Carvalho und die Rose von Alexandria - Manuel Vázquez Montalbán - E-Book

Carvalho und die Rose von Alexandria E-Book

Manuel Vázquez Montalbán

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Beschreibung

Der Traum von einem neuen Leben und einer alten Liebe – die schöne Encarnación hat ihn mit dem Tod bezahlt. Einer der berühmtesten Romane aus der Reihe um den melancholischen Privatdetektiv mit Hang zur Schlemmerei. Eigentlich will Pepe Carvalho seinen Gehilfen Biscuter und seine Freundin Charo zum Silvesteressen bei Marc de Champagne und überbackenem Camembert mit Tomatenkonfitüre einladen. Doch dann steht Charo mit ihrer halben Verwandtschaft vor der Tür und ist kaum zu beruhigen: Ihre Cousine Encarnación wurde brutal ermordet. Da weder die Polizei noch der Ehemann aus dem Landadel ein besonderes Interesse an der Aufklärung des Mordes zu haben scheinen, soll Carvalho den Täter finden. Die Suche nach dem Mörder führt den schnell genervten Detektiv in die krisengeschüttelte spanische Provinz und tief hinein in die Familiengeheimnisse um die flamboyante Encarnación. Als Carvalho zu wissen glaubt, wer der Täter ist, gibt es nur ein Problem: Ginés gehört zur Crew des Frachters Rose von Alexandria und befindet sich auf hoher See in der Karibik … Eindrücklich und ironisch zeichnet Manuel Vázquez Montalbán ein Spanien, das schon in den ersten Jahren des demokratischen Übergangs aussieht wie ein Land ohne Zukunft: enttäuschte Träume, Arbeitslosigkeit und überall die alten Sieger.

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Aus dem Spanischen übersetzt und neu bearbeitet von Bernhard Straub.

Die spanische Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel La rosa de Alejandría bei Planeta in Barcelona, die deutsche Erstausgabe unter dem Titel Die Rose von Alexandria 1987 beim Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg.

E-Book-Ausgabe 2016 © 1984 Heirs of Manuel Vázquez Montalbán © 2016 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © John Greim/​Age/​F1online. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4206 1

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2762 4

http://www.wagenbach.de/​

Du bist wie die Rose von Alexandria,

farbig bei Nacht und weiß am Tage.

Volkslied

Er schlug nur ein Auge auf, als fürchtete er, daß beide Augen gemeinsam ihm nur allzu deutlich den Eselsbauch des Himmels bestätigen würden und damit die Obszönität dieser zähen grauen Haut, die die tropische Luxuslandschaft beschmutzte und ihre Baumreihen in eine elende Schar bleigrauer Palmen und Bananenstauden verwandelte. Im Nordosten zeigte sich ein Stückchen Hoffnung auf blauen Himmel.

Maracas Bay, sagte er sich resigniert. Dabei stieß er sich ab, um sich im Bett aufrecht zu setzen, erstaunt über die eigenen nackten Beine, die Befehle erwarteten und mit dem knochigen Bug der Kniescheiben auf den offenen, halbvollen Koffer zeigten, der auf einem kleinen Sessel seit Tagen dasselbe Gleichgewicht hielt. Er stützte die Ellbogen auf die Schenkel und legte sein Gesicht in die offenen Hände, um das Gewicht des Kopfes zu halten, den das Gesicht einer anderen in Großaufnahme ausfüllte: das Gesicht des Mädchens aus dem Reisebüro in San Francisco:

»Nehmen Sie Trinidad und Tobago, die Inseln gehören zusammen. Sie werden es nicht bereuen!«

»Mir ist jede Insel recht, ich will nur Sonne und Palmen. Aruba, Curaçao, Bonaire?«

»Trinidad und Tobago. Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen!«

Er besaß nicht einmal mehr die Kraft zu bereuen. Jeden Tag schaute er durchs Fenster seines Zimmers im Holiday Inn zum Himmel, und der Eselsbauch war ebenso da wie das bläuliche Stückchen, zu dem seine Augen ein ums andere Mal wanderten, um mit einer tuberkulösen und ungeselligen Sonne Verstecken zu spielen.

»Maracas Bay.«

Alles, nur nicht in der Falle von Port of Spain sitzen, nur nicht wieder das langweilige Raster der Straßen durchwandern, die zur Savannah führten, derselben Savannah wie auf allen anderen Karibikinseln auch, Afrika-Sehnsucht, komprimiert auf einen großen grasbewachsenen Hauptplatz. Vielleicht war keiner so riesig wie der von Port of Spain, aber sie konnten sich ihre Savannah in den Arsch stecken mitsamt dem Botanischen Garten, der Kolonialarchitektur des Woodford Square und den pompösen Herrenhäusern der Maraval Road.

»Haben Sie schon die Magnificent Seven in der Maraval Road gesehen?« würde der indische Taxifahrer einmal mehr fragen.

»Die haben Sie mir schon gezeigt.«

»Tatsächlich.«

Eine Hand blieb am Steuer, mit der anderen warf ihm der Fahrer dunkle Finger und Namen von Häusern zu, die den wichtigsten Teil des architektonischen Erbes von Port of Spain bildeten.

»Stollmeyer’s Castle, White Hall, Roodal’s Residence …«

Die Dunkelheit, die die ganze Insel einhüllte, verkündete das Ende des Jahres und vielleicht das Ende der Welt. Diesmal hob der Taxifahrer einen dunklen Finger zum Himmel.

»Alles fing damit an, daß die dort raufgeflogen sind.«

»Wer ist dort raufgeflogen?«

»Die Russen und die Amerikaner. Seit sie dort raufgeflogen sind, ist der Sommer Winter und der Winter Sommer. Damals, als sie noch nicht dort oben waren, hat es im Dezember nie geregnet.«

Selbst das Hotel war verschattet, denn man hatte es im Vertrauen auf die unerschöpfliche Sonne erbaut, und seine Dunkelheit wurde noch dunkler durch die verlangsamte Arbeitsweise des streikenden Personals; Eier, Schinken, Fruchtsalate, Haferflocken, Melasse, Butter, alles wirkte verdächtig, als kämen die Speisen direkt aus einem vergilbten Photo aus Zeiten der Normalität, jenen Zeiten glücklicher Kellner. Heute glich die Frühstückstafel einem Selbstbedienungsbuffet für Gäste, die Bedienungen mit sozialen Forderungen mißtrauten, einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Dennoch zwinkerte ihnen eine Dame mit Pappe und Purpur am randlosen Hut zu und lud zur Neujahrsparty ein, Happy New Year 1984, fünfzig Dollar all inclusive.

»Selbstbedienungsbuffet, Orchester und Tanz, Getränke extra«, erklärte ihm die Mulattin mit dem blutroten Mund, ohne von ihrer Rechenmaschine aufzublicken.

»Alleine?«

»Ja.«

Er mußte ihr seinen Vor- und Zunamen buchstabieren.

»Gino Larrose?«

»Ginés Larios.«

»Gi … nés La … rios.«

»Zimmer 312.«

»Das geht nur in bar. Nicht auf Rechnung.«

Und das Gesicht der Mulattin zeigte ihre Genugtuung über die Rückkehr zum einzig wahren Bargeld. Aus einiger Entfernung verfolgte ihn der Taxifahrer mit einem Lächeln, das irgendwo auf halber Strecke zwischen den verborgenen Gedanken über die Feierlust des Ausländers und der Begrüßung des allmorgendlichen Fahrgasts liegengeblieben war.

»Nicht gut, nicht gut«, verkündete der Inder, hob die Arme zum Himmel und kreuzte sie dann über seinen Bauch. »Maracas Bay?«

»Gibt es auf dieser Insel keinen anderen Strand?«

»Die Chagaruamas Bay ist auch bewölkt, und auf der anderen Seite der Insel bläst der Wind, und es regnet. Manzanilla Bay ist sehr schön, aber nur Wind und Regen.«

Der Taxifahrer wiegte den Kopf. Es war ihm unangenehm, sich Tag für Tag zur Übermittlung derselben Information gezwungen zu sehen. Er setzte die Miene eines japanischen Wissenschaftlers auf, der dem kleinen Jungen im Film erklärt, daß man den Riesendiplodokus nur mit einer Nuklearexplosion vernichten könne. Ginés schaute zur Hotelrezeption. Dort, in diesem Halbschatten verdüsterter Natur, den auch ein trauriges elektrisches Morgenlicht nicht aufhellen konnte, unternahm die Mulattin gerade einen erfolgreichen Versuch, das Rouge auf ihren Lippen zu verteilen, indem sie sich selbst küßte. Sollte er zurückkehren ins Zimmer, untergehen in einer grauen Einsamkeit, während man auf das Wunder der Sonne wartete? Oder sollte er ziellos durch eine allzuoft gesehene Stadt flanieren, nur um die Kreuzungsergebnisse von schwarzer Frau und indischem Mann, Inderin und Holländer, holländischem Mann und schwarzer Frau, Spanier und Inderin, Mulattin und Inder, Holländerin und Mulatte zu betrachten – alle denkbaren Verbindungen, die Trinidad den Prospekten zufolge zu einem ebenso großartigen Schaufenster der Rassenmischung machten, wie es der Strand von Copacabana war.

