel zu streben und in einem Kranz von Zinnen zu enden. Ihr neues Heim war eine Burg.

Noch Minuten später saßen die Butterwecks mit offenen Mündern im Auto. Carlotta gewann als erste die Fassung wieder und sprang, ohne dem Regen Beachtung zu schenken, aus dem Auto. Sie öffnete beide Torflügel und spurtete bereits, während ihr Vater das Auto hindurch und vor eine Treppe fuhr, die zu einem schmucklosen Tor inmitten der Mauer führte, die Stufen eben jener Treppe hinauf. Die Tür am Ende derselben war jedoch verschlossen und alles Rütteln daran vergeblich. Carlotta presste ihren Finger auf die unbeschriftete Klingel neben der Tür, doch so lange sie auch darauf drückte, niemand öffnete. Auch als sie mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmerte, tat sich nichts.

Sollten sie etwa doch nicht am richtigen Ort sein? Hatte sich Großonkel Habakuk einen Scherz erlaubt? Sie konnten doch nicht mehr zurück.

„He! Sie! Was wollen Sie hier? Machen Sie, dass Sie fortkommen!“ schallte Ihnen plötzlich eine tiefe Stimme aus dem Wald entgegen. „Das ist Privatbesitz!“

Ein höchst ungewöhnlich anzuschauendes Männlein trat aus der Mitte der Bäume hervor. Von eher kurzem Wuchs hatte der Mann doch erstaunlich breite Schultern. Ein üppiger roter Bart zierte sein Gesicht, in dem zwei dunkle Augen angriffslustig funkelten. Er trug eine dicke Wolljacke, einen Rock mit einem grünroten Karomuster und eine wie ein Schiffchen geformte Mütze aus dem gleichen Stoff. In seinen Händen hielt er eine Schrotflinte, die auf die Butterwecks zielte.

„Nun mal langsam“, begann Herr Butterweck mit der ganzen Autorität und dem Glauben eines deutschen Finanzbeamten an den Rechtsstaat und richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,65 Meter auf. Seine Frau versteckte sich derweil hinter seinem Rücken. „Mein Name ist Butterweck und wir sind, wenn mich nicht alles täuscht, die neuen Eigentümer dieses … äh, dieser Immobilie.“

Dem Flintenträger fiel die Kinnlade herunter. Fassungslos schaute er einen nach dem anderen an. „Wie? Ach. Äh“, sprudelte es aus ihm hervor. „Well, da laus´ mich doch der Affe! Ist das heute?“

Er kratze sich an seinem Bart. „Ich dachte, es wäre erst nächste Woche, ist es nicht? Verdammt nochmal.“

„Nein“, erwiderte Carlotta grinsend, „es ist heute. Sie haben nicht zufällig den Schlüssel für das Tor?“

Der Rotbart schenkte dem Mädchen einen durchdringenden Blick.

„Zufällig, nein, das nicht. Aber ich habe ihn, ja. Ach ja, mein Name ist MacTalisker, Roderick MacTalisker. Ich bin, oder war, bisher so etwas wie der Verwalter. Äh, Mr. Nibelung hat mich … ich schaue hier nach dem Rechten. Sehen Sie dort drüben, das ist mein Haus. Dort wohne ich. Ich schaue hier nach dem Rechten.”

“Das sagten Sie bereits,” unterbrach Herr Butterweck die Rede mit einem Anflug von Hochmut. “Sehr schön. Aber vielleicht könnten Sie uns jetzt aufschließen? Wir holen uns sonst noch einen Schnupfen.”

“Yes, yes, selbstverständlich. Folgen Sie mir, bitte.”

Während Herr und Frau Butterweck die Treppenstufen erklommen wurde ihnen allmählich schummrig. Das Gemäuer musste Hunderte von Jahren alt sein. Und es war mit Sicherheit kein Lustschloss, sondern eine Burg, kaum mehr als ein Wehrturm. Sicher zog es durch alle Ritzen. Wie um Himmels willen sollte man hier wohnen?

Ihre Bedenken wurden nicht kleiner als sie im Burghof standen. Er war bedrückend eng und vollständig mit Blättern und Schmutz jeglicher Art bedeckt. Wegen der hohen Mauern fiel kein Licht bis auf den Boden. Es fühlte sich an wie auf dem Grund eines tiefen Brunnens.

