Vielleicht später - Karin Ledermann - E-Book

Vielleicht später E-Book

Karin Ledermann

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Beschreibung

Weggehen, alles hinter sich lassen - ein Gedanke, den viele kennen. Aber wer, so frage ich Sie, setzt diese Fantasie in die Tat um? Losfahren, ohne Ziel, ohne Plan, ohne Gepäck, sich aufmachen, zu einer Reise ins Unbekannte. Soraja wagt es. An einem kalten Januarmorgen fährt sie los und ihre Reise ins Unbekannte, Ungewisse nimmt ihren Anfang. Nebst einem kleinen Koffer und der Fotoausrüstung hat sie ihre Ängste mit im Gepäck. Die Angst, Gesundheit, Arbeit oder Parntner zu verlieren, die Furcht vor dem Altern, dem Alleinsein, und das beklemmende Gefühl, im Leben zu viel verpasst und falsch gemacht zu haben. Sie strandet schliesslich auf Sylt, wo sie sich mit einer jungen Frau und deren kleinen Sohn anfreundet. Die Freundschaft fordert beide Frauen heraus, sich mit ihren Wünschen, Ängsten und ihrer Rolle als Frau und Mutter auseinanderzusetzen. Die wilde Schönheit der Insel ist für die Fotografin Soraja Herausforderung und Erfüllung zugleich. Sie bekommt Aufträge, sie hat Erfolg. Ist sie doch nicht nur die Versagerin, als die sie sich stets sah? Soraja lernt, auf sich zu vertrauen, erkennt ihre Stärken, legt Schuldgefühle ab und lässt Enttäuschungen los. Sie begreift, dass es nie zu spät ist, Neues zu wagen und Lebenslust und Neu-gier nicht an ein Alter gebunden sind. Es ist eine Reise, die Soraja zu sich selber führt.

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Für Roger…

…weil ohne dich alles anders wäre und weil das Leben mit dir so viel reicher ist…

Und für Maël und Théo…

…denn ihnen gehört die Zukunft…

Inhalt

Prolog

Aufbruch

Goms

Annecy

Mâcon

Am Flughafen

Sylt

Am Flughafen

Prolog

Albträume.

Jede Nacht kämpft sie sich aus dem Schlaf, erwacht schreiend und schweißgebadet. Steht auf, knipst das Licht an, schlurft durchs Haus.

Früher, als die Kinder klein und Pierre nie daheim war, überprüfte sie, ob Türen und Fenster geschlossen waren, fürchtete sich vor dem Draußen. Heute läuft sie durch die leeren Räume, schaltet das Licht ein, steht am Fenster, schaut auf die dunkle Straße. Die Gefahr lauert nicht im Außen, sie ist in ihr.

Das Gefühl, es nie geschafft, nie genügt zu haben. Das Versagen ist ihr ständiger Begleiter. Wenn sie sich zurück ins Bett legt und versucht zu lesen, ergeben die Worte keinen Sinn. Aber was ergibt überhaupt einen Sinn?

Aufbruch

Soraja hasste die kurzen Winterjanuartage. Der Dezemberglanz war Vergangenheit, die weihnachtlichen Lichter erloschen, die Festessen wollten verdaut, die angefressenen Kilos abgespeckt und der verpasste Schlaf nachgeholt werden. Die Auslagen in den Geschäften ließen jegliche Pracht vermissen, Ausverkauf war angesagt, alles musste zu täglich tieferen Preisen weg. Die Menschen wirkten missmutig, blass und kalt wie das Wetter, erschöpft, als lastete das neue Jahr zentnerschwer auf ihren Schultern.

Die Tage über Weihnachten und Neujahr hatte sie vorwiegend alleine verbracht. Raphael war auf Skitour in Norwegen, mit Kindern und Enkelin hatte Soraja Weihnachten gefeiert, Silvester lag sie mit einer Erkältung im Bett und dann hustete sie sich ins neue Jahr.

Die ersten beiden Arbeitswochen lagen hinter ihr und heute fiel der Schnee in dicken Flocken bis ins Flachland. Sie googelte ihr Jahreshoroskop, es versprach, ein erfülltes, erfolgreiches Jahr zu werden für die im Zeichen des Krebses Geborenen. Sie hatte ihre Zweifel.

Im Nachbarhaus rechts begann das Baby zu schreien. Soraja stellte die Musik lauter. Sie wohnte in der Altstadt in einem hohen, schmalen Haus, eingequetscht zwischen zwei stattlicheren. Als sie vor mehr als zehn Jahren einzogen, waren sie begeistert, ein Haus für sich allein zu haben. Ein kleines, bescheidenes Häuschen mit einem teppichgroßen Garten, an der Rückseite des Hauses klebte ein winzig kleiner Balkon. Keine Nachbarn unten und oben - dafür links und rechts. In das Weinen des Babys mischte sich das trotzige Gebrüll des Dreijährigen, im Nachbarhaus links antwortete der Hund mit Gebell.

Es war unerträglich, Soraja hätte gerne mitgeschrien.

War sie lärmempfindlicher geworden oder lag es am neuen Jahr, das sich fremd anfühlte, unbequem - wie zurzeit ihr ganzes Leben.

Sie musste raus! Sie schlüpfte in warme Stiefel und eine dicke Jacke, suchte Schal, Mütze und Handschuhe zusammen und steckte ihre kleine Kompaktkamera in die Tasche. Ein letzter Blick in den Spiegel. Eine große, schwere Frau schaute sie aus blauen Augen an. Das kurze, dicke Haar schwarz gefärbt, die Haut winterblass, mit Ausnahme einiger Fältchen rund um die Augen noch glatt. Nicht dünn zu sein, dachte Soraja, brachte den Vorteil, dass Falten unter Fleisch und Fett besser kaschiert wurden. Sie lächelte sich halb belustigt, halb mitleidig zu, schloss die Tür und tappte die Treppe hinunter, die Knie schmerzten.

