Charlie + Leo - Jochen Till - E-Book

Charlie + Leo E-Book

Jochen Till

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Beschreibung

Weil Charlie sich nicht traut, seine heimliche Flamme anzusprechen, will er einen Comic zeichnen, in dem er ihr seine Liebe gesteht. Das Problem: Leonie ist das schlecht gelaunteste Mädchen der Welt!

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Seitenzahl: 211

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Impressum

Als Ravensburger E-Book erschienen 2010 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH © 2010 Ravensburger Verlag GmbH Innenillustrationen: Zapf Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-473-38419-8www.ravensburger.de

1

Das bin ich. Echt jetzt. So sehe ich aus. Ganz schön hässlich, was? Aber nicht, dass jetzt jemand denkt, ich könnte nicht zeichnen. Ich kann sogar sehr gut zeichnen. Nur wenn ich mich selbst zeichne, kommt immer so etwas dabei heraus. Weil es genau das ist, was ich im Spiegel sehe.

Wer jetzt denkt, der arme Junge, der ist ja ganz schön gestraft, wenn er so aussieht, schlimmer geht’s ja kaum, der hat sich geschnitten, weil er nämlich meinen Namen noch nicht kennt. Es ist der größte Loser-Name der Weltgeschichte. Okay, vielleicht nur der Comicwelt-Geschichte, wenn man’s genau nimmt, aber da Comics für mich die Welt sind, trifft es dann doch wieder zu.

Nein, ich heiße nicht Donald Duck. Der ist zwar auch ein Loser, aber außerdem eine Ente und zählt somit nicht. Mein Name ist der einer menschlichen Comicfigur, so wie Tim oder Lucky Luke oder Asterix, wobei ich natürlich auch nicht Asterix heißen möchte, das wäre ja total albern, aber Asterix ist wenigstens kein Loser– im Gegensatz zu Charlie Brown.

Charlie Brown ist die Hauptfigur der zugegebenermaßen großartigen Comicstrip-SeriePeanuts. Aber eben der größte Loser der Comicwelt-Geschichte. Er kriegt immer eins auf den Deckel, wird ständig von Lucy verarscht, verliert jedes Baseballspiel, traut sich nie, das kleine rothaarige Mädchen anzusprechen, in das er verliebt ist, und selbst sein Hund ist cooler als er. Und genau so heiße ich: Charlie Braun. Absurd, oder?

Aber wer meinen Vater kennt, der wundert sich nicht großartig über absurd, das könnte nämlich sein zweiter Vorname sein. Adam Absurd Braun. Und es wird noch absurder. Meine Mutter heißt nämlich Eva. Kein Witz. Ich wurde von Adam und Eva gezeugt.

Das sieht auf den ersten Blick vielleicht durchaus romantisch und nach Schicksal aus. Aber guckt mal genauer hin. Adam und Eva Braun. Erkennt jemand die nächste Absurdität? Allzu viel Ahnung von Geschichte habe ich zwar nicht, aber dass Eva Braun die Lebensabschnittsgefährtin von Adolf Hitler war, weiß selbst ich. Meine Mutter hieß also genauso wie die Frau, die Hitler gepoppt hat. Und ich bin mir sicher, das war auch ein Grund dafür, dass sie uns verlassen hat und nach Amerika ausgewandert ist, als ich drei Jahre alt war. Natürlich nicht zu vergessen die Tatsache, dass es eigentlich unmöglich ist, mit meinem Vater zusammenzuleben. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der das hinkriegt, ohne täglich hundertmal durchzudrehen.

Mein Vater ist allein nicht überlebensfähig, ein absoluter Chaot. Ein kleines Beispiel: Wenn man meinen Vater die Spülmaschine ausräumen lässt, kann es sein, dass man das Geschirr hinterher im Kühlschrank wiederfindet. Und das ist wirklich nur die Spitze des Eisberges. Oder ist bei euch etwa auch schon mal der Staubsauger in Flammen aufgegangen, weil euer Vater versucht hat, damit das verstopfte Klo frei zu saugen? Bestimmt nicht. Aber bei uns passiert so etwas ständig– wenn ich nicht aufpasse. Bis vor einem Jahr hat diesen Job noch Tante Heidi erledigt. Als meine Mutter damals abgehauen ist, sind wir sofort zu ihr gezogen, zum Glück. Wer weiß, ob ich meine Kindheit überlebt hätte, so ganz allein mit einem Vater, der es schon mal fertigbringt, drei Tage lang nichts zu essen, wenn man ihn nicht daran erinnert.

