Champagner und ein toter Hase - Karin Ledermann - E-Book

Champagner und ein toter Hase E-Book

Karin Ledermann

0,0

Beschreibung

Was als unbeschwerter Ausflug seinen Anfang nimmt, wandelt sich von Stunde zu Stunde in einen Albtraum und findet sein Ende in einer blutigen Tat. Am Ufer eines Flusses treffen im Sommer auf einem Campingplatz im Jura eine junge Familie, ein nicht sehr glückliches Paar und drei junge Männer aufeinander. Corona hat allen einen Strich durch die Ferien am Meer gemacht und Sorgen um Arbeitsstelle, Familienzuwachs, Geld und schwierige Beziehungen nagen an ihnen. Die Männer ertränken Ängste und wachsende Langeweile im Alkohol, die Frustrationsschwelle sinkt, Unzufriedenheit und Ärger brauchen ein Ventil. Da fahren Helen und Sam gerade zur rechten Zeit vor! Das ältere Paar gerät rasch ins Visier der Männer und alles, was es tut, wird als Provokation aufgefasst. Die Alten wählen einen abgelegenen Stellplatz am äußersten Rand der Wiese. Lässt nicht bereits dies auf eine überhebliche Gesinnung schliessen? Statt Bier trinken sie Champagner - und zwar täglich. Sam ist viel zu hilfsbereit, zu freizügig mit guten Ratschlägen, und er ist Ausländer. Helen zeigt sich zurückhaltender, aber wer spaziert auf einer Wiese am Ende der Welt mit ausgefallenen Hüten herum und lässt sich hofieren, als wäre sie eine Königin? Die Animosität dem alten Paar gegenüber entwickelt eine nicht mehr aufzuhaltende Eigendynamik.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 294

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Mehr über die Autorin erfahren Sie unterwww.texteledermann.ch

Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.

Martin Buber

Möge das Universum dich auf deinen Reisen beschützen und behüten

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Donnerstag - Ankunft

Was Sam zu sagen hat - Donnerstag

Freitag - Morgen

Freitag - Nachmittag

Was Sam zu sagen hat – Freitag – Teil I

Freitag - Abend

Was Sam zu sagen hat – Freitag – Teil II

Samstag - Morgen

Was Sam zu sagen hat – Samstag – Teil I

Samstag - Nachmittag

Samstag - Abend

Was Sam zu sagen hat – Samstag – Teil II

Sonntag - lange vor dem Morgengrauen

Sonntag - Morgen

Was Sam zu sagen hat – Sonntag – Teil I

Sonntag - Mittag

Was Sam zu sagen hat – Sonntag – Teil II

Sonntag - Abend

Was Sam zu sagen hat – Sonntag – Teil III

Sonntag - später Abend

Sonntag - Nacht

Montag - kurz nach Mitternacht

Was Sam zu sagen hat - Montag

Montag - lange vor dem

Morgengrauen

Montag - von morgens bis nachts

Januar 2021

Der Brief

Eine späte Antwort

Epilog

Prolog

»Wir schicken morgen jemand vorbei. Ist das in Ordnung, können wir Sie allein lassen?«

Helen nickt, geht mit schleppenden Schritten auf das Haus zu, die paar Meter kommen ihr unglaublich weit vor. In der Wohnung schließt sie die Tür hinter sich, dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, lässt die kleine Tasche achtlos fallen, gleitet an der Wand entlang zu Boden und kauert sich zusammen, verbirgt das Gesicht in den Händen.

‚Hundert Schattierungen von Grün

Gehüllt in zarte Nebelschwaden

Durchbrochen von einem Sonnenstrahl

Der von Licht und Leben kündet.‘

Leise murmelt Helen die paar Verszeilen vor sich hin - das Letzte, was sie geschrieben hat.

Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden.

Als ihr Leben noch heil war.

Sie rappelt sich langsam hoch, geht durch die vertrauten Räume, die ihr überraschend fremd sind, entdeckt auf ihrem Arbeitstisch einen weißen Umschlag, auf welchem in Samuels schwungvoller Schrift ihr Name steht. Er muss das Couvert hingelegt haben, bevor sie vor vier Tagen das Haus verlassen hatten. Sie öffnet den Umschlag, zieht die Karte heraus. Auf der Vorderseite zeigt ein Esel seine gelben Zähne, er sieht aus, als lache er. Auf der Rückseite steht:

‚Es gab noch keinen Tag mit dir, der mir nicht wenigstens ein Lächeln entlockte. S.‘

»Samuel«, flüstert sie, und wieder meint sie, die Stimme des Inspektors zu hören, der ungeduldig wissen will, weshalb sie ihn Samuel nennt.

»Samuel. Das ist sein zweiter Vorname«, hatte sie ihm erklärt, »er heißt Robert Samuel Nathaniel Sommer. Ich nenne ihn Samuel, mein verstorbener Mann hat Robert geheißen, da dachte ich...«. Sie hatte den Satz nicht beendet, ihre Stimme hatte versagt, die Worte fehlten.

Namen, Gesichter, Geräusche, Bewegungen, Blicke.

Egal, wo sie mit Erzählen, Fühlen, Denken anfing, es endete immer am selben Punkt. Samuel.

Samuel, mit der Axt in der erhobenen Hand.

Donnerstag - Ankunft

Matt sitzt im Schatten einer der wenigen Bäume, die den Rand der Wiese säumen. Es ist heiß, wohl der heißeste Tag des Jahres, und er ist froh, hat er sich diesen Platz neben den Bäumen ergattern können. Im Wohnmobil bereitet Jenny das Mittagessen zu, das Geplapper der beiden Kinder, Nelly und Silvan, sieben und drei Jahre alt, dringt zu ihm.

