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Die Freunde Charlie, Kalle und Sybille verfolgen Kalles abgestürzte Drohne. Dabei geraten sie im Wald in ein merkwürdiges Kraftfeld, das eine geheime Anlage schützt. Als sie sich die Sache näher ansehen, stolpern sie in eine Alien-Basis, in der die Invasion der Erde vorbereitet wird. Die außerirdischen Wesen werden jedoch von ihrem Herrscher dazu gezwungen. Eine Armee von Robotern passt auf, dass sie ihre Befehle befolgen. Zusammen mit Charlie und seinen Freunden versuchen sie, die Erde vor der Apokalypse zu bewahren. Dafür müssen sie sich schrumpfen lassen, mit eigenartigen Kreaturen zusammenarbeiten, gegen skurrile Scheusale kämpfen und herausfinden, wem sie trauen können. So ganz nebenbei müssen sie auch noch zur Schule gehen, mit Rowdys fertig werden und etwas essen, was leichter klingt, als es letztlich ist. Können die Freunde die Erde vor der Invasion retten? Fressen Regenwürmer geschrumpfte Schüler? Werden sie jemals wieder ihre richtige Größe zurückerhalten? Und wer ist eigentlich der König von Scheißegalien? »Eine durch das Werk von Udo Lindenberg inspirierte Science-Fiction-Story für Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene.«
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2022
Karsten Gläntz
CHARLIE MOSCHNER
und der König von Scheißegalien
Roman
Copyright: © 2022 Karsten Gläntz
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Softcover
978-3-347-56690-3
Hardcover
978-3-347-56691-0
E-Book
978-3-347-56692-7
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Für meine Familie,
Udo
und die weltweite Komplizen-Gemeinde
Wenn ich die Dinge aus heutiger Sicht betrachte, fügen sich alle kuriosen Geschehnisse, die in letzter Zeit auf der Erde zu beobachten waren, wie ein Puzzle zusammen. Unglaubliches passierte auf allen Kontinenten und in vielen Ländern unabhängig voneinander und ohne, dass irgendjemand einen Zusammenhang vermutete. In unserem kleinen und beschaulichen Örtchen zum Beispiel, haben sich während des Sommerfestes, das nur alle paar Jahre stattfindet, einige Dorfbewohner auf die Suche nach der Hauptattraktion, einem großen Kettenkarussell gemacht:
Bei schönstem Wetter versammelten sich die Einwohner auf dem Schützenplatz. In einem großen bayrischen Bierzelt eröffnete Bürgermeister Rudi Rastlos das Sommerfest mit einer Ansprache. Danach rundeten allerlei Darbietungen von Jung und Alt das vorgesehene Programm des ersten Tages ab. Eine Schießbude, Fädenziehen und das besagte Kettenkarussell stieß vor dem Festzelt bei allen Besuchern auf reges Interesse. Da die meisten Erwachsenen am kommenden Tag zur Arbeit gehen mussten, klang der erste Abend bereits um Mitternacht aus.
Meine Schulstunde endete am nächsten Tag bereits um dreizehn Uhr. Gut gelaunt machte ich mich von der Bushaltestelle auf den Weg nach Hause, als plötzlich die Dorfsirene losheulte. Wenig später rasten auch schon zwei Feuerwehrfahrzeuge an mir vorbei. Ich rannte nach Hause, griff mir mein Fahrrad und fuhr in meditativer Schlängelfahrt in die gleiche Richtung, die die Einsatzwagen nahmen. Unmittelbar vor dem Festzelt standen die Löschfahrzeuge. Ein Feuer oder eine Rauchentwicklung konnte ich trotz mehrfachen Inspizierens der Festwiese nicht ausmachen. Der Bürgermeister und Gerhard Gnadenvoll, der Inhaber der Buden, des Karussells und des Bierzeltes, standen beieinander und diskutierten heftig. Kurze Zeit später gesellte sich auch der Dorfsheriff, Johnny Cannelloni, zu den debattierenden Männern. Schlagartig wurde mir bewusst, was der Grund für den Einsatz der Trachtengruppe war: Das einzigartige Kettenkarussell stand nicht mehr da, wo es gestern noch seinen Dienst tat.
Der Inhaber schrie immer wieder: »Banditen! Alles Banditen hier in dem Kuhkaff.«
Auf dem leicht durchnässten Boden suchten sie erfolglos nach Lkw-Spuren. Fassungslos schüttelten Herr Rastlos und Herr Gnadenvoll immer wieder ihre Köpfe.
»Das können die nur zu Fuß weggeschleppt haben. Hier gibt es keine Hinweise auf Fahrzeugspuren«, sagte der verblüffte Polizist.
Wie, bitte schön, sollten Menschen ein tonnenschweres Karussell wegschleppen?, schoss es mir in den Kopf.
»Ich gebe demjenigen, der mein Fahrgeschäft ausfindig macht, eintausend Mark, äh, Euro!«, brüllte der Eigentümer in die Menge, die sich mittlerweile am Ort des Geschehens einfand.
Sofort stürmten ein paar klamme Schaulustige los, um sich auf Spurensuche zu begeben, aber auch nach Wochen konnte weder die Polizei noch der private Suchtrupp einen Fahndungserfolg vermelden. Bis heute bleibt das Kettenkarussell spurlos verschwunden.
Die Erg Chegaga ist die größte Sandwüste in Marokko. Hier haben Forscher festgestellt, dass einige der achtzig bis einhundert Meter hohen Dünen aus unerklärlichen Gründen verschwunden sind. Es gibt Vermutungen, dass die Sanderhebungen durch heftige Stürme abgetragen worden sein sollen. Derartige Winde hat man jedoch im Nachhinein als Ursache ausgeschlossen. Auch dieses Rätsel ist bis dato ungeklärt.
In Brasilien sind angekohlte Bäume, die Opfer einer Brandrodung werden sollten, verschwunden. Wer könnte an den Überresten des Feuers Interesse haben? Eigentlich niemand, darum wurde der Vorfall nicht weiter untersucht. Es gab nur eine kurze Mitteilung in einer regionalen brasilianischen Zeitung.
Auch im Himalaja, dem Hochgebirgssystem in Asien, gab es unerklärliche Geschehnisse. In dem etwa dreitausend Kilometer langen Gebirge rätseln die Einwohner von Pakistan bis Myanmar über verschwundene Felsformationen.
Tasmanische Bewohner, die früh morgens zum Angeln fuhren, fanden einen See, aus dem sie tags zuvor noch einige dicke Fische an Land zogen, komplett geleert auf.
Diese und viele weitere kuriose Begebenheiten lassen sich im Nachhinein betrachtet auf ein und dasselbe Ereignis zurückführen. Entgegen meiner ursprünglichen Haltung habe ich mich dazu durchgerungen das Geheimnis, das sich hinter den fast unglaubwürdigen Vorkommnissen verbirgt, zu lüften, denn jeder Mensch, der auf dem Planeten Erde lebt, hat das Recht, es zu erfahren. Nur so viel vorweg: Die Menschheit und mit ihr unser Himmelskörper standen bereits am Rande des Abgrunds.
Himmelserscheinung
Am letzten Schultag vor den Sommerferien kutschierte mich mein Vater mit dem Auto zur Penne. Diesen Luxus gab es leider nur an wenigen Tagen im Jahr. Als wir an der Friedhof-Nonsens-Schule eintrafen, standen bereits einige meiner Schulfreunde vor dem Gebäude zusammen. Unverzüglich schnappte ich meine Tasche, riss die Autotür auf und wollte gerade lossprinten, als mein Vater rief: »Hey Charlie, du hast dein Pausenbrot vergessen!«
Er nannte mich immer dann so, wenn er besonders gut gelaunt war. Wenn mich die Erwachsenen in der Öffentlichkeit mit meinem richtigen Namen Horst ansprachen, wünschte ich mir immer, vor mir täte sich eine Erdspalte auf, in die ich hineinspringen könnte. Mein Vorname ließ sich selbst mit den großartigsten Argumenten nicht schönreden, da er einfach völlig aus der Zeit gefallen war.