»Ob an der Maracas Bay die Sonne scheint?«

»Wenn die Sonne rauskommt, dann ganz sicher an der Maracas Bay!«

»Also zur Maracas Bay.«

Er warf sich ins Taxi, um sich auf dem Rücksitz auszustrecken und nichts von dieser Stadt zu sehen, die zu ewigem Halbdunkel verdammt war.

»Wir fahren durch die Maraval Road.«

»Unglaublich.«

»Wollen Sie nicht noch mal die sieben Paläste sehen?«

Er wartete die Antwort nicht ab.

»Sie werden die Magnificent Seven genannt und sind am Anfang des Jahrhunderts von den sieben reichsten Familien der Stadt erbaut worden.«

Der Taxifahrer fuhr in seinem ebenso ehrfürchtigen wie routinierten Vortrag fort. »Gibt es etwas auf der Welt, das so schön ist wie Trinidad?«

Die Frage zwang ihn, sich aufzurichten und sich dem Anblick der Savannah zu stellen, die vor dem Fenster des Taxis vorbeiflog.

»Ja.«

Ohne Zweifel hatte sich der Taxifahrer auf die Lippen gebissen und betrachtete im Rückspiegel das Gesicht seines Fahrgasts, das voller Verlegenheit und Sehnsucht war.

»Den Bosporus.«

»Eine Insel?«

»Nein, eine Meerenge, die das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer verbindet.«

»Das ist in Europa, nicht?«

»Ich glaube, ja.«

Aber das ist mir egal, sagte er sich, als er sich erneut in den Sitz zurückfallen ließ. ›Der Bosporus verbindet meine Kindheit mit meinem Tod‹, dachte er und wiederholte im Geist die Worte, die sein Traumbild des Bosporus aus der Perspektive des Topkapi-Palastes untermalten.

»Die Sonne scheint immer. Am Bosporus scheint immer die Sonne.«

»Hier hatten wir auch immer Sonne.«

Der dunkle Finger hob sich wieder in Richtung des Himmels.

»Aber seit die dort raufgeflogen sind …«

»Was meinen Sie, was die dort oben gemacht haben?«

»Sie haben sich die Sonne geschnappt und dorthin gebracht, wo sie sie haben wollten, und den Wind und den Regen haben sie verteilt, wie es ihnen gerade paßte.«

»Bevor ich hierher kam, war ich auf Curaçao und hatte den herrlichsten Sonnenschein.«

»Sehen Sie?«

Und der Inder wandte ihm ein uraltes, weises, noch im Lächeln trauriges Gesicht zu. Vor den Autofenstern begann der Aufmarsch der Palmen, Bananenstauden, Mangobäume, Vanilleranken und Jacarandas, die man aus dem ständig wiederkehrenden Alptraum des grauen Himmels ausgestanzt hatte. Das Schaukeln des stattlichen und gepflegten Wagens, den der Fahrer zum Vehikel seiner Fremdenführer-Ambitionen erkoren hatte und in dem er ungebremst die Reize Trinidads verherrlichte, machte Ginés schläfrig.

»Haben Sie schon ein Calypsokonzert besucht? Ich habe gesehen, daß Sie eine Eintrittskarte für das Neujahrsbankett gekauft haben. Das Bankett im Holiday Inn ist fast genauso elegant wie das im Hilton. Aber versäumen Sie nicht das stimmungsvolle Ambiente der Stadt und die Calypsoproben für den Karneval!«

Since the Yankee come to Trinidad

They got the young girls all goin’ mad

Young girls say they treat ’em nice

Make Trinidad like paradise

Drinking rum and Coca-Cola

Go down Point Koomahnah

Both mother and daughter

working for the Yankee Dollar

Der Inder zwinkerte ihm zu, als er den berühmtesten Calypso der ganzen Calypsogeschichte geträllert hatte.

»Der Calypso ist die schönste Musik der ganzen Karibik, und er ist sehr alt, älter als der Rock’ n’ Roll.«

Darauf trällerte der Inder Calypsos, die genauso eintönig waren wie der weiterhin bedeckte Himmel.

»Der Stausee«, verkündete er wie jeden Morgen, als hätte sich Ginés die Augen des ersten Tages für den Anblick dieses Teiches bewahrt, der sich täglich wiederholte, wenn er sich auf die Suche nach den verstreuten Sonnenkrümeln in der Maracas Bay machte. Die Warnung vor Steinschlag wurde zur Wirklichkeit in Form von entwurzeltem Gestrüpp auf der Straße, einer Art weicher Steine, die man der lockeren Seele des Dschungelbodens entrissen hatte. Ab und zu richtete sich Ginés auf, um nachzuschauen, ob das wolkenlose Stück Himmel im Nordosten noch da war. Der graue Filter schien dieses Fenster zu Licht und Wärme zu respektieren, aber die Wolken hielten sich in unmittelbarer Nähe, eine geballte Drohung, ein Heer, an der Grenze zusammengezogen und jederzeit bereit, in das einzige schöne und freie Land einzufallen, das es auf der Welt noch gab. Plötzlich vermehrte sich die Helligkeit der Umgebung, und ein Sonnenstrahl tauchte Ginés’ Gesicht in helle Wärme. Erregt von dem Versprechen, setzte er sich in dem Moment auf, als das Auto eine Anhöhe überquerte und unten in der Ferne die majestätischen Buchten auftauchten, schaumgebadet von der Walze einer hartnäckigen Brandung.

»Viel Wind. Geschwindigkeit mindestens sechzig Stundenkilometer.«

Der Fahrer setzte das Gesicht eines dicken, leberkranken spanischen Gitano auf und wandte es dem Fahrgast zu.

»Sie verstehen etwas vom Wind. Haben Sie eine Yacht?«

»Ich bin Seemann.«

»Seemann!« rief der Inder begeistert aus. »Ich bin noch nie aus Trinidad herausgekommen. Ich war nicht einmal in Tobago. Aber als junger Mann wäre ich gerne Matrose geworden, um durch den Panamakanal zu fahren. Es gibt ein Schiff, das von Vancouver über den Panamakanal nach Jamaika fährt. Fahren Sie auf diesem Schiff?«

»Die Welt wimmelt von Schiffen.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Mein Schiff ist wie eine Fabrik. Du drückst einen Knopf und fährst nach Norden. Du drückst einen anderen Knopf und fährst nach Süden.«

»Eines Tages werden sie Taxis ohne Fahrer bauen.«

Der melancholischen Bemerkung widersprach der zerbrechliche Glanz der lichterfüllten Natur in der Maracas Bay. Das Auto hielt bei den Schuppen mit den Umkleidekabinen und Duschen.

»Nutzen Sie die Sonne, und machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich warte so lange wie nötig.«