»Schau bloß, Matt, es ist wunderschön hier«, hatte Jenny, als sie vor zwei Tagen ankamen, entzückt gerufen.

Die schmale Straße führte linkerhand am Doubs entlang, daneben erstreckte sich Weideland mit grasenden Kühen, auf einer Matte standen ein paar Pferde mit hängenden Köpfen unter mächtigen Tannen. Dann tauchte Maurice' Hof auf, ein stattliches Jurahaus mit dicken Mauern. Die eine Seite des Hofs säumte der üppige Gemüse- und Blumengarten, auf der anderen Seite des Hofs erstreckte sich die Wiese, die als Campingplatz diente. Hinter dem Hof befanden sich nebst dem Hühnerstall ein paar Schuppen, in welchen landwirtschaftliche Maschinen, Heuballen und allerlei Gerät untergebracht waren. Kurz vor dem Hof bog die Hauptstraße rechts über eine türkisfarbene Brücke und auf der anderen Seites des Wassers führte sie in ein paar engen Serpentinen den Hügel hinauf, vorbei am Café, dem einzigen Gemischtwarenladen des Dorfes, vorbei an der Kirche und den Häusern, die bei Matts und Jennys Ankunft in sattes Sonnenlicht getaucht waren. Bei Maurice Hof hatte Matt das Wohnmobil parkiert und sie waren ausgestiegen.

»Oh, das ist super«, hatte Nelly sich gefreut, »hier kann man sicher fischen und Papa, fährst du mit mir mit dem Gummiboot den Fluss runter? «

Sie war aufgeregt von einem Bein aufs andere gehüpft und Jenny hatte rasch nach Nellys Hand gegriffen, bevor das Kind zum Wasser laufen konnte.

Jenny hatte sich zufrieden umgesehen. Sie blickte zurück zur Hauptstraße und dann zum schmalen Weg, der an Maurice Hof vorbeiführte und sicher nur wenig befahren war. Rechts neben der Straße war der Fluss, an seinem Ufer tummelten sich ein paar Kinder, die aus Steinen einen Staudamm bauten. Links neben dem Sträßchen war eine große Wiese, am Rand gesäumt von ein paar Bäumen. Im flachen Teil der Matte parkten Wohnwagen und Camper, dann wurde das Gelände steiler, am oberen Ende der Wiese begann der Wald. Eine Schotterstraße bog unten vom schmalen Weg ab auf die Matte, stieg die steile Böschung hoch und verschwand am oberen Wiesenrand im Wald.

»Hier wird es uns gefallen«, hatte Jenny begeistert befunden. Sie hatten an die Tür des Hofs geklopft und Maurice, der gerade Himbeersirup kochte, hatte geöffnet. In der Küche roch es nach Sirup und Maurice gab den Kindern eine Handvoll Beeren, die diese genussvoll in den Mund schoben.

Matt öffnet die Kühltasche und nimmt sich eine Dose Bier. Er mag diese Hitze nicht. Ursprünglich hätten sie nach Südfrankreich fahren wollen, wie die letzten zwei Jahre. Aber Corona hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jenny hat Angst, sie ist im fünften Monat schwanger und in Frankreich will sie nicht krank werden. Matt seufzt. Er hat sich kein drittes Kind gewünscht, eine Familie kostet eine Menge Geld, er ist kein Großverdiener und gerade jetzt ist die Zukunft eh ungewiss. Matt sorgt sich, es ist nicht ausgeschlossen, dass seine Stelle weggespart wird. Er nickt seinem Nachbarn Kevin zu, der seinen Wagen neben ihnen geparkt hat, und hält ihm einladend ein Bier entgegen. Kevin nimmt es, lässt sich auf den Stuhl neben Matt fallen und reißt die Lasche auf.

»Bist froh, sind sie weg?«, will Kevin wissen und weist mit dem Kopf auf eine leere Stelle hinter Matts Wohnmobil, wo bis vor ein paar Stunden zwei ältere Damen ihren Wohnwagen stehen hatten. Matt grinst und nickt.

»Die hatten nonstop was zu meckern, was«, stellt Kevin fest und wiederum nickt Matt.

»Waren allergisch auf alles. Rauch, Musik, Lachen, Kinder, Motoren. Hörten selbst das Gras wachsen. Sperrten die Ohren weit auf, damit ihnen ja kein Mucks entging und sie sich beschweren konnten. Brauchten ihre Mittagsruhe und ab neun Uhr abends sollte es gefälligst still sein. Alte, unbefriedigte Weiber, sag ich dir. Sollen doch daheim versauern und uns hier nicht auf den Wecker fallen.«

Matt nickt zum dritten Mal, lehnt sich zurück und nimmt einen Schluck Bier. Er ist erleichtert, sind die beiden alten Frauen weggefahren. Sie hatten ihnen das Leben ziemlich schwer gemacht und sich wegen jeder Kleinigkeit beschwert. Dies war nun mal ein Campingplatz, da bekam man zwangsläufig mit, was der Nachbar trieb.

Silvans Weinen um zwei Uhr in der Früh, Nellys Wutausbruch, der Geruch verbrannter Wurst, das Geschwätz, das Lachen, wenn ein Witz die Runde macht, Matts Fluchen, als er von einer Biene gestochen wurde, das Klappern von Geschirr und das Streiten der Kinder.

Was Matt aber beinahe noch mehr als die missbilligenden Blicke und die vorwurfsvollen Nörgeleien der Alten geärgert hatte war, dass Jenny sich immer wieder entschuldigte.

»Fehlen werden sie mir nicht, das kann ich dir versichern«, brummt Matt.