Ich schnappte mein Brot und lief zu meinem besten Kumpel Kalle, der gerade an uns vorbeihechelte. Manche nannten ihn auch Desperado, weil er sich immer wie ein Gesetzloser mit allen Mitteln an die vorderste Front des Buffets durchschlug. Dabei war es egal ob zu Hause oder in der Mensaschlange der Schule. Kalle war ein guter Buddy, aber wenn ihn sein Hunger plagte, kannte er keine Verwandten. Ertönte das Zeichen zum Essen, musste man sich vor der herannahenden Dampfwalze in Acht nehmen. Mit so einem Frontmann als Freund hatte man aber auch eine Art Airbag an seiner Seite. Optisch ähnelte er dem Kollegen aus dem gewissen gallischen Dorf, der bei drohender Gefahr mit Hinkelsteinen um sich warf, nur nicht ganz so umfangreich, aber schon mit kräftigen Armen und Beinen und einem eher großen Mund. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sein Mund schon immer so groß war oder erst mit der Zeit entstanden ist. Auch wenn er ab und an meinte, dass ihm so ein Gazellenbody, wie ich ihn durch die Gegend trug, noch attraktiver machen würde, stand er immer selbstbewusst zu seinem Körper.
»Moin Kalle«, begrüßte ich ihn. »Moin Charlie! Alles gelenkig bei dir?«
»Jupp, alles frisch. Hast du schon Sibylle gesehen? Unsere Prophetin?«
»Schau mal da drüben! Ich glaube, sie hat uns entdeckt«, sagte Kalle und zeigte in ihre Richtung.
Sibylle war unsere beste Freundin. Dem Mythos nach war sie eine Prophetin, die durch göttliche Inspiration die Zukunft weissagte. Manchmal überkam mich so ein Gefühl, als ob sie diese Gabe tatsächlich besaß. Mit ihrer Klugheit konnte sie uns bei der einen oder anderen Klausur den Allerwertesten retten. Ich glaube sogar, dass es ohne ihre Hilfe in der Schule ziemlich eng geworden wäre. An vielen Nachmittagen versuchte uns Sibylle das beizubringen, was eigentlich die Aufgabe der Lehrer war.
Zugegeben, die meisten Pauker vermittelten den Stoff einigermaßen gut, aber es gab noch andere wichtige Dinge, die in der Klasse erledigt werden mussten. Der Montagvormittag zum Beispiel war für eine aktive Teilnahme am Unterricht völlig ungeeignet. Wenn nicht gerade Strafschweigen angeordnet war, verbrachten wir viel Zeit damit, die Erlebnisse des Wochenendes vollumfänglich aufzuarbeiten. An den übrigen Schultagen taten sich ab und zu Lücken auf, sodass die Mehrheit der Schüler dem Lehrer folgen konnte. Aber selbst in diesen Phasen legten Kalle und ich manchmal einen träumerischen Rückwärtsgang ein. Insgesamt blieb also wenig Zeit für die Lehrer übrig.
Sibylle nahm ihr überragendes Zeugnis entgegen. Sie war, wie jedes Jahr, Klassenbeste. Das Giftblatt von Kalle und mir war dagegen semi-gut, aber grundsätzlich konnten wir zufrieden damit sein, denn unsere Parole lautete: Das hier in der Schule ist eine ganz hoch komplexe Angelegenheit, deshalb gilt es nicht sitzen zubleiben und möglichst einen Dreier-Schnitt zu erreichen. Und das war dieses Jahr einigermaßen geglückt. Wir versprachen uns, in den Jahren mit mehr Fleiß und Ernsthaftigkeit an die Sache heranzugehen.
»Geht das heute klar? Ich will nach der Schule meine Drohne fliegen lassen«, rief Kalle, während der Klassenlehrer Herr Schniegelfrau, genannt Mütze der Inwärtsgrübler, die Zeugnisse verteilte. Er trug den Spitznamen, da er ein grauenhaftes Toupet trug und dieses immer wieder mal, wenn er nachdenklich auf seinem Stuhl saß, hochnahm, um sich die verschwitzte Kopfpelle zu kratzen.
»Ja klar«, antwortete ich.
Sibylle nickte zustimmend.
Nach dem letzten Läuten der Schulklingel stürmten wir nach Hause. Dort angekommen, warf ich meine Tasche in die Ecke und lief sofort zu unserem Treffpunkt.
Der allgemeine Versammlungspunkt unserer Dorfjugend befand sich auf einer kleinen Wiese, die am Rande des Dorfes lag. Von einer einsam stehenden Parkbank, die oberhalb des grünen Fleckchens stand, genoss man einen tollen Blick auf das Dorf.
Sibylle wartete bereits, als ich zur verabredeten Zeit eintraf. Kalle musste die Drohne schleppen und hatte dazu auch noch den weiteren Weg, weshalb er noch nicht vor Ort war. Wir sprachen gerade über die Zeugnisse und das nächste Schuljahr, als unser Freund in der Ferne auftauchte. Er latschte ungewöhnlich schnell erst in Richtung Parkbank, bog dann aber in die Herbert-Heilig-Straße ein, die zweifelsohne nicht zu uns führte. Mir war sofort klar, warum mein Kumpel freiwillig diesen Umweg in Kauf nahm: Er ließ sich ein ums andere Mal von der Fleischerei Dudelmann ködern, die bei ihm den Ruf der besten Buletten der Welt genießt. Minuten später sahen wir Kalle dann endlich kauend auf uns zukommen.
»Hey Leute, ich musste mir noch einen kleinen Snack holen! Ihr wisst ja, ohne Mampf kein Kampf.«
Richtig verstanden haben wir nicht, was er sagte, denn sein Kauapparat war noch mit dem Zerkleinern einer ganzen Bulette beschäftigt.
Nachdem jeder einen Fleischklops verdrückt hatte, ging es mit Kalles Drohne Nugget im Gepäck durch den Wald zu der etwa zwei Kilometer entfernten Lichtung, die sich wie eine helle Insel zwischen den Bäumen auftat. Mitten auf der Waldwiese positionierte ich das Fluggerät auf einer kleinen Anhöhe. Der Abstand zu jeder Seite der Bäume betrug ungefähr fünfzig Meter, sodass eine Kollision beim Start unter normalen Bedingungen ausgeschlossen war.
Mit der Steuerungseinheit aktivierte Kalle das System und startete das Flugobjekt. In Vorbereitung auf einen Luftkampf mit einer Bestie, die jedoch nur in seiner Fantasie existierte, stelle er sich leicht breitbeinig auf. Langsam erhob sich Nugget sicher in die Luft. Als unsere Köpfe der Drohne nach oben folgten, sahen wir, wie großartig Kalle sie goldfarben lackiert hatte: Sie schimmerte wie der Champagnerkühler meiner Oma.
Mal abgesehen von ein paar Schleierwolken schien die Sonne von einem azurblauen Himmel auf uns herunter. Vor dieser traumhaften Kulisse erreichte die Drohne schnell die Höhe der Baumwipfel.
Kalle stand hoch konzentriert wie ein Fels in der Brandung da. Kampfbereit hielt er die Steuereinheit zwischen seinen kräftigen Händen und fixierte Nugget mit Adleraugen. Sibylle und ich waren von Kalles Flugfähigkeiten schwer beeindruckt.
Etwas Wind kam auf und blies aus westlicher Richtung in unsere Gesichter. Das konnte Kalle aber überhaupt nicht dazu veranlassen, nervös zu werden. Souverän steuerte er Nugget steil nach oben, weit über die Baumwipfel. Die Drohne wurde kleiner und kleiner als plötzlich ein greller, kugelförmiger Blitz den blauen Himmel in gleißendes Licht verwandelte. Mit einem lauten Knall kreuzte er die Flugbahn von Kalles Drohne. Abrupt verstummte das Gezwitscher der Vögel. Absolute Stille breitete sich auf der Lichtung und im angrenzenden Wald aus.