Mit der Gier eines Nachttiers, dem die Sonne fehlt, sprang Ginés aus dem Auto und ging zu dem Tisch am Eingang des Umkleideschuppens. Eine Inderin gab ihm ein Ticket und zeigte ihm die Reihe kleiner Schränke, wo man die Kleidung einschließen konnte. Zunächst zog er sich im feuchten Halbdunkel der Bretterkabine aus, deren Holz im ewigen Schatten der hohen Palmen trauerte und in der tropfenden Feuchtigkeit der Duschen vermoderte. Hier und da verdichtete sich die Feuchtigkeit zu Wasserperlen, die zu leben und sich zu vermehren schienen. Er verließ die Kabine, stopfte Kleider und Schuhe hastig und durcheinander in den Schrank und lief zum Meer, das in einer tosenden Flut aus Indigo und Weiß heranrollte und zurückwich. Drei träge schwarze Jugendliche stiegen über eine Leiter in ihre Häuschen aus Holz und Palmblättern, um die Bahnen der Schwimmer zu überwachen, in diesem Fall die Bahnen des einzigen Schwimmers, der sich mit Schlägen gegen den Haß des Wassers vorwärtskämpfte. Ihre gewandten Körper paßten sich den Hüttenkäfigen an, und die Augen überwachten den Abstand des Schwimmers zur Zone der Untiefen und Strudel. In den Sand gesteckte Schilder markierten die verbotenen Zonen, aber die Gewalt der Wellen trieb den einzigen Schwimmer ein ums andere Mal in die Nähe der schicksalhaften Zone. Dann gewannen die jungen, gleichgültigen Körper ihre Daseinsberechtigung zurück, eine verchromte Polizistenpfeife erschien zwischen den Lippen, und die Pfiffe übertönten das Getöse des Meeres, um den Schwimmer zu warnen. Ginés verstand die Warnung und kämpfte gegen die Versuchung des Todes. Blindlings kraulte er gegen das erzürnte Meer an und lachte dem Tosen des Meeres entgegen, wenn er den höchsten Wellen die geschlossenen Fäuste ins geifernde Gesicht schlug. Die Wellen verlachten seine Kraft, trennten ihn von der schwankenden Festigkeit des Bodens aus Sand und weißen Muscheln, hoben ihn mit trügerischer Sanftheit hoch und zogen ihn aufs offene Meer hinaus oder drängten ihn schräg nach der Seite ab, als wollten sie ihn zum Abflußloch des Todes schubsen. Er suchte eine Stelle, wo die Wellen schwächer ankamen, um den Atem wiederzufinden und sicheren Stand zu gewinnen. Als er nach oben schaute, stellte er fest, daß der blaue Himmel den Kampf gegen die Wolken verloren hatte und ein trostloses graues Wetterdach ihn und die ganze Welt bedeckte. Dazu krachte der Donner wie eine Warnung aus dem Westen und wurde fast übergangslos zu einem warmen, zunächst weichen und dann wütenden Regen, steinerne Fäden, die ihn in seinem aussichtslosen Kampf gegen die Elemente durchbohren und versenken wollten. Hier mußte er bleiben, das Wasser bis zur Brust, die Sintflut über dem Haupt, die Fluten des Himmels vermischt mit den stoßweise hervorquellenden Tränen und dem immer weniger zu kontrollierenden Schluchzen. Durch die Vorhänge von Regen und Tränen stellte ihn das Meer vor die Wahl: vorwärtsgehen zu den endgültigen Tiefen und den dunklen Stein, der sein Gehirn erfüllte, für immer versenken – oder zurückkehren zum Strand und dem Halbdunkel seiner vergeblichen Flucht. Dennoch schenkte ihm das lauwarme Meer, das ihn umhüllte, die Wärme einer Zuflucht, wie eine Decke, ein Frauenkörper oder das Gefühl, an einem Herbsttag zu Hause zu sein, während es draußen vor dem Fenster regnet. Aus einer Region, wo die Erinnerung wohnt, tauchte das Gesicht der Frau auf und wuchs, bis es mit den Dimensionen seines eigenen Kopfes übereinstimmte, um dann weiterzuwachsen und den gesamten Horizont mit ihren Gesichtszügen zu bedecken, die sich in den Fluten auflösten.

»Encarna«, murmelte er und brach endgültig in Tränen aus, als hätte er sich plötzlich damit abgefunden, verloren zu sein in einer versunkenen Stadt.

»Hätten Sie das doch mir überlassen, Chef, dann hätte Sie das alles viel weniger gekostet.«

Carvalho hatte gerade das Büro betreten, fror bis auf die Knochen und hatte das unbestimmte Gefühl, sich im Tag oder im Jahr geirrt zu haben. Biscuters Stimme war für ihn eine belanglose Geräuschkulisse, und erst nach einer Weile nahm Carvalho wahr, daß Biscuter noch immer auf ihn einredete.

»Und sagen Sie nicht, ein Feiertag ist eben ein Feiertag, wir hätten ihn genausogut bei Ihnen zu Hause in Vallvidrera oder hier feiern können. Ich habe noch Kerzen aus dem Schlußverkauf der Kerzenhandlung in der Calle del Bisbe. Das wäre intimer, persönlicher oder so!«

»Was gibt es denn zu feiern?«

»Aber Chef, wo sind Sie bloß mit Ihren Gedanken! Heute ist der letzte Tag des Jahres, und eben haben die Leute von La Odisea angerufen. Sie halten uns den Tisch frei.«

»Der letzte Tag.«

»Einen Tisch für drei: Sie, Señorita Charo und ich. Ich werde mir eine Krawatte umbinden müssen.«

»Du trägst doch gerne Krawatten!«

»Eine Krawatte ist für mich wie der Strick für den Gehenkten. Schauen Sie sich doch meinen Hals an!«

Tatsächlich, sein Hals sah aus, als hätte ihn ein langsamer und gründlicher Henker sorgfältig stranguliert.

»Außerdem habe ich noch Kerzen gekauft gegen die Mücken.«

»Hier gibt es keine Mücken.«

»Für den Fall des Falles. Sie waren sehr günstig. Das mit dem Restaurant, Chef, also das überzeugt mich nicht. Es wird verdammt teuer, und für das viele Geld kriegen wir doch nur Schweinereien vorgesetzt!«

»La Odisea ist ein seriöses Restaurant. Der Besitzer ist ein Dichter!«

»Auch das noch! Die Dichter sind doch allesamt Hungerleider!«

Carvalho ging die Telefonanrufe durch, die Biscuter notiert hatte.

»Wer ist dieser Gálvez?«

»Er sagte, er sei Journalist. Er hätte eine Menge Scherereien mit der Polizei gehabt, die von der ETA hätten ihn wegen irgendwelcher Geschichten entführt, und er wollte Ihnen die ganze Wahrheit über den Panamakanal erzählen.«

»Über den Panamakanal weiß ich schon genug.«

»Er sagte, er würde noch mal anrufen.«

»Wenn er wieder anruft, sag ihm, er soll sich mit dem Fundbüro der Sozialisten von der PSOE in Verbindung setzen. Und dieser Federico III. von Kastilien-León?«

»Ein Verrückter, Chef. Er behauptet, er sei der legitime König von Kastilien und León, und die Ultrarechten wollten ihn entführen, Juan Carlos absetzen und ihn zum König machen. Aber das wolle er nicht, er sei schließlich Republikaner. Ich glaube, ich habe Ihnen alles so aufgeschrieben, wie er es gesagt hat.«

»Heute vormittag haben sie anscheinend alle Verrückten losgelassen. Mach mir was zum Frühstück!«

»Soll ich Ihnen die Crêpes mit Schweinsfüßchen und Aioli von gestern aufwärmen?«

»Ich möchte lieber ein Bocadillo mit gebratenem Fisch, aber kalt, Auberginen und Paprika. Und das Brot mit Tomate abgerieben!«

Biscuter imitierte das Geräusch eines Verbrennungsmotors, der soeben beim Grand Prix von Monte Carlo in die Zielgerade einfährt, und eilte in die Küche. Carvalho warf das Notizbuch auf eine Ecke des Schreibtischs, wo seine kleine Fachmesse für Muster verschiedener, meist nicht mehr aktueller Papierwaren noch etwas Platz bot. Er wußte, daß sich irgendwo dazwischen eine Quittung befinden mußte, die ihn berechtigte, zwei Anzüge bei einem Änderungsschneider in Sarrià abzuholen, aber die Quittung zu suchen war eine Aufgabe für 1984.

»Morgen ist auch noch ein Tag.«

Trotzdem beeilte er sich, eine Nummer zu wählen, die er sich auf einer Streichholzschachtel notiert hatte. Ja, die Señora Valdez sei im Hause. »Wie ist Ihr Name?« – »Guardia Civil«, antwortete Carvalho und betrachtete sich selbst, wie er die Señora Valdez anrief, bis ihn die Stimme der Frau nötigte, wieder in seine eigene Haut zu schlüpfen.

»Ich bin Privatdetektiv und habe Sie im Auftrag Ihres Mannes überwacht. Gerade komme ich vom Flughafen. Ihr Gatte hatte mich dorthin bestellt, um mich zu bezahlen und sich zu verabschieden.«

»Sich verabschieden? Aber das ist unmöglich! Ausgerechnet, wo wir heute abend ein Diner geben!«

»Verschieben Sie es. Ihr Mann ist mit der Schwägerin auf die Malediven geflogen.«

»Mit welcher Schwägerin? Mit meiner?«

»Nein, mit seiner.«

»Mit meiner Schwester, meinen Sie?«

»Es gäbe noch andere Möglichkeiten, aber ich fürchte, ja. Ich teile Ihnen das alles mit, weil es in der Bezahlung inbegriffen war. Ihr Mann ist eine eigenartige Mischung aus Sadist und Masochist. Als ich ihm über Ihr Verhalten berichtete, gab er mir noch fünfzigtausend Pesetas extra, unter der Bedingung, daß ich diesen Anruf tätige.«

Sie schwieg, weinte aber nicht.