Wenig später beobachten sie schweigend einen älteren Bus, der auf die Wiese fährt. Er ist beige lackiert, die Kühlerhaube und die Seite ziert ein großer, aufgemalter Fliegenpilz, an den Fenstern hängen rote Vorhänge mit weißen Tupfen. Ein Mann steigt aus, geht um das Fahrzeug herum zur Beifahrertür und reicht seiner Mitfahrerin die Hand. Die Frau trägt einen lindengrünen Strohhut, an der breiten Krempe ist eine Sonnenblume befestigt, der Mann hat grau gelocktes Haar, das ihm fast bis auf die Schultern reicht.

»Hoffentlich suchen die sich einen Platz weit weg von uns«, knurrt Kevin, »ich hab die Schnauze voll von alten Meckerern.«

Das Paar geht über die Wiese, sie zeigt zum Waldrand hoch, er beschattet mit der Hand die Augen, folgt mit dem Blick der richtungsweisenden Hand. Sie wandern quer über die ansteigende Weide bis zum Waldrand hoch. Dort bleiben sie einen Moment stehen, schauen sich ein wenig um, machen ein paar Schritte in den Wald hinein und marschieren dann zum Sträßchen, das hinunter zum Flussufer und den geparkten Campern und Zelten führt. Die Straße, sie ist kaum mehr als ein Weg, ist vom Regen ausgewaschen und zerfurcht wie ein greises Gesicht. Sie folgen ihr die Böschung hinunter, zurück zu ihrem Bus, der Mann bückt sich wiederholt und schiebt große Steine zur Seite, die Frau hüpft neben ihm her.

»Aussichtslos«, brummt Matt.

»Ohne 4x4 kommste da nicht hoch«, bestätigt Kevin und nimmt einen großen Schluck aus der Dose.

Zurück beim Bus, öffnet der Mann der Frau die Beifahrertür. Mit federndem Schritt geht er um das Fahrzeug herum, nickt Matt und Kevin zu und hebt grüßend die Hand. Dann fährt er langsam die ausgefahrene Straße bis zum Waldrand hoch, steuert hier ein wenig nach rechts, in der nächsten Kurve etwas nach links.

Matt und Kevin haben sich aufrecht hingesetzt, ihre Augen folgen dem Bus, der sich Meter um Meter den Hügel hoch kämpft. Als der Van vor dem Waldrand rückwärts auf die Wiese gelenkt wird, erschlafft die erwartungsvolle Haltung der beiden Männer.

»Wie zum Henker…« murmelt Kevin und verstummt.

»Nimmste noch ein Bier?«, fragt Matt und holt, ohne die Antwort abzuwarten, zwei weitere Dosen aus der Kühltasche.

»Essen«, ruft wenig später Lea, Kevins Freundin. Kevin verabschiedet sich mit einem Nicken von Matt; Lea schöpft Kartoffelsalat auf zwei Teller, weist mit dem Schöpflöffel Richtung Wald und meint schnippisch:

»Offenbar ist es kein Ding der Unmöglichkeit, mit einem Camper da hochzufahren.«

Am Waldrand richten sich Sam und Helen häuslich ein. Die Markise wird montiert, das Schlafdach aufgestellt, die Fahrräder kommen hinter den Bus, Stühle und Tisch werden aufgeklappt, der Rasenteppich ausgerollt. Helen wickelt den Aprikosenkuchen, den sie frühmorgens gebacken hat, aus der Folie und stellt ihn auf den Tisch. Sie legt das rote Ringheft vor sich hin, streicht über die dunkelblauen Buchstaben. ‚Unterwegs‘ steht in Sams temperamentvoller Schrift geschrieben. Sie schaut von ihrer erhöhten Lage nach unten, wo etwa zwanzig Wohnmobile, Wohnwagen, Zelte und Busse wie hingewürfelt aus dem Grün der Wiese leuchten. Am Rand der Matte verläuft das schmale Sträßchen parallel zum träg dahinfließenden Fluss; etwa hundert Meter flussabwärts, kurz nach Maurice' Hof, führt eine Brücke übers Wasser, am gegenüberliegenden Ufer schmiegen sich die Häuser an die hügelige Landschaft.

Samuel demontiert eine Innenleuchte, die einen Wackelkontakt hat; Sam findet immer etwas zum Werkeln, er kann alles reparieren.

Helen schlägt das Heft auf und schreibt:

Kilometer 211’614 - 211’808

Abwechslungsreiche Fahrt über viele Umwege nach Soubey. Wir haben den schönsten Stellplatz in der höchstgelegenen Ecke der Wiese, direkt am Rand des Waldes ausgewählt. Unter uns schlängelt sich gemächlich der Doubs talabwärts, alles ist grün, die Wiesen, die Bäume, der Fluss. Am anderen Ufer des Flusses steht eine Handvoll Häuser, im Wasser wird gebadet und geplantscht, ich höre Kinderstimmen und eine Amsel trällert ihr Lied.

Sie legt den Stift beiseite und schaut Sam zu, wie er konzentriert die Kabel prüft und immer wieder den Schalter der Leuchte betätigt. Er wird es richten, da ist sie sich sicher.

Sie denkt, dass der hastige Kauf dieses Busses in mehr als einer Hinsicht eine lohnende Investition war.

Sam ist seit anderthalb Jahren in Rente. Er hat sich diesen Schritt unbeschwerter vorgestellt, sich auf den neuen Lebensabschnitt gefreut. Aber dann geschah die Sache mit Max, damit hat niemand rechnen können und er, Sam, hat buchstäblich den Boden unter den Füssen verloren. Das Leben ängstigte ihn, er fühlte sich nutzlos und haderte. Wozu sich abmühen, wozu diente dieses Leben, das eines Tages zu Ende sein wird? Es machte es nicht leichter, dass Helen an vier Tagen die Woche frühmorgens das Haus verlässt und zur Arbeit fährt und oft unter Dauerstress steht. Sie hatte seine Traurigkeit gespürt, es hatte sie bedrückt zu sehen, dass er von Monat zu Monat antriebsloser wurde. Auch sie hatte Angst bekommen. Um ihn und um sie beide, sie wollte den Reichtum ihres Zusammenseins nicht an seine Dämonen verlieren.