Leider hat Tante Heidi vorletztes Jahr im Urlaub in Spanien dann Petrus Merlin kennengelernt. Ich weiß, ihr glaubt jetzt, ich verarsche euch die ganze Zeit mit all diesen absurden Namen, aber der Mann heißt wirklich so! Petrus Merlin. Er ist Holländer, lebt aber in Spanien auf einer einsamen Finca und Tante Heidi ist letztes Jahr zu ihm gezogen. Sosehr ich sie auch vermisse, verdenken kann ich es ihr nicht. Nach elf Jahren mit meinem Vater würde sich wahrscheinlich jede Frau auf eine einsame Finca wünschen.

Wir haben es dann mit verschiedenen Haushälterinnen versucht– die nervenstärkste hat drei Wochen durchgehalten. Tja, und seitdem bin ich derjenige, der auf Papa aufpasst und den ganzen Haushalt schmeißen muss. Okay, das klingt jetzt härter, als es ist, einmal die Woche kommt eine Putzfrau für die gröbsten Sachen, aber nervig ist es trotzdem manchmal. Einkaufen, Wäsche waschen, Kochen, Bügeln und was weiß ich noch alles, es gibt immer etwas zu erledigen, keine Ahnung, wie ich das überhaupt schaffe. So gesehen hat mein Vater Riesenglück, dass ich ein hässlicher Loser bin und kaum Freunde habe, die mir meine Zeit mit solch unwichtigen Dingen wie Freizeit und Spaßhaben stehlen.

Man könnte fast meinen, er hätte mich mit voller Absicht Charlie genannt, quasi als Omen dafür, dass ich auch ja ein ähnlicher Loser wie Charlie Brown werde und somit immer genug Zeit für den Haushalt habe– ein wahrhaft teuflischer Plan, noch vor meiner Geburt ausgeheckt. Aber so war es nicht. Jetzt kommt nämlich das Absurdeste überhaupt: Mein Vater hat mich nicht etwa– was selbstverständlich jeder vermutet– Charlie genannt, weil er Charlie Brown so toll findet. Er kannte diePeanutsbis vor ein paar Jahren nicht mal! Comics interessieren ihn nämlich überhaupt nicht. Das Einzige, was ihn interessiert, ist Musik, denn er ist Musiker. Ich weiß, das hört sich jetzt erst mal ziemlich cool an, wenn man einen Vater hat, der Musiker ist. Nur leider spielt meiner nicht in irgendeiner coolen, berühmten Rockband Gitarre oder Bass oder Schlagzeug– mein Vater spielt Saxofon. Und welche Musik verbindet man sofort mit einem Saxofon? Haargenau, Jazz. Mein Vater ist ein Jazzsaxofonist. Er lebt und spielt und atmet und lacht und leidet Jazz, und zwar den ganzen Tag lang. Wenn Comics meine Welt sind, dann ist Jazz für meinen Vater das Universum. Und Charlie Parker ist Gott.

Wie, den kennt ihr nicht? Dann hört euer Vater mit Sicherheit keinen Jazz, Glück gehabt. Charlie Parker war ein Jazzsaxofonist,derJazzsaxofonist überhaupt. Und nebenbei hat er sich Unmengen an Heroin reingefahren. Ich wurde also nicht nach einem Comic-Loser, sondern nach einem durchgeknallten Jazz-Junkie benannt. Na, herzlichen Glückwunsch. Ich kann nur hoffen, dass sich dieses Omen nicht erfüllt.

Es heißt, Charlie Parker hätte bereits im zarten Alter von fünfzehn Jahren mit dem Heroin angefangen– und ich werde bald fünfzehn. Wer weiß, vielleicht schenkt mir mein Vater ja ein kleines Spritzbesteck und mein erstes Gramm Heroin zum Geburtstag, damit ich seinem Idol nacheifern kann. Das ist natürlich Quatsch, das würde er nie machen, so abgedreht ist er auch wieder nicht.

