Chaos mit Herz, Band 1 - Tina Keller - E-Book

Chaos mit Herz, Band 1 E-Book

Tina Keller

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Beschreibung

Wo die schräge Berliner Familie Bergmann auftaucht, ist das Chaos nicht fern – und die flotten Sprüche schon gar nicht. Ob an der Ostsee oder auf einer schillernden Kreuzfahrt: Burkhard, Barbara und Dieter hinterlassen überall eine Spur der Verwüstung. Trotz aller Turbulenzen, Missverständnisse und Katastrophen findet am Ende jeder Geschichte ein Liebespaar zueinander, so dass es doch noch ein Happy End gibt. Ein Mistkerl an Bord Alina hat Weihnachten gründlich satt. Sie weigert sich, die Feiertage mit der buckligen Verwandtschaft und überflüssigen Geschenken, die kein Mensch braucht, zu verbringen. Nein, dieses Jahr soll alles anders werden! So tritt sie mit ihrer Freundin Barbara und deren schräger Familie eine Anti-Weihnachts-Kreuzfahrt an und ist begeistert, als sie den überaus charmanten Nicolas kennenlernt. Doch Alinas Freude wird bald mehr als getrübt, als sie erfährt, wer Nicolas wirklich ist... Sommersongs und Ostseeküsse Für manche Dinge ist es irgendwann einfach zu spät. Das muss auch Leonie erkennen, die sich nie mit ihrer Mutter versöhnen konnte. Dankbar nimmt sie das Angebot ihrer Tante an, die sie in ihre kleine Pension an der Ostsee einlädt. Auch Ninas schräge Familie ist anwesend und bringt Leonie immer wieder zum Lachen. Und dann gibt es da noch Linus, einen Gast und zudem berühmten Sänger, der im Möwennest eincheckt. Leonie ist vom ersten Augenblick an genauso fasziniert von ihm wie er von ihr. Doch auch Linus hütet ein dunkles Familiengeheimnis - und nicht nur das... Walking on Sunshine Bloß weg hier! Lena lechzt nach ein paar Tagen Erholung, nachdem ihr – zugegebenermaßen höchst attraktiver – Chef Luke ihr den letzten Nerv raubt. Als sie jedoch in ihrem Hotel eintrifft, erwartet sie der erste Schock: Statt des erhofften Wellness-Urlaubs hat sie versehentlich eine zünftige Fasten-Wandertour gebucht. Doch es kommt noch schlimmer: Wer nimmt ebenfalls an dieser Hunger-Wanderung teil? Der nervige Luke, den sie in ihrem Urlaub ganz bestimmt nicht mehr sehen wollte. Und dann wird alles doch noch ganz anders, als Lena sich das jemals hätte vorstellen können...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Tina Keller

Ein Mistkerl an Bord

Humorvoller Liebesroman

Alina hat Weihnachten gründlich satt. Sie weigert sich, die Feiertage mit der buckligen Verwandtschaft und überflüssigen Geschenken, die kein Mensch braucht, zu verbringen. Nein, dieses Jahr soll alles anders werden!

Ihre Freundin Barbara ist sofort damit einverstanden, der sentimentalen Stimmung zu entfliehen. Eine Single-Kreuzfahrt, auf der es weder einen Tannenbaum noch Weihnachtslieder gibt, ist genau das Richtige für die beiden Freundinnen.

Gleich am ersten Tag lernt Alina nicht nur zahlreiche Passagiere kennen, die beim Essen jegliche Hemmungen verlieren, sondern auch den überaus charmanten Nicolas.

Erfreulicherweise ist Nicolas genauso begeistert von ihr wie sie von ihm, so dass einer aufregenden Reise mit prickelnden Momenten nichts mehr im Wege steht. Was für eine Alternative zu den sonstigen öden Festtagen!

Doch Alinas Freude wird bald mehr als getrübt, denn sie erfährt, wer Nicolas wirklich ist - und das verändert alles.

Kapitel 1

Ich bin ein Alien. Jedes Jahr kurz vor Weihnachten wird mir das wieder klar. Während alle glückselig herumtaumeln, Plätzchen backen, wie besessen Geschenke einkaufen und sich auf die „schönste Zeit des Jahres“ freuen, würde ich am liebsten auswandern. Ich kann mit diesem Fest einfach nichts anfangen. Das war schon immer so. Aber ich traue mich kaum, das zuzugeben, weil ich damit fast überall auf Unverständnis stoße.

Nur meine Freundin Barbara versteht mich, weil sie genauso empfindet. Und diesmal hat sie eine glänzende Idee.

„Hey, was hältst du davon, wenn wir dem ganzen Rummel dieses Jahr entfliehen?“, sagt sie mit leuchtenden Augen und schiebt mir einen Flyer zu. „Wir lassen Weihnachten ausfallen und stechen stattdessen in See.“

Erfreut sehe ich Barbara an. Das hört sich mehr als gut an. Neugierig beginne ich zu lesen.

Nordeuropa Kreuzfahrt „No Christmas Bells on Board“

Bist du den Weihnachtsstress leid? Hast du es satt, mit Verwandten am Tisch zu sitzen, mit denen du dir nichts zu sagen hast und Geschenke nach Hause zu tragen, die im Mülleimer landen? Sehnst du dich nach einer Reise ohne Weihnachtsbaum, Weihnachtslieder und das ganze Brimborium?

Dann bist du bei uns genau richtig!

Wir versprechen dir, dass keiner unserer Angestellten eine Weihnachtsmütze trägt oder dich sonst irgendwie an das Fest erinnert. Unser Schiff ist eine weihnachtsfreie Zone!

Dafür wirst du von einer Menge Leute umgeben sein, die genauso ticken wie du und die mit Weihnachten nicht viel anfangen können.

Diese Reise ist speziell für Singles gedacht, um in ungezwungener Atmosphäre neue Leute kennenzulernen, mit denen du ein paar schöne Tage verbringst. Vielleicht lernst du sogar den Partner fürs Leben kennen! Letzteres können wir dir zwar nicht garantieren, aber wir garantieren dir ein paar unbeschwerte, fröhliche Tage an Bord.

Hier ist unsere Route:

16.12. Leinen los in Hamburg

17.12. Seetag

18.12. Portland, Großbritannien

19.12. Falmouth, Großbritannien

20.12. Saint-Malo, Frankreich

22.12. Rouen, Frankreich

23.12. Seetag

24.12. London,

25.12. Antwerpen

26.12. Antwerpen

27.12. Seetag

28.12. Hamburg

An Bord gibt es viele tolle Veranstaltungen, Disco, Live Bands und natürlich jede Menge kulinarische Köstlichkeiten. Sei dabei und verlebe unvergessliche Weihnachtsfeiertage ohne Weihnachten!

„Da fahren bestimmt nur schräge Leute mit.“ Marie, die Dritte im Bunde, lacht laut auf. „So richtig frustrierte Singles, die niemand an Weihnachten bei sich haben will. Glaubst du echt, Alina, du bist da in besserer Gesellschaft als bei deiner buckligen Verwandtschaft?“

„So richtig frustrierte Singles, die niemand an Weihnachten bei sich haben will?“, wiederhole ich empört. „Was soll das denn heißen?“

Marie zuckt die Schultern.

„Ich glaube einfach, dass es ganz spezielle Leute sind, die an so einer Kreuzfahrt teilnehmen“, erwidert sie. „Ein normaler Mensch bleibt zu Hause bei seiner Familie. Das ist meine Meinung. Ich liebe Weihnachten und freue mich schon das ganze Jahr darauf.“

„Das kannst du ja auch“, erlaubt Barbara ihr. „Alina und ich sehen das eben anders.“

„Genau. Ich finde die Idee super.“ Begeistert strahle ich Barbara an. „Ich bin auf jeden Fall dabei. Aber sag mal – seit wann bist du Single? Gibt es Steve nicht mehr?“

„Doch, schon, aber das muss die Reederei ja nicht wissen“, erwidert Barbara vergnügt. „Steve ist mit seiner Band über Weihnachten auf Tournee in Italien. Normalerweise wäre ich mitgekommen, aber die Tournee ist der reinste Stress. Im Grunde sitzen die den ganzen Tag nur im Bus und fahren endlose Strecken. Darauf kann ich echt verzichten. Und auf eine Kreuzfahrt hätte ich auch mal wieder Lust. Da Steve und ich uns aus Weihnachten nichts machen, ist es kein Problem, wenn wir in dieser Zeit nicht zusammen sind.“

„Du willst auf eine Single-Kreuzfahrt gehen, obwohl du gar kein Single bist? Also, das ist meiner Meinung nach Betrug.“ Marie runzelt die Stirn. Sie scheint heute ihren kritischen Tag zu haben.

„Stell dir mal vor, es verliebt sich jemand in dich und nimmt an, du wärst solo. Dem brichst du das Herz. Ich finde das gemein. Die Kreuzfahrt ist für Singles gedacht, und dann sollten auch nur Singles daran teilnehmen.“

„Ich werde mich schon so verhalten, dass sich niemand in mich verliebt.“ Barbara zuckt ungerührt mit den Schultern. „Wichtig ist, dass man auf dieser Reise eine Menge Spaß hat. Und dafür werde ich schon sorgen. Wenn die Leute mit langen Gesichtern an ihren Tischen sitzen, werde ich sie mit ein paar deftigen Sprüchen aufheitern.“

„Daran habe ich keinen Zweifel“, grinse ich.

Barbara ist nicht auf den Mund gefallen und sagt immer, was sie denkt. Bei vielen Menschen eckt sie mit dieser geraden, ehrlichen Art an, aber ich liebe sie dafür. Zumindest weiß man bei ihr immer, woran man ist.