Regungslos und sprachlos schauten wir uns an, bis Kalle brüllte: »Wo ist Nugget? Lasst uns sofort das Gebiet absuchen!« Mein Kumpel riss sich die Sonnenbrille herunter und rannte wie ein Metropolenhüpfer wild in der Gegend herum.
Sibylle und ich durchkämmten zuerst systematisch die Lichtung und verlagerten später die Suche auf den angrenzenden Wald.
Nach langem erfolglosen Auskundschaften verabredeten wir, am nächsten Tag die Erkundung auszudehnen. In der Dämmerung traten wir frustriert den Heimweg an.
Als ich zu Hause ankam, begrüßten mich meine Eltern mit den Worten: »Charlie, du kommst genau richtig zum Essen.«
Während der Begrüßung offenbarte meine Mutter, wie immer, wenn ich zu spät kam, ihre Erleichterung, dass ich wieder da war. Meine Eltern waren locker drauf und machten mir wenig Stress, deshalb kann ich mich nicht über sie beklagen. Sie achten auch immer darauf, dass das Heimatschmalzgedöns nicht ins Kraut schießt.
Als ich gerade dabei war meinen Rechner hochzufahren, um mich über Blitze und Kugelblitze im Internet schlauzumachen, rief mich mein Vater zum Abendbrot. Na ja, das Recherchieren kann warten, dachte ich, da mein Magen seit Mittag nichts Essbares mehr bekommen hatte und deshalb auf halb acht hing. Dabei musste ich an Kalle denken, der vorhin schon von akuten Sehstörungen sprach. Wenn bei ihm die Pausen zwischen den Mahlzeiten zu groß wurden, geriet er in solch eine Phase. Manchmal äußert sich sein Mangel an Futternachschub sogar in einem absoluten Kontrollverlust, den ich dummerweise schon des Öfteren erleben durfte.
Meine Mutter bereitete mir ein leckeres Sandwich mit Ei, Schinken, gerösteten Zwiebeln und Salat vor. Dazu gab es selbst gepressten Zitronensaft mit Eiswürfeln.
Als ich mit essen schon fertig war, schaufelten meine Eltern erst geräuschvoll die ersten Happen in sich rein. Die Laute, die mein Vater dabei von sich gab, erinnerten mich an wiederkäuende Kühe. Das war der Grund, warum ich eine Technik entwickelt hatte, mit der es mir gelang, die Geschwindigkeit bei der Nahrungsaufnahme zu steigern, denn wer fertig war, durfte aufstehen und gehen.
Noch mit vollem Mund stolperte ich die Treppen hinauf und stürzte in mein Zimmer im Dachgeschoss. Ich konnte es kaum erwarten, mit der Recherche zu beginnen. Die Suchbegriffe Blitz und Kugelblitz sollten mir eine Erklärung für das heutige Drohnenspektakel liefern. Während ich mich noch in der Flugphase hin zu dem Schreibtischstuhl befand, hämmerten meine Finger bereits auf die Tasten des Laptops. Dieses Zusammenspiel mündete nach vielen Tagen und etlichen Bruchlandungen in der Perfektion.
Zu Blitz habe ich folgende Erläuterung gefunden: Ein Blitz ist eine Funkenentladung oder ein kurzzeitiger Lichtbogen zwischen den Wolken oder auch zwischen den Wolken und der Erde. In der Regel tritt ein Blitz während eines Gewitters auf. Blitze können auch von der Erde ausgehen, also von unten nach oben. Das passte rein gar nicht zu dem, was wir gesehen hatten, denn es gab währenddessen kein Gewitter oder dergleichen.
Bei der Recherche nach Kugelblitz fand ich Folgendes: Als Kugelblitz bezeichnet man eine wissenschaftlich nicht bestätigte kugelförmige Leuchterscheinung, meist in der Nähe eines Gewitters. Laut Augenzeugen treten die seltenen Erscheinungen plötzlich auf, im Freien und auch in geschlossenen Räumen, überwiegend in Bodennähe.Sie werden als schwebende und selbstleuchtende Lichtobjekte beschrieben, die keine Wärme abstrahlen und in unterschiedlichen Größen und Formen auftreten können. Auch ein Richtungswechsel innerhalb von 30 Sekunden ist beobachtet worden. Manche berichten auch von einem lauten Knall am Ende des Kugelblitzes. Das lag nahe an dem, was wir heute zu sehen bekamen.
Schnell richtete ich einen Videochat mit Sibylle und Kalle ein, der jedoch vergeblich war, da beide nicht mehr online waren. Also blieb mir erst einmal nichts anderes übrig, als diese Informationen und das Erlebte mit in den Schlaf zu nehmen.
Für den nächsten Morgen waren wir verabredet, um gemeinsam zelten zu fahren. Mein Gepäck stand schon seit Tagen bereit. Es sollte erst mit dem Bus und dann weiter zu Fuß in ein nahe gelegenes Erholungsgebiet gehen. Vorher wollten wir jedoch noch einmal nach der Drohne suchen. Da der Bus mehrmals am Tag fuhr, war das kein Problem.
Überpünktlich saß ich mit meinem großen Trekkingrucksack an dem bekannten Treffpunkt, als erst Sibylle und anschließend Kalle eintrudelten. Von dort aus begaben wir uns mitsamt Gepäck zurück zu unserem Suchgebiet. Auf der Lichtung überlegte noch mal jeder für sich, was sich gestern abgespielt hatte.
»Als ich nach oben schaute, bemerkte ich den Anfang des Blitzes da hinten«, sagte Sibylle und zeigte nach Süden.
»Ich habe ihn erst bemerkt, als er in Kugelform auf die Drohne zuflog. Was hast du gesehen Kalle?«
»Meine Konzentration lag vollkommen auf Nugget. Es walzte sich plötzlich eine grelle Lichterscheinung um die Drohne. Der Blitz, ob mit oder ohne Drohne, flog in die Richtung.« Er zeigte nach Westen.
Das sahen Sibylle und ich genauso. Also war klar, dass wir nun die Suche gezielt starten konnten. Wir schnappten das Gepäck und zogen in einem Abstand von ungefähr zehn Meter zueinander in Richtung Westen los. Sibylle navigierte uns mit ihrem Kompass, den sie wie immer dabeihatte.
Je weiter wir in den Wald vordrangen, desto dichter wurde er. Als wir noch kleiner waren, wurde dieser Forst auch Hexenwald genannt. Auch jetzt erschien er uns nicht unbedingt weniger gespenstisch, aber das ließ sich natürlich keiner von uns anmerken.
Das Abstandhalten war mitunter äußerst schwierig. Wir mussten umgestürzte Bäume, mannshohe Farne und sonstiges Gestrüpp überwinden und uns dabei nicht aus den Augen verlieren. Erschwerend kam das Suchen der Drohne in den Baumwipfeln hinzu. Bisher gab es leider noch keine Spur.
Nach einigen Stunden mühsamen Wanderns lichtete sich der Wald und es ließ sich nun wieder deutlich leichter marschieren. Direkt hinter der Baumgrenze erspähten wir durch den nur noch spärlichen Wald eine in sehr dichten Nebel gehüllte Gegend. Schlagartig erhöhten wir die Frequenz unserer Schritte.
»Hey Leute, was passiert hier gerade? Wenn ich die Richtung wechseln will, hindert mich irgendetwas daran«, schrie Kalle plötzlich.
Bei dem Versuch, den eingeschlagenen Kurs zu ändern, wurde Sibylle und mir klar, was er meinte. Es entstand der Eindruck, als kämpfte man gegen einen heftigen Orkan an. Nur in einem vorgegebenen Kanal verfügten wir über die Möglichkeit, dem Wirken dieser Kräfte auszuweichen. Wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher gewesen wäre, dass ich keinen Alkohol getrunken hatte, was ich im Übrigen erst einmal gemacht habe, würde ich sagen, dass das hier eine ganz verschwiemelte Angelegenheit war.