»Worüber haben Sie ihm berichtet?«

»Von Ihren Rendezvous mit Don Carlos Prats Gasolí in dem Stundenhotel an der Avenida del Hospital Militar, besser bekannt unter dem Namen ›Das Grüne Häuschen‹.«

»Waren Sie dort?«

»Zwei- oder dreimal hatte ich das Glück, Zeuge zu sein, als sie dort eintraten.«

»Ihr Beruf ist abstoßend.«

»Schuld daran ist die herrschende Moral. Die haben Sie doch gemacht, Sie, die Reichen! Worüber beklagen Sie sich? Ändern Sie die Moral, und es wird keinen Bedarf mehr an Privatdetektiven geben. Aber bis dahin verhalte ich mich professionell und tue meine Pflicht. Ihr Mann bleibt bis zum Dreikönigsfest auf den Malediven. Danach will er sich in der Dominikanischen Republik niederlassen. Das Konto bei der Banco Hispano Americano steht Ihnen weiterhin zur Verfügung. Dafür hat er die Konten bei der Banco Central und Banca Catalana aufgelöst.«

»Die besten.«

»Das kommt vor. Zuerst vergeht die Leidenschaft, dann verschwindet die Liebe, sogar die Zärtlichkeit und die Gewohnheit, einander zu sehen. Und ganz am Ende verschwinden die laufenden Konten.«

»Und warum hat er mir das nicht selbst gesagt, mündlich oder schriftlich?«

»Schriftlich wäre es ein rechtskräftiger Beweis gewesen und mündlich eine Anstrengung ohne Gegenleistung. Während der kurzen Zeit, in der ich mit Ihrem Mann zu tun hatte, habe ich festgestellt, daß er es haßt, sich Konflikten zu stellen.«

»Ich will nie wieder Ihre abstoßende Stimme hören.«

»Keine Sorge, ich pflege nicht gratis zu arbeiten. Mein Auftrag ist erledigt.«

Er legte auf und sagte zu sich selbst: »Scheiße.«

Biscuter brachte ein solides Bocadillo und legte es vor ihm auf den Tisch wie eine Opfergabe.

»Ich hatte um ein Fisch-Bocadillo gebeten, nicht um einen ganzen Seehecht.«

»Wie ich hörte, sind Sie früh aufgestanden und müssen Kraft tanken. Fisch enthält viel Phosphor. Das ist gut für das Gedächtnis.«

»Mein Gedächtnis ist viel zu gut. Biscuter, eines Tages mache ich das Büro zu, und du und ich gehen als Siedler nach Australien.«

»Und Señorita Charo?«

»Charo lebt ihr eigenes Leben.«

Aber da stand sie, Charo, in der Tür, mit roten Flecken auf den Wangen und keuchendem Atem.

»Ein Glück, daß du da bist, Pepe. Ich hab dich zu Hause angerufen, und du warst nicht da.«

»Das Essen ist doch erst heute abend.«

»Hör auf mit dem Essen! Du mußt mir helfen, bitte, sag jetzt nichts! Laß mich erklären! Also. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Charo hielt mit einem Bein die Tür offen, das andere hatte sie kaum ins Büro gesetzt.

»Ich wollte eben dieses Bocadillo essen.«

»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.«

»Bitte, Pepe, bitte. Biscuter, trag das Bocadillo wieder in die Küche. Wartet auf mich, ich bin gleich wieder hier. Ich bringe noch jemanden mit. Pepe, ich hab dir doch schon mal von meiner Cousine Mariquita erzählt. Die Tochter einer Schwester meiner Mutter, aus Águilas, ich hab dir von ihr erzählt, ganz bestimmt. Du mußt sie anhören! Ihr ist etwas ganz Schreckliches passiert. Nicht ihr selbst, sondern einer anderen Cousine von mir, Encarnación. Von der hab ich dir auch schon erzählt. Die aus Albacete. Rühr dich nicht vom Fleck! Ich bin gleich wieder da.«

Der Flug eines Trenchcoats brachte sie dorthin zurück, wo sie hergekommen war. Carvalho drängte Biscuter, das Bocadillo abzutragen, und betrachtete die Tür seines eigenen Büros wie den Vorhang einer Bühne. Es klingelte. Die Lichter erloschen, und die Vorstellung begann.

»Wir werden dich nicht stören. Es dauert nicht lange.«

Charo eröffnete den Zug, und offen war auch ihr Lächeln, doch sie vermied es, Carvalho anzuschauen, um das nahende Unwetter oder den Ärger in seinem Gesicht nicht sehen zu müssen. Hinter ihr versteckte sich eine Frau um die Fünfzig mit einer Dauerwelle und den schönen Gesichtszügen einer üppigen, dunklen und vorzeitig gealterten Frau, offensichtlich Cousine Mariquita. Und als wären die beiden Frauen ein Hindernis, glitten zwei junge Männer rechts und links an ihnen vorbei ins Büro. Der eine sah aus wie ein Konzertcellist neuen Typs mit krausem Haar und Spielzeugbrille, der andere wirkte eher wie der romantische Buchhalter einer Bank, mit Fliege, kurzsichtig und blond, kränkliches Haar und vollmondbleich. Der Cellist unterzog die Örtlichkeit einer genauen Bestandsaufnahme, wobei er die Gegenstände betrachtete, als würde er sie inventarisieren, und Carvalho ansah, als wäre er überflüssig. Der Buchhalter hingegen suchte einen Stuhl, stellte ihn in eine Ecke des Zimmers, setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen und schaute geflissentlich überallhin, nur nicht dorthin, wo Carvalho saß. Der Detektiv wollte eben auf ihn zugehen, als Charos Stimme die Verhältnisse der Versammelten klarstellte.

»Meine Cousine Mariquita, Mariquita Abellán, würde dich nicht belästigen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Das ist Andrés, ihr Sohn, und das Narcís Pons, ein Freund, der ihnen in dieser Angelegenheit sehr geholfen hat.«

Der Junge, der wie ein Buchhalter aussah, lächelte, indem er den Strich seines Mundes verlängerte, einer Kerbe in einem Gesicht aus butterweichem Marmor.

»Die Jungen sind mitgekommen, weil auf meinen Mann kein Verlaß ist.«

»Auf ihren Mann ist kein Verlaß.«

Offensichtlich war auf Mariquitas Mann kein Verlaß. Carvalho war nicht bereit, ihnen entgegenzukommen, und blieb bei der wenig interessierten Betrachtung der Dinge, die sich jenseits seines Schreibtisches abspielten. Charo holte Stühle, und Mariquita betastete ihre Lippen. Andrés schaute ihn jetzt an, und der Rhythmus seiner Gedanken war erkennbar am Auf und Ab seines enormen Adamsapfels. Der Buchhalter zupfte an seiner Hose, um die dünne, unbehaarte, weiße und von Adern durchzogene Wade zu bedecken, die zwischen dem Aufschlag der grauen Marengohose und dem enganliegenden Rand seiner unerklärlich braunen Socken zum Vorschein gekommen war.

»Diesen Schritt hätte eigentlich mein Mann machen müssen«, erklärte Charos Cousine plötzlich, als würde sie den Abwesenden für sein Verhalten tadeln.

»Allmählich werde ich neugierig auf ihn, er muß ein bemerkenswerter Typ sein«, stellte Carvalho fest, als spräche er zu den Papieren, die er auf der Schreibtischplatte hin und her schob.

»Es geht ihm nicht gut. Meinem Mann geht es nicht gut.«

Dabei legte Mariquita einen Finger an ihre Schläfe.

»Er grübelt zuviel, und es ist nicht gut, soviel zu grübeln, vor allem, wenn man soviel Zeit hat. Mein Mann ist arbeitslos.«

»Wer ihn früher erlebt hat, erkennt ihn kaum wieder.«

Charo hatte einen Stuhl gefunden und setzte sich näher zu Carvalho als zu ihren Begleitern.

»Wenn du ihn vor ein paar Jahren kennengelernt hättest, Pepe, also, er war phänomenal. Amüsant, voller Lebensfreude, stark … Und jetzt: Arbeit weg, Schneid weg.«

Mariquita hatte irgendwo ein Taschentuch hervorgeholt und betupfte mit einer Spitze die beiden Augenwinkel, zum offensichtlichen Verdruß ihres Sohnes, der den Kopf schüttelte und eine der Seitenwände anstarrte, als wollte er den Gefühlsausbruch seiner Mutter nicht mit ansehen.