„Ich finde das unmöglich“, sagt Marie tadelnd. „Es hat schließlich einen Grund, warum nur Singles an Bord sind.“

„Aber ich nehme Steve nicht mit“, erklärt Barbara. „Ich bin allein dort. Also bin ich Single.“

„Du weißt genau, was ich meine“, entgegnet Marie kopfschüttelnd. „Du bist nicht ehrlich. Ich prophezeie dir, dass du Probleme bekommen wirst. Du wirst noch sehen, dass ich recht behalte.“

„Quatsch“, wehrt Barbara Maries Einwand brüsk ab. „Womit sollte ich Probleme bekommen?“

Marie stöhnt auf. „Das sagte ich schon – wenn du jemanden kennenlernst, der mehr von dir will.“

„Und ich sagte bereits, dass ich mich Männern gegenüber nicht so verhalten werde, dass sie sich in mich verlieben“, wiederholt Barbara. „Also Ende der Diskussion.“

Dann wendet sie sich an mich.

„Alina, hättest du was dagegen, wenn ich meinen Onkel und meinen Cousin mitnehmen würde?“

Erstaunt sehe ich Barbara an.

„Du meinst deinen Onkel Burkhard und deinen Cousin Dieter, mit denen du schon ein paarmal auf einer Kreuzfahrt warst?“, will ich wissen.

Barbara nickt. „Genau die.“

„So ganz ohne Familie geht es anscheinend doch nicht“, stichelt Marie.

„Die beiden sind schon in Ordnung“, übergeht Barbara Maries Bemerkung. „Jedenfalls kann man viel Spaß mit ihnen haben. Mein Onkel trinkt gern das eine oder andere Gläschen und läuft am liebsten Frauen nach, die halb so alt sind wie er. Dieter ist glücklich, wenn er den ganzen Tag lang essen kann, was auf einem Kreuzfahrtschiff kein Problem darstellt. Ich habe gestern mit beiden telefoniert und sie maulten herum, dass sie so gar keine Lust auf Weihnachten hätten und schon gar nicht mit der Familie feiern wollen. Ich glaube, sie würden sich echt freuen, wenn sie eine Reise unternehmen könnten.“

„Klar, sie können natürlich gern mitkommen“, bin ich sofort einverstanden. „Sind sie denn auch Singles?“

Barbara nickt. „Mein Onkel wollte zwar letztes Jahr heiraten, findet aber plötzlich, dass er noch zu jung ist, um sich zu binden. Dabei ist er irgendwas zwischen 70 und 100. Genau sagt er das ja nie. Sein Alter ist ein großes Geheimnis. Und Dieter ist schon Single, seit ich ihn kenne. Ich habe noch nie gehört, dass er mit einer Frau zusammen war.“

„Na, das sind doch schon mal zwei Anwärter auf den Posten an deiner Seite“, zieht Marie mich auf und lacht.

„Ich will überhaupt niemanden an meiner Seite haben“, stelle ich klar. „Nicht umsonst habe ich mich von Lucas getrennt.“

„Du hast dich von ihm getrennt, weil er ein notorischer Fremdgänger war“, erinnert mich Barbara. „Es hat nur leider viel zu lange gedauert, bis du endlich dahinter gekommen bist.“

„Er hat mir gesagt, er sei sexsüchtig und könne nichts dafür“, seufze ich. „Vielleicht ist das auch tatsächlich so. Wie auch immer, mit so etwas kann ich nicht leben.“

„Er hätte seine angebliche Sexsucht ja auch mit dir ausleben können“, findet Marie. „Aber wenn ich mich recht entsinne, lief bei euch im Bett nicht besonders viel, oder?“

„Nicht wirklich“, seufze ich.

Von wegen Sexsucht! Im Nachhinein bin ich fest davon überzeugt, dass Lucas nur ein Dach über dem Kopf gesucht hat und eine Person, die ihn verpflegt. Er als sensibler Künstler hat es nie für nötig gehalten, einem schnöden Job nachzugehen, sondern sich den ganzen Tag seiner Schreibkunst gewidmet. Mehr als die ersten paar Seiten eines Romans ist allerdings nie dabei herausgekommen. Ich hätte ihn schon viel eher vor die Tür setzen sollen. Das habe ich nun endlich vor einem Jahr getan und damit ist das Thema für mich erledigt. Ich will nicht mehr darüber reden. Ich will nicht einmal darüber nachdenken.

„Halten wir fest: Wir stechen zu viert in See“, frohlockt Barbara. „Ich werde Dieter und Burkhard heute Abend anrufen und ihnen die frohe Botschaft übermitteln. Sie werden sich wie verrückt freuen. Unsere Kreuzfahrten waren immer sehr ereignisreich. Und eine Kreuzfahrt nur mit Singles ist besonders aufregend und spannend. Bestimmt finden sich einige Paare.“

„Das ist nicht meine Intention“, stelle ich klar. „Ich will wirklich nur meiner buckligen Verwandtschaft entgehen und keine Weihnachtslieder singen müssen.“

Barbara klopft mir aufmunternd auf den Rücken.

„Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen.“

„Ich stelle mir so eine Kreuzfahrt eher traurig vor“, sinniert Marie. „Da sitzen wildfremde Leute zusammen an einem Tisch, die alle niemanden mehr haben. Und das ausgerechnet an Weihnachten. Deprimierender geht es gar nicht mehr. Da muss man doch schlecht drauf sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da lustig zugeht. Wahrscheinlich flennen am 24. alle um die Wette.“

Marie will uns diese Reise offenbar vermiesen, was sie aber nicht schaffen wird. Ich bin viel zu beseelt von der Vorstellung, diesmal nicht vor dem Weihnachtsbaum zu hocken und alberne Lieder zu singen, während meine Verwandten heilige Gesichter aufsetzen und so tun, als würden sie sich über irgendwelchen Kram freuen, den sie in Wirklichkeit verabscheuen.

Ich habe mich letztes Jahr jedenfalls nicht über folgende Geschenke gefreut: eine schnell wirkende Augenmaske gegen Tränensäcke und Falten (richtig boshaft, oder?) von meiner Cousine Xenia; eine abgrundtief hässliche Porzellanfigur, die Onkel Heribert wohl irgendwo auf dem Speicher gefunden hat; eine DVD über einen Aufseher im Todestrakt eines Gefängnisses (ich muss schon sagen, das passt hervorragend zu Weihnachten); einen 700seitigen Roman über eine Familie, die düstere Geheimnisse mit sich herumträgt (stinklangweilig, außerdem ist mir fast der Arm abgefallen beim Versuch, das Buch abends im Bett zu lesen) sowie Pralinen, die ich nicht mag und Wein, den ich nicht trinke. Am liebsten hätte ich das ganze Zeug sofort in die Mülltonne gekippt. Ich war richtig aggressiv, als ich abends nach Hause kam.

Wieder mal wurden nur höfliche Nichtigkeiten ausgetauscht und niemand hat gesagt, was er wirklich denkt. Diese verlogene Scheinheiligkeit brauche ich nicht. Da sitze ich lieber mit frustrierten, fremden Leuten am Tisch, ganz ehrlich. Schlimmer als meine Verwandten können sie überhaupt nicht sein.

Na, dann: Schiff ahoi!

Kapitel 2

Wir schreiben den 16. Dezember, und zum ersten Mal seit Jahren habe ich kurz vor Weihnachten keine schlechte Laune. Im Gegenteil, ich stehe voller Vorfreude auf dem Bahngleis am Südkreuz und warte auf Barbara und ihre Verwandten. Ich freue mich darauf, neue Leute an Bord kennenzulernen und mit ihnen ein paar schöne Tage zu verbringen. Ich bin selbstverständlich nicht der Meinung, dass es sich bei meinen Mitreisenden um „asoziale Freaks“ handelt, wie mein Cousin Daniel gehässig bemerkte. Der ist nur neidisch, weil er selbst drei langweilige Tage mit seinen nervtötenden Kindern und seiner hysterischen Frau verbringen muss. Sicher würde er alles dafür geben, wenn er dem Weihnachtstrubel entgehen könnte, so wie ich. Aber außer mir traut sich das offenbar niemand. Jeder sitzt lieber die drei verhassten Feiertage irgendwie ab, anstatt die Regeln zu brechen und das zu tun, was er wirklich tun will.

Aber ich war schon immer aufmüpfig und habe mich selten angepasst, und diesen Weihnachtszirkus habe ich sowieso viel zu lange mitgemacht. Aber damit ist jetzt Schluss. Gut, dass Barbara mich auf den rechten Weg geführt hat.

„Hey, Alina, hier sind wir!“, höre ich Barbaras Stimme und drehe mich um.

Ja, da sind sie. Unverkennbar. Ich lache laut los, denn sie tragen Micky Maus-Ohren auf dem Kopf, die lustig hin und her wackeln. Das war bestimmt Barbaras Idee, denn sie hat immer nur Blödsinn im Kopf. Der ganze Bahnsteig dreht sich nach ihnen um und fängt an zu kichern. Barbara ist immer ein Garant für gute Laune.

„Hallo, ihr Micky Mäuse“, begrüße ich die drei und falle Barbara um den Hals. Danach gebe ich einem älteren Herrn die Hand, der sich als Burkhard vorstellt. Er ist sehr fesch und jugendlich angezogen: blaue Jeans mit Nieten und Löchern, dazu eine schwarze Lederjacke im Bikerstil. Barbara hat mir verraten, dass er über 70 ist, aber ich würde ihn glatt auf Anfang 60 schätzen. Er hat strahlende, blaue Augen, schneeweiße Zähne und ist total braun gebrannt. Er strahlt mich an, tätschelt meinen Arm und mein Herz fliegt ihm sofort zu. Was für ein sympathischer Mensch! Mit ihm werde ich mich bestimmt gut verstehen.