Ich denke, er hat mich nach Charlie Parker benannt, weil er hoffte, dass ich dadurch vielleicht etwas von seinem Talent und der Leidenschaft fürs Saxofonspielen abbekomme. Sorry, Paps, daraus wird leider nichts. Meine Leidenschaft ist eine andere, im Gegensatz zu deiner eine sehr leise und unaufdringliche. Und sie hat viel mehr mit Charlie Brown als mit Charlie Parker zu tun.

Ich zeichne. Immer und überall und alles und jeden. Das fing wohl schon an, als ich noch ganz klein war, zumindest hat Tante Heidi das gesagt. Kein Blatt Papier, keine weiße Tischdecke, keine Wand sei vor mir und meinen Buntstiften sicher gewesen. Ich hätte einfach alles vollgekritzelt und man hätte meistens schon erkennen können, was es sein sollte.

Tante Heidi hat sogar alles aufgehoben, was ich jemals gezeichnet habe– außer den Wänden und Tischdecken natürlich. Und sie hat mich immer ermutigt, fest daran zu glauben, dass ich später mal ein berühmter Comiczeichner werden kann. Und daran glaube ich mittlerweile nicht nur, ich bin sogar fest davon überzeugt. Ich werde Comiczeichner! Hundertpro! Da könnt ihr euch auf den Kopf stellen und Charlie Parker rückwärtsspielen, ich schaffe das! Irgendwann. Ganz sicher. In ein paar Jahren. Falls ich meine Schulzeit überlebe– was sehr unwahrscheinlich ist.

Für einen hässlichen Loser wie mich ist jeder überlebte Tag Schule ein Wunder. Das liegt an den vielen dummen Leuten, die sich dort rumtreiben. Eigentlich paradox, oder? Dass es an einem Ort, an dem die Leute eigentlich schlauer gemacht werden sollen, so viele Matschbirnen gibt. Und damit meine ich nicht nur meine liebenswerten Mitschüler, die mich ständig aufs Übelste mobben, diese geistig zurückgebliebenen Vollidioten. Oder die ganzen Mädchen, die glauben, sie wären die Allerschönsten, nur weil ihnen plötzlich Brüste wachsen und die ganzen Vollidioten sie sabbernd anstarren– wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, mich zu mobben.

Aber dass die alle dumm wie eine Dose Erbsen sind, ist ja noch zu verzeihen, die wissen es einfach nicht besser. Wer es allerdings besser wissen sollte, sind die Lehrer. Ich meine, das sind schließlich Erwachsene. Erwachsene mit einer abgeschlossenen Ausbildung. Leute, die uns zu besseren Menschen erziehen sollen. Aber von denen werde ich auch gemobbt, und zwar ganz übel! Zum Beispiel von meiner Kunstlehrerin, der Hensel-Tegtmeier. Die hat mir letztes Jahr doch glatt eine Drei gegeben! Nur weil sie keine Comics mag! Das sei keine Kunst, hat sie gesagt! Das muss man sich mal vorstellen! Ich kann besser zeichnen, als die komplette Klasse zusammen, und dann kriege ich eine Drei? Kann ja wohl nicht sein, oder?

Wisst ihr, wie man eine Eins bei der Hensel-Tegtmeier kriegt? Indem man den Mülleimer nimmt, ihn auf ihrem Pult ausleert und ein bisschen rote Farbe drübersprüht. Echt jetzt, ohne Scheiß. Das hat letztes Jahr einer aus der Oberstufe gemacht und das Ganze dann »Das Blut der Wegwerfgesellschaft« genannt, und die Hensel-Tegtmeier hat sich vor Entzücken kaum noch eingekriegt und ihm allen Ernstes eine Eins dafür gegeben. Hallo? Wenn er das zu Hause gemacht hätte, hätte ihm seine Mutter wahrscheinlich links und rechts eine geknallt, und zwar völlig zu Recht.