»Ich hab dir schon von der Sache erzählt, Pepe. Es geht um eine andere Cousine von mir, Mariquitas Schwester, meine Cousine Encarnación. Irgendwann hab ich dir von ihr erzählt.«

Carvalho war nicht bereit, dies zu bestätigen, aber Charo ließ sich ihre Autorität davon nicht schmälern.

»Sie war Mariquitas kleine Schwester, du weißt schon, und sie fühlte sich zu Höherem berufen. Sie hatte in Albacete eine gute Partie gemacht, obwohl ihre Familie aus Águilas stammt, also, Águilas, Cartagena, Mazarrón, diese Gegend. Aber Encarnita heiratete einen Herrn aus Albacete und wohnte in Albacete. Die beiden Schwestern hatten nicht viel Kontakt miteinander.«

»Fast keinen. Und das ist sehr bitter für mich«, warf Mariquita ein, in deren Augen die zurückgehaltenen Tränen brannten.

»Gut, aber darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, daß sie vor einigen Monaten – aber erzähl du’s ihm doch, du weißt besser Bescheid.« Mariquita seufzte und wandte sich an ihren Sohn mit einer Stimme, als hätte sie Schnupfen. »Willst du’s ihm nicht erklären, Junge?«

»Du weißt ganz genau, daß ich null Bock auf die Leier hab.«

»Der Herr hat null Bock auf die Leier«, wiederholte sie ironisch, zu Carvalho gewandt, als suchte sie sein Verständnis angesichts der nicht vorhandenen Unterstützung ihres Sohnes. »Aber mir hat man beigebracht, daß man die Toten mit Respekt behandelt«, schrie die Frau gegen den Rücken, den ihr der Sohn zugewandt hatte. Der Junge beschränkte sich auf ein Nicken, wandte sich aber nicht um. »Seit es passiert ist, kann ich nicht mehr schlafen. Jede Nacht erscheint mir meine tote Schwester und sagt: ›Mariquita, Mariquita, hilf mir! Laß mich Frieden finden, laß mich Frieden finden, Mariquita!‹«

Sie brach in Tränen aus und beklagte sich unter Stammeln und Atemnot über das Schicksal, als Frau alleine, so gut wie alleine, mit einer so schrecklichen Sache konfrontiert zu sein.

»Die Ärmste! Und wie hat man sie zugerichtet! Grundgütiger! Wie hat man sie nur zugerichtet! Die Ärmste!«

Von dem unkontrollierbaren Weinen der Frau angezogen, war Biscuter in der Verbindungstür zwischen Büro und Kochnische erschienen. Er trocknete sich die Hände und wußte nicht, wohin er schauen sollte, wer schuld war an der ganzen Verzweiflung.

»Also, Pepe, es war furchtbar …«, warf Charo ein und schloß die Augen und den Mund.

Das nun folgende Schweigen unterstrich das schwache Schluchzen, das von den zusammengepreßten Lippen der Frau kam. Der Sohn hatte sich wieder den anderen zugewandt und sah die Mutter voller Mitleid und Hilflosigkeit an. Der Buchhalter schien darauf zu warten, daß ihm das Orchester den Einsatz gab, und bereitete sich darauf vor, die Situation in die Hand zu nehmen. Er speicherte Luft in der Lunge, strich sich mit der Hand die Haarreste glatt und steckte einen Finger zwischen Hemdkragen und Hals, um den freien Durchgang der Luft von den Lungen zum Gehirn zu gewährleisten. Aber es war der Sohn, der das Wort an Carvalho richtete.

»Also, meine Tante war jämmerlich zugerichtet. Ein Gemetzel. Die Leiche war in einem traurigen Zustand. Ganz übel zugerichtet. Ganz übel. Ich ging mit meiner Mutter hin, um sie zu identifizieren, und, also … ich werde den Anblick nie vergessen. Das war kein menschliches Wesen mehr. Die Leiche war ganz übel zugerichtet.«

Charo und Mariquita nickten zustimmend, im Vertrauen darauf, daß Andrés genügend Mut aufbringen würde, von den Ereignissen zu berichten. Aber der Junge schien mit seinem Auftritt zufrieden und zog sich wieder in die distanzierte Betrachtung der rechten Seitenwand zurück, wo nichts anderes als Biscuter zu sehen war, ein Stilleben mit zerbrochener Gliederpuppe.

»Wenn Sie gestatten – es ist sicherlich eine Familienangelegenheit, aber in Anbetracht der Schwierigkeiten, die es euch allen aus naheliegenden Gründen bereitet, die Sache ausführlich genug darzustellen, möchte ich bitten, mir das Wort zu erteilen.«

Das blasse Gesicht hatte gesprochen, und Carvalho blieb im Zweifel, ob seine Augen lächelten oder lediglich versuchten, aus den ozeanischen Tiefen ihrer Dioptrien aufzutauchen. Die Familie Abellán gab die Hauptrolle ab und öffnete einen Korridor des Schweigens, durch den das weiße, verglaste Gesicht nach vorne trat.

»Haben Sie eine genaue Vorstellung von dem, was man Ihnen zu erklären versucht?«

Carvalho schüttelte den Kopf.

»Das dachte ich mir. Sie haben mit dem Herzen gesprochen. Ich werde es mit dem Kopf tun. Wenn sie sagen, man habe die Leiche übel zugerichtet, meinen sie damit, daß der Körper zerstückelt und das Fleisch von den Knochen abgelöst wurde. Zuerst fand man den Thorax und das Abdomen in einer Blechtonne auf einem aufgelassenen Grundstück. Der Rest war nachlässig verscharrt. In der Nähe der Colonia Güell. Auch diese Teile waren nicht unversehrt. Man hatte die Genitalien entfernt, die inneren und die äußeren, das heißt, man hatte sozusagen eine Totaloperation vorgenommen, ich wiederhole, eine Totaloperation der Sexual- und Fortpflanzungsorgane.«

Jetzt setzte er das Lächeln eines Chinesen auf, der geduldig abwartet, bis seine Gesprächspartner in Ohnmacht fallen. Carvalhos Blick irrte von Zimmerecke zu Zimmerecke und ignorierte die augenfällige Froststarre, die Biscuters Körper befallen hatte, sowie das Bestreben, nicht zu weinen, das Mariquitas Körper verkleinerte, und das unerwartete Interesse an den Ameisen, das Andrés’ Augen bekundeten.

»Aber das ist noch nicht alles. Jemand hatte seine Wut auch am Thorax und am Abdomen ausgelassen, und man kann sagen, daß lediglich das Herz, ein Lungenflügel und Speiseröhre, Magen, Leber, Nieren und Pankreas als Organe erkennbar waren.«

»Na, immerhin etwas«, bemerkte Carvalho nach einem Räuspern.

»Aber ich wiederhole, das Fleisch war von den Knochen gelöst, und zwar mit erstaunlicher Fachkenntnis, der Fachkenntnis eines Anatomen. Sie fragen sich wohl, wie man aufgrund so weniger und verstümmelter Einzelteile zu dem Schluß kommen konnte, daß es sich bei der Leiche um Encarna Abellán handelte.«

Er machte eine Pause in der Erwartung, daß Carvalho die Frage bestätigte. Carvalho wollte ihn nicht enttäuschen und schloß die Augen.

»Hören Sie gut zu, es ist eine sehr merkwürdige Geschichte. Ich befragte den Gerichtsmediziner, da ich mich schon immer für Kriminologie interessiert habe, und ich will mich ja nicht selbst loben, aber diese professionelle Auskunft ist vor allem meinen Ratschlägen zu verdanken, die von der Familie Abellán wohlwollend aufgenommen wurden. Nun gut, der Gerichtsmediziner untersuchte die Reste und entdeckte eine Narbe auf einem Stück Fleisch, das zum Abdomen zu gehören schien. Dann sagte er sich, daß es keine Narbe sein könne, da an den Rändern keine Nadelstiche zu sehen waren, wie das bei Narben normalerweise der Fall ist. Schließlich brachte ihn eine genauere Untersuchung zu dem Schluß, daß es sich doch um eine Narbe handelte, verursacht durch die Entfernung der Gebärmutter, und damit rückte die Möglichkeit einer Identifizierung der Leiche in greifbare Nähe, eine Möglichkeit, die sogar zur Bestimmung ihrer Identität führte: Encarnación Abelláns Gebärmutter war operativ entfernt worden.«

»Sind Sie Mediziner oder Medizinstudent?«

»Nein«, antwortete der Buchhalter mit geschlossenen Äuglein und einem genüßlichen Grinsen über das Interesse, das er bei Carvalho geweckt hatte.