Im letzten Winter war es schlimmer geworden. Sie hatte den Verdacht, dass er halbe Tage verschlief, er nahm ihre Anrufe nicht entgegen, verpasste Arzt- und Zahlungstermine, vergaß, den Müll zu entsorgen. Er ließ das schmutzige Geschirr herumstehen und wenn sie Vorschläge für Ausflüge machte oder die Kinder einladen wollte, winkte er lethargisch ab, sagte ‚nicht jetzt‘ und verzog sich stundenlang in sein Arbeitszimmer, wo er weder las, noch Musik hörte oder sonst etwas tat.

Dann wurde Helen krank, eine äußerst schmerzhafte Nierenbeckenentzündung zwang sie ins Bett und ihn aus seiner trägen Lustlosigkeit. Zu der Entzündung gesellte sich nach kurzer Zeit eine Magen- Darmgrippe. Drei Tage verbrachte sie im Spital, zehn weitere schleppte sie sich daheim vom Bett zum Sofa, aufs Klo und wieder zurück ins Bett. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre er zusammengeschlagen worden, jede Berührung, jede Bewegung schmerzte. Sam umsorgte sie Tag und Nacht, er flößte ihr Tee ein, bereitete ihr, als sie Fieber hatte, Wadenwickel. Er massierte sanft ihre Schläfen und fütterte sie wie ein Kleinkind. Er brachte frische Blumen vom Markt, las ihr kurze, aufheiternde Geschichten vor und wenn sie sich völlig kraftlos und zerschlagen fühlte, hielt er sie fest und versicherte ihr, dass alles gut werde.

Als sie langsam wieder zu Kräften kam, schwappte die Coronawelle über die Schweiz und schlagartig betrachteten sie das Leben und die Zeit, die ihnen noch blieb, mit neuen Augen. In den folgenden Wochen wurde das öffentliche Leben weitgehend eingestellt. Geschäfte und Restaurants mussten schließen, es gab keine Konzert- oder Kinobesuche, keine Ausstellungen oder Sportanlässe, die Grenzen ins nahe und ferne Ausland schlossen. Vieles war von einem auf den anderen Tag nicht mehr möglich - bis anhin Unvorstellbares wurde Realität.

Helen empfand diese Beschränkungen als beengend. So vieles nicht mehr zu dürfen, versetzte sie nahezu in Panik. Innerhalb dieser engen Grenzen wollte sie Unabhängigkeit finden, jederzeit aus der Stadt in die Natur fliehen können. Etwas Neues wagen. Mit Samuel zusammen. Aber sie wusste nicht recht, wonach sie suchte und es blieb vorerst bei vagen Ideen.

Bis sie auf einem Spaziergang über Land bei einem Bauernhof vorbeikamen. In der Einfahrt stand ein alter Bus, hinter der Windschutzscheibe prangte ein Pappschild, auf welchem in großen, roten Buchstaben ‚zu verkaufen‘ stand. Als würden sie von einem Magneten angezogen, liefen sie zum Bus, sie umrundeten ihn, Helen strich über die aufgemalten Fliegenpilze, Sam versuchte, den Kilometerstand abzulesen. Sie schauten sich an, sie nickte, da lachten beide laut auf und er griff nach ihrer Hand. Es war Liebe auf den ersten Blick, abends waren sie glückliche Besitzer des Vans und Sam fand von einem Tag auf den anderen seine Lebensfreude und Energie wieder.

»Schau, Helen, sie funktioniert wieder!«. Samuels Worte reißen Helen aus ihren Erinnerungen. Samuel kippt den Lichtschalter begeistert hin und her, dann räumt er das Werkzeug weg, während sie den Kuchen aufschneidet und Wasser eingießt. Sie sind froh, spenden die Bäume Schatten, auf der Wiese unten sind alle der prallen Sonne ausgesetzt, es muss unerträglich drückend sein. Ein paar Kinder spielen Fußball, ein Mädchen tollt mit einem großen Hund herum, im Fluss plantschen Teenager, ihre Stimmen sind laut und ausgelassen. Dann werden sämtliche Geräusche von etwa zehn Motorrädern überlagert, die mit aufheulenden Motoren über die Brücke und die kurvenreiche Straße hinaufdonnern.

Am Nachmittag sucht Samuel große Steine und baut eine Feuerstelle, Helen sitzt im Schatten und schreibt an einem Gedicht. Eine friedliche Stille liegt über ihrem kleinen Lager, ein lauer Wind sorgt für etwas Frische.

Später schlendern sie durch das Dorf, es ist klein, eher Weiler als Dorf. Sie kaufen im einzigen Geschäft ein Eis und gehen an den Fluss. Das Wasser ist grün, ein Fisch springt in die Höhe, seine Schuppen glänzen kurz im Sonnenlicht, bevor er zurück in den Fluss gleitet. Sie suchen sich flussaufwärts ein beschauliches Plätzchen und gehen schwimmen. Es ist angenehm warm, es ist, als massiere das fließende Wasser die erhitzte Haut. Nach dem Bad lassen sie sich von der Sonne trocknen. Sie liegen nebeneinander auf der rotkarierten Decke und hinter den geschlossenen Lidern zucken goldene Blitze.