Die dritte Micky Maus ist ziemlich rundlich und im Gegensatz zu Burkhard eher unmodern gekleidet. Dieter trägt eine braune Jacke und eine beige Bundfaltenhose und ist nicht ganz so überschwänglich wie Burkhard. Trotzdem macht auch er einen sehr netten Eindruck.

Barbara trägt wie üblich bunte, schrille Klamotten und ihre langen, roten Haare offen. Wie immer ist sie ein Blickfang, was natürlich auch an ihrer lauten, burschikosen Art liegt. Barbara ist weder zu übersehen noch zu überhören.

„Wir fanden das besser als eine alberne Nikolausmütze“, erklärt Barbara und wackelt besonders heftig mit dem Kopf. „Unser Zug hat eine halbe Stunde Verspätung, guckt mal auf die Tafel!“

Sie seufzt abgrundtief.

„Ich möchte auch nur ein einziges Mal erleben, dass ein Zug pünktlich kommt. Was steht da noch? Wir sollen die geänderte Wagenreihung beachten? Was soll denn das bedeuten?“

„Die Wagen des Zuges haben eine andere Reihenfolge als ursprünglich vorgesehen“, erklärt Dieter und beißt in ein riesiges Brötchen.

Barbara runzelt die Stirn.

„Das ist ja ganz toll“, meckert sie los. „Wenn ich Pech habe, stehe ich am Anfang des Bahnsteigs und der Wagen, in dem ich einen Platz reserviert habe, ist am Ende. Dann kann ich entweder hechelnd mit meinem Koffer den Bahnsteig entlanglaufen oder, was noch schlimmer ist, mich mit meinem Koffer durch die viel zu engen Zugabteile drängen. Das fängt ja wirklich gut an.“

„Am besten, wir stellen uns in die Mitte“, schlägt Dieter kauend vor. „Dann müssen wir nicht ganz so weit laufen.“

„Ich kann gern deinen Koffer tragen“, bietet Burkhard hilfsbereit an.

Barbara hat mir erzählt, dass ihr Onkel gerne den Diener spielt und hübschen, jungen Damen oft einen Gefallen tut. Barbara schüttelt den Kopf, wobei ihre Mickymaus Ohren hin und her hüpfen.

„Nee, lass mal, mein Koffer hat vier Rollen, das geht schon. Du bist auch nicht mehr der Jüngste. Das will ich dir nicht zumuten.“

Eine steile Falte erscheint zwischen Burkhards Augenbrauen, und ich vermute, er fasst es nicht unbedingt als Kompliment auf, dass Barbara ihn soeben auf sein Alter hingewiesen hat.

„Ich kann sehr gut einen Koffer tragen, notfalls auch zwei“, erwidert er hitzig. „Gestern war ich noch im Fitnessstudio gewesen, da habe ich fünfzig Kilo gestemmt. Da ist ein Koffer gar nichts.“

„Du gehst ins Fitnessstudio?“, fragt Dieter und sieht ehrlich überrascht aus. „Seit wann das denn? Und warum?“

„Warum geht man in ein Fitnessstudio?“ Burkhard sieht Dieter strafend an. „Natürlich geht man in ein Fitnessstudio, um fit zu sein. Das sagt doch schon der Name. Und warum will man fit sein? Damit man sich besser fühlt und einem die Dinge leichter von der Hand gehen. Darüber solltest du auch mal nachdenken. Komm doch mal mit.“

„Dieter will nicht fit sein, sondern fett“, sagt Barbara ungerührt und knufft Dieter in seine rundliche Taille.

Ich sehe sie erschrocken an. Das war jetzt aber wirklich hart. Ob Dieter nicht beleidigt ist? Doch Dieter grinst nur.

„Charmant wie eh und je, unsere Cousine Barbara“, lässt er sich nicht die Laune verderben. „Aber du hast schon recht. Ich möchte mein Leben genießen und dazu gehört für mich nun mal Essen. Da nehme ich es gern in Kauf, dass ich ein bisschen mollig bin.“

„Ein bisschen mollig ist gut“, lacht Barbara. „Du hast wohl auch einen Knick in der Optik.“

„Den hast wohl du, sonst würdest du nicht so nah an die Gleise herangehen“, weist Burkhard sie zurecht und zieht sie ein Stück nach hinten. „Das ist gefährlich, Mädchen.“

„Wieso, der Zug kommt doch erst in einer halben Stunde“, erinnert Barbara ihn. „Soll ich noch schnell was zu essen holen?“

„Auf gar keinen Fall.“ Burkhard schüttelt energisch den Kopf. „Wir sind gleich auf dem Schiff, und da gibt es alles umsonst. Warum sollen wir jetzt noch Geld ausgeben? Das wäre die totale Verschwendung.“

„Finde ich auch“, stimmt Dieter zu. „Nein, wir halten durch.“

Nach einer Dreiviertelstunde fährt der Zug schließlich ein und wir versuchen herauszukriegen, wo sich unser Wagen befindet, was uns aber leider nicht gelingt. Natürlich ist es genauso, wie wir schon befürchtet haben: Die Leute stehen mit großen Koffern in den engen Gängen und keiner kommt vorwärts.

„Bis wir unsere reservierten Plätze erreicht haben, sind wir in Hamburg“, seufze ich. „Sollen wir hier stehen bleiben? Lohnt sich das überhaupt, zu unseren Plätzen zu gehen?“

„Ich stehe doch nicht zwei Stunden hier herum“, ereifert sich Barbara.

„Außerdem hat die Reservierung 4,50 € gekostet“, empört sich Burkhard. „Das wäre dann ja völlig umsonst gewesen.“

„Auf keinen Fall lasse ich jemanden auf meinem Sitz sitzen, für den ich die Reservierungsgebühr bezahlt habe“, verkündet Dieter. „Also los, auf in den Kampf.“

Und ein Kampf ist es wirklich, sich durch gefühlte hundert Wagen zu zwängen, vorbei an genervten Reisenden, die in die andere Richtung wollen. Es geht nur millimeterweise vorwärts und ich bin schweißgebadet, denn es ist unerträglich heiß. Leider habe ich aber nicht genug Platz, um meine Jacke auszuziehen.

„Nur noch drei Wagen“, ächzt Dieter vor mir. „Wir haben es gleich geschafft.“

Damit hat er ein bisschen übertrieben, denn wir brauchen noch eine Viertelstunde, bis wir bei unserem Wagen angekommen sind. Vorher können wir beobachten, wie ein Kind in eine Plastiktüte kotzt und sich die Tür zum Behinderten-WC öffnet, auf dem gerade jemand sitzt, der uns erschrocken ansieht.

Barbara kennt wie immer keine Hemmungen und grüßt den Toilettenbesucher mit den Worten „Na, heute schon große Geschäfte erledigt?“

„So, hier wäre unser Wagen“, teilt Dieter uns mit. „Jetzt müssen wir nur noch unsere Plätze finden. Ah, da sind sie ja.“ Seine Miene verfinstert sich.

„Da hat sich doch tatsächlich jemand draufgesetzt, das habe ich mir gleich gedacht.“

Ich werfe einen Blick auf vier Jungs in schlabberigen Jeans, die sich auf unseren Sitzen herumlümmeln.

„Hallo, Leute, wir müssen euch leider aufscheuchen, das sind nämlich unsere Sitze“, erkläre ich und deute nach oben. „Eigentlich kann man an der Anzeige sehen, dass sie reserviert sind.“

„Sofern man lesen kann“, murmelt Dieter genervt.

„Ham wa gelesen“, versichert eines der Bürschchen. „Aber ihr seid ja nicht gekommen.“

„Jetzt sind wir da, wie ihr unschwer erkennen könnt“, erinnere ich und trommele ungeduldig mit den Fingern auf meinem Koffer herum.

„Drei Micky Mäuse, haha“, lacht einer der Jungs mit einer Bierdose in der Hand und macht keinerlei Anstalten aufzustehen. „Echt luschtisch.“

„Junger Mann, wir haben einen langen, langen Weg durch diese verfickten Abteile hinter uns“, erklärt Barbara unwirsch. „Und wir würden die anderthalb Stunden bis Hamburg sehr gerne auf unseren Plätzen verbringen. Wenn ihr also euren Arsch bewegen würdet, wäre das sehr hilfreich.“

„Jo, jo, ein alter Mann ist kein D-Zug“, kennt einer der Rüpel erstaunlicherweise einen Satz aus der Zeit meiner Großeltern, bewegt sich aber immer noch nicht. Der andere verstaut im Schneckentempo seine Kopfhörer in einem Rucksack und bindet sich dann genauso langsam die Schnürsenkel zu. Barbara verdreht ihre Augen.

„Kannst du mir mal sagen, warum die jungen Leute von heute solche Schlaftabletten sind?“, fragt sie mich, ohne ihre Stimme im Geringsten zu senken.

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Youngsters für alles doppelt so lange brauchen wie ein alter Mensch mit Rollator?“

„Ja“, bestätige ich, denn das ist mir in der Tat schon sehr oft aufgefallen. Eigentlich sollte man meinen, die Jugend sei frisch und knackig, aber sie ist wirklich extrem umständlich und lahm. Wie zum Beispiel diese vier Jungs mit den viel zu weiten Hosen, die sich wie in Zeitlupe bewegen, was mich echt nervös macht.

„Wird das heute noch was?“, frage ich aggressiv. „Könnt ihr euch nicht mal ein bisschen beeilen?“

„Wir müssen erst unsere Sachen zusammensuchen“, erklärt der eine mit der Bierdose in der Hand. „Kannste mal mein Bier halten?“

„Wenn es dadurch schneller geht, ja“, seufze ich und halte nun auch noch eine Bierdose in der Hand.

Es dauert noch einige Minuten, bis die schläfrige Jugend von heute es endlich geschafft hat, unsere vier Plätze freizugeben und mit letzter Kraft den Gang entlangschlurft.