Schnee fiel in dichten Flocken, der Weg am Seeufer entlang war von keinen Fußspuren durchzogen. Wasser, See und Himmel - eine Komposition in Grau.

Sie hatte kein Auge dafür.

Die Füße waren schwer und träge, wie ihr Kopf und ihre Gedanken. Das altbekannte Gefühl plagte sie, ihr gelänge nichts im Leben. Weder Arbeit, Liebe, Familie, weder das Fotografieren noch das Dichten. Nirgends war sie erfolgreich.

Hör auf, schalt sie sich, versink nicht in Selbstmitleid, untersteh dich. Du hast einen fantastischen Mann, großartige Kinder und eine Enkelin, du hast einen Job - was nicht selbstverständlich ist in deinem Alter - du hast ein Hobby, das dich ausfüllt und ein paar Freunde. Viele sind es nicht, es ist dir nie gut gelungen, Freundschaften zu pflegen. Du bist gesund. Rücken und Knieschmerzen hat in deinem Alter jeder, und wir wissen alle, dass die Sehkraft abnimmt und das Gehör - das ist normal. Meine Liebe, reiß dich am Riemen, es gibt keinen Grund zu jammern. Sie nahm die Kamera, konzentrierte sich auf ihre Umgebung, versuchte erfolglos, das Grau und die sanfte Stille einzufangen.

Sie war nicht in Stimmung.

Missmutig klaubte sie ihr Handy aus der Tasche, schoss ein Selfie und titelte es: die Unzufriedene.

Nachts kamen die Träume. Wieder stand sie auf einer großen Wiese. Blühender Löwenzahn, das Summen von Bienen, die Wiese umgeben von mächtigen, dunklen Tannen. Sie stand inmitten von Gras, Blumen, Duft und Summen, es war warm und sie hatte Angst. Die bedrohlich schwarzen Bäume wuchsen in den Himmel, verdeckten die Sonne, rauschten, ächzten, bogen sich, rückten näher, streckten ihre Äste nach ihr aus.

Stöhnend und schweißnass erwachte sie, knipste das Licht an, zähmte das galoppierende Herz und den keuchenden Atem, schaltete alle Lampen in der Wohnung und den Laptop ein.

Sie las den Wetterbericht und ihr Tageshoroskop, öffnete ihre Homepage und überprüfte, ob jemand sie in den letzten Tagen besucht hatte. Zwei Personen hatten ihre Site - womöglich aus Versehen - angeklickt. Eine deprimierende Bilanz.

Sie gab Suchbegriffe ein wie Fotoshooting, Foto und Gedicht, ich knipse Sie ins beste Licht, Fotokurse, Fotografie, Fotoporträt und -akt. Sie stieß auf Fotografen und Fotografinnen, die selbstbewusst ihre Fähigkeiten anpriesen, auf Triumphe, Trophäen und Auszeichnungen, auf Auftragsarbeiten und Ausstellungen verwiesen.

Sie verschlang Bilder und Informationen. Und fühlte, wie sie kleiner und kleiner wurde, immer blasser und bedeutungsloser.

Sie war nicht gut genug.

Sie kroch zurück ins Bett, schlug ihren Roman auf, las ein paar Seiten. Die Heldin langweilte sie, die ganze Geschichte ödete sie an. Sie legte das Buch zur Seite, irgendwann fielen ihr die Augen zu. Derselbe Traum wiederholte sich und erneut schreckte sie mit wild klopfendem Herzen aus dem Schlaf.

Sie kochte eine Tasse Milch, rührte Honig hinein, schlürfte das eklig süße Getränk in kleinen Schlucken. Ihre Großmutter hatte ihr diesen Trank vorgesetzt, wenn sie als Kind nicht schlafen konnte.

Das Nachbarskind begann zu greinen, der Nachbarshund antwortete. Soraja hielt sich die Ohren zu. Es half nicht, der Lärm verbiss sich in ihr.

Sie legte sich ins Bett, schloss die Augen.

Du hast ein gutes Leben, sagte sie sich.

Aha, flüsterte eine kleine Stimme, bist du sicher.

Ja.

Ich könnte fort.

Der Gedanke war da, aufgetaucht aus dem Nichts, groß, fordernd, deutlich vernehmbar.

Die innere Gouvernante schnappte - für einmal sprachlos - nach Luft.

Packen, überlegte Soraja laut, ihre Stimme klang aufgeregt, die Tür hinter mir abschließen und wegfahren.

Leben.

Endlich. Mein Leben leben.

Nicht stumpfsinnig hier hocken und warten. Darauf, dass Raphael heimkommt, dass ich pensioniert, dass ich alt oder krank werde, dass ich sterbe.

Bisher habe ich nichts erreicht, nichts aus mir gemacht. Nicht gelebt.

Erregt setzte sie sich im Bett auf, sie fühlte ein Kribbeln im ganzen Körper. Sie trat vor den Spiegel, streifte das Nachthemd über den Kopf; musterte sich von Kopf bis Fuß. Sie sah eine ältere Frau ohne Taille, mit schweren Brüsten und einer blassen Narbe am Unterbauch. Kaiserschnitt. Es war ihr nicht gelungen, ihre Kinder natürlich zur Welt zu bringen - nicht einmal das hatte sie hingekriegt. Dicke Oberschenkel, Cellulitis, Besenreiser, Füße, die nicht aufhörten zu wachsen und immer platter wurden.

Raphael liebte ihre Rundungen, ihre weiche Haut.

Raphael.