Ein Zurück gab es weder für Sibylle noch für Kalle oder mich.
Der Weg des geringsten Widerstandes führte durch zwei sehr dicht aneinanderstehende Bäume. Sie bildeten den Zugang zu einem nebelfreien, unbewaldeten Gebiet, auf dem wir uns uneingeschränkt in alle Richtungen bewegen konnten. Vor uns lag ein ungewöhnlich großes grünes Tal, umgeben von riesigen Bäumen. Wie eine Stadtmauer aus dem Mittelalter thronten die stattlichen grünen Riesen am Rande des Kessels. Der weitere Weg führte uns zu einem kleinen Erdwall, auf dessen Erhöhung die Aussicht noch mal um einiges besser war.
»Schaut mal, der große ovale Hügel dort unten«, sagte Sibylle.
Kalle und ich starrten in den Kessel hinab. Nach einer Weile angestrengtem Fokussierens sagte ich: »Wahnsinn, der sieht aber nicht sehr natürlich aus. Das wirkt eher so, als ob er von Menschenhand angelegt wurde.«
»Vielleicht ist es ein Relikt aus dem Mittelalter«, raunte Kalle voller Hoffnung auf einen Sensationsfund.
Voller Entdeckungshysterie stapften wir im Schleuderschritt in Richtung des Objektes. Der Weg war strapaziöser als gedacht, da wir die Größe des Tals unterschätzt hatten. Je mehr wir uns dem wahrscheinlich unnatürlichen Hügel näherten, desto imposanter waren seine sichtbaren Ausmaße. Aus einigen Hundert Meter Entfernung wirkte der Wall wie ein überdimensioniertes ovales Stadion mit Kuppeldach. Oberhalb wuchsen Gräser und Blumen, weshalb man das tempelartige Ding aus der Entfernung erst nach mehrmaligem Hinsehen registrierte.
Plötzlich schrie Kalle: »Hey, ist das da oben nicht meine Drohne?«
Man musste genau hinsehen, da zahlreiche Blätter und Äste die Sicht auf das, was dort lag, behinderten. Tatsächlich sahen wir etwas Goldfarbenes auf dem Dach des Hügels schimmern.
Als Sibylle und ich Kalles Entdeckung bestätigt hatten, rannte er wie von der Tarantel gestochen los, der Rucksack auf seinem Rücken schleuderte hin und her. Wir hatten Mühe, ihm bei der Geschwindigkeit zu folgen.
Nach einem erschöpfenden Sprint durchs Dickicht standen wir schließlich vor dem seltsamen Gebilde. Da es doch höher war, als es von Weitem wirkte, konnten wir den Gegenstand auf dem Dach nun gar nicht mehr sehen. Sibylle, Kalle und ich waren uns aber einig, dass es die Drohne sein musste.
Ich überlegte, wie einer von uns das Dach erklimmen könnte. »Nicht mal eine Leiter würde uns jetzt weiterhelfen. Das ist einfach zu hoch. Vielleicht gibt es an einer anderen Stelle eine Möglichkeit, auf das Dach zu kommen. Lasst uns mal um den Bau herumgehen«, sagte ich zu den beiden.
Bevor es losging, deponierten wir das Gepäck im hohen Grass. An dem Hügel-Gebäude-Ding fiel sofort auf, dass die seitliche Wand aus einem uns unbekannten erdfarbenen Material bestand, das in der Tallandschaft perfekte Tarnung bot. Das Kuppeldach war augenscheinlich mit echten Gräsern und Blumen versehen.
Nach einem endlos langen Fußmarsch und ohne die Möglichkeit das Dach zu erklimmen, gaben wir das Vorhaben erst mal auf.
»Ich schlage vor, dass wir wieder dorthin zurückgehen, von wo aus wir die Drohne gesehen haben. Lasst uns dort das Zelt aufschlagen. Morgen früh können wir dann noch mal nachsehen, ob es sich tatsächlich um Nugget handelt, okay?«
Kalle und Sibylle nickten, denn auch bei ihnen stellte sich eine gewisse Müdigkeit ein.
Als das Zelt auf der kleinen Anhöhe stand und das Gepäck verstaut war, genossen wir noch mal den vortrefflichen Blick über das gesamte Tal. Dabei nutzte jeder die Gelegenheit, seine Familie davon in Kenntnis zu setzen, dass wir uns auf dem Campingplatz befanden. Über die Exkursion und deren Anlass verlor natürlich keiner ein Wort.
»Mit der kleinen Notlüge haben wir jetzt erst mal ein paar Tage ruhe vor unseren Eltern«, meinte Sibylle und lachte.
»Ich glaube, das denken die im umgekehrten Fall genauso!«, grölte Kalle.
»Oh, verdammter Mist! Ich hab mein Fernglas verloren. Das muss schon im Wald gewesen sein, da hatte ich es mal rausgeholt. Ich lauf schnell zurück. Ihr könnt es euch in der Zwischenzeit gemütlich machen«, rief ich und lief sofort los.
Ich erlebte allerdings etwas Seltsames, als ich den Waldrand erreichte: Bei dem Versuch, in den Wald zu kommen, versperrte mir eine unsichtbare Barriere den Weg. Lediglich diese Art Kanal, den wir bereits zwangsweise für das Betreten des Tals nutzten, zwischen den beiden eng beieinanderstehenden Bäumen hindurch, ermöglichte mir den Zutritt zum Wald. Das war schon ganz schön rätselhaft. Noch rätselhafter aber war, dass ich das, kaum dass ich das Fernglas gefunden und den Wald wieder verlassen hatte, sofort vergaß. Meine Freunde erfuhren nichts davon.
Der Abend brach herein. Wir saßen noch eine Weile vor dem Zelt zusammen und grübelten über das von Menschenhand errichtete Gebäude.
»Es sieht ganz danach aus, dass der gut getarnte Tempel, oder wie auch immer man das nennen mag, ein Geheimnis in sich trägt. Ist euch eigentlich aufgefallen, dass wir bei unserem Rundgang um das Gebäude weder ein Fenster noch eine Tür oder ein Tor gesehen haben?«, sinnierte ich.
»Du hast recht, Charlie! Auch die erdfarbene Außenwand ist ungewöhnlich. Sie fühlte sich eigenartig an«, sagte Kalle.
»Wisst ihr eigentlich, wo wir hier sind? Nach meiner Berechnung befinden wir uns in einem nicht kultivierten Wald, also einem Urwald. Eigentlich dürfte es in diesem Sperrgebiet keine unbewaldete Fläche von diesen Ausmaßen geben.« Sibylle zeigte auf ihrer Landkarte mitten in eine bewaldete Gegend, in der wir uns höchstwahrscheinlich befanden.
»Dann müssen wir vorsichtig sein, hier sind vielleicht Holzdiebe am Werk«, vermutete Kalle.
»Das kann eigentlich nicht sein. Schaut euch mal um: Hier gibt es nirgendwo eine Zufahrtstraße«, sagte Sibylle.
»Na gut, wie auch immer. Das sind jetzt alles Spekulationen. Lasst uns die Sache morgen mal genauer unter die Lupe nehmen. Nach ein paar Stunden Matratzenhorchdienst sind wir sicher wieder fit«, war meine Meinung zu dem Thema.
Sibylle, Kalle und ich verstauten noch ein paar Sachen im Zelt und legten uns hin.
In dieser Nacht schien der Mond besonders hell. Im faden Lichtschein unserer Behausung konnte ich Kalles und Sibylles Gesichter erkennen. Sie waren außergewöhnlich schnell eingeschlafen. Ich hätte nicht gedacht, dass man innerhalb weniger Minuten im Reich der Träume landen konnte.