„Du liebe Güte, was soll aus unserem Land werden, wenn die Leute solche Schnarchnasen großziehen“, stöhnt Dieter und lässt sich entkräftet auf seinen hart erkämpften Platz niedersinken. „Da schläft man ja schon vom Zusehen ein.“

„Keinen Pepp mehr, diese Luschen“, charakterisiert Barbara und wuchtet ihren Koffer auf die Ablage. „Ich dachte schon, die schaffen es bis Hamburg gar nicht mehr.“

Burkhard lächelt mich freundlich an.

„So, jetzt machen wir es uns erst mal gemütlich“, beschließt er. „Möchte jemand etwas Wein haben?“

„Du bist nach wie vor ein Trunkenbold und Weiberheld“, lacht Barbara. „Na, los, dann reich mal rüber, Onkelchen.“

Nach einer lustigen, feuchtfröhlichen Fahrt – Burkhard hat eine umfangreiche Auswahl diverser Weinsorten mitgeschleppt – kommen wir gegen Mittag in Hamburg an.

„Irgendwo am Bahnhof soll der Transportbus stehen, mit dem unsere Koffer an Bord gebracht werden“, gibt Dieter Auskunft und blickt sich suchend um. „Ich sehe aber nichts. Ihr etwa?“

„Gib mir einen Schluck von dem köstlichen Roséwein“, fordert Barbara Burkhard auf, der sofort seine rote Thermoskanne zückt. Pfiffigerweise hat er den Wein nicht in Flaschen transportiert, sondern in diversen Thermoskannen. Er glaubt, dass er damit unbehelligt durch die Kontrolle kommt.

„Aber gern.“ Burkhard strahlt.

Er ist wirklich ein lieber, lustiger Geselle. Schade, dass nette Männer entweder zu alt oder schon vergeben sind.

„Da ist er!“, schreit Dieter und rennt, soweit das sein Gewicht zulässt, auf einen blauen, kleinen Bus zu. „Los, Leute, beeilt euch.“

„Das wird ja nicht der letzte Bus sein.“

Ungerührt bleibt Barbara stehen und nimmt einen kräftigen Schluck, bevor sie die Thermoskanne an mich weiterreicht.

„Gleich sind wir besoffen“, gluckst sie. „Und dazu noch diese Micky Maus-Ohren. Ich bin gespannt, ob sie uns überhaupt aufs Schiff lassen.“

„Natürlich lassen sie uns aufs Schiff“, ist Burkhard zuversichtlich. „Und meine Thermoskannen auch. Das wäre ja noch schöner.“

„Diesmal hast du es gut getroffen“, findet Barbara. „Bier und Wein zu den Mahlzeiten sind im Preis enthalten. Wahrscheinlich saufen alle wie die Löcher.“

„Ich saufe nicht wie ein Loch“, entgegnet Burkhard verstimmt. „Ich genieße dann und wann ein gutes Glas Wein, das ist alles.“

„Das glaubt er wahrscheinlich auch noch selbst“, raunt Barbara mir zu und lacht.

Wir schreiten auf den Transportbus zu, auf dem mit großen Buchstaben der Name der Reederei steht, mit der wir in See stechen werden und händigen einem freundlichen Herrn unsere Koffer aus.

„Und wie kommen wir jetzt zum Hafen?“, erkundigt Dieter sich.

„Wir haben den Shuttle Bus gebucht“, füge ich hinzu.

„Der Shuttle Bus wartet gleich um die Ecke auf Sie“, antwortet der nette Herr. „Sie gehen einfach die Straße hier runter, dann über die Ampel dort, dann schräg nach rechts, danach die zweite Straße links, dann halten Sie sich rechts, dann noch mal über eine Ampel und schon sind Sie da.“

„Schon?“, echot Barbara. „Das hört sich nach einem Tagesausflug an.“

„Aber nein, Micky Mausi.“

Der nette Mann berührt Barbaras Micky Maus-Ohren unzüchtig mit seinen Fingern und wackelt daran herum.

„Es sind höchstens fünf Minuten. Das schaffen Sie schon.“

„Das schaffen wir locker“, ist Burkhard überzeugt und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner grünen Thermoskanne.

„Wenn wir uns nicht verlaufen“, gebe ich zu bedenken. So ganz habe ich die Wegbeschreibung nämlich nicht verstanden bzw. sie schon wieder vergessen.

Doch tatsächlich, nach nicht einmal fünf Minuten sind wir an einer Bushaltestelle angelangt, an dem unser Shuttle Bus steht.

„Herzlich willkommen“, strahlt uns eine wasserstoffblonde, grell geschminkte Frau in einer schicken schwarz-roten Uniform an und schüttelt uns forsch nacheinander die Hand.

„Das ist aber eine lustige Idee mit den Ohren“, freut sie sich. „Ich bin Marisa, eure Eventmanagerin. Schön, dass ihr hier seid. Verratet ihr mir eure Namen?“

Wir verraten Marisa unsere Namen und sie hakt sie auf einer Liste ab.

„Ihr könnt gern schon in den Bus einsteigen. Eure Koffer habt ihr abgegeben, richtig?“

„Ja“, bestätigen wir im Chor.

„Koffer abgeben?“, echot jemand neben mir. „Wo soll ich meinen Koffer abgeben?“

Als ich mich umdrehe, erblicke ich ein junges Mädchen, das ganz in schwarz gekleidet ist und aussieht, als käme es direkt vom Heavy Metal Festival in Wacken. Alles an ihr ist schwarz, angefangen von den Haaren über ihre Klamotten bis hin zu den wuchtigen Ringen und den Fingernägeln. Hoffentlich ist ihre Seele nicht genauso schwarz, sonst wird das nichts mit dem lustigen Anti-Weihnachten.

Marisa lächelt das Mädchen an.

„Du hättest deinen Koffer direkt am Hauptbahnhof abgeben können. Hast du den kleinen Transporter nicht gesehen?“

Das Mädchen schüttelt den Kopf.

„Nö.“

„Das macht nichts.“

Marisas Lächeln scheint eingebrannt zu sein.

„Dann nimmst du deinen Koffer eben mit in den Bus. Das ist überhaupt kein Problem. Herzlich willkommen. Ich bin Marisa, eure Eventmanagerin. Schön, dass du hier bist. Verrätst du mir deinen Namen?“

Diese Sätze hat Marisa offenbar auswendig gelernt.

„Ich heiße Scarlett“, sagt das Mädchen.

Ich frage mich, ob sie tatsächlich so heißt oder ob das eine Art Künstlername ist.

„Was für ein schöner Name“, spricht Marisa meine Gedanken aus. „Und wie lautet dein Nachname?“

Scarlett seufzt abgrundtief.

„Meyer.“

Ich muss mir das Lachen verbeißen. Scarlett Meyer? Was haben sich ihre Eltern denn dabei gedacht?

„Ja, ich weiß“, sagt Scarlett. „Ich werde mir jemanden suchen, der einen schönen Nachnamen hat und ihn heiraten. Danach lasse ich mich sofort wieder scheiden, aber den Namen behalte ich.“

Marisa verliert für einen Sekundenbruchteil ihr einstudiertes Lächeln, fängt sich aber schnell wieder.

„Das ist eine sehr gute Idee“, lobt sie das Mädchen mit dem schönen Vornamen und dem etwas einfallslosen Nachnamen. „Geh bitte auf die andere Seite des Busses, dort kannst du Marek, unserem Busfahrer, deinen Koffer aushändigen.“

„Okay, mache ich“, ist Scarlett einverstanden.

Sie schleift den größten Koffer, den ich jemals gesehen habe – natürlich pechschwarz – neben sich her und verschwindet hinter dem Bus.

Flüchtig schießt mir der Satz meiner Mutter „Da sind doch nur Verrückte an Bord“ durch den Kopf, doch ich scheuche ihn sofort wieder weg. Es ist doch nichts dabei, wenn jemand auf schwarze Klamotten steht und sich einen passenden Nachnamen wünscht, oder?

„Scarlett Meyer“, kichert Barbara. „Das ist echt die Krönung.“

„Ich b…. b…. bi…. bin Ambrosius Heiland“, stottert jemand hinter mir und ich wage es kaum, mich umzudrehen. Als ich es schließlich doch tue, sehe ich mich einem mindestens zwei Meter großen Hünen gegenüber, der aussieht, als käme er direkt von einer Bergbesteigung mit Luis Trenker. Er trägt ein weiß-rot-kariertes Hemd, eine dunkelblaue Hose aus den Fünfzigern, die nur bis zum Knie reicht und knallrote Wollstrümpfe. Auch Marisa verliert kurz die Fassung.

„Herzlich willkommen. Ich bin Marisa, eure Eventmanagerin. Schön, dass du hier bist. Verrätst du mir deinen Namen?“, leiert sie herunter, obwohl Ambrosius seinen Namen gerade laut und deutlich genannt hat.

„A…. A…. Am…“, versucht Ambrosius es ein zweites Mal, kommt aber nicht weiter.

„Ambrosius Heiland“, helfe ich ihm und der nächste Anwärter auf den skurrilsten Namen sieht mich dankbar an.

„Vom Winde verweht und der Heiland höchstpersönlich“, kichere ich Barbara ins Ohr und Barbara prustet los.

„Ihr könnt gern schon in den Bus einsteigen“, wiederholt Marisa.

Ich will ihren Vorschlag gerade befolgen, als mein Fuß stockt und gleichzeitig auch mein Atem.

Ich kann jetzt nicht einsteigen. Ich bin wie festgenagelt und bekomme Schnappatmung. Du lieber Himmel, habe ich gerade eine Erscheinung?