Sie liebte ihn, aber der Gedanke an das gemeinsame Leben war mit Ängsten behaftet. Wie würde es sein, mit ihm älter zu werden, ihn möglicherweise später pflegen zu müssen oder - weit schlimmer - sich von ihm pflegen lassen. Irgendeinmal ohne ihn sein.

Ihr Herz klopfte, beständig, treu.

Mutig sein, Mut haben - einmal.

Es war vier Uhr früh, Kind und Hund waren still, nur der Wind war zu hören, er fegte über die Dächer, der Schnee war in Regen übergegangen.

Es war Zeit aufzubrechen.

Erregt, wie im Fieber, zog Soraja sich hastig an, verbot sich zu denken; sie summte laut, um alle lästigen und unbequemen Gedanken zu übertönen. Die Jeans spannte über den Hüften. Eine Jeans war in Ordnung, egal, wo sie hinginge. Mitten in der Bewegung hielt sie abrupt inne.

Wohin wollte sie?

Stopp. Nicht jetzt, nachdenken würde sie später.

Nicht den Mut verlieren, bloß nicht aufgeben.

Sie zog den kleinen Koffer vom Schrank. Was sollte sie einpacken?

Sie stopfte ein paar Shirts, Pullis, Unterwäsche, Jeans und ihren Kultbeutel in den Koffer, obendrauf legte sie ihr Lieblingsbuch, eine leichte und eine warme Jacke. Dann überprüfte sie, ob die Fototasche komplett war.

Was machst du?, fragte sie sich fassungslos, als sie die Tür sachte hinter sich ins Schloss zog.

Sie saß im Auto, regungslos.

Atemlos.

Es war dunkel und still. Sie suchte ihr Handy, machte ein Bild von sich, nannte es: Sora, die Auf- oder Ausbrechende. Sie startete den Motor mit zitternden Händen.

Du musst erst in zwei Tagen zur Arbeit, beruhigte Soraja sich, Zeit genug, dich anders zu besinnen.

Sie legte den ersten Gang ein, im Rückspiegel wurde ihr schmales Haus kleiner, bis es nur mehr ein winziger Punkt war und verschwand.

Sie chauffierte aus dem Städtchen heraus, hielt an der ersten Kreuzung an. Dummkopf, schalt sie sich, du hast keine Ahnung, wo du hinwillst. Die Gouvernante forderte sie mit schriller Stimme zur sofortigen Rückkehr auf.

Sora erinnerte sich, wie ihre Eltern, als sie klein war, einen etwas ausgefallenen Ausflug geplant hatten. Sie saß mit den Geschwistern auf der Rückbank des Autos und bei jeder Kreuzung entschied eines der Kinder, ob der Vater rechts oder links abbiegen sollte. Zuerst amüsierten sie sich, aber merkwürdigerweise kamen sie nicht vom Fleck und nachdem sie nach einer halben Stunde zum zweiten Mal dieselbe Straße entlangfuhren, brachen sie das Spiel ab. Ob mich dieses Erlebnis nachhaltig geprägt hat, fragte sie sich jetzt, während sie noch immer an der Kreuzung wartete und nicht wusste, welche Richtung sie einschlagen wollte. Habe ich damals verinnerlicht, immer wissen zu müssen, wo mein Weg hinführt? Sie dachte an ihren Bruder, er war vor ein paar Jahren gestorben. Krebs, ein langsamer, grausamer Tod. Zurückgeblieben waren ihre Schwestern und sie, sie war das jüngste Kind. Ihre Schwestern sahen sich regelmäßig und pflegten eine enge Beziehung zueinander. Soraja liebte die Beiden, aber sie teilte nicht diese tiefe Verbundenheit und auch ihr Bruder war ihr nicht sehr nahegestanden.

Beziehungsunfähig, schimpfte Soraja mit sich, aber das war weder neu, noch gehörte es hierher.

Links oder rechts, nach Süden, Westen, Osten oder Norden?

Entscheide dich. Wohin soll die Fahrt?

Wie hätte sie es wissen sollen, sie kannte nichts von der Welt, es hatte sie nie in die Ferne gezogen. Sie war keine Abenteurerin, nicht getrieben von Neugier.

Eine langweilige Frau mit einem langweiligen Leben.

Was nicht hieß, dass sie verpflichtet war, langweilig zu bleiben.

Was suchst du, was willst du entdecken, was willst du erleben? Mach Pläne!

Nein, sie wollte nichts planen, nicht jetzt und nicht in naher Zukunft.

Fahr, befahl sie sich und versuchte, die Stimme im Kopf, die ihr zuflüsterte, sie könne jederzeit umkehren, zum Schweigen zu bringen.

Die Straße gehörte ihr - und wer weiß, vielleicht sogar das Leben.

Sonntagmorgen, halb sechs in der Früh, es schneite erneut, kleine Flocken, die zu einem weißen Teppich verschmolzen. Soraja fuhr langsam, im Auto war es angenehm warm.

Keine Verpflichtungen, sie musste nichts.

Neuchâtels Straßen waren menschenleer. Rechts abbiegen Richtung Jura oder geradeaus?

Die Autobahn meidend fuhr sie am Seeufer entlang durch verschlafene Dörfer, vorbei an Yverdon Richtung Lausanne und dann durchs Rohnetal. An einer Raststätte machte sie Halt, trank Kaffee, kaufte ein Sandwich, bezog am Bankomaten so viel Bargeld wie möglich. Auf der Weiterfahrt drehte sie die Musik auf, sang mit, laut und entsetzlich falsch.