Ja, ich weiß, bringt ja doch nichts, sich darüber aufzuregen. Vor allem nicht heute, am ersten Montagmorgen nach den Sommerferien. Na ja, wenigstens sind die Vollidioten damit beschäftigt, sich gegenseitig von ihren Ferienerlebnissen vorzuprahlen, und lassen mich in Ruhe. Das wird sich allerdings spätestens in der ersten großen Pause ändern, wenn…

Oh, da kommt der Schubert, unser Klassenlehrer. Jetzt kriegen wir erst mal den neuen Stundenplan. Vielleicht habe ich ja Glück und die Hensel-Tegtmeier wurde in den Ferien von einem Mülleimer erschlagen.

2

»…Mittwoch: erste und zweite Stunde: Kunst bei Frau Hensel-Tegtmeier.«

Schade. Kein Mülleimer. Ein Charlie Brown hat eben niemals Glück.

»Dritte und vierte Stunde: Biologie, Herr…«

Ein leises Klopfen unterbricht Schubert.

»Herein, wenn’s kein Schneider ist!«, sagt er und wendet sich wieder an uns. »Weiß irgendjemand von euch zufällig, was dieser Spruch bedeutet?«

Kollektives Schulterzucken. Es klopft noch mal an der Tür, diesmal deutlich lauter.

»Die Tür ist offen!«, ruft Schubert lauter. »Also ursprünglich hieß es: Herein, wenn’s kein Schnitter ist. Und mit Schnitter war der Sensenmann gemeint, sprich der Tod. Dieser Spruch bedeutet somit eigentlich, dass der Tod nicht willkommen ist und draußen bleiben soll, wenn es an der Tür klopft.«

»Zu spät«, sagt Lazlo, unser Klassenclown, und zeigt mit dem Finger auf die Tür. »Jetzt ist er schon drin.«

Unsere Blicke folgen seinem Finger. Etwas komplett in Schwarz Gehülltes schlurft langsam auf Schubert zu. Die ganze Klasse scheint den Atem anzuhalten. So still ist es hier sonst nicht mal, wenn wir eine Mathearbeit schreiben.

Natürlich weiß ich, dass das nicht wirklich der Tod ist, aber wenn ich ihn zeichnen müsste, würde er genau so aussehen. Ein ziemlich moderner Tod, beim näheren Hinsehen. In schwarzen Chucks und mit einem pechschwarzen Pulli, dessen Kapuze ganz tief ins Gesicht gezogen ist.

Die Gestalt bleibt neben Schubert stehen und streckt ihm ihre im Kontrast zu ihrem restlichen düsteren Erscheinungsbild beinahe schon blendend weiße Hand entgegen, die einen grünen Zettel festhält. Schubert scheint von dieser Erscheinung ebenso gelähmt wie wir alle und starrt sie nur fassungslos an.

»Was ist jetzt?«, brummelt es plötzlich aus den Tiefen der Kapuze hervor. »Nehmen Sie endlich diesen verdammten Zettel oder warten Sie darauf, dass ich hier festwachse?«

Okay, der Tod kann also sprechen.

Schubert nimmt den Zettel entgegen, faltet ihn auf und liest ihn.

»Oh!«, sagt er schließlich. »Ach so… Du bist das. Das hab ich ja völlig vergessen.«

Er wendet sich an uns.

»Leute, das ist… Würdest du bitte die Kapuze abziehen, damit deine neuen Mitschüler dich auch sehen können?«

»Oh, Mann, sonst noch was?«, stöhnt der Tod genervt.

Dann löst er langsam und widerwillig die Bändel an seiner Kapuze und streift sie wie in Zeitlupe nach hinten. Ein Raunen geht durch die Klasse. Und ich falle fast vom Stuhl. Ich kann mich gerade noch so mit einer Hand an der Tischkante abfangen. Der Tod ist nämlich nicht nur weiblich, sondern auch das Wunderschönste, was ich jemals gesehen habe. Ungelogen und kein bisschen übertrieben. Ich meine, es gibt sehr viele schöne Mädchen, ohne Frage. Aber die sind alle irgendwie gleich schön. Sie sind hübsch und man sieht sie sich gern an, weil sie nicht hässlich sind, aber sie unterscheiden sich nicht großartig voneinander, sie sind nur Teil einer schönen Masse. Nicht so der Tod. Dieses Mädchen ist einzigartig schön. Ihr könntet es in einem Fußballstadion voller schöner Mädchen verstecken und ich würde es sofort finden. Und das nicht nur aufgrund seiner wundervoll roten Haare. Auch wegen dieser sensationell dunkelgrünen Augen. Am liebsten würde ich sofort auf der Stelle in ihnen sterben.