Mitten in der Nacht holte mich ein dumpfer Laut aus dem Schlaf. Beim Blick auf meine Uhr musste ich feststellen, dass die Zeiger wie wild rotierten. – Offensichtlich ein letztes Aufbäumen der erschöpften Batterie. Kurz bevor ich erneut durchs Gehkarussell im Eingangsbereich des Hotels der Sternendeuter verschwand, schnellte ich erneut hoch. Die Stille, die mein Körper gerade wieder zur Regeneration nutzen wollte, wurde erneut zertrommelt. Ich schälte mich leise aus meinem Schlafsack, öffnete den Reißverschluss des Zeltes und kroch hinaus. Draußen befreite ich meine Augen von Schlafsteinen, die sich in der nächtlichen Ruhephase bildeten, und ließ meinen Blick über das gesamte Tal oberhalb der Baumgrenze schweifen. Wie regungslose Riesen standen die Bäume am Rande des Schlunds, so als ob sie ihn vor fremden Mächten beschützten. Das Mondlicht ließ die Kaventsmänner noch imposanter und schauriger wirken, als sie ohnehin schon waren.
Als mich gerade der auffällig tolle Sternenhimmel in den Bann zog, erklang erneut das dumpfe Geräusch. Leider gelang es mir nicht, seinen Ursprung zu lokalisieren. Inzwischen liefen meine gesamten Körpersysteme auf Hochtouren. Ich starrte auf die Mitte des Tals, wo sich die schemenhaften Umrisse des Erdbauwerkes im Mondlicht abzeichneten. Nur mit Mühe und Not gelang es mir, die seltsame Festung im Blick zu behalten. Plötzlich tauchte am Rande des Gebäudes ein größeres Fahrzeug mit den Ausmaßen eines Lkws auf. Ich fragte mich gerade, ob ich Sibylle und Kalle wecken sollte, als die beiden Nachteulenkomplizen ihre Köpfe aus dem Zelt streckten.
»Hast du das auch gehört?«, stammelte Kalle schlaftrunken.
»Das polternde Geräusch!«, ergänzte Sibylle.
»Ja klar. Da unten vor dem Gebäude habe ich die Silhouette eines großen Fahrzeugs gesehen. Sollen wir uns das mal aus der Nähe anschauen?«
Blöde Frage. – Natürlich wollte meine soeben aus dem Nebeltal erwachte Gefolgschaft der Sache auf den Grund gehen.
Da es verhältnismäßig kühl war, nahm ich zusätzlich zur Jacke noch meinen informellen Kapuzenpullover mit. Wir schnürten in Windeseile unsere schnellen Schuhe und los gings.
»Wir sollten nach Möglichkeit die Taschenlampen aus lassen, um nicht aufzufallen«, schlug Sibylle vor.
»Gute Idee. Wir haben fast Vollmond, da brauchen wir gar kein zusätzliches Licht«, meinte ich.
Kalle war so außer Rand und Band, dass er sich am Reißverschluss des Zeltes verhakte. Er riss dabei die Zeltstange vor dem Eingang um, stolperte und blieb schließlich bäuchlings davor liegen.
Sibylle und ich haben uns mächtig eins in die Grütze gejubelt, denn er lag dort wie eine gestrandete Robbe, die sich mit letzter Kraft an Land geschleppt hatte. Wir halfen ihm hoch und machten uns auf den Weg.
Auch wenn die Sicht einigermaßen passabel war, musste man beim Gehen höllisch aufpassen, da das Gelände äußerst uneben war. In seinem traumverhangenen Zustand stolperte Kalle noch etwas unbeholfen über die Wiese. Zudem hatte er sich offensichtlich bei dem Sturz am Zelt ein wenig verletzt. Glücklicherweise war er ein harter Hund, der nicht so schnell rumjammerte.
Während wir uns langsam dem Gebäude näherten, nahmen wir kein polterndes Geräusch mehr wahr. Von dem Phantomfahrzeug fehlte auch jede Spur.
»Wollen wir uns da vorne, hinter dem kleinen Hügel auf die Lauer legen?«, flüsterte Sibylle und zeigte auf eine kleine Anhebung, die sich ungefähr fünfzig Meter vor dem Gebäude befand.
Kalle und ich hielten das für eine gute Idee, deshalb versuchten wir im Kriechgang, möglichst unauffällig hinter den kleinen Hügel zu gelangen. Im Liegen ließ sich das Bauwerk von dort aus gut beobachten.
»Ich sehe rein gar nichts«, piepste Sibylle.
»Nö, ich auch nicht. Vielleicht ist es besser, wenn wir die andere Seite des Gebäudes beobachten«, sagte Kalle.
»Lasst uns doch noch einen Moment hierbleiben. Wir sind doch gerade erst angekommen«, erwiderte ich.
Wir schwiegen und beobachteten weiter das Gelände.
»Hört ihr das Zischen?«, sagte ich nach einer Weile und schaute dabei zu Sibylle, die neben mir lag.
»Das ist Kalle, der befindet sich gerade im Begriff, ins Reich der Träume hinüberzugleiten«, meinte sie grinsend.
Seine Geräusche klangen so wie die einer Schlange, wenn sie in den Verteidigungsmodus geht. Als Sibylle an Kalle zupfte, ertönten plötzlich laute hallende Geräusche aus dem Umfeld. Sofort richteten sich unsere Blicke in die Richtung, aus der die Laute zu uns drangen. Mit weit geöffneten Augen starrten wir in die mondbeschienene Nacht, konnten außer einigen Motten aber nichts Aufsehenerregendes ausmachen. Einen Moment später jedoch tauchte wie aus heiterem Himmel ein großes schwarzes Gefährt ohne Beleuchtung auf und bewegte sich in Richtung des Bauwerks.
»Wo kommt der auf einmal her? Hier gibt es doch keine Straße, die in das Tal führt«, flüsterte ich.
»Schaut euch das mal an! Ich glaube, der Lkw fährt nicht, sondern er schwebt! Oder täusche ich mich?«, murmelte Kalle.
»Wow, ja, du hast recht. Wo ist eigentlich Sibylle?«
»Ich glaube, sie will sich das genauer ansehen.«
»Oha, sehr mutig. Hauptsache, dass uns niemand bemerkt.«
»Die Szenerie könnte glatt aus einem Film stammen. Fehlt nur noch, dass hier ein Raumschiff mit Außerirdischen landet«, schmunzelte mein Kumpel.
Mit unterdrücktem Lachen schauten wir zu Sibylle, die sich gerade wieder kriechend auf uns zu bewegte.
»Es ist richtig unheimlich hier. Das lastwagenähnliche Ding ist tatsächlich, ohne den Boden zu berühren, über die Wiese gekommen. Leider konnte ich nicht erkennen, aus welcher Richtung des Tals es kam. Lasst uns mal noch dichter an das Gebäude heranschleichen.«
Getrieben von Abenteuerlust näherten wir uns mit Muffensausen im Gepäck der Festung bis auf dreißig Meter. Es war überaus anstrengend, bis zu unserem Ziel zu robben. Das hohe Gras bot uns dort jedoch guten Schutz. Regungslos beobachteten wir nebeneinanderliegend das Gebäude.
Plötzlich fuchtelte Kalle wie verrückt mit der Hand vor unseren Gesichtern herum und schrie – sein Gesicht sah zumindest so aus, als würde er das machen – im Flüsterton: »Schaut mal, dahinten! Ich glaube da, kommt schon wieder so ein Vehikel!« Er zeigte nach Süden, wo das Tal vor den Baumriesen begann.
Wahrhaftig, das Gefährt kam leise und gemächlich auf uns zu. Und tatsächlich: Das Ding rollte nicht auf seinen Rädern, sondern schwebte über den Gräsern Richtung Gebäude. Nun war auch klar, warum wir keinerlei Spuren von Fahrzeugen oder dergleichen gefunden hatten.
»Aber wo zum Teufel will der hin?«, fragte ich Sibylle und Kalle.
Beide zuckten mit den Schultern.