Nach Leukerbad oder Haute Nendaz, Saas Fee oder Zermatt? Vorbei an Sitten, Visp und Brig. Einbahnstraße ins Goms. Soweit ins Tal hinein, bis es kein Weiterkommen mehr gab. Zuhinterst im Tal fuhr sie an einem schmucken Holzhaus vorbei und bemerkte im letzten Moment das Schild an der Hauswand mit der Aufschrift 'bed and breakfast'. Es war ein sehr altes Haus, die Holzfassade verwittert, fast schwarz, die Fenster neu, klein wie Schießscharten. Soraja hielt an, lief um das Haus herum, klingelte entschlossen.

Ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht und buschigem Bart öffnete die Tür.

»Guten Tag«, grüßte Soraja, »ich habe das Schild gesehen«, sie wies mit der Hand Richtung Hauswand, »haben Sie freie Zimmer? «

Der Alte schüttelte den Kopf und Soraja ließ enttäuscht die Schultern sacken.

»Ich weiß nicht. Die Jungen sind im Urlaub, ich schaue hier nur nach dem Rechten - und nach der Katze. Es gibt kein Zimmer, nur eine Wohnung. Aber ich weiß nicht recht«, wiederholte er, »also mit dem Frühstück ist sicher nichts, dafür müssten Sie selber sorgen.«

Soraja setzte ihr freundlichstes Lächeln auf:

»Frühstück mache ich gerne selber, kein Problem.«

Der Mann musterte sie ungeniert von oben bis unten.

»Wie lange wollen Sie bleiben?«

»Eine Woche«, hörte Soraja sich sagen. Ihr Herz raste und sie brachte die Gouvernante, die in Protestgeschrei ausbrechen wollte, zum Schweigen.

»Wenn Sie möchten, füttere ich die Katze. Ich liebe Katzen«, fügte sie etwas atemlos hinzu und schämte sich nicht, bezüglich ihrer Katzenliebe gelogen zu haben.

»Kommen Sie rein«, forderte der Alte sie auf und trat zur Seite.

Im Erdgeschoss befand sich eine hübsche Küche mit Essecke, eine steile Stiege führte in den ersten Stock, wo sich ein Zimmer und ein Bad befanden. Im Zimmer stand rechts ein breites Bett, Laken und Kissen steckten in rot-weiß karierten Bezügen, am Fenster lud ein breiter, bequemer Sessel zum Nichtstun ein, auf einem kleinen runden Tischchen davor lagen ein paar Zeitschriften und die linke Wand zierte ein schmaler, handbemalter Schrank. Das Bad war winzig, ausgestattet mit flauschiger rot-weiß gestreifter Frotteewäsche, alles wirkte gemütlich und sauber und als sie aus dem Fenster schaute wusste sie, dass sie hierbleiben musste. Etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt verlief die am Ufer der Rotten entlangführende Langlaufloipe.

»Ich weiß nicht«, zögerte der alte Mann erneut, »vielleicht frage ich meine Tochter, ob es ihr recht ist.«

Er rief seine Tochter an und Soraja drückte sich selber instinktiv die Daumen. Hier wollte sie bleiben, wo sonst hätte sie hingehen können? Schließlich hielt der Alte ihr den Hörer hin. Soraja stellte sich der jungen Frau vor. Ja, natürlich bereite sie sich das Frühstück selbst zu und nein, selbstverständlich feiere sie keine Partys, weder wilde noch andere und die Katze werde sie mit dem größten Vergnügen füttern und dem Vater den täglichen Weg zum Haus ersparen.

Soraja stapelte ihre Kleider in den Schrank, beglückwünschte sich, letzte Woche die warmen Winterstiefel im Kofferraum des Autos vergessen zu haben und spazierte ins Dörfchen, um das Nötigste einzukaufen. Sie räumte Milch, Butter, Käse, Eier in den Kühlschrank, verstaute Teigwaren, Linsen und Schokolade im Schrank, packte das Gemüse und den Wein fort und rief vergeblich nach der Katze.

Goms

Sie schritt durch die kleine Wohnung, einige Holzdielen knarrten, wenn sie darauf trat, die Heizung summte, ab und zu hörte sie Satzfetzen der vorbeigleitenden Langläufer. Sie setzte sich in den Sessel am Fenster und fotografierte sich. Sie nannte das Bild: Angekommen oder auf der Flucht.

Sie war müde.

Durch das kleine Fenster schien die Sonne, sie drehte den Sessel ins Sonnenlicht, spürte die Wärme auf ihrer Wange, hinter den geschlossenen Augenlidern tanzte funkelndes Licht, in ihren Ohren summte die Stille.

Raphael. Alle zwei, drei Tage telefonierten sie. Er war in Norwegen, Skifahren und Skiwandern rund um den Lyngen Fjiord. Kalt war es dort, es hatte Schnee - viel Schnee. Wie nun auch bei ihr, dabei zählte der Winter nicht zu ihren Lieblingsjahreszeiten. Raphaels Stimme klang glücklich, wenn er anrief. Glücklicher, so kam es ihr vor, als wenn er neben ihr auf dem Sofa saß.

Zuweilen fragte sie sich, ob sie ihm zu bieder war, zu wenig aufregend. Langweilte er sich mit ihr? Er hatte gelacht, als sie ihn gefragt hatte. Langweilig, du?, hatte er erstaunt gerufen.

Sie sorgte sich zu viel, zu oft, zu unnötig.

Er liebte sie.

In Norwegen lockte ihn das Abenteuer, die pralle Natur rund um ihn herum, die Freude an der Bewegung und der Kälte. Es war der knirschende Schnee unter seinem Schuh und die Weite des Himmels, die seiner Stimme einen fröhlichen Klang verliehen, wenn er mit ihr sprach.

Er würde sich sorgen, wenn er sie nicht erreichte. Sie schriebe ihm eine SMS, nahm sie sich vor und formte in Gedanken Worte zu Sätzen, während ihre Lider schwerer wurden und sie einschlief.