Die Burg bestand, wie Carlotta jetzt erkannte, aus lediglich drei Türmen. Der nach Süden gerichtete musste so etwas wie der Bergfried sein. Die anderen beiden, die voneinander den gleichen Abstand hielten wie von ihm, waren kaum halb so dick. Die Mauern, die die Türme verbanden, waren in eigentümlicher Weise so gekrümmt, dass sie weder ein Dreieck formten noch einen Kreis, sondern irgendetwas dazwischen.

Der Mann, der sich MacTalisker genannt hatte, führte die staunende (Carlotta), entsetzte (Frau Butterweck) und skeptische (Herr Butterweck) Familie über den Hof zu dem Portal des großen Turms. Ein großes, in Stein gehauenes Wappen prangte darüber, das den Buchstaben G und etwas zeigte, das wie zwei Tiere aussah.

Carlotta fiel auf, dass MacTalisker ein Bein ein wenig nachzog. Doch das schien ihn nicht zu kümmern. Ein komischer Kauz, dachte sie. Im Rheinland im Schottenrock herumzulaufen, obwohl kein Karneval war, wie seltsam.

Bevor er das Tor öffnete drehte sich der Schotte noch einmal um, breitete die Arme aus und rief überschwänglich, aber ohne eine Miene zu verziehen: „Willkommen auf Burg Aberwinter!“

Die Butterweck-Eltern schauten ein wenig betreten. Das hatten sie sich anders vorgestellt. Eine hübsche Eigentumswohnung, vielleicht ein Reihenhaus, ja, aber nicht dieses alte Gemäuer. Vermutlich regnete es überall hinein. Und wie das Bad aussehen mochte, ogottogottogott.

„Vielleicht … sollten wir besser in ein Hotel ziehen …?“, meinte Frau Butterweck schüchtern.

„Ähh …“, meinte Herr Butterweck. „Tja … also … ähh.“

MacTalisker lachte laut. „Schauen Sie sich doch erst mal ihre neue Bleibe an. Der Herr Doktor hat hier so einiges verändert. Und morgen bei Sonnenschein sieht sowieso alles ganz anders aus. Kommen Sie erst mal aus dem Regen, hier entlang, kommen Sie, kommen Sie!“

Der Raum im Erdgeschoss war leider in keiner Weise geeignet, die Bedenken der Butterwecks zu zerstreuen. Außer durch eine Handvoll schlitzförmiger Fenster erreichte kein natürliches Licht das Innere des runden Raums. Verstaubte Regale, die meisten leer, einige mit leeren Weinflaschen und unnützem Schrott, standen wahllos herum. Unzählige Spinnweben verunzierten die Decke. Auch wenn man hier einmal kräftig geschrubbt haben würde – und das würde man mit Sicherheit tun – wäre der Raum nicht bewohnbar. Als Keller hingegen, befand die praktisch denkende Frau Butterweck, mochte er gar nicht übel sein.

Eine enge, steinerne Wendeltreppe führte in das darüber liegende Stockwerk. Es war nun klar, warum sie ihre Möbel nicht hatten mitnehmen können – kein einziges Stück hätte durch diesen Aufgang gepasst. Das ließ wenig zu hoffen übrig – am Ende würden sie auf Strohsäcken oder in Hängematten schlafen müssen.

MacTalisker ging, heimlich schmunzelnd, voraus. Die staunenden Gesichter wollte er sich nicht entgehen lassen. Denn den die ganze erste Etage einnehmenden Wohnbereich hatte Dr. Nibelung – Großonkel Habakuk – nicht nur mit allem Komfort der heutigen Zeit ausgestattet, sondern auch mit einem exquisiten Sinn für Stil eingerichtet.

Sie schritten über massive Eichendielen, die Mauersteine der unverputzten Wände verliehen dem Raum Charakter. Eine hochmoderne offene Küche mit riesigem Esstisch schmiegte sich an die eine Seite, die andere gab Raum für eine weiße Wohninsel aus Sofas, äußerst gemütlich wirkenden Sesseln und einem halbkugelförmigen Couchtisch. Eine teure Hifi-Anlage mit freistehenden Boxen in extravaganter Form, Gemälde mit Szenen aus dem modernen China und elegante Leuchten rahmten ein Bild von solcher Wohnlichkeit ein, dass selbst Carlottas Mutter insgeheim zugegeben musste, dass sie mit allem Geld der Welt nichts Geschmackvolleres hätte komponieren können. Ringsherum ließen nach oben spitz zulaufende, kreuzförmig geteilte Fenster viel natürliches Licht in den Raum, ohne seine Gemütlichkeit zu kompromittieren.

