Chances - Valea Fenrys - E-Book

Chances E-Book

Valea Fenrys

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Beschreibung

In einer Welt, die von Menschen beherrscht wurde, bricht die große Katastrophe aus. Offiziell heißt es, dass eine globale Pandemie für das abrupte Massensterben verantwortlich ist. Ein Mädchen von zehn Jahren verliert sein altbekanntes Leben und macht sich auf den Weg in eine neue Welt, die von rohen Naturgewalten und Brutalität gezeichnet ist. Eine der größten Gefahren stellen die menschlichen Überlebenden selbst dar, dessen Bekanntschaft sie auf brutale Art machen muss. Doch auch ihr dunkles Inneres scheint ein düsteres Geheimnis zu hüten. Ein Aufeinandertreffen mit zwei jungen Männern aus dem Clan der Blutflamme lässt ihre Vergangenheit unerwartet aufleben und offenbart eine düstere Wahrheit über die große Katastrophe. Ihr ganzes Leben wird durch die plötzliche Anziehung zu dem attraktiven Erik und die Offenbarung ihrer wahren Identität auf den Kopf gestellt und sie ist plötzlich hin und hergerissen, ob sie weiterhin vor ihrer Vergangenheit davonlaufen oder sich der bedrückenden Wahrheit stellen will. Denn der Name Chances steht nicht nur für eine KI, die den Menschen die Optimierung bringen sollte, sondern möglicherweise auch für die totale Zerstörung, die folgte. Der Kampf um ihre Freiheit beginnt und wirft die Frage auf: Wer hat die wahre Kontrolle?

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Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Chances

(Un)Freie Wahl

Valea Fenrys

Impressum

Texte:   © 2024 Copyright by Valeria Schmolke  Cover:              © 2024 Copyright by Constanze Kramer,            coverboutique.de

Bildnachweise:©neuralcanvas – stock.adobe.com

©McLittle Stock, ©efiplus, ©faestock, ©Gabriel Georgescu – shutterstock.com, elements.envato.com, freepik.com

1. Auflage, Mai 2024

Verantwortlich

für den Inhalt: Valeria Schmolke

Ter-Berg-Ring 15

27753 Delmenhorst

valeriaschmolke04@gmail.com

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Für Opa und das Leben, das mir die Tür zum Schreiben geöffnet hat.

Teil 1: Ein langer Weg

1

Siebzehnter Tagebucheintrag

Manchmal sehe ich hinauf gen Himmel und versuche etwas zu finden, einen noch so kleinen Funken, der mich an das erinnern soll, was ich einst gewesen bin … Doch alles, was ich sehen kann, sind die dunklen Tiefen der Nacht und die vielen weiß leuchtenden Sterne, die meinem Blick mit Kälte begegnen. Beinahe, nur beinahe, kann ich den Schatten der Vergangenheit greifen, als er bereits in die Höhen entschwindet und mich auf der nackten Erde zurücklässt. Häufig ist das der Moment, in dem die Romantik ein Ende hat und ich begreife: Ich bin alleine.

2

Erster Tagebucheintrag

Ich habe darüber nachgedacht, wie ich meine einfache Erzählung beginnen soll, unsicher darüber, ob ich tatsächlich etwas Wertvolles zu erzählen habe und in der Lage bin die richtigen Worte zu formulieren. Doch nun fühle ich mich bereit, ich fühle mich sicher, dass die Zeit reif ist und ich mir genügend Fähigkeit angeeignet habe. Ich verbrachte nun schon Monate damit, die übriggebliebene Literatur der mir inzwischen fast schon fremd wirkenden alten Welt zu verinnerlichen und eines haben ihre schönen Worte dabei alle gemeinsam: sie beflügeln auf eine Weise, die kein Mensch physisch jemals greifen könnte, denn es ist bloß ein kaum merkbares Kitzeln oder ein Schauer im Innern. Eine versteckte Welt der Emotionen, ein ungelüfteter Nebel in mir, den es noch zu entdecken gilt. Es scheint, dass alles um mich herum zugleich so nah und doch so fern ist, als wäre ich bloß Zuschauerin und die Ereignisse, die ich nun bereit zu schildern bin, das eigentliche Theaterspiel, das jedoch keine klaren Rolleneinteilungen mehr trägt. Ich hoffe, dass ich eines Tages auf diese ersten Seiten zurückblicken und behaupten kann zu wissen, was meine Rolle darin war. Doch bis dahin beschränke ich meine Hoffnungen auf kleinere Dinge, wie, dass der morgige Tag einen besseren Fang bietet als der heutige. Wie auch immer, ich möchte ganz am Anfang beginnen…

Die Welt, die ihr kennt, existiert nicht mehr. Fangen wir ganz einfach mit dieser Feststellung an, bevor wir weiter auf den Ursprung dieser für die Menschheit katastrophalen Folgen eingehen. Ich weiß nicht viel über das, was geschehen ist, und alles, was ich weiß, stammt entweder aus meinen nebeligen Erinnerungen oder fremden Erzählungen anderer Menschen. Doch zunächst so weit: Die Welt heute ist ein besserer Ort, so würden es vermutlich viele aus früherer Sicht sehen. Denn da, wo einst Menschen die Wälder vernichtet haben, blicken kleine grüne Triebe hoffnungsvoll den Baumkronen ihrer Vorfahren entgegen. Dort, wo einst Menschen Massentierhaltung betrieben, Millionen von Hühnern, Schweinen und Rindern auf engem Platz um einen Atemzug Leben gekämpft haben, dort herrscht Stille. Leere Ställe ragen wie ein drohendes Denkmal aus dem Boden empor und Vögel singen auf ihren blechernen Dächern das Lied hoffnungsvollerer Tage in ferner Zukunft. Dort, wo einst Meere in dem Dreck unserer Bequemlichkeit und vermeintlich chemischen Lösung aller Probleme, dem Plastik, versanken, genau dort hat das Leben einen Weg gefunden, diesen früheren Feind zu tolerieren und die Menschheit durch den Temperatursturz aus dem eigenen Reich verbannt. Und so verendete die Krone der Schöpfung elendig und zeigte in Anbetracht der Ereignisse ihr wahres Gesicht, das eines wilden Tieres ohne die heilige Vernunft, auf die wir uns so gerne berufen. Man stelle sich die damalige Vergiftung von Ackerland und Atmosphäre vor, die Menschenmengen in den gesichtslosen Städten und das global vorherrschende Syndrom des Leistungsdrucks eines jeden Menschen mit den Fesseln der gesellschaftlichen Normen und Kulturen. Nichts davon ist mehr und kann jemals wieder sein. Es ist ironischerweise schon fast wie die immerzu unterbewusst lebende Freiheit des Menschen, das durch Normen unterdrückte Ich, der dunkle Schatten. Da, wo einst das System die Regeln vorgab, herrscht Anarchie. Da, wo einst ein erzwungener Optimismus die Menschen in tiefe Depressionen stürzte, herrscht nun die blanke Angst und wahre Sorge um das Überleben. Ja, man könnte fast schon sagen, wir stehen rückwirkend am Anfang unserer Existenz. An dem Punkt, an dem wir bereits vor sehr langer Zeit als Jäger und Sammler standen, obgleich unser Denken der alten Welt der menschgemachten Zivilisationen noch immer unterworfen ist. Diese Einschätzung mag ernüchternd klingen, ist jedoch ein Abbild meiner Normalität und der eines jeden, der noch lebt. Ich werde meine Sicht der Dinge auf diesen scheinbar unbedeutenden Seiten meines einzigen Besitzes schildern und wer weiß, vielleicht werden sie eines Tages ja sogar noch wertvoller sein als das Gold dieser Welt, denn es ist das Einzige, das mir noch das Gefühl von Menschlichkeit und der Freiheit gibt, diese noch auszuleben. Einst wurden wir zu intelligenten Wesen, als wir Artikulation und Ausdruck lernten und vielleicht können wir das auch erneut, wie ein Phönix, der sich aus der eigenen Asche erhebt, nur auf eine andere Art und Weise wie wir es erwarten.