Dadurch, dass sich der Frachter relativ langsam bewegte, stieg die Spannung mit jedem Meter, den er sich uns und dem Bauwerk näherte. Schließlich trennten nur noch wenige Meter das Fahrzeug von dem Gebäude. Uns bot sich nun ein seitlicher Blick auf den tiefschwarzen mächtigen Truck. Kurz vor der Wand des Bauwerks bewegte er sich scheinbar nur noch millimeterweise, bis er mit direktem Kontakt an der Gebäudemauer zum Stehen kam. Sekunden später schwoll die Wand an und umschlang die Front des Lkws. Dunkelrote Lichtwellen fluteten die Außenhaut des Fahrzeugs und ein feinmaschiges Lichtnetz legte sich um den Transporter. Risse und Auflösungserscheinungen entstanden über die gesamte Fläche. Als sich das Gefährt bereits punktuell auflöste, spürten wir ein leichtes Beben der Erde. Ein surrendes Geräusch entfaltete sich Sekunden danach zu einem dröhnenden Poltern. Mit lautem Donnern wurde das Fahrzeug dann wie von einem überdimensionierten Staubsauger in das Bauwerk eingesogen, bis es nach wenigen Augenblicken völlig verschwunden war.
Völlig geplättet von dem Schauspiel stockte uns der Atem. Sofort schossen mir ungefilterte- und ungebremste Gedankenblitze in den Kopf: Handelte es sich hier um eine militärische Geheimbasis? Was würde geschehen, wenn sie uns entdeckten? War das der Anfang unseres Endes?
Nach einer kurzen emotionalen Achterbahnfahrt überlegten wir gemeinsam, wie der weitere Plan aussehen konnte.
Sibylle piepste mit leiser Stimme: »Also wenn es nach mir geht, würde ich doch lieber zurück zum Zelt. Andererseits interessiert es mich schon, was sich innerhalb des Gebäudes abspielt.«
»Auf jeden Fall! Ich bin dabei! Und du Charlie?«
»Was für eine Frage. Natürlich bin ich auch mit von der Partie. Last uns mal überlegen, wie wir da am besten reinkommen.«
Wir krochen bis zu der Stelle, wo der Truck in dem Gebäude verschwunden war.
»Und nun? Habt ihr eine Idee, wie es weitergeht?«, fragte Kalle.
Meine Gedankengänge wurden postwendend mit einem Geistesblitzeinschlag belohnt: »Ich versuch es mal nach Harry-Potter-Manier«, flüsterte ich.
»Brich dir aber nicht die Nase«, schmunzelte Sibylle.
Ich stellte mich ungefähr zwei Meter vor die Wand, verharrte dort einen Atemzug lang und lief schließlich langsam darauf zu. Außer dass mein Brustkorb ein kurzes wuchtiges Ächzen herausbrachte und mir die Luft wegblieb, geschah nichts Ungewöhnliches. »Hätte ja sein können, dass es funktioniert. Ich stelle mich jetzt mal direkt an die Wand und warte ab, ob es dann eine Reaktion gibt«, zischte ich.
Nachdem einige Minuten gab ich das Vorhaben auf.
»Wir könnten uns an der Rückseite eines Lkws auf das Trittbrett stellen«, schlug Sibylle vor.
»Wow, mit diesem Wagnis schießen wir auf der Gefährlichkeitsskala ganz nach oben! Seid ihr euch sicher, dass ihr das wollt? Denn was uns dabei erwartet steht in den Sternen.« Ich wollte noch mal sicherstellen, dass Sibylle und Kalle ihre Entscheidung bewusst trafen, denn schließlich war das ein riskantes Unternehmen, auf das wir uns einlassen würden. Mein Entschluss stand aber bereits fest. Diese einmalige Chance auf ein wahrhaftiges Abenteuer wollte ich mir nicht entgehen lassen.
»Jetzt sind wir hier, und ich will das auf jeden Fall durchziehen«, meinte Sibylle und spielte nervös in ihren Haaren herum.
Kalle hob den Daumen und nickte ebenfalls. Nun mussten wir nur noch geduldig auf ein weiteres schwebendes Ungetüm warten.
Allein der Gedanke an das sich anbahnende riskante Unterfangen ließ die Spannung steigen: Kalle kaute auf seinen Fingern herum, Sibylle drehte weiter Locken in ihre Haare und ich hatte einen leichten Schluckauf, den ich eigentlich nur dann bekam, wenn ich vor wichtigen Klausuren oder mündlichen Prüfungen äußerst angespannt war. Jede Minute des Wartens kam mir wie Stunden vor. Alle möglichen Dustergedanken kreisten in meinem Kopf: War das, was wir im Schilde führten, wirklich richtig? Dann dachte ich an meine Eltern. – Was die wohl dazu sagen würden, wenn …
»Seht mal! Vom Rande des Tals nähert sich uns wieder so ein Schwebeding!«, schnaufte Sibylle aufgeregt.
Mittlerweile waren wir in eine Position gekrochen, von der ein Sprung auf das Trittbrett des Trucks gelingen sollte. Mit jedem Meter, den sich der Transporter näherte, erhöhte sich unser Puls. Wir waren sprungbereit, wie die Katze vor dem Mauseloch, und unser Adrenalinspiegel stieg auf Maximalwerte. Mir wurde mal heiß, dann wieder kalt und gleichzeitig zitterte ich am ganzen Körper. Auf der Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Ich sah zu Sibylle und Kalle hinüber, die augenscheinlich ähnliche Symptome aufwiesen. Noch gab es die Chance, das Abenteuer zu beenden und zu unserem geplanten Zelturlaub aufzubrechen, aber irgendetwas in uns ließ keinen Zweifel an dem Vorhaben aufkommen: Es war die pure Neugierde gepaart mit der Gelegenheit, ein Ereignis sondergleichen zu erleben.
Wenn ich die Geschichte später in meinem Klub erzähle, denken die, ich wäre in meinem Realitätselend stecken geblieben, schoss es mir in den Kopf, obwohl ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, welchen Verlauf die Dinge nehmen würden.
Das gigantische Gefährt war nur noch wenige Meter von unserem Absprungpunkt entfernt. Langsam bewegte es sich auf das Gebäude zu. Meine Beine fühlten sich plötzlich schwer wie Blei an. Ich hatte keine Ahnung, ob sie noch meine Befehle befolgen und sich bewegen lassen würden. Auch meine Atmung schien kurz vor einem Kollaps zu stehen. Alle Systeme meines Körpers sendeten Notsignale.
Just in dem Augenblick, als mein Körper in Schockstarre übergehen wollte, gab Sibylle das Zeichen zum Losrennen. Aus unserer Stellung heraus machten wir einen Satz hinter den Truck und das Trittbrett des Lkws war nur noch einen Katzensprung entfernt. Fast gleichzeitig hüpften wir hinauf. Eine Stange, die sich mittig auf der Ladeklappe befand, diente uns als Haltegriff. Dadurch standen wir extrem dicht beieinander, was uns aber das Gefühl vermittelte, nicht allein zu sein und dieses Wagnis gemeinsam zu überstehen.
Der Brummi schmiegte sich an die Außenwand des Gebäudes. Nun folgte der Moment, da das Spektakel seinen Lauf nahm.
Ich kniff die Augen fest zusammen. Erst fingen meine Füße an zu kribbeln, dann meine Beine und schließlich der ganze Körper. Trotz geschlossener Lider sah ich einen Augenblick lang um mich herum nur noch grelles Licht. Darauf folgten eine andauernde Finsternis und Stille. – War das etwa die Hölle? Denken war möglich, dann war ich zumindest noch am Leben. Diese Kurznachricht sendete mir das Großhirn auf meinen internen Bildschirm.
In der Hoffnung auf ein wenig Licht öffnete ich langsam meine Augen, doch die Hoffnung musste ich sofort wieder begraben. In absoluter Dunkelheit tastete ich mit der rechten Hand nach meinen Freunden.
