Carlottas Auftrag - Julia Jawhari - E-Book

Carlottas Auftrag E-Book

Julia Jawhari

0,0

Beschreibung

Carlotta hat die Nase voll. Seit sie Briefe von Theodora bekommt, einem Mädchen aus einer anderen Zeit, geht in ihrem Leben alles nur noch drunter und drüber. Erst sind da diese unerträglichen Veränderungsschmerzen, weil Sophia nicht mehr da ist, und dann kommt auch noch dieser Tom in ihr Leben. Als hätte sie nicht schon genug Probleme! Als Carlotta um jeden Preis ein Referat in der Schule verhindern will, nimmt das Drama seinen Lauf… Eine Geschichte über das Leben und seine Veränderungen, über Liebe und Freundschaft und über die wichtigsten Fragen überhaupt, die einen, wenn man sie sich einmal gestellt hat, einfach nicht mehr loslassen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2014

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Maria und Elias

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Welcher Zauber eigentlich?

Kapitel 2: Will man nun oder will man nicht?!

Kapitel 3: Was ist ein gelungenes Leben?

Kapitel 4: Was soll das denn jetzt?!

Kapitel 5: Kann man wirklich den Blick auf sich selbst richten?

Kapitel 6: Ist das alles nur Einbildung?

Kapitel 7: Ist Mama ein Monster?

Kapitel 8: Wo findet man Gott?

Kapitel 9: Warum bleibt nichts wie es einmal war?

Kapitel 10: Hilft Wandern bei Traurigkeit?

Kapitel 11: Braucht man ein Ziel?

Kapitel 12: Was bedeutet Glück für Papa?

Kapitel 13: Ist Kranksein heilsam?

Kapitel 14: Kann das Liebe sein?

Kapitel 15: Wer hätte das gedacht?

Kapitel 16: Was hilft denn eigentlich, wenn man Probleme hat?

Kapitel 17: Kann man eine Katastrophe verhindern?

Kapitel 18: Nimmt ein Drama einfach seinen Lauf?

Kapitel 19: Wo führt das nur alles hin?

Kapitel 20: Wer ist denn nun verrückt?!

Kapitel 21: Was bedeutet Freundschaft?

Kapitel 22: Was will Tom?

Kapitel 23: Das Ende ist kein Ende

Kapitel 1: Welcher Zauber eigentlich?

Carlotta hatte die Nase voll. Wieder hatte der Postbote nur langweilige weiße Briefumschläge für Mama und Papa gebracht. Jetzt waren bereits dreiundzwanzig Tage vergangen und es war immer noch kein neuer Brief für sie gekommen. Seit Carlotta jeden Nachmittag aus der Schule nach Hause stürzte und zu Allererst nach der Post fragte und seit sie jeden Samstagmorgen unmittelbar nach dem Aufstehen zum Briefkasten eilte, beobachtete Mama sie misstrauisch, und heute fragte sie:

„Lotti, was ist denn los? Man könnte meinen, dein Leben hinge neuerdings von unserem Postboten ab! Sag doch mal, auf was wartest du denn so dringend?“

Natürlich ahnte Mama nicht, dass Carlottas Leben tatsächlich vom nächsten Brief abhing und natürlich würde Carlotta ihrer Mutter absolut nichts verraten. Das würde den Zauber brechen und dann wäre alles umsonst. Außerdem ging ihr Mama in letzter Zeit zunehmend auf die Nerven. Seit sie ihren letzten Job gekündigt hatte, hatte sie nämlich unheimlich viel Zeit, um sich ausgiebig um das zu kümmern, was sie nichts, wirklich gar nichts anging. In alles musste sie ihre Nase stecken. Wenn Carlotta mit Sophia unterwegs war und zurück nach Hause kam, erwartete ihre Mutter sie schon an der Eingangstüre, mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. Dann drückte Carlotta sich umständlich an ihr vorbei und ging gleich in ihr Zimmer, in der Hoffnung ihre Mutter würde ihre eindringliche Konzentration auf ein anderes Objekt, zum Beispiel auf ihren Bruder Jakob lenken. Neuerdings bekam Carlotta besonders gesunde Frühstücksbrote für die Schule, und plötzlich musste sie zu jedem Elternbrief, der bisher immer tagelang in der gelben Mappe im Schulranzen gefristet hatte ausführlich Rede und Antwort stehen. Carlotta hoffte inständig, ihre Mutter würde schnell wieder eine neue Arbeit finden, der sie dann wie zuvor ganz ihre Aufmerksamkeit schenken könnte. Nur zu blöd, denn Mama hatte beschlossen sich nie wieder von einer Arbeit so vereinnahmen zu lassen, wie sie sagte. Carlotta fragte sich, ob ihre Mutter vielleicht in die Wechseljahre gekommen war. Sie hatte gehört, dass sich Frauen in dieser speziellen Zeit mitunter seltsam verhielten. Das würde erklären, warum Mama ab und an so austickte. Neulich etwa, als sie mit ihren neuen roten Schuhen durch den Hausflur stolziert war und Carlotta ihr nur gesagt hatte, sie sehe aus wie eine gealterte Version von Germanys next Topmodel. Papa beschwichtigte Mama immer und sagte:

„Reg’ dich nicht auf. Mädchen in diesem Alter haben ihre ganz eigene Welt!“

Carlottas Vater war Psychologe und teilte der Familie in jeder Lebenslage großzügig mit, worauf zwischenmenschlich zu achten sei und wer wen in welchem Augenblick am besten wie behandeln solle, und welche Verhaltensweisen wie und warum zu welchen Reaktionen beim jeweiligen Gegenüber führten. Mama war davon genauso genervt wie Carlotta und Jakob, der sich in letzter Zeit immer weniger zu Hause blicken ließ. Mama verkündete in regelmäßigen Abständen, dass die Kinder wirklich alles, aber auch alles werden dürften, nur bitte, bitte keine Psychologen. Papa rümpfte dann beleidigt die Nase, teilte aber wiederum großzügig mit, dass es sowieso nicht ratsam sei, wenn die Kinder in die Fußstapfen der Eltern traten.

Der erste Brief war also vor genau dreiundzwanzig Tagen gekommen, nämlich am 22. Mai 2013. Der Umschlag hatte ein Stück aus dem Briefkastenschlitz herausgeschaut, als Carlotta an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, sodass sie den an sie adressierten Brief sofort bemerkt hatte. Sie hatte ihn daher gleich aus dem Briefkasten gezogen und an sich genommen. Niemand wusste also von dem Brief. Der Umschlag war größer als die meisten normalen Briefumschläge, er war hellgelb und das Papier knisterte, wenn man es auch nur leicht in den Händen bewegte. Es stand kein Absender darauf und nirgends war eine Briefmarke aufgeklebt. Carlotta hatte sich schnell mit dem Brief in ihr altes Gartenhäuschen aus Kleinkinderzeiten verzogen und zuerst gedacht, es handle sich um einen Spaß ihrer besten Freundin Sophia. Sophia war in letzter Zeit ziemlich zickig, weil sich ihre Eltern gerade getrennt hatten und sie nun die Woche über als Einzelkind mit ihrer Mutter zubringen musste. Für Carlotta war das eine derart unmögliche Vorstellung, dass sie ihre Freundin zutiefst bemitleidete.

Carlotta hatte den Briefumschlag vorsichtig geöffnet und ein dünnes, fast durchsichtiges Papier herausgenommen, das leise in ihren Händen raschelte. Die Schrift war zart, geschwungen und leicht nach rechts geneigt, ganz anders als ihre eigene Handschrift oder die ihrer Mitschüler. Trotzdem hatte Carlotta sofort erkannt, dass es sich um die Handschrift eines Mädchens, ungefähr in ihrem Alter handeln musste. Auf dem raschelnden Briefbogen, hatte Carlotta folgendes gelesen:

Liebe Carlotta, wenn Du diese Zeilen liest, gibt es mich schon lange nicht mehr. Ich heiße Theodora und bin 13 Jahre alt, genauso alt wie Du, wenn Du meinen Brief liest. Was Du nicht weißt: Jeder Mensch hat einen für ihn entworfenen Lebensauftrag, den er erfüllen muss. Ich wusste das auch nicht, bis ich einen Brief wie den, den Du gerade in den Händen hältst, erhalten habe. Mein Brief kam von einem anderen Mädchen, das vor meiner Zeit gelebt hat. Du kannst mich nicht sehen, Du kannst mir nicht antworten, aber ich sehe Dich und manchmal kann ich Dir schreiben. Es ist ein Zauber von dem Du besser niemandem erzählst, weil sich der Zauber sonst auflöst. Du hast schöne lange Haare, Carlotta! Ich freue mich, dass es Dich gibt und ich möchte Dich durch Dein Leben begleiten. Bald schicke ich Dir einen neuen Brief, damit Du weißt, worum es in Deinem Auftrag gehen soll.