Kapitel 3

Mein Traummann ist soeben eingetroffen. Mit energischen Schritten kommt er auf uns zu. Er ist der umwerfendste und attraktivste Mann, den ich jemals gesehen habe: dunkle, fast schwarze Haare, eine athletische Figur und ein unglaublich schönes, markantes Gesicht. Ich bin so hypnotisiert, dass ich mich gar nicht mehr bewegen kann. Auch Barbara sieht völlig entrückt aus. Ist das vielleicht einer der Reiseleiter? Ich werde mich sofort erkundigen, welche Touren er übernimmt und umgehend alle buchen.

„Hallo“, sagt der schönste Mann unter der Sonne. Seine smaragdgrünen Augen funkeln und ich erstarre zur Salzsäule. Marisa ebenfalls. Sie bringt nicht mal mehr ein „Hallo“ heraus, von ihrer sonstigen Begrüßungsformel ganz zu schweigen.

Er kratzt sich am Kopf.

„Bin ich hier richtig für die Anti-Weihnachts-Kreuzfahrt? Ich habe gestern offenbar die letzte freie Kabine erwischt und freue mich riesig, dass ich mitfahren kann.“

Marisa starrt ihn noch immer wie betäubt an. Ich bin völlig benebelt. Er sieht nicht nur hammermäßig aus, sondern hat auch noch eine absolut irre, sexy Stimme.

Plötzlich wird mir klar, was seine Ansage bedeutet. Er ist auch ein Passagier! Er wird ebenfalls an dieser Kreuzfahrt teilnehmen! Ich habe fast zwei Wochen lang Zeit, ihn jeden Tag zu sehen und ihn vielleicht sogar kennenzulernen. Am liebsten würde ich in die Hände klatschen vor lauter Begeisterung.

Von wegen – an dieser Kreuzfahrt nehmen nur Verrückte teil! So einen Mann würde ich normalerweise nirgendwo kennenlernen, außer vielleicht im Fitnessstudio, wo ich aber gar nicht hingehe. Ich beglückwünsche mich mal wieder zu meiner Entscheidung, diese Schiffsreise gebucht zu haben.

„Ja“, antwortet Marisa verträumt. „Äh … Name?“

Ihr hat es offenbar komplett die Sprache verschlagen.

„Ich heiße Nicolas Sander“, sagt der schöne Mann und lächelt gewinnend.

Sein Lächeln haut mich um. Der ganze Mann haut mich um. Am liebsten würde ich auf ihn zuspringen und … Moment mal! Nicolas Sander? Das ist ja lustig. Er heißt genauso wie der oberste Boss der Firma, für die ich arbeite. Was für ein Zufall!

„Nicolas Sander“, haucht Marisa und blättert in ihrer Liste. „Nicolas Sander aus Berlin.“

Und dann kommt er auch noch aus Berlin! Dinge gibt es, die gibt es eigentlich gar nicht.

Wir steigen in den Bus und nehmen in der Mitte Platz.

„Was für ein Hammertyp“, findet Barbara und presst ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. „Den würde ich auch nicht gerade von der Bettkante stoßen. Natürlich nur, wenn ich Steve nicht hätte. Das ist ja eine echte Sahneschnitte. Was macht der denn hier? Der würde eher in ein Luxushotel in Zermatt passen.“

Da hat sie recht. Ich kann mir auch nicht erklären, warum ein dermaßen attraktiver Mann ausgerechnet an einer Single-Kreuzfahrt teilnimmt. Er hätte ganz andere Möglichkeiten. Die Frauen laufen ihm sicher in Scharen hinterher und er könnte sich mit einer von ihnen ein paar nette Tage in einem Luxushotel vergnügen.

Grinsend schaue ich dabei zu, wie Marisa hilflos vor sich hin stammelt und Ambrosius auch keine große Hilfe ist. Der starrt Nicolas an, als sei er von einem anderen Stern, was er auch irgendwie ist. So einem Mann begegnet man nicht alle Tage. Nur auf einem Single-Kreuzfahrt-Schiff!

Nach wenigen Minuten steigt Nicolas in den Bus und ein verführerischer Duft weht mir entgegen, als er an mir vorbeigeht. Ich schließe die Augen und atme gierig seinen Duft ein. Himmel, riecht der Mann gut! Ich lehne mich zurück und überlege, ob es schwierig sein wird, ihn unter vierhundert Leuten wiederzufinden. Wenn ich mich ein paar Stunden im Restaurant aufhalte, müsste es möglich sein, ihn zu treffen, denn irgendwann muss er etwas essen. Oder ich quartiere mich im Fitnessstudio ein, denn so trainiert, wie er aussieht, verbringt er dort sicher auch die eine oder andere Stunde.

„Von dem Duft kriegt man Schnappatmung“, keucht Barbara. „Dreh dich mal um. Der halbe Bus hyperventiliert schon. Ich bin gespannt, wie er es schaffen wird, sich die Weiber vom Hals zu halten.“

Ich drehe mich um und kann unschwer erkennen, wie sehr Nicolas‘ Anwesenheit die Frauen durcheinander gebracht hat. Sie haben verklärte Augen und gerötete Wangen und sind jetzt schon völlig high. Ich kann sie gut verstehen, weil es mir genauso geht.

„Weißt du, was echt witzig ist?“, wende ich mich an Barbara. „Der Typ hat denselben Namen wie mein oberster Boss und wohnt auch in Berlin. Komisch, was?“

Barbara lacht.

„Hey, vielleicht ist das dein oberster Boss.“

„Ganz bestimmt nicht.“ Vergnügt schaue ich aus dem Fenster.

„Der sieht garantiert nicht so heiß aus, oder?“, hakt Barbara nach.

Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

„Du weißt nicht, wie der Inhaber der Firma aussieht, für die du arbeitest?“, fragt Barbara fassungslos. „Aber das weiß man doch!“

Ich schüttele den Kopf.

„Das hat mich nie interessiert. Am Anfang habe ich mal ein Foto von ihm gesehen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Außerdem will ich auch gar nicht wissen, wie er aussieht. Ich hasse ihn nämlich.“

„Dann würde mich sein Aussehen erst recht interessieren“, erklärt Barbara. „Man muss schließlich wissen, wen man hasst. Und wieso hasst du ihn?“

Ich hole tief Luft.

„Manchmal gibt seine Sekretärin einiges an Korrespondenz in unser Schreibbüro. Meistens sind das ellenlange Verträge, in denen er herumgeschmiert hat. Man kann es kaum entziffern. Und wenn ich es in stundenlanger, mühsamer Arbeit eingepflegt habe, kannst du dir sicher sein, dass zwei Tage später das Dokument zurückkommt und alles wieder völlig anders ist. Und dann fange ich wieder komplett von vorne an. Der Typ scheint der totale Chaot zu sein.“

„Sowas gibt es“, erwidert Barbara achselzuckend. „Aber das kann dir eigentlich egal sein, solange du deinen Job gut erledigst, oder?“

„Aber genau das findet er offenbar nicht“, erkläre ich. „Stell dir vor, ich bin die einzige von allen Mitarbeitern, die dieses Jahr zu Weihnachten keine Prämie bekommt. Die einzige! Ich habe überall herumgefragt und sogar mit Ina aus der Personalabteilung gesprochen. Sie durfte mir das zwar eigentlich nicht sagen, hat mir aber vorgestern unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, dass ich tatsächlich die Einzige von allen vierhundert Angestellten bundesweit bin, die dieses Jahr kein 13. Gehalt bekommt.“

Mir steigen Tränen in die Augen. Das ist so demütigend und so entwürdigend. Dieser Arsch hat mich mit dieser Aktion so sehr herabgestuft und mich zur schlechtesten Mitarbeiterin der ganzen Firma gekürt. Das werde ich ihm niemals verzeihen.

Barbara sieht mich betroffen an.

„Und nicht nur das“, fahre ich mit zitternder Stimme fort. „Ich bekomme als Einzige keine Gehaltserhöhung zum 1. Januar. Normalerweise wird das Gehalt immer zum 1. Januar angehoben. So ist es auch dieses Jahr. Nur bei mir nicht. Ich bekomme nichts.“

Barbaras Gesicht wird noch betretener.

„Das ist aber wirklich hart“, findet sie und drückt meine Hand. „Hast du mit ihm darüber gesprochen?“

„Der große Boss ist sich viel zu fein, um mit einer kleinen Angestellten zu reden“, erwidere ich wütend. „Ich habe mit seiner Sekretärin telefoniert. Sie hat mir bissig erklärt, ich würde doch sehen, dass die Dokumente, die ich bearbeite, voller roter Markierungen wären. Alles, was ich einarbeiten würde, käme mit vielen Änderungen zurück und ich sei ihr überhaupt keine Hilfe. Wer so schlecht arbeiten würde, bekäme eben keine Gratifikation und auch keine Gehaltserhöhung.“

Mir sitzt ein dicker Kloß im Hals. Wenn ich so schlecht arbeite, ist das Nächste, was ich erhalte, die Kündigung, das ist völlig klar. Dabei fühle ich mich total ungerecht behandelt. Meiner Meinung nach mache ich alles richtig und er ist der Chaot, der ständig alles wieder ändert. Aber Selbstreflexion scheint nicht seine Stärke zu sein – und ich muss das ausbaden.

„Das tut mir ehrlich leid.“ Barbara tätschelt immer noch meine Hand. „Stimmt das denn? Ich meine, hast du selbst den Eindruck, dass du schlecht arbeitest?“

Ich schüttele den Kopf.

„Nein, gar nicht. Alle anderen sind total zufrieden mit mir und loben mich in den höchsten Tönen. Ich weiß nicht, warum das bei ihm anders ist. Ich blicke durch die Dokumente oft gar nicht durch. Es ist echt eine Heidenarbeit, alles zu verbessern. Ich bin mir aber sicher, dass ich das gewissenhaft erledige. Ich verstehe nicht, warum es dann mit ganz anderen Änderungen wieder zurückkommt. Manchmal habe ich den Eindruck, er will mich nur ärgern. Aber das ist natürlich Quatsch. Warum sollte er das tun?“

Barbara schüttelt den Kopf.