3

Zweiter Tagebucheintrag

Mit zehn Jahren verlor ich meine Eltern. Ich erinnere mich so schleierhaft an sie, als wären sie bloß Schatten gewesen, die in einer hell erleuchtenden Nacht um mich getanzt haben, doch eines weiß ich sicher: sie waren gute Menschen. Ich glaube kaum, dass ich ihnen jemals so nah war, dass ich behaupten könnte, sie über alles geliebt zu haben, doch sie haben mich in ihren Armen gehalten, wenn ich an mir zu zweifeln begann und mich an allen Tagen ernährt, auch wenn es kaum noch genug Nahrungsmittel für alle gab. Sie haben zu meinen Gunsten verzichtet und waren meine saubere Atemluft, die es draußen in der Welt kaum noch gab. Sie sagten immerzu, dass die Welt ein trauriger Ort geworden war und ich habe ihre Sorgen nicht greifen können, denn ich war zu jung, um das Ausmaß des Leids zu verarbeiten. Doch von einem Tag auf den nächsten waren sie einfach fort, genauso wie mein engster Freund und so viele andere unschuldige Menschen, die der großen Katastrophe zum Opfer fielen. Alles, was mir blieb, war eine junge Hündin, die genauso wenig von dem katastrophalen Massensterben verstand wie ich. Ich kannte ihre spitze Schnuppe und ihre rosige Zunge so gut, dass ich ihre Gestalt sogar im Schlaf hätte nachzeichnen können und ich gab ihr den stolzen Namen, den ich bis zu meinem eigenen Tod nie vergessen werde. Finna. Meine treue Begleiterin und meine Retterin in der Not, als die Welt um mich herum bedrückend still wurde und eine gähnende Leere über die leblose Stadt zog, in der ich wohnte. Sie ist der Grund dafür, dass ein kleines Mädchen sind in die weite Welt hinausgewagt hat und nun diese Zeilen schreibt. Ich erinnere mich kaum an irgendetwas und manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Kopf wie eine feine Bleistiftzeichnung ausradiert wurde, sodass ich nur noch die groben Linie der Druckstellen nachzuzeichnen versuche, ohne jemals die ursprüngliche Form zu erkennen. Doch das hier ist meine Geschichte und ich weiß, dass sie sich eines Tages zu einem harmonischen Kreis der Klarheit schließen wird, auch wenn es vermutlich nicht so kommen wird, wie ich es erwarte.

4

Dritter Tagebucheintrag

Ich bin weit gereist und habe zugleich viel Hoffnung, aber auch Leid erfahren. Ich war allein gelassen in dieser fremden Welt, sodass das kleine Mädchen in mir gezwungen war schnell erwachsen zu werden. Doch jede Herausforderung begegnete Finna mit einem beinahe freudigem Hecheln, und so tat es auch das kleine Mädchen. Wir waren unzertrennlich geworden, denn sie gab mir den Mut weiterzugehen, egal was auch immer kam. Dort, wo wir eine verlassene Stadt fanden, teilten wir uns das Essen und kommunizierten auf eine Weise miteinander, die keine Worte brauchte, um verstanden zu werden. Doch wir zogen auch immerzu weiter, verharrten niemals zu lange an einem Ort und allmählich gewöhnte sich das damals schwache Mädchen an diese leere Welt und das Überleben als höchste Devise. Ganz ehrlich glaube ich sogar, dass ich es genossen habe. Diese wundervolle Stille und Ruhe, die nun eingekehrt war. Nichtsdestotrotz fehlte etwas und ich bin dieses merkwürdige Gefühl von belastender Schwere, das manchmal noch immer ganz plötzlich meine Stimmung wie ein dichter Nebel die reine Luft des Waldes befällt, nie losgeworden. Tief im Inneren wusste ich, dass Finna niemals meine Eltern und ihre Umarmung ersetzten könnte. Es fehlte ein Hauch von Menschlichkeit, eine leichte Prise Mitgefühl und Austausch liebevoller Wärme, die ich einst empfunden habe. Doch die Furcht dröhnte wie ein warnendes Signal in meinem Inneren und hielt mich davon ab, diesem so natürlichen Instinkt nachzugeben und so folgte ich weiter dem Pfad der Einsamkeit. Monatelang wanderte ich, ohne zu navigieren, quer durch die Welt. Wir passierten viele verlassene Gebäude, die sich entweder in Gestalt von riesigen Betonblöcken, vom Efeu in Angriff genommen, oder farblos gestrichenen Großfamilienhäusern mit kleinen Gärten, die inzwischen von Wildkräutern aus ihrer drögen eintönigen Erscheinung vom vergilbt ausgetrockneten Gras, zeigten. Doch die Sonne brannte schon längst nicht mehr wie früher auf meiner Haut und es schien, als hätte sie sich beim Anblick des unweigerlichen Untergangs der Menschheit dessen Fehler erbarmt, denn nach und nach kehrten auch sanft rauschende Flussströmungen wieder und der frische Regen spülte über die kahlen Straßen großer und kleiner Städte, wo verschiedenste Verkehrsmittel wie verbannte Haustiere standen und geduldig auf ihre Besitzer warteten. Doch ihre Bleche begannen zu rosten und bald wirkten die roten Flecke wie eine einsetzende Altersschwäche, die ihren Zerfall ankündigte. Samen aller Art sprießten in den kleinsten Spalten der Betonstraßen und das harte Material brach, als akzeptiere es seine Verbannung mit der Würde von Nachgiebigkeit. Es war ruhig geworden. Alles um mich erschien wie ein Gemälde, stillstehend in der Zeit, als würden die Dinge auf die Menschen warten, die sie eines Tages wieder betätigen würden. Es war ein zugleich trauriger und sehr friedlicher Anblick, der sich Finna und mir immer wieder von Neuem bot. Das Gezwitscher und Geraschel im wiederkehrenden Geäst nahm zu und es schien, dass das Leben wieder Luft zum Leben hatte und wie aus einer betäubenden Trance zurückkam. Nur hin und wieder begegnete ich einigen Menschen, doch meine Angst war zu groß, als dass ich hätte auf sie zugehen können, sodass ich einfach an ihnen vorbeilief ohne je zurückzublicken. Zugegeben waren Finna und ich manchmal nicht so erfolgreich auf unserer Suche nach Essbarem, sodass Jagen angesagt war. Zu Beginn ein Fremdwort für mich, denn ich war mit künstlich hergestellten Eiweißfasern und nur wenig natürlichen Vitaminen aufgewachsen, doch nun kehrte die für jeden Menschen in Vergessenheit geratene Rohheit der Natur wieder und damit auch die Herausforderung, sie von Neuem zu erkunden und zu nutzen. Aus irgendeinem Grund schien es für mich jedoch glasklar zu sein, was es zu tun galt, als wäre ich an eine ultimative Quelle des Wissens gebunden, die mir jeden notwendigen Schritt vorgab. Eines Tages kam es somit schnell dazu, dass ich nicht zögerte, als ich eine kleinkalibrige Schusswaffe aus einem Geheimfach in der Küche eines verlassenen, inzwischen in vergilbten Farbton strahlenden Hauses fand und wie auf Knopfdruck wusste, wozu diese Waffe in der Lage war. Am Anfang weinte ich noch um diese armen Geschöpfe, die meinem vor Hunger leidenden Körper zum Opfer fielen, denn mir wurde immerzu bewusst wie ähnlich wir uns waren. Wir atmeten dieselbe Luft, aßen teilweise dasselbe Grün und fürchteten uns ähnlich vor der Gewalt unserer Feinde. Doch schon nach einiger Zeit verstummte die laute Stimme meines Gewissens und es legte sich eine Kälte in mir nieder, wie ein schalldichtes Vakuum, das meine Emotionen nicht zu meinem Verstand durchdringen ließ. Finna lief voraus, die Nase in der Luft, allseits freudig und ich wusste instinktiv, dass ich ihr folgen musste. Ich fragte mich häufig, wie die anderen Überlebenden die einkehrende Leere nun empfanden, doch ich wusste nie wirklich wie viele Menschen tatsächlich noch lebten. Trotz meiner anhaltenden Angst, gab ich der Neugier gelegentlich nach und sah zu, wie viele von ihnen sich nach einer langen Phase der Findung als Wildfremde in losen Gemeinschaften zusammenschlossen und versuchten, mit den Überresten der Zivilisation ein loses System der Ordnung zu schaffen. Die Zahl dieser kleinen Gruppen wuchs zunehmend an, sodass sich auch die unvorhersehbaren Begegnungen zunehmend häuften und meine Nervosität zu einem alltäglichen Begleiter wurde, der mich daran erinnerte, dass ein Aufeinandertreffen irgendwann unvermeidbar sein würde. Eine kalte kleine Stimme in mir sträubte sich davor, auch wenn die Sehnsucht nach menschlicher Wärme unerträglich  wurde und mein Herz zum Schmerzen brachte. Für mich gab es in einem Fall einer unerwarteten Begegnung grundsätzlich nur eine Option, die wie ein heißer Rausch meinen Kopf befehligte: Um mein Leben laufen. Doch es dauerte nicht lange, bis diese Option keine Wirkung mehr hatte, da der Kontakt mit den anwachsenden Gruppen nicht länger zu vermeiden war und es geschah das, was unweigerlich irgendwann geschehen musste.