Deine Theodora

Carlottas Herz hatte bis zum Hals geklopft, als sie den Brief zurück in den Umschlag gesteckt hatte und ihn dann unter ihr T-Shirt hinter den Hosenbund stopfte. Ihr war sofort klar gewesen, dass es sich hier nicht um einen dummen Scherz von Sophia handelte, sondern dass jemand aus einer anderen Zeit mit ihr Kontakt aufgenommen hatte. Die Vorstellung jagte ihr ein schauriges Gruseln ein. Immerhin bekam man normalerweise keine Post von Leuten, die nicht mehr lebten. Im Fernsehen liebte Carlotta unheimliche Geschichten. In ihrer Lieblingsserie verwandelten sich Jugendliche bei Vollmond in Wölfe und mussten sich dann selbst einsperren, um Anderen keinen Schaden zuzufügen. Carlotta hatte sich bisher wenig Gedanken darüber gemacht, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte oder was nach ihrem Leben sein würde. So wie die meisten Mädchen in ihrem Alter interessierte sie sich vor allem für Pferde, für Bücher und Filme, auch für coole Apps und manchmal sogar für Jungs. Wobei Carlotta in letzter Hinsicht eher als schüchtern zu bezeichnen war. Im ersten Augenblick hatte Carlotta geglaubt, dass sie das Geheimnis des sonderbaren Briefes auf keinen Fall für sich behalten konnte. Natürlich war sie sich sicher, dass sie ihrer Mutter nichts davon erzählen würde, aber sie hatte zuerst gedacht, dass sie unbedingt und so schnell wie möglich mit Sophia sprechen musste. Der Zauber würde sich auflösen - was sollte das schon heißen?! Welcher Zauber eigentlich? Ganz alleine mit dieser gruseligen Geschichte würde sie nicht eine einzige Nacht durchhalten, hatte sich Carlotta gesagt. Und wenn es dieser Theodora ernst war, dann würde sie sich schon wieder melden - für den Auftrag! Scheiß drauf, ihr so einen Schrecken einzujagen und dann auch noch zu erwarten, dass sie nichts davon erzählte! Sie hatte sich mit dem Brief unter dem T-Shirt auf den Weg zurück ins Haus gemacht und war gleich mit dem Telefon an ihrer glotzenden Mutter vorbei in ihr Zimmer gegangen.

Während sie das Telefon am Ohr hielt und es in der Leitung bereits mehrmals geklingelt hatte, waren ihr plötzlich Zweifel gekommen. War es eine gute Idee, ihre beste Freundin einzuweihen? Als Carlotta Sophia das letzte Mal ein Geheimnis anvertraut hatte, wussten es am nächsten Tag so ziemlich alle für Tratsch interessierten Mädchen ihrer Klasse. Nicht dass Sophia das böse meinte, aber sie konnte einfach nichts für sich behalten. Zum Glück ging es damals nur um Mamas arbeitsbedingten Zusammenbruch. Sauer war Mama dann schon, als sie beim Elternabend auf ihr Burnout und ihre Arbeitslosigkeit angesprochen wurde. Ausgerechnet Tinas Mutter, die erfolgreich bei einer großen Firma arbeitete und die Mama nicht ausstehen konnte, hatte sich freudig auf die Neuigkeit gestürzt. Mama verkündete dann aber beim Abendessen selbstbewusst, dass man mit dem Thema Burnout offen umgehen müsse, und dass sie eventuell eine Initiative oder eine Selbsthilfegruppe von Betroffenen gründen wolle. Woraufhin Papa ihr therapeutisch einfühlsam zustimmte.

Sophia hatte sich nach dem fünften Klingeln, wie immer mürrisch, gemeldet:

„Ja, Sophia hier. Wassis los?“

„Äh, hey Soso…“, hatte Carlotta gezögert.