Auf dem Rückweg grüßen sie den jungen Mann, der vor seinem Zelt Holzkohle auf den Grill schichtet, die ältere Frau, die unter einem Sonnenschirm sitzt und strickt und den Mann neben ihr, der ein Kreuzworträtsel löst - oder ist es ein Sudoku? Samuel wirft den Ball, der ihm vor die Füße rollt, ein paar Buben zu, die braungebrannt in kurzen Hosen über die Wiese rennen und nickt Matt, der mit seiner Tochter Nelly Uno spielt, zu.

»Ich bin froh, haben wir unser ‚Haus‘ am Waldrand aufgestellt, hier unten brennt die Sonne unbarmherzig«, sagt Helen und pustet sich mit geschürzter Unterlippe Luft ins Gesicht. Das kastanienbraune Haar klebt ihr im Nacken, wenigstens bietet die breite Hutkrempe etwas Schatten, sonst würden ihre Sommersprossen regelrecht zu glühen beginnen.

Samuel hackt das Holz klein, das er in einem Jutesack von daheim mitgebracht hat, Helen hantiert in der kleinen Küche und bereitet eine Guacamole zu, bevor sie das weiße Leinentuch über den Tisch drapiert. Das Tuch ist mit einer breiten Spitzenbordüre versehen, ihre Großmutter hatte sie eigenhändig geklöppelt. »Mam«, Helens ältere Tochter Louisa hatte spöttisch den Kopf geschüttelt, »so etwas passt nun echt nicht auf einen Campingplatz, ich weiß nicht, was Ur-Omi dazu gesagt hätte.« Helen ist überzeugt, dass die Großmutter ihre helle Freude gehabt hätte, ihre Tischdecke an einem scheinbar so unpassenden Ort zu wissen.

Die Schatten klettern unaufhaltsam die Hügel hoch, Samuel öffnet die kleine Flasche Veuve Clicquot und sie stoßen an.

»Auf unser kleines Abenteuer in Soubey«, sagt Samuel und lächelt sie an, seine markante Nase ist von der Sonne gerötet, die grünen Augen strahlen, er strotzt vor Energie und das Glück ist ihm anzusehen. Wer hätte gedacht, dass ein kleiner, alter Bus einen Menschen so zu beeinflussen mag, denkt Helen.

Samuel holt den Wetzstein hervor, den er vor kurzem zusammen mit der Axt gekauft hat, und beginnt sorgfältig, die Schneide zu schleifen. Er zieht das Blatt in rhythmischen Bewegungen über den Stein.

»Du mit deinem neuen Spielzeug«, frotzelt Helen gutmütig.

Er grinst sie anzüglich an:

»Mein Herz, du weißt, ich mag es scharf.«

Er sieht, wie sie die Augen verdreht und denkt, dass sie die schönste Frau ist, die er kennt, und er sich nie an ihr sattsehen kann und wohl nie aufhören wird, sie zu begehren. Sie ist klein und zierlich, um Augen und Mund hat sie viele Fältchen, zu den Sommersprossen auf Gesicht und Armen haben sich ein paar Altersflecken gesellt. Er mag es, wie sie ihn ansieht, er mag es, wie sie seinen Namen ausspricht, er könnte ihr stundenlang zuhören, er liebt ihre Stimme. Sie findet sie zu hoch und zu grell; in seinen Ohren aber schwingt sie wie heller Glockenklang. Du bist und bleibst ein hoffnungsloser Romantiker, denkt er nachsichtig. Er fährt prüfend mit dem Daumen über den Kopf der Axt, er erhöht den Druck ein klein wenig und zuckt zusammen. Ein roter Tropfen Blut quillt aus dem winzigen Schnitt. Sam legt die Axt vorsichtig weg, Helen schüttelt missbilligend den Kopf, bevor sie plötzlich aufspringt.

»Kalle!«, ruft sie, klettert in den Bus und kommt kurz darauf mit einem ausgesprochen hässlichen Gartenzwerg unter dem Arm wieder heraus. Sie stellt den Zwerg, der eine überdimensionierte scharlachrote Nase hat, an den Rand des Rasenteppichs und streicht Samuel im Vorübergehen über den Arm.

Kalle ist ein Geschenk der Kinder. »Ihr seid echt zwei schräge Vögel«, hatte Lionel, Sams Sohn gesagt, als die Kinder - Helens Töchter mit Mann und Enkeln und Sams Zwillinge - sie auf dem Mont Vully besuchten, wo die erste Fahrt mit dem neuen, mobilen Zuhause hingeführt hatte. Dass sogar Vincent, Lionels Zwillingsbruder, mitgekommen war, hatte Sam besonders froh gestimmt. Vincent ist ein unsteter Geselle, er arbeitet mal als Skilehrer in den französischen Alpen, mal als Gehilfe bei einem Winzer in Italien, oder als Hilfsmatrose auf einem Frachter. In diesem Frühjahr aber war er in der Schweiz und hat seinem Bruder bei der Renovation des Restaurants geholfen, das Lionel gekauft hatte. Sie überreichten Helen und Sam zwei große Pakete, in einem war ein Set spezieller Campingpfannen, im anderen ein hässlicher Gartenzwerg. »Ein Gartenzwerg gehört nun mal zu Campern und auf einen Zeltplatz«, erklärte Vincent, er habe dieses beachtenswert unschöne Exemplar auf einem Antiquitätenmarkt in Luzern erstanden. Seither reist Kalle in seiner ganzen Hässlichkeit mit.

Helen schneidet Tomaten und Gurken klein und hüllt ein paar Kartoffeln in Alufolie, um sie später auf den Grill zu geben, Sam entfacht das Feuer und geht dann nach unten zum Hof. Maurice, der Vermieter der Plätze, ist ein freundlicher Mann, er zeigt Sam die sanitären Anlagen und wo die Abfälle entsorgt werden.