In den Butterwecks ging Erleichterung in Begeisterung über. „Potztausend …“, entfuhr es Carlotta, die eine Vorliebe für altmodische und überkandidelte Begriffe hatte.

Der Schotte kicherte meckernd. „Ich sehe, es missfällt dir nicht vollständig. Ja, das hat der alte Kerl schon ganz gut hinbekommen, hat er nicht?

Machen Sie es sich gemütlich. Oder Sie schauen sich erst noch die obere Etage an. Da gehen Sie aber besser alleine rauf. Mein Bein, Sie verstehen.“

In der Tat war die Wendeltreppe nach oben noch etwas steiler und enger. Frau Butterweck war froh, dass ihre Frühjahrsdiät so gut angeschlagen hatte. Jemand mit einem ausladenderen Hinterteil wäre hier womöglich steckengeblieben.

Oben angekommen wurde aus der allgemeinen Begeisterung schiere Euphorie. Ein solches Schlafzimmer hatten sie noch nicht gesehen. Auf allen Seiten waren große Fenster, in der gleichen Form wie im Raum darunter, nur größer und breiter. Man konnte in den Hof schauen, in den Wald und sogar über den Rhein und auf die Ortschaft auf der anderen Seite. Die Decke bestand aus gewaltigen, leicht geschwungenen Balken, die eine Art Kuppel bildeten. Schränke und Regale waren geschickt zwischen den Fenstern platziert, ein mächtig großes Bett aus Eichenholz wartete einladend in der Mitte. Wie wunderbar würde es sein, hier morgens aufzuwachen oder abends vor dem zu Bett gehen noch den Blick über Wald und Flur schweifen zu lassen. Herr und Frau Butterweck sahen sich verliebt und glücklich in die Augen.

Auch das riesige Bad mit den graumelierten Schieferfliesen und einer freistehenden Badewanne erfüllte ihre Herzen mit Freude. Alles war offensichtlich mit Bedacht und einem Blick fürs Detail ausgesucht. Oh, hier würden sie sich sehr wohlfühlen.

Die wachsende Nervosität Carlottas entging den Butterwecks allerdings. So sehr sich unsere Freundin auch für ihre Eltern freute, war ihr doch aufgefallen, dass etwas fehlte. Sollte sie etwa bei ihren Eltern im Zimmer schlafen oder unten auf der Couch? Das konnte Großonkel Habakuk doch nicht ernsthaft gewollt haben. Sie stürmte die Treppe herunter.

„Herr MacTalisker“, sagte sie ernst und mit zusammengekniffenen Augenbrauen. „Das ist ja alles ganz famos. Aber wo ist denn nun mein Zimmer? Hier ist doch nirgendwo Platz für mich.“

„Hm …“, grummelte der Angesprochene. „Well, well … da hast du wohl recht. Hier ist es wirklich etwas eng für drei.“

„Eben!“

„Tja ... nun … mehr Platz ist in diesem Turm halt nicht.“

Carlotta begann zu verzweifeln. „Aber… aber …“

„Aber vielleicht …“, raunte MacTalisker und beugte sich vor, „vielleicht …“

„Was denn … was …!“

Er schüttete sich aus vor Lachen. Es war aber auch zu drollig, wie das Mädchen vor ihm herumwackelte.

„Aber vielleicht … befindet sich dein Zimmer ja in dem anderen Turm!“

Er zeigte durchs Fenster auf den schmalen Westturm.

Carlotta brauchte eine Sekunde um sich zu fassen und flog dann regelrecht die Wendeltreppe herunter. Unten angekommen rannte sie, Regen hin, Regen her, über den Hof zu dem anderen Turm. Doch dort befand sich keine Tür, nur nackte Mauerwand. Sie knurrte laut.

Als sie sich hilfesuchend umwandte, sah sie den kauzigen Schotten in Richtung des dritten Turms hinken.