Obwohl sich Sophia für ihren Spitznamen inzwischen „echt zu alt“ fühlte, wie sie sagte, nannte Carlotta ihre Freundin immer noch „Soso“, und konnte sich auch auf Sophias Wunsch hin nicht daran gewöhnen, sie mit ihrem vollen Namen anzusprechen. Schließlich benutzte sie den Spitznamen schon seit dem Kindergarten. Als Carlotta die Stimme ihrer Freundin am anderen Ende gehört hatte, war ihr mit einem Schlag klar geworden, dass sie Sophia nicht in ihr Geheimnis einweihen durfte und sie hatte schnell geantwortet:

„Nix, wollte nur fragen wie’s dir so geht?“

„Hääääh?! Bin ich krank oder was?!“, hatte Sophia genervt entgegnet.

„Nein, natürlich nicht! Kannst du mir kurz durchgeben, was wir in Mathe auf haben, hab’s heute total verpeilt“, hatte Carlotta sich aus der Affäre gezogen.

Hier war dann Carlottas Mutter entrüstet ins Zimmer gesprungen, weil sie lauschend erfahren hatte, dass Carlotta noch keine Mathematikhausaufgaben gemacht hatte, woraufhin Carlotta, nachdem sie noch die Infos von Sophia abgewartet hatte, das Telefongespräch schnell beendet und ihrer Mutter ebenso schnell erklärt hatte, es sei alles in Ordnung und sie habe alle Hausaufgaben bereits erledigt. Mamas Gesichtsfragezeichen war daraufhin noch größer und noch eindringlicher geworden.

Seit diesem Tag wartete Carlotta also auf den nächsten Brief. Es waren jetzt genau dreiundzwanzig Tage, die sie bereits durchgehalten hatte, ohne jemandem von der Sache zu erzählen. Und das, obwohl Sophia auch heute wieder gefragt hatte, warum Carlotta dauernd in Gedanken ganz woanders sei und ihr schon mehrfach angedroht hatte, ihre Freundschaft aufzukündigen, wenn sie nicht mit der Wahrheit herausrückte. Als Carlotta geantwortet hatte, sie habe Post aus dem Jenseits bekommen, war Sophia beleidigt schnaufend abgezogen und hatte sich auf dem Pausenhof demonstrativ zu Jasmina gestellt. Jasmina war das künstlichste und oberflächlichste Mädchen in Carlottas Klasse, und Carlotta hasste Jasmina.

Carlotta hatte die Nase gestrichen voll. Als beim Zähneputzen auch noch ihre Bruder Jakob dazu kam und, statt abzuwarten, ihr in Unterhose über den zum Wasserhahn ausgestreckten Arm ins Waschbecken spuckte, war der Tag gänzlich gelaufen und sie fiel erschöpft in ihr Bett. Schlafen konnte sie allerdings nicht.

Kapitel 2: Will man nun oder will man nicht?!

Carlotta grübelte also schon seit mehr als drei Wochen über ihr Leben nach. Seit sie den Brief bekommen hatte, konnte sie nicht mehr nur unbekümmert in den Tag hinein leben. Dauernd fragte sie sich nach ihrem Auftrag. Es war eine Mischung aus Aufregung, Spannung, Ungeduld und Angst, die sie jetzt ständig begleitete. Und natürlich jeden Nachmittag eine gewaltige Portion Adrenalin, wenn sie zitternd die Briefkastenklappe öffnete und von oben in den Briefkasten lugte. Wenn sie dann wieder keinen Brief für sich entdeckte, empfand sie Enttäuschung und Erleichterung zugleich, woraufhin sie sich mächtig über sich selbst ärgerte. Denn schließlich musste man sich doch mal entscheiden - will man nun oder will man nicht?! Und dann ärgerte sie sich auch noch über Theodora. Worauf wartete die eigentlich? Schlimmer als Sophia, die immer so geheimnisvoll tat, bevor sie Carlotta eine Neuigkeit mitteilte. Anstatt einfach mit der Sache herauszurücken! Gleichzeitig kam sie sich seit Theodoras Brief wichtiger vor. Nicht dass sie sich bisher nicht wichtig gefühlt hatte, oder nicht intelligent oder nicht hübsch oder sonst irgendein Minderwertigkeitsgefühl. Nein, bisher hatte Carlotta sich einfach wie wahrscheinlich alle gefühlt - Carlotta Steiner aus der Friedrichstrasse 5, Tochter von Elfriede und Joachim Steiner, mittelmäßig bis gute Schülerin des Lange-Gymnasiums, mit blödem Bruder, Jakob Steiner, der zwei Jahre früher als sie auf die Welt gekommen war und seitdem nervte. Mehr nicht und weniger auch nicht.