»Es wagen sich nicht viele die steile Straße hoch, aber du hast dir dort den besten Platz ausgesucht«, meint Maurice, der grundsätzlich jeden duzt, und schlägt Sam anerkennend auf die Schulter. Sam zuckt ob des kräftigten Schlags zusammen.

»Zudem hast du dort deine Ruhe«, Maurice Stimme wird ernst, als er nachdenklicher fortfährt: »Es hat sich in den letzten Jahren vieles verändert, nicht unbedingt zum Guten, das lass dich gesagt sein. Früher hat jeder seinen Müll entsorgt, den Platz sauber hinterlassen. Das ist heute nicht mehr so, ich muss ständig den Platz kontrollieren. Ich putze Scherben, Zigarettenstummel und sonst jede Menge Dreck weg. Anfangs Saison gab es gar Vandalismus. Irgendwelche Idioten haben bei mehreren Fahrzeugen die Luft aus den Reifen gelassen; Schmierereien an den Klotüren, Fäkalien unten am Fluss. Manchmal muss ich um zwei oder drei Uhr in der Früh für Ruhe sorgen, weil manche meinen, sie könnten hier die ganze Nacht hindurch Party machen. Ich musste auch die eine oder andere Auseinandersetzung schlichten und zwei Schlägereien beenden. Das gabs früher nicht. Ich habe den Eindruck, dass diese Pandemie die Leute noch dünnhäutiger macht. Aber egal, es gibt Dinge, die ich auf meinem Land nicht dulde! Mitunter frage ich mich, wie lange ich das noch machen will.«

Sam nickt mitfühlend, Maurice strafft die Schultern, lächelt wieder:

»Ach, was solls, ich will nicht jammern. Es ist ein wunderschönes Plätzchen hier, genießt es und wenn du was brauchst, weißt du, wo du mich findest«, und er schlägt Sam ein weiteres Mal freundschaftlich und heftig auf die Schulter.

Sam wirft die leere Champagnerflasche in den Müll, am Spülbecken steht Matt, der den zappelnden Silvan auf seinem Knie balanciert und versucht, ihm die Zähne zu putzen. Der Kleine windet sich und dreht immer wieder den Kopf weg.

»Dein Papa weiß, was gut für dich ist«, sagt Sam an das Kind gewandt. »Wenn du die Zähne nicht putzt, bekommst du Löcher, so groß wie ein Ei, und das tut so fest weh, dass du gar nicht mehr spielen oder Eis essen magst, glaub mir«, und er verzieht in gespieltem Schmerz das Gesicht. Silvan reißt die Augen auf, Matt lächelt gezwungen. Was quatscht der Alte ihn hier voll, der soll sich um seinen eigenen Kram kümmern und Silvan soll, verflixt noch mal, endlich stillhalten.

Samuel holt die beiden Champagnerkelche aus dem Kühler und spült sie sorgfältig. Er bemerkt Matts Blick und meint schulterzuckend:

»Champagner kann man nur aus Kristallgläsern trinken, alles andere wäre ein Verbrechen, oder?«

Er reibt die Gläser sorgfältig trocken.

»Genießen Sie jeden Moment mit Ihrem kleinen Sohn. Kinder sind etwas Wundervolles und die Zeit vergeht so schnell, im Handumdrehen sind sie erwachsen.«

Matt spült Silvans Zahnbürste, hebt den Kleinen auf seine Schultern und geht nach draußen. »Dämlicher Klugscheißer«, murmelt er leise kopfschüttelnd vor sich hin, während er mit langen Schritten zum Wohnmobil zurückeilt und Silvan sich an Papas Haar klammert. »Champagnergläser, wie bescheuert ist das denn, so ein Arschloch.«

Jenny flicht Nellys Haar zu kleinen Zöpfchen, Lea trinkt ein Glas Rotwein und lackiert die Zehennägel. Kevin ist unten am Fluss, er ist wieder einmal wütend. Aber sie, Lea, hat sich diesen Urlaub wahrhaftig anders vorgestellt und scheut sich nicht, es auszusprechen. Inzwischen sind sie seit zwei Tagen auf dieser gottverlassenen Wiese mitten im Nirgendwo, es ist heiß und staubtrocken. Es gibt in diesem Kaff keine Bars, nichts zu sehen oder zu kaufen und es hat weit und breit keinen Pool. Im Fluss wimmelt es von Fischen und das Wasser ist eklig grün. Die Nachbarn - Jenny, Matt und die Kinder - sind zwar nett, gleichwohl ist es sterbenslangweilig. Zudem hat es Mücken, und wo immer es Mücken hat, ist Lea ihre beliebteste Saugstation. Sie kratzt sich am Bein, wo just in diesem Moment wieder eines der Biester zugestochen hat, und nimmt einen weiteren Schluck Wein. Matt setzt sich zu den Frauen und als er Samuel vorübergehen sieht, sagt er:

»Wisst ihr, was dieser Kerl vorhin zu mir gesagt hat? Zuerst labberte er den Kleinen voll und dann meinte er, Champagner könne man nur aus Kristallgläsern trinken. Scheiße, stand da, wusch seine zwei Protz-Gläser und grinste mich dämlich an. Champagner! Frage mich, woher der kommt. Er spricht Deutsch, klingt aber eher wie ein Holländer oder Belgier.«

»Matt, bitte, keine Sch-Worte vor den Kindern«, mahnt Jenny.

»Ich hätte nichts gegen ein Glas Champagner«, meint Lea seufzend und denkt, dass ihr richtige Gläser erst recht gefielen. Diese bruchsicheren Kunststoffgläser und -teller hat sie allmählich satt. Sie schaut dem älteren Mann nach, wie er mit auffallend federndem Schritt die Böschung hinauf marschiert. Sein stahlgraues Haar ringelt sich unter seinem Panamahut, er trägt ein weites, hellblaues Leinenhemd. Ein Mann mit Stil, findet Lea, und sie wünscht sich einmal mehr, dass Kevin davon etwas mehr hätte.