5

Vierter Tagebucheintrag

Es war ein außergewöhnlich schöner Tag gewesen, einer, an dem man sich am liebsten selbst, wie die vielen Piepmatze, träumerischen mit Schwingen in die Lüfte gehoben hätte. Die Regenfront, die tagelang durch unsere Region gezogen war, hatte sich gelichtet und der strahlend blaue Himmel zeigte sein freundliches Gesicht. Finna und ich hatten Glück, auf einen Bau von mehreren jungen Kaninchen zu treffen, nachdem wir weitergezogen waren. Der Wald war unser bester Unterschlupf, sicher vor neugierigen Augen und voller essbarer Dinge, wobei nicht selten Wild auf dem Speiseplan stand, weil ich inzwischen einen Geschmack für das zart gegrillte Fleisch entwickelt hatte. Meine kleinkalibrige Schusswaffe trug ich immer zur Sicherheit bei mir, auch wenn alle Kugeln verbraucht waren und ich bisher keinen Erfolg beim Finden von neuer Munition hatte. Stattdessen wurde das Messerwerfen zu meiner besonderen Fertigkeit. So zog ich die jungen Kaninchen aus dem Bau und schnitt ihnen in einer einzigen schnellen Bewegung die Kehle durch. Meine blank polierten Messer waren mein ganzer Stolz. Glänzend und frisch geschärft hielt ich die Instrumente des Todes gerne ins Sonnenlicht und blickte in die von mir reflektierenden grünen Augen. Sie waren größtenteils eine Sammlung von kleinen Handmessern bis hin zu Küchenmessern aller Größe, die ich in verlassenen Einkaufshäusern fand und dessen Präsenz aufgrund ihrer zunehmenden Seltenheit wohl auch anderen Überlebenden bekannt war, die sich häufig an derselben Beute bedienten. Ich zog das Fell von den kleinen toten Tieren, eine Arbeit, die viel Konzentration erforderte und mich am Anfang viele blutende Wunden kostete, doch inzwischen war ich wirklich gut darin geworden. Über einem kleinen Feuer briet ich schließlich normalerweise das weiche Fleisch der Jungtiere, doch an diesem Tag kam ich nicht mal mehr dazu. Während ich die Haut samt Fell langsam vom sehnigen und roten Fleisch zog, knackte es laut hinter mir. Ich erstarrte und wusste: Ich war nicht allein, denn Finna hätte niemals bei ihrem leichten Gewicht ein so lautes Geräusch ausgelöst. Ein leichtes Fiepen ertönte und ich konnte meine sturmhafte Umdrehung nicht zurückhalten, da ich dachte, dass ihr etwas zugestoßen war und da erblickte ich sie zum ersten Mal so nah, wie ich es niemals zuvor gewagt hatte. Menschen. Sie standen zu fünft in einem Halbkreis, der mich umzingelte und jedes Entkommen unmöglich machte, ihre Schultern waren breit gebaut und ihre Größe mindestens das Doppelte von mir. Sie waren gut gekleidet, kein Riss oder Loch zierte ihre Stoffe, anders als bei mir, und ihre Blicke begegneten meinem zugleich mit Erstaunen und kalter Härte, die mir bereits zweifellos deutlich machen sollte, dass jedes Entfliehen zwecklos war. Ich begann nach Finna zu rufen, auch wenn ich wusste, dass sie kaum einen Unterschied in meiner Hilflosigkeit gemacht hätte, doch ich erinnere mich noch so klar daran, dass ich dennoch inständig hoffte, dass sie zurückkehren würde. Nur ein letztes Mal, doch sie kam nicht. Mit jedem weiteren Ruf wurde meine Stimme zu einem heiseren Flüstern, als einer der Männer schließlich wütend vortrat und entgegen meiner Gegenwehr seine große Hand gewaltsam auf meinen Mund presste. Ich weiß noch, dass mein Herz beinahe vor Angst stehenblieb. Ich wollte rennen, schreien, nein töten, aber ich war gefangen, denn ein jeder von ihnen trat langsam näher und welche Kraft hatte ich schon, mich gegen sie zu wehren. Eine Einsicht, die einen durch und durch verändern kann. Und so fiel ich flehend auf meine Knie und die Hand löste sich mit einem leisen Zischen von mir, das mir genügend Freiraum gab, um das einzige zu bieten, das ich hatte. Blanke Angst leuchtete in meinen Augen und ich legte die toten Kaninchen vor die Füße desjenigen, der eine beachtliche Schrotflinte in seinen Händen hielt und zeigte mit flehenden und verzweifelten Zügen auf den Wald, der sich hinter mir erstreckte. Ein unbegreifliche, beinahe statische, Bewegungslosigkeit legte sich über alle Anwesenden und sie sahen sich bloß fragend gegenseitig an, als versuchten sie zu entscheiden was nun das richtige Vorgehen sein würde. Sie sahen zweifellos die Furcht in meinen Augen und begannen sich untereinander auszutauschen. Ich hörte und kannte ihre Worte so klar wie ein grelles Licht, das sich in einer schweren Dunkelheit entzündet, doch mein Herzschlag übertönte jeden ihrer Laute bei weitem. Der Mann hinter mir entfernte sich einige Schritte und beteiligte sich nun rege an der Diskussion, als mir erneut Finna in den Kopf kam. Ich konnte sie nicht alleine lassen. Was würde bloß aus ihr werden? Eine panische Angst erfasste mich, die mir den nötigen Willen gab, durch die einzige Lücke, die zwischen zwei der Männer entstanden war, hindurch zu schlüpfen. Und so sprintete ich mit einem letzten bebenden Atemzug unerwartet los. Mein Blick war fokussierter, denn je auf den winzigen Spalt der Freiheit gerichtet, sodass ich nicht den dicken morschen Ast bemerkte, auf den ich zulief und als ich bereits den frischen Hauch der Waldluft spüren konnte, stolperte ich darüber und fiel hart zu Boden. Mein Aufschrei war laut und schmerzerfüllt und scheuchte einen riesigen Krähenschwarm in die Luft. Für eine Sekunde glaubte ich die Männer über mir stehen zu sehen und ihren Atem zu hören. Ich musste Finnas Namen immer wieder vor mich hin gemurmelt haben, denn nach einer Weile hörte ich, wie sie ihn mit fragenden Ausdrücken und umherblickenden Augen wiederholten. Mein Bein brannte wie eine lodernde Flamme, die aus einem sprühenden Funken entsteht, und warmes Blut lief mir das Bein herab. Doch alles woran ich denken konnte, war Finna. Meine treue Gefährtin, mein Lebensfunken und meine Hoffnung, die ich vielleicht niemals wiedersehen würde. Eine Tatsache, die ich nicht akzeptieren konnte. Ich spürte jemanden an meinen Hinterkopf fassen und mich mit ein wenig Druck nach oben aufrichten, als ich vollkommen unerwartet mit gefletschten Zähnen nach seinem Handgelenk schnappte und kräftig zubiss. Er kreischte wild auf und sein warmes Blut lief mir wie heißer Honig über die Zunge, doch ich konnte einfach nicht von ihm ablassen, wie ein wild gewordener Hund, der um sein Leben kämpfte. Alles, was ich sah, war eine blutgetränkte Welt und alles, was ich fühlte, war ein glühender Wille davonzulaufen, obgleich es mein Bein nicht länger mitmachen würde. Der junge Mann schrie und riss inzwischen weinend an seiner Hand, während er mit der anderen, die zu einer Faust geballt war, auf mich einschlug, ohne, dass ich jegliche Schmerzreaktion zeigte, als wäre meine Haut aus hartem Stahl. Doch ich hatte nicht bedacht, dass er nicht alleine war und bevor ich begriff, was um mich geschah, schlug bereits jemand kräftig an meinen Hinterkopf, sodass ich benommen von meinem Opfer abließ und spürte wie ich der Schwerkraft, die mich zu Boden zerrte, nachgab. Die Welt verstummte plötzlich und das Kreischen der Vögel um mich herum wurde zu einem lauten Piepen, das jedes Bisschen meines Körpers durchdrang und mich mit rastloser Wut erfüllte. Doch diese Wut verstummte, als das Zittern der Verzweiflung und Erschöpfung mich durchdrang und meine Arme unter mir nachgaben. Meine Finger versanken in dem blutigen Moos unter mir und meine Augen färbten die Welt um mich herum schwarz, dem Schwarz des bitteren Verlustes meiner Freiheit.

6

Fünfter Tagebucheintrag

Alles, was ich nach diesem Vorfall zu erzählen habe, ist entweder das Beste, was mir passieren konnte, oder das Schlimmste. Heute glaube ich, dass es bloß ein weiteres neues Kapitel in meinem Leben war, das mich einiges über die neue und alte Welt gelehrt hat, aber insbesondere über die Natur des Menschen. Ich passte mich einem System an, ungefähr wie ein Affe sich Delfinen anpasst, nämlich gar nicht, ohne in dem Versuch zu ertrinken. Ich hatte lange Zeit alleine verbracht und war der menschlichen Berührung relativ fremd geworden, aber auch allgemein war da etwas in mir, das dem Menschlichen abwertend gegenüber war. Es schien wie ein Instinkt, der mich zum natürlichen Außenseiter einer Gemeinschaft machte und es sehr schwierig gestaltete, feste Strukturen zu akzeptieren. Ich war gut gebildet und hatte ein grob ausreichendes Wissen der Artikulation, doch ich verweigerte mich, diese Fähigkeit offen darzulegen, als wären sie eine Schwäche, die sofort ausgenutzt werden könnte. Ich wurde in der falschen Annahme eines Welpen aufgenommen, obwohl ich eine trainierte Hündin war, und nutzte dies zu meinem eigenen Vorteil, indem ich genauestens beobachtete und kontinuierlich lernte. Denn ich musste bald feststellen, dass alles, was ich tue von meinem Überlebenswillen abhängt. Immer. Überall. Und das ist nur menschlich.