Bin unterwegs und schlecht erreichbar, tippte sie schließlich die SMS an Raphael. Heute war Sonntag, bis Dienstag früh würde niemand sie vermissen.

Es war zu viel und zu wenig.

Sie war weggefahren, eine ziellose Fahrt - zu viel, um es zu erklären.

Sie war weggefahren, eine ziellose Fahrt - zu wenig, um es zu erklären.

Unvorstellbar, unerklärbar, unverzichtbar, unverzeihbar.

'Amüsier dich. Ich hab dich lieb, Sora', fügte sie hinzu, mehr wusste sie nicht zu schreiben.

Sora, das war sie. Ihre Schwestern hießen Monika und Sibille, der Bruder Christoph. Warum nur hatten die Eltern ausgerechnet für sie einen so ausgesprochen hässlichen Namen gewählt? Sie kannte niemand sonst, der Soraja hieß. Warum hatten ihre Eltern sie nicht Marianne, Verena, Christine oder Barbara getauft? Du heißt Soraja, hatte der Vater zu ihr gesagt, weil du etwas Besonderes bist. Sie war Papas Liebling gewesen, das Nesthäkchen, aber das hatte sie erst viel später begriffen und wahrscheinlich war das der Grund, dass sie ihren Geschwistern nicht näherstand. Wenn sie an ihre Kindheit zurückdachte, hatte immer auf der einen Seite Mama, Monika, Sibille und Christoph gestanden und auf der anderen Seite Papa und sie. Beim Wandern zum Beispiel, waren sie und Papa vorausgegangen, im Zoo hatten sie und Papa die Eidechsen und Fische bestaunt, während Mama und die Geschwister zuschauten, wie die Löwen gefüttert wurden. Beim Bräteln im Wald beobachteten Papa und sie den Ameisenhaufen und Mama suchte mit den anderen Holz. Wenn die Schwestern mit Mama einkaufen gingen, Christoph auf dem Fußballplatz war, spielte Sora Scrabble mit dem Vater.

Papa war seit langem tot. Mama starb, kurz nach Christophs Tod, an gebrochenem Herzen. Sie war leise gegangen und zuweilen wünschte sich Soraja, sie hätte die Mutter besser gekannt.

Soraja, für Geschwister und Freunde meist Sora. Sora. Nichtssagend, ohne Melodie. Sooora. Schnell ausgesprochen, wird das a zuweilen verschluckt. Dann bleibt Sor oder Soor. Soor, eine Candidose, eine Pilzinfektion, Säuglingssoor, Genitalsoor, Mundsoor. Soor, Sor, Sora, Soraja.

Sie schlief, traumlos, tief.

Lange Schatten lagen im Zimmer als sie erwachte, sie fröstelte, zog einen weiteren Pullover über und entschloss sich zu einem Spaziergang.

Der Fußweg führte der Rotten entlang. Am Ufer windete sich um Birkenäste und Büsche hauchzart und filigran eine Schicht aus Eis, das Wasser im Bach gurgelte, plätscherte, sang und sprang. Immer wieder blieb sie stehen, überlegte, wie es ihr gelänge, den Zauber dieser Winterlandschaft im Bild einzufangen. Worte tanzten durch ihren Kopf: sachte, klirrend, zerbrechlich, gleißend, lebendig. Elementar, ursprünglich, weiß, kraftvoll, Stein, Himmel und Weite.

Fotografieren und dichten. Mehr begehrte sie nicht. Die kleine Stimme höhnte: Freilich willst du mehr, viel mehr. Gesundheit, Liebe, Sicherheit; um nur ein paar deiner Wünsche herauszugreifen.

Am Ende des Tals, dort, wo eine mannshohe Mauer aus Schnee jedes Weiterkommen verunmöglichte, kehrte sie ein, trank einen Becher heißen Glühwein. Der Wein machte sie schwindlig.

Auf dem Rückweg tanzten rote und gelbe Sterne vor ihren Augen; wenn sie ausatmete, bildeten sich weiße Wölkchen. Die Sonne tauchte das Schneefeld auf der gegenüberliegenden Talseite in helles Licht. Soraja blieb stehen, betrachtete die weite Fläche, sie glänzte wie steifgeschlagenes Eiweiß. Sie entdeckte im Schnee die Spuren eines Fuchses, später Reh-, Hundetatzenund Schuhspuren - sie war nicht allein.

Daheim fütterte sie die Katze, die vor der Tür wartete. Die Katze entpuppte sich als großer, dicker schwarzer Kater, der auf den Namen Mephisto hören sollte - es aber nicht tat. Nach dem Fressen rollte er sich in der Küche in seinem Korb zusammen, Sora streichelte über das dicke Fell, sein tiefes, zufriedenes Schnurren wirkte tröstlich.

Das Buch im Buch - das Tagebuch

Der Kater heißt Mephisto. Ich bin im Goms.

Als ich jung war, schrieb ich Tagebuch, eine Gewohnheit, die ich vor Jahren, nein, Jahrzehnten, aufgegeben habe; weshalb, weiß ich nicht mehr, ebenso wenig, wo die Bücher geblieben sind. Vermutlich habe ich sie bei einem der vielen Umzüge weggeschmissen, mir gedacht, es sei Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen - Zeit, Ballast abzuwerfen. Aber vielleicht fristen sie im Estrich in einer Kiste ein trübes Dasein, vergammeln, verstauben, die Schrift verblasst, löst sich auf. Als Kind bekam ich ein Tagebuch mit einem kleinen Schloss geschenkt, den Schlüssel versteckte ich im Kopf meiner Lieblingspuppe. Die Puppe war schwarz, ihr Kopf ließ sich leicht vom Hals fortdrücken. Als ich Tagebuch schrieb, war ich längst zu groß, um mit Puppen zu spielen, also saß sie auf dem Bücherregal; die Hüterin des Schlüssels. Später habe ich Puppe und Schlüssel wohl auch weggeworfen. Wann hatte ich zum letzten Mal an das Püppchen gedacht? Es liegt lange zurück, es wäre nett, es jetzt hier zu haben.