Bis zum Eindunkeln füllt sich der große Platz zusehends. Im Viertelstundentakt suchen sich Wohnwagen, -mobile, Busse und Zelte einen Platz zum Übernachten. Einige kleine Feuer brennen, Fackeln, Lichtgirlanden und Taschenlampen leuchten im Dunkeln; vom Waldrand aus betrachtet sieht es beinahe so aus, als hätten sich Schwärme von Glühwürmchen niedergelassen.

Sam und Helen haben eine Fackel angezündet und über dem Eingang des Busses die Lichterkette montiert. Grillen zirpen, im Wald ruft ein Käuzchen, es riecht nach Gras. Helen rückt nahe neben Sam und legt ihren Kopf an seine Schulter.

So viel Glück, denkt sie, als sie später ins Bett klettern. Sie lauschen den nächtlichen Geräuschen aus dem Wald, zwischendurch sind von unten Stimmen zu hören, dann schlafen sie ein, ihre Hand liegt auf seiner Brust, über seinem Herzschlag.

Was Sam zu sagen hat - Donnerstag

Zeit meines Lebens bin ich ein Pfadfinder gewesen. Eine gute Tat jeden Tag, das war meine Devise. Altmodisch, ich weiß, aber so bin ich nun mal. Es muss keine großartige Tat sein, es reicht, einer alten Dame über die Straße zu helfen, dem Fremden den Weg zu weisen oder der Mutter mit dem Kinderwagen beim Einsteigen in den Zug behilflich zu sein. Kleinigkeiten halt, aber ich finde es wichtig, aufmerksam zu sein und freundlich.

Trotzdem habe ich jetzt diese Ungeheuerlichkeit begangen. Unentschuldbar wird sie mir für den Rest meines Lebens anhaften; nachts schrecke ich aus dem Schlaf, schweißgebadet, mit rasendem Herzschlag.

Dabei hatte alles so unbeschwert angefangen.

Corona war für mich ein Glücksfall - und ja, doch, ich weiß, wie dies in den Ohren vieler klingen muss. Aber wäre diese Pandemie nicht gewesen, wären wir nie auf die Idee gekommen, einen Bus zu kaufen. Wir hätten weiterhin unsere Städtetrips gemacht und wären ab und zu für ein, zwei Wochen ans Meer geflogen.

Unglaublich, wie schnell sich das Leben veränderte, innerhalb kürzester Zeit war nichts mehr wie zuvor und das ganze Land, die ganze Welt fast, hielt den Atem an. Nicht verwunderlich, bekam in dieser Zeit ebenso die eigene Endlichkeit eine neue Dimension. Sie wurde realer und es kann gut sein, dass uns da zum ersten Mal wahrhaftig bewusst wurde, dass mehr Lebenszeit hinter uns liegt als vor uns. Helen lässt sich ungern Grenzen setzen, Einschränkungen wecken in ihr sowohl Widerstand wie auch Lebensgier. Jetzt erst recht wollte sie etwas erleben und entdecken. Ihre Sehnsucht war wachgerüttelt worden, sie wollte Freiheit, Abenteuer, Unabhängigkeit. Zweifelsohne hat sie mich mit ihrem Wunsch angesteckt. Dieses Begehren nach mehr ... Nach mehr echt gelebter Zeit, nach bewusst gelebter Zeit. Wir hatten sie bereits vor Corona gehabt. Diese intensiv erlebte Zeit, Momente, die nur uns gehörten und uns noch mehr Verbundenheit und Nähe schenkten. Wir hatten sie seit jeher gehabt, aber sie gewann zusätzlich an Intensität in der Zeit von Corona. Wenn wir mit unserem Bus unterwegs waren, wurde die enger gewordene Welt für uns zwei weiter und grösser und ich fragte mich, ob Magie im Spiel war.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Die aufgemalten Fliegenpilze sprangen uns zuerst ins Auge und gleich darauf bemerkte Helen, dass selbst die Vorhänge in Farbe und Muster auf die Pilze abgestimmt waren. Als ich etwas später die Motorhaube öffnete und unter das Fahrzeug kroch, wusste ich: Das ist unser Baby. Vor über vierzig Jahren hatte ich die Ausbildung zum Automechaniker gemacht und ich habe mich zeitlebens selbst um meine Autos gekümmert, auch als ich diesen Beruf längst an den Nagel gehängt hatte und als Physiotherapeut und Masseur arbeitete.

Erst als das Auto bei uns in der Garage stand, ich von früh bis spät daran arbeitete, Leitungen kontrollierte, Motorenöl wechselte, Schläuche ersetzte, wurde mir klar, wie untätig und lustlos ich während Monaten gewesen war. Erst da begriff ich, wie nahe am Abgrund ich gelebt, und dass nicht viel gefehlt hatte, mich und Helen mit meiner Trübseligkeit zu ersticken.

Wir wurden zu Vagabunden, verbrachten die Wochenenden im Jura, im Berner Oberland, im Wallis, im Emmental. Kleine Abenteuer nur, aber wir wurden nie müde, Neues zu erkunden, und wir entdecken ebenso uns immer wieder neu.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich nicht nur die hässlichen Bilder jener Nacht, es gibt daneben - Gott sei Dank - andere Erinnerungen.