„Das hört sich echt merkwürdig an. Du solltest wirklich mal mit ihm reden.“

Ich winke ab.

„Ich habe versucht, einen Termin bei ihm zu bekommen. Aber seine Sekretärin meinte, das sei nicht nötig und ich solle mich einfach mehr anstrengen. Er habe keine Zeit, um sich mit einer Tippse aus dem Schreibbüro zu unterhalten, sondern Wichtigeres zu tun.“

„Was für ein arroganter Schnösel“, findet Barbara. „Jetzt verstehe ich erst recht nicht, warum du nicht weißt, wie er aussieht. Gerade, wenn man mit jemandem im Clinch liegt, will man doch wissen, mit wem man es zu tun hat, oder?“

„Ich will es nicht wissen“, murmele ich und blicke aus dem Fenster.

„Ich aber“, entscheidet Barbara und zückt ihr Handy.

Nein, ich will nicht wissen, wer mir das alles antut. Wenn ich es nicht weiß, wird es für mich dadurch irgendwie irrealer. Ich weiß, das hört sich bescheuert an, aber es ist eben meine Art und Weise, damit umzugehen.

„Ich glaube, ich habe keine guten Nachrichten für dich“, sagt Barbara mit belegter Stimme.

Mein Herz fängt an, wie verrückt zu klopfen.

„Nicht?“, krächze ich.

„Nein.“ Barbara holt tief Luft. „Der verdammt heiß aussehende Typ, der ein paar Reihen hinter uns sitzt, ist dein Boss.“

Sie hält mir ihr Handy unter die Nase.

Nicolas Sander, 37, Inhaber der Luxus Hotelkette „Come back and stay“ und Selfmade Millionär steht unter einem Bild, auf dem unverkennbar er abgebildet ist. Mein absoluter Traummann für wenige Minuten, der in Wirklichkeit mein Albtraum-Boss ist! Ich schnappe nach Luft.

„Das kann nicht wahr sein“, krächze ich. „Das gibt es doch gar nicht. So einen beschissenen Zufall kann es einfach nicht geben!“

„Ich fürchte, den gibt es tatsächlich“, sagt Barbara. „Ich kann es auch nicht glauben. Ich meine, warum geht er ausgerechnet auf diese Kreuzfahrt? Hat es ihn gereizt, dass es eine Single-Kreuzfahrt ist, auf der er alle Frauen flachlegen kann? Denn das könnte er mühelos. Da würde keine nein sagen.“

„Vielleicht ist es gar nicht so ein großer Zufall“, murmele ich. „Es ist die einzige Kreuzfahrt über Weihnachten ab Deutschland, die angeboten wird. Es gibt überhaupt keine andere. Wenn du unbedingt mit dem Schiff wegfahren willst, hast du nur diese eine Möglichkeit.“

Mir schießen Tränen in die Augen. Dieser Sack verdirbt mir einfach alles!

Der Bus fährt zwanzig Minuten, bis er am Hafen ankommt. Das ist genug Zeit, um Barbara immer wieder darüber zu informieren, dass entweder ich von Bord springe oder diesen Arsch ins Meer stoße. Ich kann gar nicht mehr aufhören und steigere mich immer mehr in diese absurde Situation hinein.

„Reg dich nicht so auf“, versucht Barbara zum hundertsten Mal, mich zu beruhigen. Natürlich vergeblich.

„Vielleicht siehst du ihn auf dem Schiff überhaupt nicht. Denk einfach nicht daran, dass er da ist. Und wenn du ihn siehst, gehst du ihm aus dem Weg.“

„Der ganze Urlaub ist versaut“, jammere ich. „Wie soll ich irgendetwas genießen, wenn ich weiß, dass er auch da ist? Gerade ihn wollte ich im Urlaub vergessen. Und jetzt kann er mir jederzeit über den Weg laufen und mich immer daran erinnern, dass er mich für die Einzige in der ganzen Firma hält, die so schlecht arbeitet, dass sie keine Prämie verdient hat. Er ist sowas von gemein. Selbst, wenn er dieser Ansicht ist – was überhaupt nicht der Realität entspricht –, könnte er trotzdem über seinen Schatten springen. Ich meine, das macht man einfach nicht, oder? Wenn man sowas wie ein Herz hat, dann klammert man nicht einen einzigen Mitarbeiter bei der Vergabe des Weihnachtsgeldes aus. Das ist sowas von fies.“

„Ist es“, bestätigt Barbara zum x-ten Mal. „Ehrlich, das finde ich auch. Da könnte man Gnade walten lassen und großzügig sein. Ich finde das auch wirklich unverschämt. Am besten, du schnappst ihn dir und sagst ihm mal richtig die Meinung. So ein Früchtchen! Er mag umwerfend aussehen, aber innerlich ist er richtig hässlich.“

„Als ob das was nützen würde, wenn ich ihm die Meinung geige“, sage ich mutlos. „Er sitzt ganz oben und bestimmt alles. Ich bin ganz unten und werde als nächstes sowieso entlassen. Dabei hat mir der Job wirklich Spaß gemacht, bis auf das Hin und Her mit seinen blöden Dokumenten. Die Kollegen sind alle nett und die Bezahlung ist gut. Aber wenn er mich wirklich für so unfähig hält, kann ich es nicht ändern.“

Mir schießen schon wieder Tränen in die Augen. Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass mir jemand zu verstehen gibt, ich sei eine schlechte Sekretärin. Das hat mir in 14 Berufsjahren noch niemand gesagt. Ich habe mich immer angestrengt und alle waren überaus zufrieden mit mir. Ich verstehe einfach nicht, warum es ausgerechnet bei diesem Kerl anders ist. Mir kommt es eher so vor, als würde er mich triezen wollen und hätte mich auf dem Kicker. Aber ein Grund dafür fällt mir nicht ein. Wir kennen uns nicht mal persönlich. Das heißt – doch, jetzt schon. Zumindest ich kenne ihn nun.

„Oje, ich hätte nicht nachsehen sollen, wer er ist“, seufzt Barbara zerknirscht. „Jetzt habe ich dir den ganzen Urlaub verdorben. Es tut mir so leid, Alina. Das wollte ich ganz sicher nicht.“

„Schon gut. Es ist nicht deine Schuld, dass er so ein Fiesling ist. Außerdem …“ Mir wird heiß und kalt zugleich. „Stell dir mal vor, es hätte sich … ähm … irgendwas mit uns ergeben. Das wäre noch viel schlimmer gewesen. Nein, es ist schon okay. Du hast recht: Ich werde ihm aus dem Weg gehen und versuchen zu ignorieren, dass er auch auf dem Schiff ist. Ich hoffe, das klappt.“

„Das hoffe ich auch.“ Beunruhigt schaut Barbara mich an. „So ein Mist, Alina. Jetzt haben wir ausgerechnet deinen biestigen Boss an Bord. Am besten suchst du dir sofort einen anderen Kerl auf dem Schiff. Es muss ja nicht unbedingt er sein.“

Nein, muss es nicht. Wäre aber schön gewesen.

Kapitel 4

Am Hafen steigen wir aus und ich bemühe mich, nicht Ausschau nach ihm zu halten. Unsere Rucksäcke, Taschen und Jacken werden durchleuchtet und wir erhalten eine Art Scheckkarte, die von nun an unsere Bordkarte sein wird. Mit dieser Bordkarte können wir die Tür zu unserer Kabine öffnen, alles an Bord bezahlen, das Schiff verlassen und es wieder betreten.

Als erstes will ich meine Kabine begutachten und bin ganz aufgeregt. Schließlich bin ich noch nie mit einem Kreuzfahrtschiff gefahren.

„Erwarte nicht zu viel“, sagt Barbara. „Dieses Schiff ist sehr klein und hat winzige Innen- und Außenkabinen. Aber es ist klar, dass sie für eine so spezielle Kreuzfahrt nicht Tausende von Leuten zusammenkriegen.“

Wir laufen ein paar Flure entlang, bis wir vor unseren Kabinen stehen. Barbara und ich haben zwei Kabinen bekommen, die durch eine Verbindungstür voneinander getrennt sind. Ich finde das toll, denn so können wir uns abends oder nachts noch unterhalten. Neugierig stecke ich meine Bordkarte in den Schlitz und die Tür springt auf.

Da ich mir nicht vorstellen konnte, zwei Wochen in absoluter Dunkelheit zu verbringen, habe ich mir eine Außenkabine gegönnt; das heißt, ich habe immerhin ein Fenster. Ein bisschen enttäuscht bin ich, dass sich vor dem kleinen Fenster ein etwa ein Meter langer Schacht befindet, sodass die Sicht relativ schlecht ist. Außerdem ist es in der Kabine ziemlich dunkel. Es gibt ein Doppelbett, zwei Nachtschränke, einen schmalen Schreibtisch mit einem Stuhl und im Flur einen Schrank. Alles sehr übersichtlich und spartanisch. Aber viel Zeit werde ich hier ohnehin nicht verbringen. Das Bad ist winzig, hat aber alles, was man braucht – eine Toilette, ein Waschbecken und eine Dusche.

Die Verbindungstür öffnet sich und Barbaras Kopf erscheint.

„Na, wie gefällt es dir?“, erkundigt sie sich. „Luxus ist natürlich etwas anderes.“

„Das habe ich auch gerade gedacht“, muss ich zugeben. „Die Bilder, die du mir von deinen bisherigen Kreuzfahrten gezeigt hast, sahen jedenfalls viel besser aus.“

„Das waren auch Schiffe, auf denen viertausend Passagiere Platz hatten und nicht nur vierhundert“, erklärt Barbara. „Die sind neu und luxuriös. Dies hier ist ein kleines und altes Schiff. Sollen wir unsere Koffer schon mal auspacken? Gleich findet die allseits beliebte Sicherheitsübung statt. Das ist echt nervig, aber sie muss durchgeführt werden, bevor das Schiff den Hafen verlässt.“

„Was für eine Sicherheitsübung?“, erkundige ich mich.