»Mir gehts gut, Charlie«, raunte Sibylle leise.
»Bei mir ist auch alles in Butter«, zischte Kalle.
Als ich gerade dabei war, meine Taschenlampe aus der Jackentasche zu angeln, setzte sich das Fahrzeug wieder in Bewegung. Ich konnte mich gerade noch festhalten. Mit viel Mühe gelang es mir, die Handleuchte mit nur einer Hand einzuschalten. Sibylle kniff sofort die Augen zu, da ich versehentlich direkt in ihr Gesicht leuchtete.
»Pass doch auf, Charlie!«, fauchte sie mich an.
Ich schaffte es, die Lampe so zu halten, dass zumindest links neben mir die Seite ausgeleuchtet wurde. Wir fuhren durch einen zylindrischen Tunnel. Viel Platz zwischen dem Brummi und der Röhre gab es nicht. Kalle und ich mussten deshalb aufpassen, dass wir nicht ein Bein oder unseren Oberkörper zu sehr zur Seite streckten.
Geräuschlos schwebten wir mit hohem Tempo durch die Pipeline. Vom Gefühl her würde ich sagen, dass wir mit hundert Sachen unterwegs waren.
»Hey Jungs, wie kann es sein, dass wir nun schon Minuten lang mit so einer Geschwindigkeit fahren? Mit dem Tempo sollten wir doch längst am anderen Ende des Gebäudes angekommen sein.«
»Keine Ahnung«, meinte Kalle etwas irritiert.
Endlich reduzierte der Transporter seine Geschwindigkeit. Ich knipste vorsichtshalber meine Taschenlampe aus. Links neben mir spiegelte sich in der Röhre ein Lichtschein. Der Wagen hielt in einer hell beleuchteten riesigen Halle. Das Fahrzeug stand auf einem glänzendweißen Fußboden.
Wir sahen uns um und suchten nach einem geeigneten Unterschlupf. Kalle stieg vorsichtig ab und gab Sibylle und mir ein Zeichen, denn auf seiner Seite stand unmittelbar neben dem Fahrzeug eine imposante Stütze, die bis zum Dach emporragte. Wir sprangen vom Trittbrett und stellten uns dicht aneinander hinter die Säule. Somit war ein gewisser Sichtschutz gegeben.
Unsere Sehfähigkeit war durch die lange Tunnelfahrt im Dunkeln noch erheblich eingeschränkt. Nur langsam gewöhnten wir uns an das grelle Licht. Selbst der Blick auf den Fußboden war genau genommen nur mit Sonnenbrille möglich.
Nach einigen Minuten setzte sich der große Truck in Bewegung und schwebte nach links von uns weg. Damit gab er den Blick auf die Halle frei. Sie war ellipsenförmig errichtet und glich einem Kolosseum aus der Römerzeit. Wir konnten acht größere Portale erkennen, die offensichtlich den Zugang zu weiteren Bereichen ermöglichten. Diese Pforten waren in regelmäßigen Abständen über die Ellipse verteilt.
Der Frachter schwebte mittlerweile am äußeren Rand entlang und nahm Kurs auf das uns gegenüberliegende Portal.
In der Hallenmitte ragte ein goldfarbener Glaszylinder bis unter das Hallendach. Sein Durchmesser entsprach dem eines geräumigen Fahrstuhls.
Langsam wanderten unsere Augen durch die imposante Halle. Ich sah, wie Kalle mit geöffnetem Mund aus dem Staunen nicht mehr rauskam. Wohin man auch blickte, gab es teils unbekannte, aber überaus interessante Dinge zu sehen. Wolkenförmige Gebilde in der Größe von Kühlschränken waberten durch die Halle. Aus ihnen entluden sich kleine Feuertornados in alle Richtungen. Kunstvolle Elemente und eine Fülle von Verzierungen und Schnörkeln, die mit leuchtenden Farben und Goldbronze überzogen waren, zierten das Oval.
»Wenn das die Gruselgunde sehen würde! Die käme aus dem Staunen gar nicht mehr raus«, flüsterte Sibylle.
Eigentlich heißt unsere Kunstlehrerin mit Nachnamen Hammelbein, was ja auch schon lustig klingt, aber wir nennen sie Gruselgunde oder auch zwei G. Sie hat furchtbar zotteliges Haar, das an einen Flokatiteppich aus den Achtzigern erinnert, ist klein und hat krumme Beine. Ständig mussten wir uns ihre neuesten langweiligen Errungenschaften in Form von Büchern und Fotos ansehen.
»Hey, seht mal! Der Fahrstuhl setzt sich scheinbar in Bewegung«, brummte Kalle.
Das zylindrische Gebilde fing von unten nach oben an, in wellenförmigen Lichtimpulsen mit unterschiedlichen Farben zu leuchten. Die Frequenz der Impulse erhöhte sich stetig. Die Farben änderten sich von bunt zu goldfarben, bis der ganze Aufzug wenig später golden erstrahlte. Ob es sich tatsächlich um einen Fahrstuhl handelte, wussten wir nicht, aber die fehlenden Türen sorgten für Zweifel.
Wir schauten hinauf unter das Hallendach, wo der goldene Lift in der Hallendecke verschwand. Wie bei einer Sternwarte öffnete sich die Decke nun ein großes Stück und gab den Blick auf den Himmel frei, wo der Sonnenaufgang wahrscheinlich kurz bevorstand. Der Glaszylinder entfaltete sich oberhalb des Dachgeschosses. Ein Plateau, das die Form eines umgekehrten Regenschirms einnahm, entstand.
Plötzlich spürte ich an meiner Hand wie die Säule, an der wir standen, mehr und mehr vibrierte. Sekunden später hätte James Bond seinen gerührten Martini in den Ausguss schütten können, denn der gesamte Komplex stand unter dem Einfluss eines gewaltigen Bebens. Selbst die Zähne von Kalle hörte ich trotz der enorm lauten Geräuschkulisse klappern. Sibylle positionierte ihre Hände so, dass sie mit den Daumen die Ohren verschloss und gleichzeitig die restlichen Finger als Sichtschutz für die vielen kurzen und mächtig hellen Lichtblitze nutzte, die durch den Boden der Plattform zu uns drangen. Außerhalb des Gebäudes mussten sie eine enorme Leuchtkraft erzeugt haben, denn selbst in der Halle wirkte sich die Lichtintensität noch dramatisch aus.
Einen Augenblick später war der Spuk vorbei. Langsam senkte sich der Fahrstuhl samt Plattform bis einige Meter unter das Hallendach. Hier verharrte das Plateau und das geöffnete Dach verschloss sich nun wieder komplett.
Sibylle rutschte vor Erleichterung rücklings an der Säule auf den Boden der Halle und Kalle rieb sich dicke Schweißtropfen von der Stirn. Der ausgewachsene Noppenteppich, der sich während des Spektakels auf meiner Haut gebildet hatte, verschwand langsam wieder.
Als die innerliche Spannung immer mehr von mir abfiel, bemerkte ich plötzlich menschenähnliche Gestalten auf dem Plateau der Glassäule. Auf komisch aussehenden Gefährten trudelten sie zu Boden. Die Fluggeräte erinnerten mich an die geflügelten Ahornsamen, die im Herbst durch ihre spezielle aerodynamische Form rotierend zu Boden trudelten. Es saß jeweils eine Person auf den zehn fliegenden Propellern.
»Hey, spinne ich? Da ist doch meine Drohne! Seht ihr das auch, wie der dahinten sie im Arm trägt!« Mit seinem Photoshop-Blick sah Kalle sofort den vermissten Flieger.
»Leckofanni, du hast recht! Der Typ schleppt sie mit sich«, stimmte ich ihm zu.
»Dann lasst uns das Ding holen und zusehen, das wir hier schnellstmöglich wieder rauskommen«, meinte Sibylle, die nun scheinbar doch mehr Angst hatte, als sie zugeben wollte.