Ein bisschen fühlt es sich sogar tatsächlich so an, als wäre ich gerade gestorben, denn ich sitze völlig erstarrt da und kann nicht mal mit einer Wimper zucken, weil ich Angst habe, auch nur eine Millisekunde dieses göttlich tödlichen Anblicks zu verpassen.

»Ach du Scheiße«, höre ich drei Plätze neben mir Antoinette flüstern. »Das hat uns ja gerade noch gefehlt, eine Emo-Zicke.«

Echt? Ist sie das? Ich meine, ich habe keine Ahnung von Emos. Was genau macht denn einen Emo aus? Reichen da schon schwarze Klamotten? Emo kommt von emotional, so viel weiß ich noch. Emos haben demzufolge also Gefühle, was ja grundsätzlich erst mal nichts Schlechtes ist. Aber was für Gefühle? Ich meine, da muss ja schon ein Konzept dahinterstecken. Nur weil ein paar Leute irgendwelche Gefühle haben und sich schwarz anziehen, wird ja nicht gleich eine ganze Jugendbewegung gegründet. Das hat bestimmt auch irgendwas mit Musik zu tun. Ist ja meistens so. Hip-Hopper hören Hip-Hop. Punks hören Punk. Emos hören Emo? Ist das eine Musikrichtung? Emotionale Musik? Fängt man da an zu lachen oder zu weinen, wenn man die hört? Keine Ahnung. Aber das lässt sich ja im Internet mit Sicherheit leicht rauskriegen.

Jedenfalls mal wieder typisch, dass Antoinette die Erste ist, die etwas zu meckern hat. Von wegen Zicke. Sie fürchtet wohl die Konkurrenz, aber da muss sie sich nun wirklich keine Sorgen machen– eine größere Zicke als Antoinette gibt es nämlich nicht.

Antoinette ist ein absolut typisches Beispiel für das, was ich vorhin gemeint habe. Sie sieht echt gut aus, hübsches Gesicht, tolle Figur, lange blonde Haare, strahlendes Lächeln. Aber wenn man sie zehn Minuten lang nicht gesehen hat und dann die Augen schließt, um sie sich vorzustellen, dann entsteht kein klares Bild, dann könnte das genauso gut Paris Fucking Hilton oder Britney Spears oder Jessica Simpson oder die blonde Bedienung aus der Bäckerei bei uns um die Ecke sein. Sie hat nichts Eigenes, nichts, was sie unverwechselbar macht. Außer ihrem Lästermaul vielleicht. Ja, ich weiß, ich lästere auch gerade. Aber nicht über jemanden, den ich überhaupt nicht kenne und mir deswegen noch gar kein Urteil erlauben kann.

»Also, Leute«, sagt Schubert. »Das hier ist eure neue Mitschülerin. Ihr Name ist Leonie Kö…«

»Leo«, brummt unsere neue Mitschülerin dazwischen. »Leo reicht vollkommen. Leonie ist ein Scheißname.«

Aha. Der Tod heißt also Leonie, ist aber mit seinem Namen nicht zufrieden. Schade eigentlich, ich finde Leonie einen sehr schönen Namen. Aber ich werde mich natürlich hüten, sie jemals so zu nennen. Den Tod verärgert man besser nicht.

»Okay«, sagt Schubert sichtlich irritiert. »Eure neue Mitschülerin heißt also Leo König. Sie ist gerade aus Hamburg hierher gezogen und…«

»Ichwurdehierhergezogen«, unterbricht sie ihn erneut.