7

Sechster Tagebucheintrag

Als ich wieder aus meiner Ohnmacht erwachte, lag ich auf etwas, das ich seit meinen jüngsten Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Etwas unbeschreiblich Weiches und für mich, nach all diesen Jahren des Wanderns, Befremdliches, denn ich hatte grundsätzlichen Komfort der Häuser aus Angst, auf fremde Besucher zu treffen, gemieden. Es war ein mit einer Matratze gepolstertes Bett und die weich kuschelige Samtdecke war wie ein warmer Traum, aus dem ich nicht mehr aufwachen wollte. Ich konnte mir meinen Ortswechsel natürlich nicht erklären, aber irgendetwas in mir wusste, dass ab diesem Moment mein Leben eine neue Wendung nehmen würde. Diese Manschen hatten mich verschleppt, aber wieso sollten sie mich heilen und in ein warmes Bett legen? Ich spürte noch immer den metallischen Geschmack des Blutes in meinem Mund und schluckte bei der Erinnerung an meine Tat schwer. Warum hatte ich es getan? Es war, als wäre es nicht einmal ich gewesen, sondern etwas tief aus meinem dunklen Inneren, vielleicht ein mächtiger Urinstinkt, der von mir Besitz ergriffen hatte. Doch ich muss ehrlich zugeben, dieses Gefühl der kalten Gewaltsamkeit nie ganz durchdrungen zu haben. Es war ein Moment, in dem die Welt auf dem Kopf stand. Eine Frage nach der nächsten verdrängte den Schock. Ein Griff an meinen ledernden Gürtel, der mehrere Einschnitte aufwies, in denen zuvor meine scharfen Klingen gesteckt hatten, verriet mir auch, dass all meine Waffen verschwunden waren. Panisch ließ ich meinen Blick wandern, doch nichts als weißes, grelles Licht entgegnete meinem Blick und es brannte höllisch. Kleine strahlenden Punkte waren in einer präzisen Regelmäßigkeit an der Decke montiert und sofort kam mir der Gedanke, wie es überhaupt möglich war, dass Strom vorhanden war. Ich hatte in all meiner Zeit nicht ein Mal einen Ort angetroffen, wo diese alte Normalität noch präsent war, denn es war doch keiner mehr da, der für die Herstellung sorgte. Ich blinzelte und ließ meine Gedanken wie einen unregelmäßigen Strom fließen. Sie mussten einen Weg gefunden haben, sich der Elektrizität wieder zu bemächtigen. Eine unbewusste Bewegung in Richtung Bettkante ließ mich schmerzhaft aufzucken, denn irgendetwas stimmte mit meinem Bein nicht. Der plötzlich ziehende Schmerz, der meinen ganzen Körper durchfuhr, verdeutlichte, dass ich verletzt war. Ein weißes, löchriges und feines Material verdeckte die Stelle, an dem der tiefe Schmerzpunkt saß. Es musste ein Schnitt sein, der tiefer war, als ich je einen hatte und bei der Erinnerung an das scharfkantige Holz, über das ich gefallen war, ergab es auch ein sinnvolles Bild. Innerlich schimpfte ich über meine Tollpatschigkeit, die mir die Möglichkeit des Entkommen genommen hatte. Ich hörte mich kurz vor Schreck aufwimmern, als ich in meiner Neugier über das Verbandmaterial fuhr. Ein antikes Material zur Wundversorgung, wovon ich als Kind gelesen hatte, doch das in meiner Welt vor der großen Katastrophe vollkommen unnötig geworden war, da Wunden durch ein die Blutkörperchen reizendes Gerät in kürzester Zeit verschlossen werden konnten. Wo sie das bloß gefunden hatten? Schritte erklangen und ich spürte, dass jemand hereingekommen war, der etwas in leisem Ton sagte. Ich horchte auf und versuchte mich auf den Wortlaut zu konzentrieren. Ihre Stimme klang wie die meiner Mutter, nur etwas rauer. Die Frau sah stirnrunzelnd auf mich herab und ich erinnere mich, sie sagen zu hören: „Sie ist wach.“ Ein Mann trat herein und ich erkannte sofort an seiner ebenfalls verbundenen Hand, dass er derjenige sein musste, den ich grundlos attackiert hatte. „Sie ist entweder eine Irre oder tollwütig“, entgegnete er leicht nachträglich und ein Schleier der Schuld legte sich über mich. Doch die Frau lächelte bloß und fasste unerwartet an meine Stirn und zog meine Augenlider leicht auseinander, woraufhin ich unweigerlich zusammenzuckte. „Ich glaube, dass sie im Gegenteil kerngesund ist. Vielleicht ein wenig ungezähmt“, fügte sie schmunzelnd hinzu, das der Mann jedoch nicht teilte. Ich empfand ihre Art der Interaktion wie eine fremdartige Kraft, die mich auf unerklärliche Weise neugierig machte und mein Gedächtnis nach Erinnerungen durchstreifte. Doch alles, was ich in diesem Augenblick tun konnte, war dazuliegen und verwirrt die Frau anzustarren, die schließlich mit kalkulierter Stimme mit dem Mann den Raum verließ, der, wie ich später feststellen musste, voller medizinischer Instrumente war. Nicht, dass ich nicht sprechen konnte, es war bloß, dass ich nicht wusste, was ich ihnen zu sagen hätte und es in mir unangenehme Erinnerungen des Schmerzes weckte, sodass ich in diesem Moment entschieden haben muss, es auf das sichere Minimum zu beschränken. Ich analysierte die Tischplatten, auf denen aufblitzende Metallinstrumente mit scharfen Spitzen und Zangen lagen, sowie kleine, mit Flüssigkeiten gefüllte Fläschchen, die in verschiedenen Farben glänzten. Ganz an der Kante stand ein großes Glas, das mit einem Deckel verschlossen war und darin war ein kleiner aufgetürmter Berg mit winzig kleinen Metallkügelchen, die metallisch-blau glänzend ruhig aufeinander verharrten. Ein Schauer lief mir bei ihrem Anblick über den Rücken und ein unangenehm nagendes Gefühl überfiel mich, als würden sie auf mich zurückblicken und meine Person ebenso wahrnehmen können. Ich dachte, ein Flüstern in meinen Ohren zu hören, als sprächen sie zu mir, doch etwas in mir blockierte das Durchdringen ihrer luftleeren Worte und sie lösten sich wieder in Stille auf. Ein wuterfülltes Brennen durchbrach die Barriere meiner Augen und ich musste mich bemühen, mehrmals zu blinzeln, bevor ich sie wieder fokussieren konnte. Eine schauderhafte Kälte erfasste mich und eine gähnende Leere legte sich wie ein Schleier über meinen Körper, machte ihn erneut träge und erfüllte mich mit einer Ruhe, die anders war. Einer gefährlichen Ruhe, eine die mich, statt an die friedlichen Momente mit Finna zu erinnern, völlig gelähmt zurückließ, mit leblosen Blicken, die wie Nadeln meine Haut durchbohrten.