Wir nickten zwar, aber nicht nur ich, sondern auch Kalle, der seinen Mundwinkel sichtbar verzog, dachten etwas anderes.
»Hmm, ja, mal sehen. Lasst uns erst mal Nugget holen und dann entscheiden wir, wie es weitergeht.« Mein Freund wollte sich offensichtlich weitere Optionen offenhalten.
Wesen von einem anderen Stern
Die Piloten der Fluggeräte waren schnell gelandet, wenn man bedenkt, aus welcher Höhe sie herabfielen. Sie stellten sich in einer Reihe vor dem Glasturm auf, der wieder seine ursprüngliche Farbe angenommen hatte. Eine Gestalt hielt Kalles Drohne in der Hand. Wir hörten zwar ein Tuscheln, konnten aufgrund der Entfernung aber nichts verstehen. Dann setzte sich ein Teil des Illuminatentrupps mit Kalles Drohne im Arm in unsere Richtung in Bewegung.
»Was machen wir, wenn sie uns entdecken?«, flüsterte Sibylle.
Ich zog Kalle und Sibylle ganz dicht an mich, sodass wir noch weniger wahrgenommen werden konnten. Die Gruppe stampfte an uns vorbei und bog in den Portaleingang ein. Dieser befand sich neben der Röhre, durch die wir gekommen waren. Durch das sehr enge Aneinanderstehen war es uns nicht möglich, dem Geschehen der Kolonne in allen Einzelheiten zu folgen. Im Eingangsportal auf der uns gegenüberliegenden Seite sah ich lediglich den anderen Teil der Gruppe in den Katakomben verschwinden. Sie nahmen den gleichen Weg, wie der Transporter, der uns herbrachte.
Als der Letzte aus der Einheit im Dunkeln verschwand, herrschte absolute Stille. Daraufhin lösten wir unseren menschlichen Knoten und schielten vorsichtig um die Säule.
»Es ist keiner mehr zu sehen! Die Luft ist rein«, sagte ich.
»So Jungs, wie geht es jetzt weiter?«
»Ich will erst mal meine Drohne holen, also lasst uns der Gruppe folgen.« Ohne Diskussion marschierte Kalle los.
Sibylle und ich folgten ihm, ohne lange zu überlegen.
Am Portaleingang angelangt, legte er eine Vollbremsung hin und blieb plötzlich stehen. »Seht mal! Was mögen die merkwürdigen Schriftzeichen wohl bedeuten?«
Gemeinsam überlegten wir beim Bestaunen der Pforte, was die Symbole aussagen sollten.
»Last uns reingehen, dann klärt sich das vielleicht von selbst«, unterbrach Sibylle, während wir noch darüber brüteten.
Sibylle schaltete ihre Taschenlampe ein und folgte dem dunklen Korridor des Portals. Kalle und ich stiefelten ihr umgehend hinterher. Da die Transporter entsprechend Platz benötigten, war der Pfad, den wir gingen, beachtlich groß. Wie bei einem in den Berg gehauenen Tunnel, ragten teilweise spitze Steinecken an den Wänden und der Decke heraus. Am Ende des Stollens sah man im Schein der Taschenlampe ein großes stählernes Tor. Mit schnellen Schritten marschierten wir geradewegs darauf zu.
Trotz aller Bemühungen gelang es uns nicht, es zu öffnen. Es gab weder eine Klinke noch einen Betätigungsknopf zum elektrischen Auffahren.
»Dann nehmen wir doch einfach die Tür hier, Jungs.« Sibylle hatte einen kleinen Eingang entdeckt, der seitlich neben dem Tor hinter einem Felsvorsprung zum Vorschein kam.
Mein Körper sorgte dafür, dass ich aufgrund der innerlichen Anspannung kurz die Luft anhielt und erst danach die Klinke nach unten bewegte. Mit ein wenig Druck ließ sich die massive Tür mit einem knarrenden Geräusch nach innen öffnen. Ein kühler Luftzug, der uns entgegenblies, ließ Sibylles langen Haare ein wenig flattern.
Hintereinander traten wir in einen überaus schmalen Gang, der ebenfalls in Naturstein gehauen war. Ein bläulich schimmerndes Licht sorgte in dem Tunnelabschnitt dafür, dass die Taschenlampen nicht weiter benötigt wurden. Im Gänsemarsch und mit leicht gebückter Haltung ging es weiter.
Während unseres Marsches durch den Stollen philosophierten wir erneut darüber, wie es möglich sein konnte, dass das Ausmaß des Gebäudes so immens groß war. Allein die lange Fahrt mit dem Truck durch den Tunnel und die gewaltige Halle, in der wir uns befanden, ließ viele Fragen offen. Eine Antwort darauf hatten wir nicht.
Mit jedem Meter, den wir vorwärtsliefen, nahm die Helligkeit des bläulichen Lichtes zu.
»Oh mein Gott«, zischte ich und blieb fassungslos stehen.
Sibylle und Kalle quetschten sich neben mich und waren sprachlos darüber, was sie zu sehen bekamen: Wir blickten von einer Anhöhe auf eine märchenhaft aussehende Eiswelt herab. Meine Haut äußerte sich bei diesem wundervollen Anblick mit einer monströsen Erpelpelle. Bei meinen Freunden nahm ich ähnliche Symptome wahr. Kolossale Eisgebilde, von denen einige gefrorenen Eiswürfeln ähnelten, ragten aus dem Boden. Sie waren nicht milchig, wie man es aus Sendungen über die Polarregionen kennt, sondern glasklar, teilweise sogar durchsichtig und mit vielen bizarren Kanten und Formen. Von der Erhebung aus hatten wir einen sagenhaften Blick auf das vor uns liegende Gebiet.
»Jungs, habt ihr mal bemerkt, dass es hier nicht sehr kalt ist?«
»Stimmt, Sibylle! Lasst uns doch mal die Eisberge genauer unter die Lupe nehmen«, sagte Kalle voller Enthusiasmus.
Nach einem kurzen Fußmarsch standen wir inmitten der Würfelei. Ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich in uns aus. Das Licht brach sich in den Kanten und Flächen und die Lichtspiegelungen verwirrten einen dermaßen, dass es schwierig war, sich zu orientieren.
»Legt mal eure Hand drauf! Das Material ist zwar kalt, aber bestimmt kein gefrorenes Eis«, sagte ich, als ich einen Klotz in Form und Größe einer Mülltonne berührte.
Sibylle holte ihr Taschenmesser aus der Hose und fing an, wie wild daran herumzukratzen. »Seht mal, die Einritzungen, die ich hier mit dem Messer fabriziere, verschwinden wieder! Selbstheilende Eisbrocken.«
»Phänomenal«, staunte Kalle und versuchte, auf einen der Würfel zu klettern. Er tat sich dabei unheimlich schwer, denn immer wieder rutschte er ab und kam nicht wirklich weiter nach oben. Es gab kaum Möglichkeiten, sich mit den Händen festzuhalten. Nach etlichen Fehlversuchen gab er den Plan gefrustet auf. »Lasst uns den Weg weitergehen, denn ich glaube, er führt zu einem entfernten Wald, den ich vorhin vom Eingang aus entdeckt habe«, sagte Kalle angefressen.
»Sibylle, schau mal auf deinen Kompass, in welche Richtung wir laufen.«
Sie klappte ihren Kompass auf und staunte nicht schlecht. »Seht mal, die Kompassnadel dreht sich wie wahnsinnig!«
»Wow, das ist ja verrückt! Okay, dann lasst uns einfach dem Pfad weiter folgen«, sagte ich.
Kalle schritt voran.
Fast schwerelos und mit einem leicht benebelten Gefühl marschierten wir durch die fantastische Welt. Manchmal kam es mir so vor, als ob große dämonische Muränen durch die scharfkantigen Berge gleiten und mich dabei kurz ins Visier nehmen würden. Dabei sah ich tief in ihre Maulspalte die, mit zahlreichen Zähnen besetzt, bis weit hinter das Auge reichte.