»Äh… gut«, fährt Schubert noch irritierter fort. »Leowurdealso aus Hamburg hierhergezogen, und ich hoffe, ihr helft ihr ein bisschen dabei, sich bei uns einzugewöhnen. Wirst schon sehen, Leo, in ein paar Wochen, wenn du neue Freunde gefunden hast, wird es dir hier bestimmt genauso gut gefallen wie in Hamburg.«

»Eher friert die Hölle zu«, brummt Leo.

»Wieso?«, fragt Lazlo grinsend. »Habt ihr die Ölrechnung nicht bezahlt?«

Ein paar Leute lachen, Antoinette am lautesten.

Leo geht langsam auf Lazlos Pult zu, stützt sich mit beiden Händen darauf und lehnt sich nach vorne, sodass ihr Gesicht fast das von Lazlo berührt.

»Nicht nötig«, sagt sie und verstellt ihre Stimme dabei teuflisch tief. »Wir heizen mit Arschlöchern. Und der Nachschub ist anscheinend grenzenlos, wie man sieht.«

Mann, ist die cool!

Lazlo ist mit seinem Stuhl ein ganzes Stück nach hinten gerutscht. Leo fixiert ihn mit einem herausfordernden Blick.

»Wie jetzt?«, sagt sie. »Das war’s schon? Ein einziger blöder Spruch? Mehr fällt dir nicht ein? Fuck, hier sind ja selbst die Arschlöcher langweilig.«

»Die… die ist ja wohl total irre«, stammelt Lazlo und schaut sich Hilfe suchend um.

»Ich sehe schon«, seufzt Schubert in Richtung Leo. »Du hast es nicht gerade darauf angelegt, neue Freunde zu finden. Na, das kann ja lustig werden.«

»Klar wird das lustig«, antwortet Leo und entfernt sich ein paar Schritte von Lazlo, der erleichtert aufatmet. »Sehen Sie nicht, wie ich mich jetzt schon die ganze Zeit kaputtlache?«

»Allerdings«, sagt Schubert. »Ich habe selten so ein sonniges Gemüt wie dich kennengelernt. Können wir dann jetzt vielleicht endlich weitermachen? Wo möchtest du denn gern sitzen?«

»An der Alster«, brummt Leo.

»Tut mir leid, da ist gerade kein Platz frei«, stöhnt Schubert. »Am besten du setzt dich einfach erst mal da hinten neben Marie.«

Oha. Ausgerechnet Marie. Das überlebt sie nicht. Marie, meine ich. Marie hat nämlich vor allem Angst. Wirklich vor allem. Vor der Umwelt, vor Nahrungsmitteln jeglicher Art, vor Tieren in jeder Größe und Insekten ganz besonders, vor Klassenarbeiten, davor, dass ihr Kugelschreiber bei Klassenarbeiten nicht mehr schreibt (darum hat sie immer zwölf Reservekugelschreiber einstecken), vor Leuten, die zu laut reden oder zu leise (das findet sie unheimlich), vor neuen Schulbüchern (die Gefahr, sich an den Seiten zu schneiden, ist höher), vor alten Schulbüchern (wer weiß, wer da so alles seine Bakterien reingehustet hat), vor ansteckenden Krankheiten natürlich und vor Menschen allgemein. Ihr Leben besteht aus einer endlosen Anzahl von Panikattacken, die sie allerdings erstaunlich gut im Griff hat. Sobald ihr irgendetwas Angst einjagt– was ungefähr drei- bis fünfmal am Vormittag passiert– zieht sie eine große braune Papiertüte aus ihrer Tasche, atmet eine Minute lang hektisch hinein und danach ist wieder alles in Ordnung. Ich fürchte allerdings, ihr Verschleiß an Papiertüten könnte rasant ansteigen, wenn der Tod von jetzt an ihr Sitznachbar sein wird.