8

Siebter Tagebucheintrag

Ich frage mich, wie ich alles, was danach geschehen ist, mit treffenden Worten formulieren kann. Doch jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheint mir eine Formulierung am treffendsten: Anpassung. Es stellte sich heraus, dass die Menschen, die mich gefunden hatten, eine kleine Gemeinschaft am Rand eines langen Flusslaufes waren, die sich Die Letzten nannten. Es waren etwa um die fünfzig Menschen, doch ich muss ehrlicherweise zugeben, nie wirklich nachgezählt zu haben. Sie waren zufällig auf mich gestoßen und schätzten mich als hilfloses Kind ein, das die Hilfe ihrer Gemeinschaft bräuchte. So bestätigten sie in Zukunft wiederholt, dass sie mich alleine vorgefunden hätten und mein aggressives und panisches Verhalten als ein Krankheitssymptom der Psyche deuteten. Sie waren tatsächlich nicht wenige und unter ihnen befanden sich einige junge Menschen, die viele Versuche starteten, mit mir zu kommunizieren und mich für das Leben in ihrer Gesellschaft zu erwärmen, doch ich war ein harte Nuss, die jedem Versuch sie zu knacken mit passiver Gegenwehr zur Kenntnis nahm. So waren meine ersten Jahren der Integration von dem bleibenden Ziel geprägt gewesen, einen Weg des Entkommens zu finden, denn ein Teil wehrte sich gegen jegliche Versuche der Gefügigkeit. Ich blieb zunächst recht erfolglos. Stattdessen wurde eifrig versucht, mich in der Fähigkeit der Regelbefolgung zu unterrichten. Ich gestehe, dass Finna vermutlich einen größeren Willen des Gehorsams gezeigt hätte, doch man kann keinen wilden Vogel in einen Käfig stecken und erwarten, dass er seine neue Unfreiheit genießt. Und so fühlte ich mich wie dieser in Ketten gelegte Vogel, hilflos und zu schwach, um irgendetwas an der Situation zu ändern. Mit dem gleichzeitig vorherrschenden Wunsch nach Freiheit. Ich würde niemals sagen, dass die Menschen, die mich aufnahmen, nicht freundlich und geduldig mir gegenüber gewesen sind, doch ich bin, was ich bin. Ungezähmt. Ein kleiner Einblick in diese Gemeinschaft wäre sicher von Nutzen, daher hier ein kleiner Überblick: Es war eine Gruppe aus verschiedensten Menschen von überall her. Sie hatten sich durch aktives Suchen nach Überlebenden zusammengeschlossen und eine Gemeinschaft inmitten der Ruinen (den Begriff benutzten sie für verwaiste Gebäude an Stadträndern) gegründet. Ich, mit meiner unstillbaren Neugier, hatte mich natürlich sofort gefragt, wie das Finden von Überlebenden auf eine so präzise Art und Weise möglich gewesen war und fand kurz darauf heraus, dass sie durch alte Generatoren, die sie wie ein Dynamo der alten Zeit mit Bewegung betrieben, die großen bunkerartigen Gebäude mit Strom versorgten. Das war mit ein Faktor dafür, dass auch wenige technische Mittel wieder Verwendung fanden, von dem eines eine große Festplatte war, die jede Bewegung auf die Geschwindigkeit und Größe genau analysierte und die Informationen über lebende Menschen in der Nähe zur Auffindung preisgab. Kein Werk eines Genies also, sondern bloße Wiederbelebung alter technischer Hilfsmittel. Am faszinierendsten fand ich jedoch seit meiner Ankunft den medizinischen Bereich, der mithilfe eines alten Heilungszentrums betrieben wurde und somit viele hilfreiche Instrumente bereitstellte. Die Frau, die mich am ersten Tag bereits als gesund eingeschätzt hatte, schien auch sonst eine unverzichtbare und mächtige Rolle zu spielen und entschied in vielen Fällen aufgrund ihres Wissens um den Einsatz der Instrumente über Leben und Tod. Sie selbst hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jedem Neuankömmling bis zur übelkeiterregenden Erschöpfung zu erzählen, dass die große Katastrophe, wie sie das Menschensterben nannte, auf Basis einer Pandemie geschehen sei. Einer tief sitzenden Krankheit im Gehirn, die nicht nur vollkommen unheilbar war, sondern auch hoch ansteckend, sodass bereits ein einziger Mensch mit Symptomen dieser psychischen Infektion eine ganze Gemeinschaft vernichten konnte. Es galt jeden mit auch nur geringsten Anzeichen einer Infektion auszuhändigen. Was die Anzeichen waren, habe ich bis zum heutigen Tage nicht verstanden, doch eines war sicher: Wer auch immer in ihr Labor mit Anzeichen dieser Krankheit hineinging, was in einer Regelmäßigkeit von einem Mal im Monat geschah, kam nie wieder heraus. Doch der kleine blauglänzende Berg von Kügelchen wuchs immer weiter an.

9

Achter Tagebucheintrag

Es vergingen Jahre. Ein Entfliehen war zwecklos und unnötig geworden, denn ich hatte kein dringendes Bedürfnis zur Fluchtergreifung und hatte mich inzwischen komfortabel eingelebt, auch wenn ich als größter Einzelgänger galt, was vermutlich daran lag, dass die Letzten sich vor allen Dingen in ihrer Attraktivität durch das Motto einer großen schönen Familie profilierten. Nur, dass sie das leider in keiner Weise waren. Wir lebten in verlassenen Gebäuden und ernährten uns durch teils eigenen Anbau und Wild. Eine Entwicklung oder rückwirkende Wiederaufnahme von Hilfsmitteln der alten Welt stand jedoch nur wenigen Auserwählten zu, was widerspruchslos von allen Mitgliedern toleriert wurde. Erst heute bemerke ich, dass ich eher ein Falke war, der unter einer Herde Schafen gelebt hat und seinen Blick wachsam auf die Schäferhunde gerichtet hatte. Wie auch immer hielt sich meine Begeisterung in Grenzen, doch nach und nach vertraute ich dem ein oder anderen netten Lächeln etwas an. Was ich jedoch nicht wusste war, dass das schöne Lächeln und nette Zuvorkommen als ein Köder diente, einen immer tiefer in den Kaninchenbau zu locken, bis man nicht mehr aus eigener Kraft herauskriechen konnte.

Ich lernte schnell, doch blieb trotzdem die meiste Zeit in stiller Heimlichkeit für mich, was viele der Einwohner sichtbar nervös machte, sodass ich häufig das Hauptthema bei der Gesprächsrunde aller Eigenartigkeiten war. Dennoch konnte keiner mein außergewöhnliches Talent im Jagen herunterspielen, sodass ich trotz aller Bemühungen von Gegenwind in meinem Rang immer höher aufstieg. Denn verschiedenste Funktionen in der Gemeinschaft wurden auf unterschiedlichste Mitglieder aufgeteilt. Es gab die Bauern, die Jäger, die Schlachter, die Köche, die Lehrer, die Näher, die Organisatoren und viele mehr, aber ganz oben in der Rangordnung waren natürlich die Heiler und Bewahrer des Rechts. Wie in einem Wolfsrudel hing das gesamte Funktionieren der Gemeinschaft von dem Pflichtbewusstsein der Mitglieder in ihrem Arbeitsbereich ab und vor allen Dingen von der Loyalität zum tonangebenden Anführer der Bande, dem angeblichen Gründer dieser Gemeinschaft. Sein Name war Chris. Er war ein groß gewachsener Mann mit einem selbstbewussten Gang und leicht wuscheligen dunklem Haar. Die meisten verehrten seine Person, da sie glaubten, dass er sie vor jedem weiteren Übel schützte. Tatsächlich zeigte die Gemeinschaft der Letzten eher Sektenverhalten, da alle Befehle und Ankündigungen von Chris schriftlich den Verwaltern überbracht und ohne Fragen ausgeführt wurden. Ganz ehrlich glaube ich sogar, dass er aus irgendeinem Grund keine Sorge um den plötzlichen Zusammenbruch des Systems hatte und sich ziemlich sicher war, dass alles reibungslos funktionierten würde. Denn es gibt ein ganz banales Bedürfnis der Menschen, dass die Neugier und unangenehmen Fragen in den Schatten stellt: Sicherheit durch ein vertrautes, funktionierendes System. Die meisten hatten alles verloren, alles was sie kannten, liebten, glaubten, alles war einfach urplötzlich in sich zusammengefallen. Beinahe wie ein riesiges Kartenhaus nach einem kleinen Luftstoß. Einfach weg. Es gab keine Fragen mehr, ob dies oder das mit rechten Dingen zuging oder Gedanken um das Aussehen der eigenen Erscheinung oder Sorgen darum, ob das Essen auch wirklich keine Tomaten hatte, da man sie nicht mochte. Verdammt, jetzt war man glücklich, wenn man überhaupt noch eine fand. Zunächst herrschte Panik, als dann der Hunger wie ein Blitz in die Leben der Menschen einschlug, war es die Verzweiflung, die sie dazu trieb, die letzten gammeligen Reste aus verlassenen Häusern und Restbeständen der Supermärkte zu essen. Die Menschen aßen, was sie kriegen konnten – sprichwörtlich. Diese anscheinend perfekte Gemeinschaft war aus dieser Sicht der Dinge ein durch und durch genialer Plan, die Menschen unter Kontrolle zu bekommen. Denn klar war: Wo Leid ist, ist auch die Möglichkeit, sich selbst zum Propheten zu ernennen. Eine ganz einfache und erfolgreiche Methode, die schon immer funktioniert hatte. Natürlich hinterfragte ich nicht, was ich sah, denn schließlich konnte niemand wirklich hinter die Fassade von Chris‘ Gedanken sehen, doch ich bemerkte sein vertrauliches Herumschwänzeln um die führende Heilerin in unserer Gemeinschaft und die anwachsende Neugier um die glitzernden Kugeln in dem Glas und mein Misstrauen kehrte wie ein ungebetener Gast wieder. Bis eine interessante Bekanntschaft mir den nötigen Anstoß gab, die Geschehnisse von Neuem zu hinterfragen. 