Sophia glotzte Carlotta nur an, als sie meinte, dass es ja wohl saublöd sei, einfach so ziellos vor sich hin zu leben. Man müsse sich echt einmal Gedanken machen, wozu man eigentlich da sei, und was man mit seinem Leben so machen wolle. Sophia schlug daraufhin vor, mal wieder ins Kino zu gehen, was in ihren Augen eine optimale Nutzung der Zeit sei, die ihnen in diesem Leben zur Verfügung stehe! Als Carlotta insistierte und sagte, man müsse doch irgend etwas Sinnvolles tun, also sich für etwas oder für jemanden einsetzen, beschimpfte Sophia sie als oberstressige Esoterikzicke. Aber dann wurde Sophia ruhiger und irgendwie auch nachdenklicher. Das natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Denn Sophia und Nachdenken, das waren im Grunde genommen zwei unvereinbare Gegensätze.

Papa schien sich auch Sorgen um Carlotta zu machen. Mit seinem durchdringenden Therapeutenblick wurde sie regelrecht gescannt, als sie in sich versunken und nervös beim Abendessen an ihren Fingernägeln kaute. Das mit den Fingernägeln war nun nichts Neues, aber dass Carlotta so schweigsam war, schon. Meistens führte sie beim Abendessen verbale Grabenkämpfe mit Jakob. Seit Tagen ließ sie seine Provokationen gleichgültig über sich ergehen und stimmte ihm sogar noch zu, nur um ihre Ruhe zu haben.

„Lotti, Mäuslein, geht es dir gut?“, fragte ihr Vater unsicher bis therapeutisch.

„Ja, alles gut, Papa“, versicherte ihm Carlotta.

„Vielleicht könnten wir mal wieder wandern gehen, Lotti. Was meinst du?“, schlug Papa vor.

„Warum nicht, Papa.“

Ihr Vater war sichtlich nicht überzeugt von Carlottas psychischem Wohlbefinden, und hielt sie weiter intensiv unter Beobachtung. Carlotta hatte nun wirklich die Nase voll. Jetzt auch noch ihr Vater, der ihr keine Ruhe ließ. Konnte man nicht einfach mal seinen Gedanken nachgehen, ohne dass gleich alle Kopf standen. Den Rest des Abendessens erzählte Jakob von seinen neusten Errungenschaften beim Handball und Carlotta hörte ihm nur mit halbem Ohr zu.

Anstatt noch länger abzuwarten, beschloss Carlotta in die Offensive zu gehen. Nachdem sie sich nun schon mehrere Tage lang überlegt hatte, wie sie wem unterstützend zur Seite stehen könnte, also im Sinne eines sinnvollen Lebensauftrages in ihrem Umfeld, war die Entscheidung auf ihre Mutter gefallen. Mama erschien ihr, von Sophia einmal abgesehen, bei der ein Eingriff wahrscheinlich sowieso keinen Erfolg nach sich ziehen würde, am bedürftigsten im Hinblick auf eine zielgerichtete Intervention. Jakob war natürlich auch ein hoffnungsloser Fall, der dringend Hilfe benötigte, sonst würde er eines Tages vor Überheblichkeit und Selbstüberschätzung abheben und Papa könnte auch mal eine Art Politur gebrauchen, damit er nicht immer so übertrieben zurückhaltend und bescheiden daher kam. Aber Mama war eindeutig der dringendste Fall. Seit sie nicht mehr arbeitete, war sie noch weniger sie selbst. Man konnte nicht vernünftig mit ihr reden, jeden kleinen Scherz bekam sie in den falschen Hals und ihre Kontrollzwänge gegenüber den anderen Familienmitgliedern waren unerträglich. Carlotta fragte sich manchmal wie ihr Vater es mit ihr aushielt, beziehungsweise wie er es schon so lange mit ihr ausgehalten hatte. Er zeigte einfach diese beständige Zärtlichkeit und eine fast kindliche Bewunderung für seine Frau. Mama war Papa gegenüber oft schroff, ungeduldig und bevormundend. Gleichzeitig konnte man sich kaum vorstellen, dass Mama irgendetwas ohne ihn hinbekommen und im Leben ohne ihn überhaupt zurechtkommen würde. Am Abend traf Carlotta die beiden manchmal kuschelnd auf dem Sofa an. Dabei kul