Ich sitze in einem gemütlichen Sessel in einer kleinen Wohnung mitten im Nirgendwo im Goms - brauche ich einen Psychiater? Was zum Teufel habe ich mir gedacht, was habe ich angestellt? Bin ich wahnsinnig? Ich mietete diese Wohnung für eine Woche. Ich habe keine Woche Zeit, ich bin eine berufstätige Frau mit Verpflichtungen.

Sonntagabend. Am Dienstag arbeite ich, Frühschicht. Am Mittwoch habe ich einen Arzttermin, am Donnerstag hüte ich Amelia. Ich bin eine vernünftige Frau. Eine Frau mit Beruf, Terminen, Familie.

Das stimmt, das alles bin ich.

Aber ich bin mehr.

Ich bin die Frau, die Angst hat. Soll ich anfangen aufzuzählen?

Die Zahl meiner Ängste ist Legion, eine ist zur anderen gekommen und jetzt habe ich das Gefühl, sie nicht länger tragen zu können. Letzten Endes gibt es einen Grund, dass ich hier bin und alles hinter mir zurückgelassen habe. Flucht.

Die Gouvernante ist mitgekommen.

Die fiese Stimme in meinem Kopf versucht, sich vorzudrängeln, hat tausend Ratschläge und ebenso viele Vorwürfe auf Lager. Schweig, Klugscheißerin und wisse, dass du dich bis zum heutigen Tag nicht ein einziges Mal als hilfreich erwiesen hast.

Die eklige Stimme hat mich tagsüber wiederholt gemahnt, mit mir geschimpft. Fahr heim, hatte sie gefleht, befohlen, gebettelt. Die rechthaberische und strenge Stimme, die weiß, was sich gehört, die weiß, wohin ich gehöre, die meine Aufgaben, meine Verpflichtungen kennt.

Ich ertrage sie nicht länger, schweig, schweig, sei endlich still.

Ich kann zurück. Morgen die Miete für eine Woche zahlen und nach Hause. Niemand wird es je erfahren, es wird sein, als wäre nichts gewesen.

Aber ich wüsste es.

Schaute jeden Tag in den Spiegel, läse in meinen Augen die Wahrheit: Wieder versagt, wieder den anspruchslosen, ungefährlichen Weg eingeschlagen, wieder nichts verändert - Hamster, renn weiter in deinem Rad.

Die Fotoausrüstung habe ich dabei, ich sehe vor mir, wie es ist, wie es sich anfühlt, wenn ich fotografiere. Nicht ausgeschlossen, dass ich stundenlang warte, bis die Grille auf der Seerose landet oder die alte Frau auf der Parkbank ihren Kopf so neigt, dass er im perfekten Winkel zu den biegsamen Ästen, der hinter ihr stehenden Weide, steht. Ich bearbeite die Bilder, hier etwas ausgeprägtere Schatten, da ein wenig mehr Licht und während sich die Aufnahme ihrer Vollendung nähert, entsteht in mir ein Gedicht.

Worte, ein paar Zeilen bloß, durch sie findet das Bild seine ganze Harmonie - es wird vollkommen.

Das ist, was ich will, das ist, was ich begehre, das ist, woran ich glaube - es ist, was ich kann, es ist die Aufgabe und der Sinn meines Daseins.

Ich stelle mir vor, wie ich nach Hause fahre, den Koffer auspacke. Mich schlafen lege, auf den Albtraum warte, auf das Schreien des Babys, das Bellen des Hundes, auf das Klingeln des Weckers, auf Raphaels Anruf. Darauf warte, dass jemand meine Bilder, meine Gedichte will.

Ich stelle mir vor, wie ich nach dem Klingeln des Weckers aufstehe, draußen ist es dunkel, ich werfe eine Kapsel in die Maschine, rühre Milch in den Kaffee. Schminke mich, lege meine Arbeitsrüstung an, lese, während ich den zu heißen Kaffee in kleinen, hastigen Schlucken schlürfe, Mails und News. Schließe die Tür hinter mir, setze mich ins Auto, fahre zur Arbeit.

Allein der Gedanke daran raubt mir den Atem, Übelkeit steigt in mir hoch.

Ich kann nicht zurück, weder heute noch morgen.

Mehr weiß ich nicht, mehr muss ich nicht wissen.

Und morgen ist ein neuer Tag.

Ein unbekanntes Geräusch weckte Soraja auf. Sie kehrte von weither zurück, brauchte eine Weile, bis sie wusste, wo sie sich aufhielt.

Sie rieb den Schlaf aus den Augen, streckte sich, kroch aus dem Bett.

Verfluchtes Knie, schimpfte sie und massierte das Bein, während sie im Dunkeln zum Fenster tappte. Elender Lärm! Sie sah das Loipenspurgerät gemächlich die Spuren in die frisch verschneite Landschaft ziehen, im Scheinwerferlicht tanzten vereinzelte Schneeflocken. Der Himmel schimmerte tintenblau, am Rande kratzte rosa Licht, ein einsamer Stern blinzelte ihr zu. Es muss klirrend kalt sein, überlegte Soraja und presste die Stirn ans kalte Fensterglas. Morgen möchte ich vor Tagesanbruch auf die Loipe, sehen, wie die Nacht dem Licht Platz macht. Ihre Langlaufskis standen daheim im Schopf, die Schuhe auf dem Estrich. Hätte sie nur... Aber wie hätte sie wissen können, dass sie hier inmitten dieser weißen Pracht landete.

Morgen.

Morgen war Dienstag.