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Neunter Tagebucheintrag

Ich hatte die lebensnotwendige Aufgabe des Jägers in meinem sechsten Jahr ergattert. Eine ehrenwerte Aufgabe, denn die gesamte Nahrungsversorgung hing inzwischen von dem Gefundenen und Gejagten ab, da die restliche Überbleibsel der alten Welt wie Sand in einem sanften Strom eines Flusslaufs verschwanden. Und na ja, es ist ja kaum überraschend, dass ich ziemlich gut mit Messern umgehen konnte. Ich hatte inzwischen ein ganzes Arsenal an scharfen Klingen und den Ruf der Unbeugsamkeit, der mir viel sozialen Freiraum bescherte. Ganze drei Jahren versuchten sich viele an meiner Belehrung, von denen die meisten sich verzweifelt die Zähne an meiner Sturheit ausbissen. Fast jeder glaubte, dass ich intellektuell eingeschränkt und nicht ganz bei Verstand war, dabei wehrte sich einfach nur ein Teil von mir, diesen Menschen zu zeigen, wozu ich in der Lage war, vielleicht auch aus tiefsitzender Furcht, dass ich dadurch ins Visier der Heilerin geraten würde, die mir inzwischen eine Heidenangst machte. Es verschwanden immer mal wieder Einwohner, die später als unheilbar eingestuft wurden, doch in jedem dieser Fälle fiel mir auf, dass es Personen mit besonderen Fähigkeiten gewesen waren. Fast so, als bemühe man sich, die Intelligenz der Einwohner beschränkt zu halten, wobei man sich doch plötzlich die Frage stellt, warum geistige Überflieger als so gefährlich eingestuft werden. Die Fluchtversuche führten nirgendwohin und ich entschied mich häufig geradeheraus wieder zurückzukehren, als wäre da noch etwas, worauf ich wartete, wie ein Funke, der noch nicht entzündet war. Obgleich ein tief sitzender Teil in mir noch immer fort wollte, entdeckte ich die Geduld als meine neue Waffe. Ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis ich bereit sein würde fortzugehen und so wartete ich lange, sehr lange. Vielleicht zu lange, denn meine Geduld trieb mich immer weiter in den Strudel der Akzeptanz, dem ich am Ende nur um eine Haaresbreite entkommen konnte. Ich denke, es war Frühling, als ich zum ersten Mal auf Maria traf, denn das Laub war größtenteils zu Erde verdorrt und der Frost taute im beginnenden Regen, der auch die Brise eines unverkennbaren Neuanfangs brachte. Sie war eine wunderschöne Frau, die mit dem Talent der Anziehung gesegnet war, und doch sah ich in ihr etwas ganz anderes. Vielleicht war es die Stimme der Vernunft oder das tiefere Bedürfnis nach einem Menschen, dem ich vertrauen konnte. Eines stand jedoch fest: Wäre Maria nicht gewesen, wäre ich elendig zugrunde gegangen. An meinem eigenen Blut, Schreien und der bitteren Wahrheit erstickt. Wie auch immer, ich traf sie an einem recht normalen Morgen. Da ich grundsätzlich jegliche Kommunikation versuchte zu vermeiden, war es umso erstaunlicher, als ich mich auf meinem Weg in meinen recht kleinen Unterschlupf aus unfertigen großen Holzblöcken machte und mich eine junge Frau mit leuchtend grünen Augen und knallig roten Haaren auf dem Weg abfing. Ihr strahlendes Lächeln hob sie deutlich aus der düster grimmigen Menge von erbärmlichen Menschengestalten hervor. „Hallo!“, rief sie mir mit ihrer überraschend dynamischen Stimme entgegen. Sie kam mit einer solchen Euphorie auf mich zu, dass ich noch weiß, wie ich ein Stück zurücktaumelte. „Keine Sorge“, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, sobald sie nur noch eine Handbreit von mir wegstand, „ich muss dich kurz sprechen.“ Sie ging mit einer Selbstverständlichkeit in meine kleine Baracke hinein, die ich mein Zuhause nannte, dass ich ihr wie perplex folgte. Bei mir angelangt setzte sie sich auf ein kleines flauschiges Kissen, das ich in einer der verlassenen Städte aufgegabelt hatte. Ihr Lächeln durchbrach meine kalte Ausstrahlung auf eine merkwürdig wärmende Art, dass ich ziemlich sprachlos einfach nur dastand. Ihre Haut war so blass, dass sie fast durchsichtig schien und je länger ich sie betrachtete, desto mehr regte sich ein angenehmes Kitzeln in meinem Bauch, als hätte ich sie aus einem vorherigen Leben gekannt. Sie machte einen Ruck und begann zu sprechen, zwar erinnere mich nicht mehr an die Details, aber ungefähr folgendermaßen müsste es verlaufen sein: „Schön hier, vielleicht etwas unfertig, aber echt schön!“ Zuvor lebte ich wie die meisten Kinder in einem Gemeinschaftshaus, das aus vier Etagen bestand und für insgesamt zwanzig Kinder den Raum zum Essen und Schlafen bot. Warum die Kinder getrennt lebten, war mir unklar, doch hin und wieder verschwand der ein oder andere spurlos, denn ich zählte täglich aus Langeweile nach und die meisten Eltern empfanden es durch die soziale Trennung hinterher dann nicht so herzzerreißend. Ich fürchtete immerzu, dass mir dasselbe passieren könnte und bemühte mich daher sehr früh um ausgezeichnete Leistungen bei der Jagd und dem makellosen Anschein von Selbstständigkeit, sodass ich nach einigen Jahren die Erlaubnis bekam, in eines der verlassenen Wohnhäuser zu ziehen. Doch ich lehnte ab, denn ich wünschte nicht vollkommen zu einem der ihren zu werden und so entschloss ich mich, meinen eigenen Unterschlupf zu erbauen, um mich auf die harten Bedingungen der Natur erneut im Falle einer Flucht anzupassen. Maria blickte sich langsam in meinem winzigen Raum um, bestehend aus einer dreckigen Matratze mit vielen Erdresten, da ich nicht besonders häufig am zweimal in der Woche stattfindenden Tag der gemeinsamen Körperwäsche teilnahm, um neugierigen Blicken aus dem Weg zu gehen und stattdessen an ferne Flussmündungen wanderte. Mein ganzer Stolz war die warmhaltende Plüschdecke, die in einem sanften Himmelblau strahlte, die ich als Verdienst für meine großen Jagdtrophäen bekommen hatte, und mein selbstgebauter Holztisch, den ich auf der nicht sichtbaren Unterseite für die Zählung der vergehenden Tage nutzte, da ich über kein anderes zeitliches Gefühl verfügte. Anders als mein Dach, das aus einer bloßen regenabweisenden Plane bestand, die zur Isolation mit Knisterfolie gepolstert war, bestanden die Wände aus dicken Holzbrettern, die wiederum von außen zusätzlich mit Backsteinen stabilisiert wurden. An der einen Wand hing ein rundes Brett mit verschiedenen Zielbereichen, und in dem unzählige Messer steckten. Ich beobachtete Maria eine Weile beim Umgucken, bis ich schließlich vor Ungeduld explodierte. „Was willst du?“Ich denke, meine Stimme hatte eher einen Mangel an Begeisterung zu Beginn der Konversation. Sie räusperte sich und begann zu erzählen, ohne, dass ihr Lächeln von den Lippen wich: „Ich weiß zwar nicht viel über dich, aber ich weiß, dass du das Mädchen bist, das die Reise bis hierher mit einem Hund bestritten hat. Du hast einen einzigartigen Ruf, weißt du?“ Sie zögerte und führte weiter aus: „Ich glaube deiner Geschichte.“ Ich sah sie eine Weile an und versuchte mich zu entsinnen, ob ich sie schon einmal unter den anderen Kindern gesehen hatte, doch dem war nicht so. Sie war mir ein vollkommenes Rätsel, ein Gesicht, das zugleich so bekannt und doch auch fremd war. Ich erinnerte mich an die wiederholten Erzählungen, dass mich die Männer ganz allein im Wald gefunden hätten und nie ein Hund namens Finna existiert hätte. Ihrer Meinung nach war es eine bloße Illusion meines kranken Hirns gewesen, die aus der Einsamkeit entstanden war. Doch ich traute ihnen nicht, ich wusste schließlich, mit wem ich tagein und tagaus mein Essen geteilt und meine lange Reise ins Unbekannte bestritten hatte. Ich zog scharf Luft ein, als die Erinnerungen mir den erneuten Schmerz des Verlustes bewusst machten und wich Marias Blick nicht aus, als ich erwiderte: „Und du willst - was?“ Maria strich mit ihren Fingern durch ihre langen Haare. „Dir helfen“, sagte sie schließlich resolut. Und ich stand einfach nur da, wie versteinert, völlig unfähig, mir zu erklären was in dem Moment damals geschah. Denn diese Gemeinschaft war ein geschlossenes Netzwerk, in dem jeder seinen Teil beitrug und sonst schweigend jegliche Veränderungen akzeptierte. Doch nun saß ein Mädchen vor mir, das mich kaum kannte und auch sonst weniger als ein Glied in der Kette war, und eröffnete mir eine völlig neue Perspektive. Die Frage war bloß, woher sie mein inneres Bedürfnis kannte und wer sie überhaupt war, mir helfen zu wollen?