»Akademiker?«

»Nein.«

»Immerhin, Sie scheinen ein gebildeter junger Mann zu sein.«

»Ich bemühe mich, einer zu werden. Ich bin Autodidakt.«

Er steckte seine kleine, schmale weiße Hand in die Herztasche seines Jacketts und holte sie heraus, bestückt mit einer Visitenkarte, die er Carvalho überreichte.

NARCÍS PONS PUIG

Autodidakt

Ronda de Sant Pere, 17

Carvalho spielte mit der Karte und starrte den Autodidakten an.

»Nun haben wir also die Leiche, zerstückelt und identifiziert. Und weiter?«

»Die Leiche tauchte vor drei Monaten auf. Die Polizei hat den Mörder bis heute nicht gefunden. Ich darf in aller Bescheidenheit sagen, daß ich einige Ideen dazu habe. Ich bin ein Freund der Familie und habe den Fall von Anfang an verfolgt.«

»Und welche Rolle spiele ich bei dem Ganzen?«

Es war Charo, die ihrer ausdrucksvoll mit den Armen rudernden Cousine zuvorkam, um zu sagen: »Wir wollen, daß du dieses Durcheinander entwirrst.«

»Ich könnte euch gratis ein paar Ratschläge geben, aber danach: aus den Augen, aus dem Sinn!«

»Wir wollen keine Ratschläge. Wir wollen, daß du den Fall übernimmst.«

»Zwei Cousinen, ein ungehorsamer Sohn, ein Autodidakt … Jetzt fehlt nur noch ein Klient.«

»Der Klient bin ich«, sagte Charo entschlossen und legte dabei die Handtasche auf ihren Schoß, als wäre sie bereit, jede finanzielle Forderung Carvalhos zu erfüllen.

Sie sahen einander in die Augen. Charos Blick war herausfordernd, der von Carvalho skeptisch.

»Meine Mutter, Pepe, hat mir immer von einer Schiffsreise erzählt, die sie als Kind nach Águilas gemacht hat. Mein Großvater war bei der Bereitschaftspolizei, er war in Águilas zur Welt gekommen und wollte, daß seine älteste Tochter den Ort kennenlernte, wo er geboren worden war. Vor dem Bürgerkrieg verkehrten regelmäßig Schiffe zwischen Barcelona und Águilas, weil der Hafen von Águilas wichtig war oder warum auch immer, es ist jedenfalls so, daß mein Großvater meine Mutter einem Jugendfreund anvertraute, der als was weiß ich auf der María Ramos fuhr, jammerschade, daß meine Mutter nicht mehr lebt, denn manchmal erinnere ich mich nicht mehr an Dinge, die sie noch gewußt hat, und es tut weh, wenn Erinnerungen von Menschen, die einen lieb haben, in Vergessenheit geraten. Es bedrückt mich, daß ich die Erinnerungen meiner Mutter vergesse, denn ich bin sicher, sie hat sie mir erzählt, damit ich sie gut im Gedächtnis behalte. Meine Mutter fuhr also nach Águilas und verbrachte dort einen langen Sommer im Elternhaus von Mariquita und Encarnación, es gab noch andere Geschwister, aber ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, sie waren schon erwachsen, einer ist heute wohl in Deutschland, der andere war früher Schrotthändler in Torre Baró, er hieß … nun ja … Mariquita war damals ein kleines Mädchen und Encarnación noch gar nicht geboren. Für meine Mutter war es der schönste Sommer ihres Lebens. Es gibt Namen, die sind mit diesem Sommer verbunden und in mein Gedächtnis übergegangen, als hätten sie etwas mit meinem eigenen Leben zu tun: die Playa del Hornillo, die Glorieta von Águilas, das Grüne Häuschen, die Stierkampfarena, die Calle Cañería Alta, das Eiscafé Sirvent, ein Palmfächer mit Werbung für das Einreibemittel Sloan, der Photograph Matrán. Den Palmfächer habe ich zu Hause gesehen, also dort, wo ich früher zu Hause war. In Águilas hatte meine Mutter ihren ersten Verehrer, einen Herrenfriseur, und Mariquita mußte sie als Anstandsperson begleiten, wenn sie am Hafen spazierengingen. Obwohl sie noch ein Kind war, hat Mariquita damals schon gearbeitet, bei der Esparto-Ernte oder in den Pökelfabriken oder in den Feigentrocknereien, ich weiß es nicht mehr genau, vielleicht war es auch eine Fabrik für eingelegte Kapern oder Kapernäpfel. Dann kam der Krieg, und dann ging er wieder zu Ende, und dort unten gab es viel Not und Elend. Fast die ganze Familie meines Großvaters wanderte im Lauf der Zeit nach Barcelona aus. Mein Vater und meine Mutter wohnten im Haus meiner Großeltern, und seit ich geboren bin, war dieses Haus in meiner Erinnerung immer so etwas wie ein großes, provisorisches Lager für Einwanderer. In manchen Nächten konnte ich nicht einmal bei meiner Großmutter schlafen, dann improvisierte man ein Bett aus zwei Stühlen und dem Zuschneidebrett, das meine Mutter für die Schneiderei benutzte. Ich war noch sehr klein, aber ich weiß noch genau, wie Mariquita ankam, mit ihren Eltern und einem kleinen Mädchen, das fast noch ein Baby war. Das war ihre Schwester Encarnación. Sie war sehr krank, hatte eine schlimme Ohrenentzündung, und der Kassenarzt verschrieb ihr Penicillin, stell dir vor, Penicillin, das kam uns damals vor wie ein Zaubertrank, diese kleinen Fläschchen sahen aus wie Spielzeug, und daß man das weiße Pulver mit destilliertem Wasser vermischte, war auch wie ein Spiel. Sie blieben mehrere Monate bei uns, bis der älteste Sohn eine Baracke in Torre Baró gefunden hatte. Es ist ihnen nicht gut ergangen. Mariquita fand Arbeit bei Aismalíbar, diesem Elektro-Unternehmen, heiratete dann und bekam Kinder. Der, den du heute gesehen hast, ist der Mittlere. Aber die Alten hatten kein Glück: Er starb an Tuberkulose, und sie ging mit der kleinen Tochter, mit Encarnación, zurück nach Águilas und kümmerte sich dort um eine reiche alte Tante, die einzige Reiche, glaube ich, die es je in unserer Familie gegeben hat. Von da an gingen die beiden Schwestern getrennte und sehr unterschiedliche Wege. Mariquita heiratete einen guten, sehr fleißigen Jungen, den sie bei Aismalíbar kennengelernt hatte. Encarnación arbeitete zuerst als Hausmädchen bei einem Arzt in Cartagena, dann in den Fabriken der Familie Muñoz Calero – noch ein Name, der mir plötzlich eingefallen ist – in Águilas, irgend etwas mit getrockneten Feigen oder Kapern, glaube ich. Und plötzlich passierte das Unerwartete: Sie lernte einen piekfeinen Sommerurlauber kennen, den Sohn eines Gutsbesitzers aus Albacete, der sich auf die staatliche Auswahlprüfung für das Notariat vorbereitete, obwohl seine Familie so viel Geld besaß, daß er es eigentlich nicht nötig hatte, Notar oder sonst etwas zu werden. Keiner aus der Familie hat je erfahren, wie das alles zustande kam. Verliebt, verlobt, verheiratet, und von da an war Encarna aus der Familie verschwunden. Nur ab und zu kam sie nach Águilas, um ihre Mutter zu besuchen, und sie hat sie nur ein einziges Mal zu sich nach Albacete eingeladen, über Weihnachten. Meine Tante wurde krank, Mariquita holte sie nach Montcada – Mariquita wohnt in Montcada –, und als sich ihr Zustand verschlechterte, blieb nichts anderes übrig, als sie in ein Altersheim der Hogares Mundet zu geben, wo sie gepflegt werden konnte. Als die Mutter starb, kam Encarnación zu ihrer Beerdigung, aber ohne ihren Mann, und sie sah aus, Junge, Junge, als wäre sie Grace Kelly, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine feine Dame sie war. Von dem Geld, was eins von ihren Kleidern gekostet hat, kauf ich Klamotten für das ganze Jahr, und ich kann mich ja nun auch nicht beklagen. Aber denk mal an die arme Mariquita und die anderen Verwandten! Die standen alle da, als wäre sie eine Erscheinung. Außerdem hatte sie ein Auto mit Chauffeur gemietet. Aber es war Encarna, das Püppchen, das immer geweint hat, das, als ich ein Kind war, mit einer so schlimmen Ohrenentzündung bei uns zu Hause saß, daß man sie hier stechen mußte, um den Eiter herauszuholen. Das hab ich ihr erzählt, alles das hab ich ihr erzählt, aber ich hatte den Eindruck, als würde sie sich gar nicht gerne an diese Zeit erinnern. Sehr liebenswürdig, das war sie, aber kälter als meine Füße im Winter, Pepe, kalt wie eine Botschafterin vom Nordpol, lach nicht, Pepe, sie tat mir sehr leid, denn es sah aus, als ob sie die hohen Absätze bräuchte, um sich größer zu fühlen als wir. Den Rest weiß ich von Mariquita. Man hat die Leiche, also die Stücke, von denen dir dieses Siebenmonatskind erzählt hat, zum Teil in einer Tonne gefunden, zum Teil verscharrt in Sant Boi, hinter der Colonia Güell. Ein Hund hatte sie gerochen und fing an zu wühlen, und da war sie dann. Als sie herausgefunden hatten, wessen Überbleibsel es waren, riefen sie den Ehemann an, und von ihm erfuhr die Familie, was geschehen war. Keiner kann sich erklären, was diese Frau in Barcelona gemacht hat, auch wenn der Mann sagt, sie sei immer wieder nach Barcelona gefahren, zum Arzt, mal wegen der Nieren, mal wegen der Augen. Sie hatten keine Kinder, und man sieht, daß Encarna es sehr mit den Nerven hatte. So wie es aussieht, hat man sie erschlagen und später zerstückelt, damit man sie nicht erkennt. Ich weiß nicht, das ist alles ein großes Durcheinander, und keiner blickt durch. Das Problem ist, daß die Geschichte damit für den Ehemann erledigt war: Kaum hatte er sie angeschaut, fuhr er zurück nach Albacete, und niemand hat gesehen, daß er auch nur eine Träne geweint hätte. Die arme Mariquita blieb völlig fertig zurück, total am Boden zerstört, Pepe, sie kann nicht einmal mehr schlafen, weil sie ständig überlegt, was sie für ihre Schwester noch hätte tun können, für das kleine Mädchen, wie sie sagt. Und das, obwohl ich ihr dauernd sage, sie solle damit aufhören, weil die Dame reichlich hochnäsig gewesen sei und so getan habe, als hätte sie alles und bräuchte nichts und niemanden. Aber trotzdem läßt sich Mariquita nicht überzeugen, und zu allem Übel tut dieses Siebenmonatskind oder der Autodidakt, wie du sagst, also der tut anscheinend den ganzen Tag nichts anderes als in den Resten dieser Geschichte herumzustochern, und er ist fest davon überzeugt, daß an der Sache etwas faul ist, daß dieses Verbrechen etwas Düsteres, Unheimliches hat und daß man es nicht einfach einem Vergewaltiger zuschreiben kann, der Angst bekommen hat und sich die Leiche vom Hals schaffen wollte. Hier sei eine alte Rechnung beglichen worden, darauf beharrt dieses siebenschlaue Siebenmonatskind, und auf so was hat Mariquita nur gewartet, sie grübelt und grübelt und lebt gar nicht mehr richtig. Dabei hat sie schon genug Probleme am Hals: der arbeitslose Mann, der halb übergeschnappt ist, ein Sohn beim Militär, der andere mehr oder weniger untergetaucht, den sucht die Polizei, weil er Junkie oder Dealer oder beides ist, zwei kleine Kinder, die den Eltern noch auf der Tasche liegen, und der Junge, den du kennengelernt hast, der will studieren und Journalist werden, kurz und gut, alles, die ganze Familie hängt an ihr. Sie tut mir sehr leid, und ich will ihr helfen, außerdem ist sie die einzige Verwandte, die ich noch habe, und ich weiß, meine Mutter würde es gerne sehen, daß ich ihr unter die Arme greife. Bis zu ihrem Tod hatte meine Mutter alle Geburtstage und Namenstage der ganzen Familie im Kopf. Ich bezahle dir jede Summe, und das Siebenmonatskind hat auch versprochen, Geld dazuzugeben, warum, weiß ich nicht, aber der Junge ist sehr an der Geschichte interessiert, er ist mit Andrés befreundet, dem Sohn von Mariquita. Vielleicht macht der Ehemann von Encarna auch mit, wenn er erfährt, daß der Fall noch nicht abgeschlossen ist. Was meinst du?«