Dienstag erwartete man sie zur Arbeit.

Sie schob den Gedanken beiseite, nahm Blatt und Stift und schrieb eine Liste, was sie alles brauchte: Skiausrüstung, inklusive Schuhe, Handschuhe, Kleider, eine Stirnlampe. Das meiste würde sie mieten können. Sie war lange nicht mehr langlaufen gewesen. Ob sie es verlernt hatte und wann und vor allem weshalb hatte sie damit aufgehört? Sie gäbe eine lächerliche Figur ab auf den Ski, schwer und dick wie sie war. Sie schüttelte den Kopf, sie war keine zwanzig, nicht grazil oder sportlich, sie war sechzig. Sie fühlte sich lebendig, wie seit Jahren nicht mehr. Sie tänzelte Pirouetten drehend in die Küche. Mephisto streckte sich gähnend, strich um ihre Beine. ‚Findest meine Waden sexy?‘, fragte sie den Kater, gebot der quengelnden Gouvernantenstimme in ihrem Kopf Einhalt, gab Futter in Mephistos Schüssel und bereitete sich ihr Frühstück zu, während die Katze schmatzend fraß und danach nach draußen wollte. Vorsichtig streckte Mephisto den Kopf aus der Tür, die feinen Schnauzhaare zitterten, er hob ein Bein und setzte die Pfote so sachte in den Schnee, als wären es Glassplitter. Er schaute zu Soraja zurück, sein Blick war fragend, als wüsste sie, womit er dieses kalte Weiß verdient hat. Sie lachte, tauchte die Hände in den Schnee, formte einen Schneeball, den sie in die Äste einer Haselstaude warf. Von den Ästen rieselte Schnee. Sie blinzelte in den rosa angepinselten Himmel, sog die kalte Luft tief ein, schloss mit einem zufriedenen Seufzer die Tür und frühstückte ausgiebig und mit Genuss.

Sie überprüfte Laptop und Handy. Niemand vermisste sie. Keine SMS, keine WhatsApp, keine Mail. Sie zog sich an, nahm die Fototasche und lief los. Mit weit ausgreifendem Schritt lief sie talwärts, ihre Nasenhaare und Wimpern froren ein, die Stirnfransen waren ein eisiges Brett. Als die Sonne höher stieg, wandte Soraja ihr das Gesicht entgegen. Immer wieder hielt sie an, nahm die Kamera und fotografierte. Glatt geschliffene, mit Eis überzogene Steine am Flussufer, rot leuchtende Hagebutten, dahingleitende Langläufer, sie fing die Eleganz der Bewegung ein, die Spur der Loipe, die verwitterten Häuser mit den schneeverfrachteten Dächern. Sie war im Einklang mit sich, passte nahtlos in die Umgebung - die Gedanken ruhten.

Bis sie einkehrte, in einer holzgetäfelten Stube Tee und ein Stück Apfeltorte bestellte. Sie strich mit dem Messer die Sahne über den Äpfeln glatt, im Radio sprach eine Stimme vom gestrigen Rückreiseverkehr. Nun seien, informierte die gekünstelt fröhlich klingende Radiostimme, die Feiertage vorbei, Alltag sei angesagt, die Schüler säßen wieder in der Schulbank, die Eltern bei der Arbeit. Ja, ja, dachte sie unwillig, du erzählst nichts Neues.

Sie griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag. 'Arbeitslosigkeit war im Dezember leicht steigend', las sie und drehte die Zeitung unwillig um.

Montag, es war noch nicht zu spät.

Lustlos schob sie sich die Apfeltorte in den Mund. Sie war eine vernünftige, eine gestandene Frau, sie würde keine Dummheiten machen, nicht jetzt.

Sie fuhr mit dem Zug zurück, talaufwärts, sie lehnte die Wange an das kalte Glas der Scheibe und ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen. Dörfchen, eine Straße, Schnee, Langläufer, Spaziergänger, Hunde. Rauch stieg aus den Kaminen, die Sonne würde bald hinter dem Bergkamm verschwinden.

Vier Stunden Fahrt, wenn sie sich beeilte, käme sie zwar spät, aber rechtzeitig heim.

Vor der Haustür wartete der Kater. Er miaute klagend, sie öffnete die Tür und er stolzierte mit hochaufgerichtetem Schwanz hinein.

Sie musste den Alten über ihre Abreise ins Bild setzen, er würde die Fütterung der Katze wieder übernehmen, sie musste ihm den Hausschlüssel zurückgeben. Sie würde ihm etwas vorflunkern über einen unvorhergesehenen Zwischenfall. Arbeit, Krankheit, Rohrbruch - eigentlich spielte es keine Rolle, ob er ihr glaubte.

Sie nahm den Koffer hervor, schaltete das Natel ein. Keine Nachricht. Niemand vermisste sie. Sora trat zum Fenster, schaute hinaus, hörte das sich nähernde Pistenfahrzeug. Hatte sie nicht eben erst hier gestanden und sich gefreut, morgen vor dem ersten Tageslicht zu langlaufen?

Auf dem Bett lag der offene Koffer, es sah aus, als risse ein Untier sein Maul auf.

Soraja sah sich heimfahren, auspacken, zu Bett gehen. Aus dem Albtraum hochschrecken, sich die Ohren zuhalten wegen des Kindergeschreis. Sah die Hand, die den Wecker zum Schweigen brachte, die Fahrt in die Firma, der lange Arbeitstag und der Abend, den sie - zu müde, um gut zu arbeiten - über ihren Bildern verbrachte. Zuschneiden, Licht- und Schatteneffekte, Filter und Korrekturen, ausschneiden, rahmen, bedichten.

Welten entstehen lassen, die keiner begehrte.