Verdammt, wieso ist neben mir bloß kein Platz frei! Leo schlurft langsam und lustlos nach hinten. Sie muss an mir vorbei. Ob ich vielleicht irgendwas zu ihr sagen sollte? Irgendetwas Aufmunterndes, damit sie nicht denkt, es gibt nur Arschlöcher hier in der Klasse? Irgendetwas, damit sie auf mich aufmerksam wird? Gleich ist es so weit. Noch vier Schritte, dann ist sie genau neben mir. Okay. Wenn sie mich anguckt, dann sage ich etwas. Dann sage ich… Mist, mir fällt nichts ein! Noch zwei Schritte. Guckt sie mich an? Scheiße, keine Ahnung. Ich bin viel zu nervös, um zu gucken, ob sie mich anguckt. Mist, jetzt ist sie vorbei. Aber wahrscheinlich hat sie mich sowieso nicht angeguckt. Warum sollte sie auch? Ich bin schließlich ein Charlie Brown und einen Charlie Brown guckt nie jemand an– schon gar nicht das schönste, schlechtgelaunteste Mädchen der Welt. Seufz.

Ich muss es unbedingt schaffen, dieses Mädchen kennenzulernen. Alles andere ist unwichtig. Als sie ihre Kapuze abgezogen hat, das war so, als hätte sie kurz den Stecker aus meinem Herz gezogen und gleich wieder reingesteckt, und seitdem schlägt es anders, in ihrem Rhythmus, wie sie es will, und sie kann es jederzeit anhalten oder schneller schlagen lassen.

Ich weiß, das klingt seltsam. Dass man sich einfach so Hals über Kopf verliebt. In ein Mädchen, das man nicht mal kennt, mit dem man noch nicht mal ein Wort gewechselt hat. Erklären kann ich es auch nicht. Ich weiß nur, dass es passiert ist. Ich habe mich unsterblich in den Tod verliebt. Nein, Blödsinn. Ich habe mich unsterblich in ein rothaariges Mädchen… Oh, verdammt! Charlie Brown. Rothaariges Mädchen. Charlie Brown ist auch in ein rothaariges Mädchen verliebt und er schafft es nie, es anzusprechen, und irgendwann zieht es dann weg oder so und er sieht es nie wieder. Scheiße. Wenn das mal kein schlechtes Omen ist.

Nein, ist es nicht! Ich bin nämlich nicht Charlie Brown! Ich bin Charlie Braun! Und ich werde es nicht nur schaffen, sie kennenzulernen, ich werde sie sogar dazu bringen, mich zu küssen! Jawohl! Und dann heiraten wir auf dem Mond! Und ich werde der berühmteste Comiczeichner des Universums! Und Präsident der Vereinigten Staaten von Träumweiter. Nein, im Ernst, wem mache ich hier etwas vor? Ich bin und bleibe ein Loser und meine Chancen, jemals von Leo geküsst zu werden, sind unterirdisch.

»So, das war euer Stundenplan für Freitag«, sagt Schubert.

Was, wir sind schon bei Freitag? Ich habe überhaupt nichts mitgekriegt. Auch egal. Ich werde sowieso immer Leo hinterherlaufen, dafür brauche ich keinen Stundenplan.

»Kommen wir zum Samstag«, fährt Schubert fort. »Erste…«

Ein Aufschrei des Entsetzens geht durch die Klasse. Schubert fängt laut an zu lachen.

»Na, seid ihr jetzt endlich wach?«, sagt er grinsend. »Keine Sorge, das war natürlich nur ein Witz. Ihr glaubt ja wohl selbst nicht, dass ich Lust habe, euch auch noch am Samstag zu ertragen.«

Erleichtert ausgeatmete Luft durchströmt den Raum. Marie atmet ein bisschen heftiger als sonst in ihre Tüte.

Schubert zieht ein Blatt Papier aus seiner Tasche.

»Als Nächstes möchte ich darum bitten, dass mir jeder von euch seinen Namen, seine Telefonnummer zu Hause, seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse aufschreibt. Nur für den Fall, dass sich da seit letztem Schuljahr was geändert hat.«

Er steht auf und legt den Zettel auf einen der vorderen Tische.