„Im Grunde musst du nur diese orangefarbene Schwimmweste anziehen und zu einer bestimmten Stelle gehen, in der du auch im Notfall gehen müsstest“, erklärt Barbara. „Das Blöde ist eben, dass man sich nach der Ankunft ausruhen und etwas essen will. Aber nein, man muss stundenlang in diesen Westen draußen herumstehen und sich einen abfrieren. Aber etwas zu essen gibt es im Moment sowieso nicht, ich habe schon nachgeschaut. Das Restaurant wird erst um 18 Uhr geöffnet. Das ist auch echt ungewohnt. Auf den großen Schiffen gibt es mehrere Restaurants, eine Pizzastation und einen Grillimbiss. Irgendwo findest du immer etwas zu essen. Hier gibt es nur ein einziges Restaurant, und das hat feste Öffnungszeiten. Man kann nur morgens, mittags und abends zwei Stunden essen. In der übrigen Zeit ist das Restaurant geschlossen. Oje, das ist keine gute Nachricht für Dieter. Das Tollste auf einer Kreuzfahrt war für ihn, dass er rund um die Uhr essen konnte. Ich fürchte, das wird empfindlich auf seine Laune schlagen.“

„Man kann auch noch was anderes machen als essen“, finde ich.

Barbara grinst. „Erzähl das dem verfressenen Dieter.“

Wir packen unsere Koffer aus und ich räume meine Kleidung in den Wandschrank. Danach schiebe ich den Koffer unter das Bett. Kaum bin ich fertig, ertönt über einen Lautsprecher die Durchsage, dass sich alle Passagiere zur Sicherheitsübung begeben müssen, und zwar mit den Schwimmwesten. Ich öffne den Schrank, hole die orangefarbene Schwimmweste heraus und habe keine Ahnung, wohin ich jetzt gehen muss. Barbara weiß es auch nicht, aber an jeder Ecke stehen Angestellte der Reederei und weisen uns den Weg. Schließlich befinden wir uns draußen in eisiger Kälte und warten – wenn mir auch nicht klar ist, worauf eigentlich.

„Wir warten auf diejenigen, die noch nicht da sind“, erklärt uns eine Frau. „Hoffentlich stehen wir nicht noch stundenlang hier herum. Beim letzten Mal war es eine geschlagene Stunde und ich war danach total durchgefroren.“

Unauffällig lasse ich meinen Blick durch die Menge schweifen und halte Ausschau nach ihm, kann ihn aber nirgendwo entdecken. Ich bin total bescheuert: Ich halte Ausschau nach ihm, damit ich weiß, wo er steht, um eben nicht zu ihm hinzuschauen. Ich will ihn einfach nicht unverhofft sehen. Oder bin ich jetzt schon völlig paranoid?

„Hier sind wir!“, schreit jemand und ich erkenne Dieter, der wie wild winkt. Ihn hatte ich zwar nicht gesucht, aber ich winke freundlich zurück.

„Noch hat er gute Laune“, grinst Barbara. „Er scheint nicht zu wissen, dass es nur ein einziges Restaurant gibt, das die meiste Zeit geschlossen ist.“

„Ja, das ist ein bisschen anders als auf den großen Schiffen“, mischt sich ein Mann mittleren Alters ein. „Auf den Kloppern kann man von früh bis spät essen, bis man platzt. Da muss man sich hier ein bisschen umgewöhnen.“

„Man muss nicht den ganzen Tag essen“, sagt die Frau wieder. „Es gibt noch andere Beschäftigungen.“

Zum Beispiel, frierend auf dem Deck zu stehen und zu warten, dass die Nachzügler endlich eintreffen. Barbara zeigt mir, wie ich die Schwimmweste richtig anziehe und schaltet zur allgemeinen Belustigung ihr Warnlicht ein. Dann probiert sie die Trillerpfeife aus. Neben ihr fahren erschrocken ein paar Leute zusammen.

„Ich muss für den Notfall testen, ob alles funktioniert“, sagt sie unschuldig und grinst.

Da, da ist er! Ich verrenke mir fast den Hals, um ihn besser sehen zu können, obwohl ich ihn eigentlich gar nicht sehen will. Groß und breitschultrig steht er da und wird von drei Damen umgarnt. Klar, er ist eindeutig der bestaussehendste Mann auf dem ganzen Schiff. Wahrscheinlich wird er es ordentlich krachen lassen und jede Nacht eine andere abschleppen. Aber warum denke ich eigentlich darüber nach? Das tangiert mich doch extrem peripher!

„Da ist dein schöner, böser Boss“, erkennt auch Barbara und stupst mich in die Seite. „Und wie wir sehen, ist er sofort das Objekt der Begierde, was zu erwarten war. Die anderen Männer können alle einpacken. Wenn du ihm nicht begegnen willst, hast du gute Chancen. Er wird immer von einer Traube lüsterner Frauen umringt sein.“

Das sieht ganz so aus. Jetzt fingert eine Botox-Blondine an ihm herum und lacht affig, als sie versucht, seine Schwimmweste zu schließen, was ihr aber nicht gelingt. Aber Hauptsache, sie kann an ihm herumgrapschen.

Moment mal, warum gucke ich mir das eigentlich an? Ich wollte doch nur herausfinden, wo er steht, um in eine andere Richtung zu sehen. Ich habe nicht vor, ihn zu beobachten. Im Gegenteil, ich will ihn ignorieren. Das werde ich jetzt auch tun, und zwar sofort! Schnell drehe ich meinen Kopf in eine andere Richtung. Himmel, ich hätte nie gedacht, dass es so anstrengend sein könnte, jemanden nicht zu beachten.

„Wenn er wollte, könnte er jede Nacht eine andere flachlegen“, meint Barbara. „Ob er deshalb diese Kreuzfahrt gebucht hat? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er keine andere Option gehabt hätte. So ein Mann ist auch im wahren Leben ständig umschwärmt.“

„Das ist mir völlig schnuppe“, fauche ich. „Von mir aus kann er mitten im Pool eine Orgie veranstalten. Ich hoffe, er ertrinkt dabei.“

„Aber wenn er nicht dein fieser Boss wäre, würdest du ihn schon sehr anziehend finden, oder?“, grinst Barbara.

„Er ist aber mein fieser Boss“, erinnere ich sie. „Und darum finde ich ihn einfach nur mies.“

Nach einer weiteren Viertelstunde sind alle Passagiere anwesend und damit ist die Sicherheitsübung beendet.

„Ich hatte eigentlich gedacht, wir springen in diesen Schwimmwesten ins Wasser oder klettern in die Rettungsboote“, witzelt ein Mann und blickt Barbara interessiert an. Sie lächelt zurück.

„Das wäre das Mindeste gewesen.“

Auch die anderen Passagiere reden angeregt miteinander und knüpfen erste zarte Kontakte. Alle scheinen sehr aufgeschlossen und locker zu sein. Hey, vielleicht lerne ich sogar einen netten Mann kennen. Nicolas Sander ist schließlich nicht der einzige Kerl auf dem Schiff.

„Eine schöne Atmosphäre“, sagt Barbara, als wir nebeneinander die Treppen hochlaufen. „Sonst spricht niemand mit dem anderen. Das ist hier ganz anders. Das finde ich echt toll. Klar, jeder ist allein hier und will es nicht bleiben. Ich habe fast schon ein schlechtes Gewissen, dass ich mich als Single ausgebe. Irgendwo hatte Marie recht. Stell dir vor, ich lerne einen Mann kennen, der an mir interessiert ist. Das ist doch echt blöd, wenn ich ihn die ganze Zeit belüge. Er macht sich womöglich Hoffnungen und lässt andere Chancen verstreichen. Aber wenn ich sage, dass ich einen Freund habe, fliege ich bestimmt sofort von Bord.“

„Sag doch einfach, du stehst auf Frauen“, unterbreite ich Barbara einen kreativen Vorschlag. „Damit dürfte das Thema erledigt sein.“

„Gar keine so schlechte Idee“, findet Barbara. „Was machen wir jetzt? Sollen wir Burkhard und Dieter anrufen und mit ihnen gemeinsam das Schiff erkunden? Obwohl – so viel zu erkunden gibt es nicht. Auf den anderen Schiffen sind wir stundenlang rumgerannt und haben uns dauernd verlaufen. Das wird uns hier nicht passieren.“

„Bist du enttäuscht, dass das Schiff so klein ist?“, will ich wissen.

Barbara zuckt mit den Schultern.

„Ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll. Es ist sehr übersichtlich, was auch von Vorteil sein kann. Das Einzige, wovor ich ein bisschen Angst habe, ist der Seegang. Bei den riesigen Schiffen merkst du davon kaum was, aber bei den kleineren schon. Und noch dazu haben wir eine Kabine erwischt, die ziemlich weit unten liegt und ganz vorne ist. Da kann es mächtig schaukeln. Ich glaube nicht, dass ich seefest bin.“

„Ich habe Reisetabletten gegen Übelkeit mitgenommen“, versuche ich, Barbara zu beruhigen.

Barbara winkt ab.

„Wenn es richtig schaukelt, nützen die überhaupt nichts. Aber ich glaube, wenn es wirklich schlimm wird, kann man sich vom Arzt eine Spritze geben lassen.“

Nachdem wir Burkhard und Dieter über das Zimmertelefon angerufen haben, treffen wir uns in der sogenannten Lounge. Das ist ein gemütlicher Saal mit vielen Sesseln, einer kleinen Bühne und einer Bar. Die Idee hatten offenbar auch viele andere Passagiere, denn die meisten Sessel sind schon besetzt.