Charos Gesicht besteht gerade noch aus zwei Augen, die im Halbdunkel glänzen. Eine Zunge gelben Lichts kommt aus der Tür, die Carvalhos Büro mit dem kleinen Reich verbindet, in dem Biscuter der König ist, der kocht oder schläft. Gerade duscht er, man hört das Regnen der Dusche und das leise Pfeifen eines glücklichen Tieres, das C’est si bon nachahmt.

»Entschuldige, Pepe, es war ein Überfall, aber Mariquita hat mich gestern angerufen und mir alles erzählt, und ich wußte nicht, an wen ich mich wenden sollte.«

Auf den Ramblas waren die letzten Lichter des Jahres 1983 angegangen, morgen würden sie ein neues Jahr erleuchten, ein Peitschenschlag der Zeit traf Carvalhos Herz, vielleicht war es auch ein verspätetes Herzklopfen im Takt der Geschichte, die Charo erzählt hatte. Es war sieben Uhr abends. Irgend jemand hatte die Nacht auf ihren Platz gesetzt, genau zur rechten Zeit, genauso wie dieser Jemand nun Single Bells aufgelegt hatte, das aus einem Plattenladen in der Nähe ertönte. Das Lied bemächtigte sich auch des Pfeifens von Biscuter, der sich bereitmachte für das aufregende Erlebnis, das Jahr in einem Luxusrestaurant auf Du und Du mit Carvalho und Charo zu beschließen. Die Gefühle streuen Zucker ins Blut, dachte Carvalho.

»Hast du ein Photo von der Toten?«

Charo wühlte in den Tiefen ihrer Handtasche und zog schließlich einen blauen Umschlag heraus, den sie Carvalho reichte. Er schaltete die Schreibtischlampe ein, und das Photo, das er aus dem Umschlag nahm, wirkte unter der Roheit des weißen Lichts wie ein gefangener Vogel in Carvalhos Hand.

»Es zeigt sie als kleines Mädchen.«

»Das ist das Photo, das Mariquita aufgehoben hat. Encarna war damals sechzehn.«

Ein zartes, dunkelhäutiges Mädchen mit großen schwarzen Augen und einem Mund, den man sinnlich nennen konnte, obgleich er mit zuviel Rouge in Form gebracht war. Im Hintergrund irgendein Paar in Tanzkleidung und ein Teil des Orchesters Orquesta Fascinación. Auf der Rückseite des Photos ›Águilas, August 1956‹, ›Beim Tanz zu La Niña de Puerto Rico, Küsse‹ und die Unterschrift einer schreibfaulen Schülerin, ein ›Encarna‹ dick wie eine Kartoffel, eingekreist von einem Schnörkel, der wie eine Grenze zwischen dem Namen und dem Rest der Welt wirkt. Noch einmal das Gesicht im weißen Licht, und trotz des Alters der Blitzlichtaufnahme eines Dorfphotographen ist da etwas in der Körperhaltung, das Carvalhos Augen zu wiederholtem Hinschauen nötigt, etwas zwischen Dasein und Nichtdasein, zwischen Schauen und Nichtschauen, Lächeln und Nichtlächeln; ein liebevoll protokollarisches Erinnerungsphoto, zweifellos entstanden auf Wunsch der Mutter, die es der Schwester schicken wollte, ›damit sie dein neues Kleid sieht‹, doch das Mädchen selbst war abwesend.

»Sie war hübsch.«

»Sehr niedlich, sehr zart. Meine Tante war auch sehr hübsch, und Mariquita ist auch kein Monster, auch wenn die Ärmste sehr angeschlagen ist, bei dem Leben, das sie führt.«

»Gibt es keine neueren Photos? Briefe?«

Charo schüttelte den Kopf, und Carvalho wiederholte das Nein, als sagte er es zu sich selbst.

»Weißt du, was du da von mir verlangst? Ich soll einen Fall wieder ausgraben, Fleischstück für Fleischstück, einen Fall, der schon nach Verwesung riecht, ohne Hilfe der Polizei, ohne das geringste Interesse seitens des Ehemanns, ohne weiteres Interesse als das, was deine Cousine zeigt, was du zeigst und dieser verdammte Autodidakt, den ich bewußt nicht gefragt habe, in was er eigentlich Autodidakt ist.«

»Er besitzt ein Elektrogeschäft in Montcada.«

»Ein solventer Klient.«

Biscuter platzte herein und bemächtigte sich des Zimmers, indem er die Deckenbeleuchtung einschaltete.