»Fangt einfach vorne an und gebt ihn dann nach hinten weiter«, sagt er. »Ich hole mir in der Zwischenzeit mal eben einen Kaffee, bin gleich wieder da.«

Kaum ist die Tür zu, steigt der Geräuschpegel deutlich an. Um Antoinette schart sich eine Traube ihrer Anhängerinnen. Sie fangen an zu tuscheln und ihre Blicke wandern immer wieder zu Leo. Leo sitzt einfach nur da, als ob sie gar nicht anwesend wäre. Sie scheint überhaupt nicht wahrzunehmen, was um sie herum passiert. Selbst als Antoinette aufsteht, auf sie zugeht und sich demonstrativ direkt vor Leos Pult stellt, reagiert sie nicht, sondern starrt durch sie hindurch.

»Hey, Emo!«, sagt Antoinette herausfordernd. »Heute schon geritzt?«

Sie dreht sich grinsend zu ihren Anhängerinnen um, die dämlich kichern. Was sollte das denn sein? Ein Emo-Witz? Ritzen die sich immer, oder wie? Seltsames Hobby. Verdammt, ich weiß echt viel zu wenig über Emos, das muss sich ändern.

Leo sieht Antoinette mit todernster Miene direkt in die Augen.

»Nein«, sagt sie. »Bis jetzt noch niemanden. Wieso? Willst du die Erste sein?«

»Nee, lass mal« erwidert sie. »Könnte ja ansteckend sein. Und ich hab echt keine Lust auf schwarze Klamotten, das sieht nämlich extrem scheiße aus.«

»Dein Verlust«, kontert Leo. »Schwarz macht nämlich schlank, weißt du? Dann hätte sich auch das Problem mit dem Babyspeck, der da aus deiner Hose quillt, erledigt.«

Oha. Volltreffer. Mitten in Antoinettes größte Problemzone. Es gibt nicht viele Mädels, die etwas Negatives über ihre Figur gesagt und es überlebt haben.

»Willst du damit etwa sagen, dass ich fett bin?«, zischt Antoinette und stützt sich mit beiden Händen bedrohlich auf Leos Pult.

»Nein«, antwortet Leo und bleibt supercool dabei. »Das muss man nicht extra sagen, das sieht doch jeder sofort.«

Antoinette schnellt nach vorne, schnappt sich die Bändel von Leos Kapuze und zieht Leo zu sich heran.

»Jetzt pass mal gut auf, du blöde Emo-Schlampe«, knurrt sie. »Wenn du unbedingt Ärger suchst– kannst du gern haben.«

Marie greift wieder nach ihrer Tüte.

Leo bleibt immer noch cool und zieht etwas aus ihrer Hosentasche, ich kann aber nicht erkennen, was es ist. Ihre Hand bewegt sich unauffällig zu Antoinettes Bauchnabel.

»Also«, sagt sie. »Erstens bistduzumirgekommen, um Ärger zu suchen. Und zweitens: Wenn du nicht willst, dass deine Speckröllchen eine Feuerbestattung kriegen, würde ich lieber ganz schnell loslassen.«

Das Ratschen eines Daumens über das Zündrad eines Billigfeuerzeuges erklingt zweimal.

Antoinette schaut nach unten, lässt sofort die Bändel der Kapuze los und springt drei Schritte nach hinten, wobei sie fast über das nächste Pult fällt.

»Die ist ja wohl total irre!«, kreischt sie hysterisch. »Die wollte mich abfackeln!«

Ihre Mädels stürzen auf sie zu und versuchen, sie zu beruhigen.

»Die ist ja gemeingefährlich, die hässliche Kuh!«, kreischt sie weiter. »Aber wart’s nur ab, das kommt doppelt und dreifach zurück! Du hast dich gerade mit der Falschen angelegt! Hörst du, du durchgeknallte Schlampe?«

In diesem Moment sehe ich Leo zum ersten Mal grinsen. Sie setzt sich scheinbar in Zeitlupe wieder hin, entzündet das Feuerzeug und pustet die Flamme aus, als würde sie den Rauch aus einem qualmenden Pistolenlauf wegblasen. Sensationell. Wäre ich nicht bereits unsterblich in sie verliebt, allerspätestens jetzt wäre es um mich geschehen. Das ist nicht nur das schönste, sondern auch noch das coolste Mädchen der Welt.

»Hier, Charlie«, höre ich eine Stimme neben mir und drehe mich wieder um.