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Zehnter Tagebucheintrag

Leider weiß ich bis heute nicht, wer sie gewesen ist oder woher sie kam, aber eines wusste ich mit Sicherheit: Sie war der Schlüssel zu meinem Ziel. Ich wurde von einer tiefen Erschöpfung und Müdigkeit befallen, als in den Tagen danach etwas Unerwartetes passierte. Es wurde verkündet, dass fast ein Drittel der gesamten Mitglieder als infektiös eingestuft wurde. Eine Krankheit, die sich durch starke Kopfschmerzen kurz darauf bemerkbar machte. Doch keiner hatte wirklich eine Vermutung, woher sie kam, und so begann ich meine Zweifel in Taten umzusetzen und die Ohren nach Informationen zu spitzen. In Folge dieser schweren Infektionswelle kam nämlich Panik auf, dass es sich um dieselbe handeln würde, die zuvor beinahe die gesamte Menschheit ausgelöscht hatte. Zunächst wurden die meisten Einwohner voneinander isoliert und die vermuteten Auslöser nacheinander in die Heilungspraxis gebracht. Aus Angst, dass meine Erschöpfung als Symptom gedeutet werden würde, bot ich mich als Hilfe an und wurde überraschenderweise von der Heilerin akzeptiert (vermutlich, da sie dachte, dass mein geistiger Intellekt nicht existierte). Maria warnte mich davor, in die Höhle des Löwen zu treten, doch ich musste wissen was mir so offensichtlich all die Jahre entgangen ist. Ria (so nannte jeder der Letzten sie im Gespräch) machte sich meinen guten Umgang mit dem Messer zu nutzen und ich trat dem geheimen Kreis der Oberschicht an, der mehr Dreck am Stecken hatte, als sich ein jeder zuvor hätte vorstellen können. Eine junge Patientin kam, ich glaubte, dass sie die Mutter von zwei Söhnen war, die mit mir zusammen im großen Gemeinschaftshaus gelebt hatten, und Ria setzte zunächst eine Spritze an, sodass sie kurz drauf ruhig einschlief. Eine Reaktion, die ich zuvor in der Form nie erlebt hatte, und ich beobachtete fasziniert wie zwei weitere Männer die junge Frau auf einen weiteren mit Folie bezogenen Lederstuhl trugen und dort ihre Arme und Beine mit Gurten festbanden. Bei der Geste entging mir nicht, dass Ria einige auffällige kleine Narben in ihrer Handfläche hatte, die wie kleine leuchtende Sterne im hellen Lampenlicht aufblitzten. Zu meiner Überraschung kam sogar Chris vorbei und nahm die Vorgänge genauestens unter die Lupe. Ria legte Zeige- und Mittelfinger auf ihre Halsschlagader und nickte schließlich einem weiteren Mädchen, das eine Maske trug, kurz zu. „Lasst uns beginnen.“ Das Mädchen griff sich eine Klinge und hielt einen Moment vor mir inne. „Pass gut auf. Nächstes Mal bist du dran.“ Ich war wie benommen, als ich sah, wie sie die Klinge über dem Ohr der Frau, unter ihrem blonden Haar auf der Kopfhaut positionierte und stumpf die Haut in einem sauberen Kreis zu entfernen begann. Blut rann über ihre Finger und benetzte das Haar der Frau mit roten Sprenkeln. Ich spürte wie mein Magen sich augenblicklich krampfhaft zusammenzog und die Übelkeit wie ein Pfeil hinaufgeschossen kam. Ehe ich mich versah, keuchte ich bereits würgend über einem Eimer und hörte ein leises Kichern hinter mir. „Eine normale Reaktion, das nimmt mit der Zeit ab.“ Ich konnte das fleischige Geräusch des Schnittes in der Kopfhaut wie ein reißendes Blatt in meinem Gehör widerhallen hören und dachte bloß daran, dass ich lieber auf Maria hätte hören sollen. Wo hatte ich mich nur hineinbegeben? Wie konnte ich all diese Jahre in dieser Gemeinschaft leben, ohne jemals von diesen kranken Taten erfahren zu haben? Ich erhob mich zitternd und bemerkte, dass das Mädchen ihre Arbeit vollendet hatte, sodass Ria nun auf ein faltiges und vor Flüssigkeit triefendes Gehirn hinunterblickte und mit einer feinen Zange eine winzige Kugel herauszog. Ich schluckte gequält und versuchte nicht, auf das offenliegende Gehirn zu blicken, als Ria die kleine metallisch glänzende Kugel unter eine grelle Lampe hielt und sie langsam drehte. Sie war mit Blut beschmiert und doch schien es, als hätte sie die durchdringenden Augen eines lebenden Geschöpfes, das mich nicht aus den Augen ließ. Eine weitere Kugel für das Glas. Mir schien ein Licht aufzugehen, denn das Verschwinden der Einwohner war kein Zufall gewesen, sondern kalkuliert. „Das ist es nicht“, murmelte Ria, während sie die Kugel mit einem Tuch reinigte und ins Glas fallen ließ. „Das kann doch nicht sein! Wir haben einen anonymen Tipp bekommen, dass jemand unserer Mitglieder es hat und trotzdem suchen wir nun schon viel zu lange“, brummte Chris. Ich hatte an dem Punkt bereits den Faden des Gesprächsthemas verloren und starrte bloß verängstigt zu dem Mädchen, das die Kopfhaut nun wieder mit einem dunklen Faden verschloss. „Wird sie leben?“, fiepte ich und erinnere mich noch wie überrascht das Mädchen bei meinen sonst selten gesprochenen Worten zu mir aufblickte. „Vielleicht, manchmal haben sie Glück und manchmal auch nicht.“ Ich hatte in dem Moment das Gefühl, einen Stein gegessen zu haben, der mir quer im Magen lag. „Dass wir bisher keinen Erfolg hatten, ist bloß ein weiterer Beweis für dessen hohe Intelligenz“, führte Ria das Gespräch mit Chris fort. „Wozu uns an der Nase rumführen?“, grollte er, doch Ria schien keine Antwort darauf zu kennen und wendete sich stattdessen meinem inzwischen zitternden Körper zu. Sie legte eine Hand auf meine Schulter und ich zuckte unweigerlich zusammen, der Fluchtinstinkt schien bei mir jeden Muskel zu kontrollieren und ich bin mir ziemlich sicher, dass, wenn ich ihr in die Augen gesehen hätte, ich mich erneut mit Zähnen auf jeden Anwesenden geworfen hätte. In meinem Inneren begann sich eine große Schlucht zu öffnen, die jedes gute Gefühl verschluckte und eine existenzielle Angst übernahm die Kontrolle. „Du scheinst nicht die Richtige für diese Arbeit, geh nach Hause und ruh dich aus“, sagte sie mir ruhig und ich wusste aus irgendeinem Grund, dass ich die Nächste war. Ich ging nach Hause und versuchte mich zu beruhigen, doch jeder Versuch war sinnlos. Tausende Fragen wirbelten durch meinen Kopf, von denen eine ganz besonders hervorstach: warum? Warum tat man das unschuldigen Menschen an und was hatten diese Kugeln damit zu tun? Mein Kopf brummte von all der Verwirrung und obwohl ich darauf brannte die Antworten darauf zu erfahren, war mein Bedürfnis vor der Gefahr davonzurennen stärker denn je. Kurze Zeit später beschloss Chris mithilfe einer seiner engsten Vertrauten, einen großen Nahrungsspeicher als Bunker zu nutzen, in dem die infizierten Menschen „sicherheitshalber übergangsweise umgesiedelt wurden“, sodass weiteres Anstecken vermieden werden würde. Um genauer zu sein: Jeder der angeblich krank war, wurde auf Befehl des heiligen Bosses in einen isolierten Bunker gebracht, um dort zu verenden. Emphatisch, nicht? Was soll's, wenn es doch sowieso inzwischen zu viele Mäuler in der Gemeinschaft gab, die gestopft werden mussten. Kein Verlust, nein ein Gewinn. Zudem würde doch keinem mehr auffallen, dass gleich zehn Einwohnern auf einmal die Schädeldecke geöffnet wurde, denn sie waren ja versteckt vor aller Augen an der hoch ansteckenden Krankheit gestorben. Doch es war nicht diese Handhabe, die mich am meisten schockierte, sondern die Tatsache, dass die meisten in dem blinden Glauben, dass sie gesunden würden und alle nur das Beste für sie wollten, tatsächlich freiwillig in diesen Bunker gegangen sind. Jedenfalls zu Beginn. Denn jetzt kommen wir zu dem dunkleren Teil dieser Entwicklung: Die Situation eskalierte, als Mütter ihre kleinen Kinder in die (wie ich sie nannte) Todesgrube bringen mussten und Geschwister gewaltsam voneinander getrennt wurden. Und kaum hatten sie die große Katastrophe überlebt, wurde aus der netten Familiengemeinschaft ein sich gegenseitig zerfleischendes Wahnsinnspack. Es dauerte nicht lange, bis Freunde sich gegeneinander wendeten und einander beschuldigten, infiziert zu sein. Es kam zu einem radikalen Wandel in der friedlichen Gemeinschaft, vor der keiner mehr sicher war und ein jeder den nächsten mit skeptischem Blick beäugte und bei dem kleinsten Fehltritt oder Auffälligkeit wie ein wildes Tier zur Strecke brachte. Die Bewahrer des Rechts waren nun mehr Bewahrer des Chaos und zu Handlangern für Chris und Ria geworden, die dadurch weiter ihre Schnitte setzten konnten. Es ist schon lustig, wie viele Ähnlichkeiten diese Situation mit dem Untergang der alten Welt hatte und wie wenig Menschen aus ihren vorherigen Erfahrungen lernten. Ich wurde zu meinem Missfallen ganz besonders im Auge behalten und wusste, dass meine Flucht genauestens auf den Moment der vollkommenen Eskalation abgepasst sein musste, um nicht ins Feuer der Rage zu geraten. Es kam zu täglichen Prozessen eines neuen Ausmaßes, bei dem der angeblich Infizierte mithilfe von Zeugen und Beweisen zur Strecke gebracht werden sollte. Die neue Gerechtigkeit war in Wirklichkeit ein profitabler Pakt mit dem Teufel. Wie man sich sicher schon denken kann, ging es nun nicht mehr um Schutz vor Krankheit, der durch Morden im Übrigen noch nie gewährt wurde, sondern um etwas viel tiefer sitzendes: Status und Macht. Denn, wo der eine Freund als krank und infektiös entlarvt wurde, konnte der Beschuldigte als Belohnung seinen Platz in der Gemeinschaft übernehmen. Ein präzise durchdachter Plan der obersten Anführer, der zudem noch Anhänger schaffte, die ohne Fragen zu stellen Befehle befolgten und genau das schien auch das Ziel zu sein. Ich begriff, dass eine solch radikale Maßnahme mit etwas ganz Natürlichem zusammenhängen musste: Angst. Etwas oder jemand bereitete den Köpfen der Gemeinschaft schlaflose Nächte, drohte ihnen mit seiner Anwesenheit und unaufhaltsamer Macht, die in der Lage war, ihre Existenz auf ein Nichts zu reduzieren. Damals stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, ob es nicht noch irgendetwas aus der alten Welt gab, vielleicht ein Überbleibsel, das diese neue Lebensweise gefährdete. Ich sah Augen, die endlos beobachteten und keinen Blick von mir ließen. Diese hinterhältigen Pläne der Auslöschung polarisierten recht schnell, sodass sich die Gemeinschaft nach und nach in verschiedene Lager spaltete, die sich gegeneinander putschten. Der Wahnsinn erreichte seinen Höhepunkt und das Machtverhältnis geriet vollkommen aus den Fugen. Chris wurde von einer der Gruppen, die sich nun Befreier nannte, selbst aus seinem Haus gezerrt und in den Bunker gesteckt. Eine unerwartete Wendung der Ereignisse, die jedoch auch nicht unbeachtet blieb, denn gleich darauf erklärten die Befreier mit schwer beladenen Geschützen in der Hand Ria zur neuen Anführerin. Wie man sich schon denken kann, wurde damit die Situation nur noch mehr zugespitzt und weiterhin Menschen eingesperrt, mit einem einzigen Unterschied: Von da an brauchte man keine Verhandlungen mehr, denn man bekam gleich eine Waffe an den Kopf gerückt, sodass jeder Einspruch zwecklos war. Die Schreie wurden von Tag zu Tag lauter und das Hämmern an die schweren Metalltüren ein unerträgliches Trommeln der Nacht. Trotzdem gingen täglich immer wieder Männer hinein, um ihnen Nahrung und Wasser zu bringen, das häufig jedoch kaum für die Hälfte reichte, sodass zum Teil abgemagerte Gestalten des Nachts in Richtung Rias Heilergebäude getragen wurden, von denen nur wenige als geheilt in ihre Heime zurückkehrten. Ich beobachtete das Kommen und Gehen wie eine aufmerksame Eule in der Nacht und wurde das dumpfe Grollen in meinem Bauch nicht los, dass es hierbei um etwas Größeres ging, als ich mir vorstellen konnte. Einige Wochen später wurden Maria und ich zum Angriffspunkt. Ich war noch nie ein Liebling der Gemeinschaft gewesen, anders als Maria, die wie ein unfassbarer Geist gewesen war, der der Aufmerksamkeit eines jeden Verdachts entglitt. Ich entschied, dass die folgende Nacht bei dem beginnenden Mondzyklus die beste Gelegenheit sein würde, in der tiefen Schwärze zu entkommen, doch Maria zwang mich zu bleiben. Sie meinte, es würde eine bessere Gelegenheit kommen und sie hatte recht. Denn die Gelegenheit kam bereits am nächsten Tag, wenn auch anders als ich es erwartet habe.