Auf dem Pistenfahrzeug prangte die Werbung für das lokale Sportgeschäft. Sie notierte fieberhaft die Telefonnummer. Wenn sie bekäme, was sie für den morgigen Ausflug brauchte, würde sie bleiben, sonst führe sie heim.

»Schau Mephisto«, sagte sie zwei Stunden später, »Skis, Stöcke, Schuhe. Ich hoffe, dass ich keine Blasen bekomme, die Schuhe sehen nicht komfortabel aus. Hier, Handschuhe und eine Hose, in der ich mit meinem wuchtigen Po lächerlich aussehen werde. Aber so früh am Morgen treffe ich kaum jemanden. Und hier haben wir«, sie legte eine kleine Pause ein, bevor sie sich mit lautem Fanfarengeheul dem verschreckten Kater zuwandte, »das Allerwichtigste: Die Stirnlampe!« Sie schaltete die Lampe ein, kicherte, dann brach sie in lautes Lachen aus, das aber kurz darauf in ein Schluchzen überging, bevor sie weinend auf der Bank in der Küche zusammensackte:

»Mephisto, was tue ich bloß, haben mich alle guten Geister verlassen, verflixt noch eins!«

Das Buch im Buch - das Tagebuch

Ich bin nicht gefahren.

Heute hat mich niemand vermisst. Kein Anruf, keine Mail, nichts. Ich frage mich, wie lange es dauert, bis irgendwer sich fragt, wo ich bleibe. Morgen werde ich im Studio fehlen. Seit zwölf Jahren arbeite ich dort, war höchstens vier-, fünfmal krank. Ich bin, was man gemeinhin eine zuverlässige Person nennt, gewissenhaft und loyal. Meine Stimme ist nicht landesweit aber in der Region bekannt. Ich bin eine Radiostimme. Man kennt sie, nicht aber mein Gesicht und was ich am Radio sage, ist selten, was ich denke. Es hat eine Zeit gegeben, da gefiel mir die Arbeit, sie befriedigte, bereicherte mich. Das Gefühl, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, hat über die Jahre abgenommen, ist selten geworden. Die Beiträge, die ich moderiere, sind oberflächlich, kurz, nichts-sagend. Ich berichte über Reise- oder Modetrends, Cervelat-Prominenz, wer wo mit wem unterwegs ist, wo man hinmuss, um ‚en vogue‘ zu sein. Angesagt ist Leichtigkeit. Ich bin zu alt dafür, ich passe nicht mehr in die Welt der heutigen Hörer. Der Markt wird härter, die Konkurrenz wächst täglich. In dieser Branche bin ich ein Dinosaurier! Stellen werden wegrationalisiert, sparen ist das Schlagwort.

So betrachtet, meine Liebe, hast du dir einen ausgesprochen unpassenden Zeitpunkt ausgesucht, um abzuhauen, ich dürfte nicht sein, wo ich bin, ich riskiere meinen Job.

Andererseits sträubt sich alles in mir, wenn ich nur daran denke, einen Fuß ins Studio zu setzen. Die Kollegen sind jünger als meine Kinder, der Chef tritt nach unten, so wie er von oben getreten wird. In den letzten vierundzwanzig Monaten hat es drei meiner Kollegen aus dem System gespült. Einer der drei hat sich das Leben genommen, der zweite hat es in die Printmedien geschafft, er arbeitet sechzehn Stunden täglich, seine Ehe ist in die Brüche gegangen, der dritte ist nach einem Jahr noch immer arbeitslos. Keiner war älter als vierzig.

Ja, ich habe Angst, denn es ist nicht in erster Linie eine Frage meiner Kompetenz, ob ich den Job behalte oder nicht und das ist mithin das Schlimmste - ich habe es nicht in der Hand. Unabhängig davon, ob ich mich abrackere, Vollgas gebe, egal, ob ich hervorragend, unermüdlich, innovativ bin oder nicht, es gibt keine Sicherheit, jederzeit kann ich Opfer des Spardrucks oder des Jugendwahns werden.

Ich war nie arbeitslos, kenne den Gang zur Arbeitslosenvermittlung nicht. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, Bewerbungen zu schreiben, einerlei wofür, einerlei, ob einen die Arbeit interessiert; einerlei, ob man über- oder unterqualifiziert ist. Hauptsache, das Soll ist erfüllt und ein Beamter gibt dir Ende der Woche oder des Monats einen Stempel, der dich zum Bezug eines mageren Einkommens berechtigt. Ein Gehalt, das knapp zum Überleben reicht. Die Angst im Nacken, Tag und Nacht. Ein Leben, wie es Unzählige führen müssen.

Ich werfe weg, was ich habe.

Töricht, zweifelsohne.

Ich denke an meine Albträume, das schreiende Baby, den Hund, die Fahrt ins Studio, die Arbeitskollegen.

Ich kann nicht zurück, denn sonst werfe ich mehr weg als meine Arbeit.

Christoph hatte es von uns Geschwistern beruflich am weitesten gebracht, was nicht heißt, dass er gescheiter als wir Mädchen war, aber sicher das am meisten geförderte Kind der Familie. Es war wichtig, dass aus einem Buben etwas 'Rechtes würde', wir Mädchen würden heiraten, Kinder kriegen, einen Ernährer haben. Wir hatten Glück, aus allen ist etwas 'Rechtes' geworden, aber nur Christoph hat studiert und in einer Bank Karriere gemacht. Zuerst hatte er ein Haus in einem Vorort, ein kleines, dann ein größeres, eine Ehefrau, ein Kind, später eine zweite Ehefrau und zwei weitere Kinder. Er war erfolgreich, bis zum Direktor einer recht beachtlichen Bankfiliale hatte er es gebracht; er war im Rotary-Club, spielte Golf und segelte, im Winter besuchten wir ihn in