»Na, wie gefalle ich euch?«

Er trug ein schwarzes Cordsamtjackett, eine graue Hose, ein blaues Hemd mit silbernen Manschettenknöpfen und eine karminrote Krawatte über dem ramponierten Froschkörperchen, das ihm die Natur mitgegeben hatte. Charo applaudierte, und Carvalho bemerkte: »Du wirst Ballkönigin werden«, Biscuter drehte sich einmal um sich selbst und meinte entschuldigend: »Wenn man sich schon feinmachen muß, dann richtig, Chef! Ich möchte meine Freunde nicht blamieren.«

Wohl im Vertrauen auf die unerschöpfliche Helligkeit der Tropen hatten die Architekten dieses Gartens nicht genug Lichtquellen eingeplant, um die Nacht, besonders die letzte Nacht des Jahres, zu den Sternen zu verbannen. Es gab nicht einmal welche, oder sie waren in den düsteren Block der Wolken entführt worden, und eine leichte Brise schaukelte die bunten Glühbirnen, die schattige Unruhe verbreiteten, ein Hin und Her von Lichtern für die gekünstelte Bedächtigkeit der festlichen Paare, die allmählich an den Tischen im Freien Platz nahmen, mit einer Ruhe, die das im voraus Genossene und im voraus Bezahlte verleiht. Abseits, an einem kleinen Tisch, weit entfernt von dem Orchester am schlafenden Swimmingpool, beobachtete Ginés die Ankunft der Paare, manche kamen einfach, andere als Doppelpaar oder auch als Drei- oder Vierfachpaar, aber stets waren es Paare, bisweilen auch mit Anhang, gelangweilte Jugendliche oder Kinder, die sich auf das Abenteuer freuten, so lange wach bleiben zu dürfen. Hellhäutige Paare, die wegen des schlechten Wetters im Holiday Inn festsaßen und keinen Platz in einer Fokker nach Tobago bekommen hatten, vor allem aber schwarze und indische Paare aus Port of Spain mit ausreichend großem Budget, um einen Platz beim Neujahrsbankett im Holiday Inn zu ergattern, dem zweitbesten Bankett der Stadt, in angemessenem Abstand zur vielgepriesenen Qualität des Neujahrsbanketts im Hilton. Da waren dunkler Mittelstand, dem die Geschäfte in der Hafenstadt gehörten, die Vorarbeiter aus der Asphalt- und Kopraindustrie und die Vertreter der ausländischen Markenfirmen, die Port of Spain den Alltagslook eines Pop-Art-Gemäldes verliehen, das ein naiver Künstler gemalt hatte, dem die Augen vor Collagen aus Steelbandtrommlern und Coca-Cola, Volkswagen und Leguanen übergingen. Die Weißen waren Nordamerikaner in Anzügen mit gelben Schottenkaros oder träge Venezolaner, in deren Adern ein Erdölderivat zirkulierte. Bedient wurden sie von schwarzen Streikbrecherinnen, die mit gezücktem Holiday-Inn-Kugelschreiber die Zaubertränke für den Jahreswechsel notierten und gleichgültig blieben, ob es sich um Coca-Cola, Bier oder Mateus Rosé handelte, was sich jedoch schnell änderte, wenn jemand, wie Ginés, ausnahmsweise einen normalen Moët Chandon oder gar einen Elsässer Wein verlangte und dafür einen Preis bezahlte, der sonst wahrscheinlich nur auf einer Mondstation aufgerufen würde. In diesem Falle taxierte die Bedienung den Gast mit voller Aufmerksamkeit, als sähe er aus wie eine Fünfzigdollarnote, zusätzlich zu den fünfzig Dollar, die er für das Abendessen am Selbstbedienungsbuffet bezahlt hatte: gekochte Maiskolben, Fischcurry, geschmorten Schweinerücken, gekochte Linsen, Roastbeef, süße Bohnenkerne, gekochter Reis, tropische Fruchtsalate, Torten mit Meringuen aus steinhartem Karton und Konfitüren in optimistischen Traumfarben für die tropisch eleganten Paare, die davor Schlange standen; man hätte sie für schlangestehende Schweizer halten können, denn ihr Verhalten war der öffentlichen Meinung zuliebe noch pasteurisierter als sonst. In der Mehrheit waren es dreißigjährige Pärchen, die sich bei dem Versuch, ihr hohes standing zu beweisen, die Gesten nordamerikanischer Fernsehschauspieler bei Neujahrsbanketten auf karibischen Kreuzfahrtschiffen imitierten.

»Wollen Sie die alleine trinken?«

Das erste Anzeichen menschlichen Zweifels seitens der Bedienung, die sich ins einfache Protokoll des Warentauschs hineindrängelte.

»Vielleicht schaue ich sie mir auch nur an. Möchten Sie ein Glas?«

Die Kellnerin hob die Brauen, das einzige, was noch schwärzer war als ihre Haut und die Nacht.

»Das ist uns absolut verboten.«

›Wofür halten Sie mich?‹ sagten ihre schlagartig granitharten Augen. Ginés schob das kaum angerührte Essen beiseite, schenkte sich ein Glas ein und prostete den Paaren zu, die allmählich die Tanzfläche bevölkerten und sich mit der Umsicht von Sklaven bewegten, die zeigen wollen, was sie gelernt haben. Die einzigen, die obszön den Hintern schwenkten und lauthals lachten, waren die weißen Nordamerikaner, die beschlossen hatten, heute ungeheuer happy zu sein. Die Bedienung stellte die Champagnerflasche auf seinen Tisch neben einen Kelch mit Fruchtsalat. In diesem Moment dröhnte ein Donnerschlag, und ohne weitere Vorwarnung fiel der Regen, schwarz wie die feuchte Nacht, und die Leute verloren ihre Steifheit, um ihre Kostüme unter den Dachvorsprüngen oder in den Salons in Sicherheit zu bringen. Die Orchestermusiker deckten ihre elektronischen Geräte mit Plastikfolie ab, bevor sie sich selbst in Sicherheit brachten, und die tropische Farbenpracht ihrer Guayabera-Hemden erblaßte vor Schreck über die unerbittlichen Fluten. Diese Flucht war das einzige Abenteuer, das die Nacht für sie bereithielt, und die Menschen reagierten erregt auf die Abweichung vom Erwarteten, sie sprachen mehr und lauter, die Kinder hatten das Korsett des Man-darf-nicht abgestreift und die Erwachsenen den Komplex des überwachten Empfangs. Ein Musiker hockte sich vor die Bongotrommeln, und mit seinen Händen entlockte er dem gespannten Leder Töne und Rhythmen, als wären sie aus einem seltenen schwarzen Metall. Endlich vernahmen die Körper seine geheime Musik, scharten sich um den Percussionisten und gaben sich mehr und mehr einem intimen Rhythmus hin, um nach kurzer Zeit zu einer Flut von Körpern zu werden, die hin und her wogten und taten, als hätten sie keine Kontrolle mehr über ihre Bewegung. Ginés verspürte den Wunsch, sein Inneres zu erhellen, und lief durch den Regen, um seine Champagnerflasche zu holen. Sie enthielt mehr Wasser als Champagner, und angesichts dessen blieb er bei dem gesunkenen Schiff – ohne anderen Rettungsring als den vom Regen noch einmal gewaschenen Fruchtsalat, den er in wasserdurchtränkten, vielfarbigen Klumpen hinunterschlang – und betrachtete das chinesische Schattenspiel der Tänzer hinter den Scheiben. Sein Körper leitete den Regen ab, als wäre er genau dafür geschaffen. Er empfing ihn mit dem Kopf, von dort flossen Bäche über sein Gesicht und seine Schultern, durchnäßten sein Hemd und vermittelten ihm eine Lust am Wasser, wie sie nur Flüchtlinge aus einem Land der Dürre kennen. Er sah sich selbst in den ausgetrockneten Bachbetten der Außenbezirke von Águilas, wo er Espartoseile spannte, die Nase erfüllt vom Geruch des beißenden, kompakten Staubes, nicht weit von der Silhouette des Grünen Häuschens und in unmittelbarer Sichtweite der Straße, die nach Terreros, zu den Salinen und nach Almería führte. Wasser bedeutete damals Fest, aber auch Kampf, die Wasserverkäufer mit ihren Eseln, die Schlangen der Frauen an den öffentlichen Brunnen um fünf Uhr nachmittags, wenn die Rationierung unterbrochen wurde und die Wasserkrugfrauen mit den gewohnten Bewegungen auf die Straße stürzten, um eine Pflicht zu erfüllen, die sie von Geburt an kannten.

»Mach dir nicht die Füße naß! Die Erkältung kommt durch die Füße rein!«