Die erste Fahrt führte uns auf den Mont Vully. Wir waren aufgeregt wie Kinder und ungeschickt, wie Anfänger es halt sind. Alle Handgriffe wollten gelernt werden, wir standen uns in der Enge des Autos im Weg, aber wir hatten eine Menge Spaß. Gegen Abend kamen die Kinder zu Besuch und brachten Kalle mit, den Gartenzwerg. Corona war allgegenwärtig und wir verzichteten auf zu viel Nähe, aber es tat wohl, die Kinder zu sehen. Ich war froh, dass auch Vincent, der ein eher unstetes Leben führt, in der Schweiz war und seinem Bruder bei den Umbauarbeiten des Gastbetriebs zur Hand ging. Veras Buben Leo und Luca wollten sämtliche Knöpfe im Bus drücken und an jedem Hebel ziehen, wir hatten alle Hände voll zu tun mit den Kleinen. Ich erinnere mich, wie wir abends zusahen, wie die Sonne unterging. Leo schlief warm zugedeckt auf einer Decke, Luca baute im letzten Licht des Tages mit seinem Papa einen Turm aus flachen Steinen. Ich betrachtete meine große Familie, begann bei meinen beiden Söhnen, die sich äußerlich ähneln wie ein Ei dem anderen, und doch so verschieden sind. Ich sah zu Lionels sanfter Frau Carmen, die, so glaube ich, mit leichter Hand und stiller Gelassenheit über Heim und Betrieb wacht. Ich betrachtete Helens Töchter Louisa und Vera. Louisa, die genauso geradlinig im Leben steht, wie die Häuser, die sie entwirft, und Vera, die in ihrer Mutterrolle und in ihrem Beruf als Lehrerin aufgeht. Und dann fing ich Helens Blick auf, nahm ihre Hand und drückte sie.

Was wäre mein Leben ohne sie?

Wie waren wir auf die Idee gekommen, nach Soubey zu fahren? Helen war als Kind oft im Jura wandern, ich kannte diese Gegend der Schweiz bis anhin schlecht. Ich bin gebürtiger Engländer und verließ meine Heimat zusammen mit Marlene, meiner zweiten Frau, als die Buben eingeschult wurden. Sie ist Deutsche, in England hatte sie sich nie heimisch gefühlt, es zog sie zurück in ihre Heimat und zu ihrer Familie. Wir wohnten in Konstanz, aber nach ein paar Jahren ging die Ehe in die Brüche, sie zog mit ihrem neuen Mann und den Kindern nach Strasbourg, ich fand eine Anstellung in Basel. Nach und nach bewegte ich mich in der Schweiz von Ost nach West und fand schließlich in Murten zu meiner Mitte. Lionel zog nach der Schule zu mir, um in der Schweiz eine Lehre als Koch zu machen - und er ist geblieben.

In jüngeren Jahren hatte es mich in meiner Freizeit ins Wallis oder ins Berner Oberland zu den wahrhaftig hohen Bergen gezogen. Nun aber entdeckte ich die Schönheit des Juras. Ich liebe die leicht hügeligen Weiden mit den mächtigen, dunklen Tannen und natürlich die Pferdeherden. Es hat mich berührt, über diese Weiten zu wandern, vorbei an friedlich weidenden Kühen und Pferden, hie und da streichelte ich eine weiche Pferdenase oder eine struppige Fohlenmähne. Mir gefallen die währschaften Häuser mit den dicken Mauern, die kleinen Weiler, die entlegenen Höfe, die gemütlichen Beizen und die bodenständigen Menschen.

Wir verfuhren uns mehrmals. Das stört uns nicht, es gehört mit zu unseren kleinen Abenteuern und ergibt sich zwangsweise, wenn man sich weigert, ein GPS zu benutzen, und sich anhand einer Karte orientiert, die dreißig Jahre alt ist. Auf diesen Fahrten stoßen wir oft auf prächtige Fleckchen, die wir auf direktem Weg nie entdeckt hätten.

Soubey entpuppte sich als reizendes kleines Dorf am Ufer des Doubs. Maurice, der Bauer, der auf seinem Land Übernachtungen anbietet, wohnt auf einem stattlichen Hof. Er ist ein freundlicher, gesprächiger Mann, aber als wir vorfuhren, hatte er keine Zeit. »Die Brote«, sagte er entschuldigend, öffnete die Ofenklappe und nahm die duftenden Laibe heraus. Er werde mir alles Nötige später zeigen, meinte er.

Wir machten halt am Rand der Wiese, auf der ein gutes Dutzend Fahrzeuge parkten und einige Zelte standen. Die wenigen Schattenplätze waren belegt, die Sonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel.

»Können wir nicht am Rand des Waldes unser Lager aufschlagen?«, fragte Helen. Ich schaute nach oben, hatte indes meine Zweifel, hochfahren zu können, aber es konnte nicht schaden, sich die Sache aus der Nähe anzuschauen. Am Waldrand war es wesentlich kühler, ein sanfter Wind spielte in den Blättern der Bäume und dem hohen Gras.

»Was meinst du?«, fragte Helen aufgeregt.

Ich schlage ihr nur ungern einen Wunsch ab. Wir gingen die ausgewaschene Schotterstraße zurück nach unten, ich schob die größten und spitzesten Steine zur Seite.

Es könnte gehen, es könnte gehen, dachte ich, versuchen wir es!

Mit Fingerspitzengefühl und sachtem, ausgewogenem Druck aufs Gaspedal schlichen wir im Schneckentempo die Böschung hinauf. Ich glaube, Helen hielt die ganze Zeit über den Atem an, vergewissern konnte ich mich indes nicht, mein Blick klebte auf der Straße.

»Ist es nicht paradiesisch hier«, rief Helen und umarmte mich stürmisch, als ich den Motor ausschaltete. Ich nickte, blickte hinunter auf den trägen Fluss und dachte, dass es im Himmel nicht schöner sein kann.