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Elfter Tagebucheintrag

Die Befreier statteten mir mit einem gefühlvollen Hämmern am sanften Morgen des nächsten Tages einen Besuch ab. „Endlich wird dieses kranke Messerbiest beseitigt, hat sich schon viel zu lange hingezogen, dass Ria den Befehl gibt“, kündigte sich ein Brocken von einem Mann an, den ich als den damaligen Koch der Gemeinschaft identifizieren konnte, der mir die Jahre zuvor immer mit einem herzlichen Lächeln das erbeutete Wild aus dem Arm genommen hatte. Ich war augenblicklich hellwach und meine Reaktion recht eindeutig, als eines meiner fliegenden (frisch geschärften) Messer knapp seinen Hals verfehlte und die Holztür mit einem gewaltsamen Tritt aus den Fugen gerissen wurde. Ich hatte meinen Gürtel noch vom Vorabend um, doch die Messer unüberlegt auf die Tischplatte weiter weg gelegt, sodass ich bis auf eines keines parat hatte. Sein Knurren ließ mich kurz erstarren: „Du bist tot, Mädchen!“ Ein wildes, schreiendes Lachen ertönte von einer Frau, die dicht hinter ihm stand. „Es wird Zeit für deine Medizin.“ Bedauerlicherweise gab es aber nur einen Ausgang. Meine Lösung: Ich stürzte auf die Platte zu und griff mir zwei meiner breitesten Messer, dabei löste sich die spröde Holzplatte und drehte sich auf die eingeritzte Seite. Ohne dem weitere Beachtung zu schenken, stürzte ich auf die Gruppe zu, denn ich war wendig und könnte bei genügend Geschwindigkeit möglicherweise an ihnen vorbeisprinten. Die Chancen standen zweifellos schlecht, doch etwas in mir flüsterte mir den nötigen Mut zu. Gerade als ich mich an dem langsamen Brocken vorbeigequetscht hatte, presste sich überraschend der Lauf eines langen Jagdgewehrs gegen meine Schläfe, sodass ich das Korn des Gewehrs deutlich in meine Haut drücken spürte. Ich hielt bebend inne und hörte die Stimme des Mädchens, das Rias blutige Arbeit vollrichtet hatte. „Nicht so schnell, wir wollen dir doch nicht unnötig wehtun müssen.“ Schritte näherten sich von hinten und ich erinnere mich noch an das unverkennbare Kratzen von Holz auf Holz, als meine Tischplatte aufgehoben wurde und eine dumpfe Stimme mit Blick auf die Ritzen verkündete: „Scheint, als könnte sie mehr, als wir angenommen haben.“ Das Mädchen signalisierte mit einem Nicken, dass zwei weitere Männer, von denen ich einen als den erkannte, der mich einst gefunden und hergebracht hatte, mich packen sollten und ich wusste, dass dies das Ende sein musste. Sie quetschten meine Arme gewaltsam in ihre und schleppten mich zischend und mit den Füßen schlurfend in die Richtung des Bunkers. Sie keuchten von der Anstrengung, gegen meine Wildheit anzukämpfen und kurz darauf schlug schließlich ein Dritter schmerzhaft mit dem Ellenbogen gegen meine Wirbelsäule, sodass mir kurz schwarz vor Augen wurde. Der graue Betonbunker ragte wie der Bug eines riesigen Schiffes in die Höhe, bevor er im Erdreich verschwand und als die dicke Stahltür sich öffnete und der Gestank von saurer Verwesung und eisiger Kälte mit entgegenschlug, war ich kurz davor, unter dem Gewicht meiner Angreifer einzusacken. Niemals hätte ich gedacht, dass dies mein tragisches Ende sein würde, nachdem ich doch so viele Jahre so weit gekommen war. Ich spürte eine Kälte in mir aufsteigen, eine emotionslose Nüchternheit baute einen schützenden Wall um mich und auch, wenn es mir schwerfällt dieses außergewöhnliche Gefühl zu beschreiben, kann ich doch sagen, dass es mich in seiner Präsenz eingeschüchtert hat. Einen kurzen Augenblick war alles wie eine eingefrorene Bewegung, gefangen im Bild des sich vor mir auftuenden dunklen, von Schreien erfüllten Loch, als ich unerwartet Marias sanftes und unberührt blasses Gesicht im Lichtschein auftauchen sah. Sie saß einfach nur da, ruhig, ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ihre roten Haare glühten in der Dunkelheit wie das Flackern eines Lichts auf. Sie war dort in dem Bunker und das nächste, was ich spürte, war die schwere stickige Luft und der Geruch des Todes, der mich unweigerlich würgen ließ. Kein Prozess, keine Gegenwehr, die schwere Tür hinter mir schloss sich einfach und das war‘s. „Das ist in Ordnung“, ertönte Marias freudige Stimme, als sie mir eine Hand auf die Schulter legte, dessen Druck kaum zu vernehmen war. Ich blickte auf, in der Hoffnung ihr Gesicht erkennen zu können, doch nicht einmal die Silhouette ihres Körpers war in der Schwärze erkennbar. Schreie ließen meine Hände erzittern und meine Gedanken in einen gewaltsamen Strom der Hoffnungslosigkeit abdriften. Doch Maria flüsterte: „Du musst dich erinnern, Kyla“, und ich zuckte bei dem Namen zusammen. Er löst eine Lawine von Gefühlen in mir aus, die ich nicht entschlüsseln konnte. Doch ich blieb auf ihre Stimme fokussiert, als sie sagte: „Du kennst den Ausgang, du weißt was du tun musst, ich kann es nicht für dich tun.“

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Zwölfter Tagebucheintrag



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