„Warum gehen wir nicht endlich was essen?“, erkundigt Dieter sich verständnislos. „Wie ihr euch denken könnt, habe ich einen Bärenhunger.“

Barbara legt ihm die Hand auf die Schulter.

„Dieter, du musst jetzt ganz tapfer sein, denn ich habe keine guten Nachrichten für dich.“

Alarmiert blickt Dieter seine Cousine an.

„Wieso, was ist denn los?“

„Du kannst hier nicht rund um die Uhr essen, wie auf den anderen Schiffen“, sagt Barbara sanft. „Es gibt nur ein einziges Restaurant und das ist nur morgens, mittags und abends jeweils für zwei Stunden geöffnet. Die übrige Zeit musst du leider auf deine kümmerlichen Reserven zurückgreifen.“

Dieters Augen werden groß und rund. Er starrt Barbara an, als habe sie ihm soeben eröffnet, an Bord sei eine Seuche ausgebrochen.

„Wie bitte?“, krächzt er. „Nur zwei Stunden? Zwei lächerliche Stunden?“

„Insgesamt sechs Stunden“, beruhigt Barbara ihn. „Morgens von 8 bis 10, mittags von 12 bis 14 und abends von 18 bis 20 Uhr.“

„Und dazwischen? Es gibt nicht mal Kaffee und Kuchen?“, schreit Dieter unbeherrscht los. „Keine Snacks? Gar nichts? Keine Pizzastation? Kein Grillimbiss?“

Barbara schüttelt den Kopf.

„Nichts von alldem. Es ist ein sehr kleines Schiff und für die paar Passagiere lohnt sich das nicht.“

„Aber … das war nie so“, stöhnt Dieter völlig außer sich. „Es gab immer etwas zu essen. Gut, zwischendurch gab es auch mal zwei Stunden lang nichts, und das fand ich ja schon unmöglich, aber hier liegen zwischen Mittagessen und Abendessen glatte vier Stunden! Wie soll ich das denn überleben? Vier Stunden ohne Essen? Da bin ich ja völlig unterzuckert.“

„Ich finde das auch einen Skandal“, mischt sich jemand ein und unsere Blicke wandern nach links. Wow. Die Dame muss mindestens zweihundert Kilo auf die Waage bringen, eher mehr. Dieter wirkt gegen sie fast schlank. Sie trägt ein blaues Kleid mit weißen Punkten und wirkt sehr resolut und selbstbewusst.

„Ich meine, Hauptbestandteil einer Kreuzfahrt ist nun mal das Essen. Das macht eine Kreuzfahrt doch eigentlich aus. Ich verstehe wirklich nicht, warum das hier so eingeschränkt ist. Das hat mir bei der Buchung niemand gesagt. Ich habe schon viele Kreuzfahrten mitgemacht, aber so etwas habe ich noch nie erlebt.“

„Ich auch nicht“, stimmt Dieter erzürnt zu. „Das geht wirklich überhaupt nicht. Und es gibt nicht mal eine Minibar. Genauer gesagt gibt es gar keinen Kühlschrank.“

„Man muss schon sehr viele Abstriche machen“, nickt die Frau. „Nicht mal einen Mitternachtssnack gibt es.“

„Aber es gibt Bier und Wein zu allen Mahlzeiten“, versucht Burkhard die beiden aufzuheitern, obwohl das nicht ganz stimmt, denn zum Frühstück gibt es natürlich keinen Alkohol.

„Zu allen Mahlzeiten“, höhnt Dieter. „Das sind ja nur drei. Einfach lächerlich. Und dann nur zwei Stunden!“

Ich muss sagen, ich bin etwas erschüttert. Wie viel wollen die Leute denn essen? Ich meine, isst Dieter zu Hause rund um die Uhr? Drei Mahlzeiten am Tag sind doch völlig normal.

„Vielleicht kannst du dir vom Mittagessen ein Stück Obst mitnehmen, damit du bis zum Abendessen durchhältst“, schlägt Barbara zuckersüß vor.

Dieter zieht empört die Augenbrauen hoch.

„Ein Stück Obst?“, wettert er los. „Was soll ich denn mit Obst? Ich will nachmittags meinen Kuchen haben! Darauf hatte ich mich schon die ganze Zeit gefreut. Was ist ein Urlaubstag ohne Kaffee und Kuchen? Ich kann nicht glauben, dass sie das nicht anbieten. Das muss ein Missverständnis sein. So etwas gibt es doch gar nicht. Auf jeder Kreuzfahrt gibt es nachmittags Kaffee und Kuchen.“

„Das habe ich auf 16 Kreuzfahrten nicht erlebt, dass es nachmittags keinen Kuchen gibt“, schimpft die Frau. „Es ist eine Katastrophe.“

„Sollen wir uns zusammen beschweren?“, fragt Dieter aufgebracht. „Los, wir machen das jetzt und suchen diese Marisa oder wie sie heißt.“

Die gepunktete Frau nickt.

„Das machen wir. Ich heiße übrigens Gaby, und du?“

„Dieter“, stellt Dieter sich vor. Die beiden schütteln sich die Hände und verschwinden dann.

„Die Hungersnot schweißt zusammen“, grinst Barbara. „Es hat sich nichts verändert. Das Leben besteht für Dieter immer noch ausschließlich aus Essen.“

„Dieter hatte doch mal eine Diät gemacht“, erinnert Burkhard und grinst schelmisch. „Da war er aber immer unausstehlich gewesen. Die ganze Zeit hat er nur rumgenörgelt, weil er solchen Hunger hatte. Und den anderen hat er bei jedem Bissen erzählt, was sie wieder Schlimmes essen. Das war auch keine große Freude mit ihm gewesen.“

„Wenn er hier nicht rund um die Uhr etwas zu essen kriegt, wird das auch keine große Freude mit ihm sein“, seufzt Barbara. „Er ist und bleibt der verfressenste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe.“

Armer Dieter. Vielleicht hat er nichts anderes in seinem Leben. Essen ist immer ein Ersatz, vor allem für Liebe und ein erfülltes Leben. Vielleicht hat Dieter beides nicht und isst deshalb. Irgendwie tut er mir leid.

„Dieter ist schon in Ordnung“, nimmt Burkhard ihn in Schutz. „Jeder hat sein Laster. Wäre sonst auch langweilig.“

Jemand prostet Barbara lächelnd zu und ich erkenne erst auf den zweiten Blick, dass es sich dabei um den Mann handelt, der sie bei der Rettungsübung angesprochen hat. Barbara lächelt zurück. Das macht dem Mann Mut und er kommt auf uns zu.

„Dort drüben gibt es für jeden ein Glas Sekt zur Begrüßung“, informiert er uns.

Burkhard bekommt sofort glänzende Augen und stürzt los. Ich folge ihm, denn ich will die zarte Annäherung zwischen Barbara und ihrem Verehrer nicht stören. Lachend überreicht mir Burkhard ein Glas und zwinkert mir zu.

„Na, Alina, wie gefällt es dir bis jetzt?“, erkundigt er sich und leert sein Glas in einem Zug, um sich sofort ein zweites zu organisieren.

„Ich weiß noch nicht“, antworte ich zögernd. „Die Kabine ist ein bisschen klein und die Aussicht nicht gerade toll. Und bei dir?“

„Bei mir ist die Aussicht auch nicht gerade toll“, bestätigt Burkhard. „Aber das liegt daran, dass es eine Innenkabine ist.“

Wir prusten beide los.

„In der Kabine hält man sich nicht oft auf“, tröstet Burkhard mich. „Man kann auch woanders sitzen. Außerdem gibt es bei dieser Kreuzfahrt sehr viele Landgänge. Ich nutze meine Kabine nur zum Schlafen.“

„Fahrt ihr immer alle zusammen?“, will ich wissen.

Burkhard nickt.

„Wir haben schon einige Kreuzfahrten zusammen gemacht. Einmal waren wir auch zusammen im Schnee unterwegs gewesen. Das hat alles viel Spaß gemacht. Und es war immer noch eine Cousine dabei gewesen. Aber die haben jetzt alle einen Partner und fahren nicht mehr mit.“

„Verstehe.“ Ich nippe an meinem Sekt.

„Der eine isst, der andere trinkt“, sagt Burkhard und schnappt sich das dritte Glas Sekt. „Ich freue mich jedenfalls sehr auf diese Kreuzfahrt. Das ist mal was ganz anderes. Eine völlig neue Route. Das gibt es nicht oft. Meistens ist es das Mittelmeer oder irgendwelche norwegischen Fjorde. Diese Route ist etwas ganz Besonderes.“

Damit hat er recht, und genau das macht die Kreuzfahrt so reizvoll. Ich freue mich riesig auf Cornwall, Frankreich, London und Antwerpen. Es ist mein erster Urlaub nach drei Jahren und ich habe mir fest vorgenommen, ihn in vollen Zügen zu genießen. Und das werde ich auch tun, ganz egal, ob dieser fiese Möpp an Bord ist oder nicht.

„Das stimmt. Ich freue mich riesig, dass ihr mitgekommen seid“, erwidere ich.

„Wir finden es auch sehr schön, dass du bei uns bist“, strahlt Burkhard mich an.

Er ist wirklich süß. So ein netter, älterer Herr. Ein bisschen kommt er mir vor wie der Vater, den ich nie hatte. Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart.

„Barbara hat erzählt, dass dein Freund dich betrogen hat. Das war wirklich nicht schön für dich gewesen. Ich kann gar nicht verstehen, wie man ein so hübsches Mädchen wie dich betrügen kann. Das tut mir sehr leid für dich.“

Kummervoll blickt Burkhard mich an. Ich schlucke.