Charlys Traum - Andreas Roeske - E-Book

Charlys Traum E-Book

Andreas Roeske

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Beschreibung

Ein schlimm zugerichteter Toter auf einem Speditionshof. Kommissar Axel Gratmann ist gerade erst wieder in seiner hessischen Heimat angekommen und ahnt noch nicht, was für ein spektakulärer Fall ihn hier erwartet. Stattdessen fremdelt er noch mit seinem neuen Kollegen Joachim Ferber, einem notorischen Einzelgänger. Der allerdings noch einiges mehr zu bieten hat als hin und wieder zu nerven … Herzinfarkt, Mordanschläge - und mittendrin der alte Freundeskreis des neuen Ermittlers. Wer lügt? Wer hat wirklich eine weiße Weste? Der Speditionsbesitzer - ein Kumpel des Kommissars? Dessen Anwalt, Ehemann einer Ex des Kommissars? Welche Rolle spielt die dubiose Familie Bürger? Und was hat es mit dem Hotelprojekt im entfernten Dresden auf sich? Ist der geheimnisvolle Mann mit dem schwarzen Dreitagebart der Mörder? Was haben die sonst so aufmerksamen Nachbarn gesehen? Volvo-Fan Gratmann gerät schon am zweiten Tag in eine furiose Story, die ihn immer wieder persönlich berührt - und ihn sogar mit einem alten, ungelösten Fall in Kontakt bringt. Das Tempo ist atemberaubend, der Fall wird eigentlich jeden Tag unlösbarer. Bis er an Tag 4 zu einem überraschenden Ende kommt ...

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Andreas Roeske

Charlys Traum

Gratmanns erster Fall

1. Auflage

© Cividale Verlag Berlin, 2014

Kontakt: [email protected]

Website: www.cividale.de

ISBN 978-3-945219-01-0

Umschlaggestaltung: Nina und Christoph von Herrath,

www.cvh-graphic-design.de

Lektorat: Gabriele Dietz

Für Kirstin

INHALT

I

II

III

IV

Epilog

I

Eigentlich wollte Gratmann seinem Kollegen, Kriminalkommissar Ferber, heute nicht noch einmal begegnen. Der Mann war erst wenige Wochen hier und hätte schon beinahe ein Disziplinarverfahren am Hals gehabt. Einerseits hatte Gratmann ein gewisses Verständnis dafür, dass man einem Ehemann, der seine Frau mehrfach grün und blau geprügelt hatte, bei der Festnahme „aus Versehen“ zwischen die Beine trat. Andererseits hatte die Staatsgewalt seiner Meinung nach eben genau dafür zu sorgen, dass so etwas nicht geschah. Schon gar nicht, wenn man erst wenige Wochen in der neuen Dienststelle arbeitete und die neuen Kollegen in Verlegenheit brachte, die artig für Ferber ausgesagt und den Festgenommenen der Falschaussage bezichtigt hatten.

Joachim Ferber war Gratmann irgendwie eine Spur zu forsch. Nicht dass Gratmann die lauten Töne gänzlich fremd waren. Aber bei seiner Arbeit bevorzugte er doch eher die unauffällige Nick-Knatterton-Methode. Zuschlagen, wenn es wirklich nötig war, nicht schon präventiv. Ferber schien da eine andere Gangart zu pflegen.

Gratmann schlich sich an Ferbers Büro vorbei, der geschundene, aber immer frisch gewienerte PVC-Boden aus den siebziger Jahren klackte unter seinen Schuhen. Die Tür stand, wie immer, offen. Leer. Erleichtert eilte er durch den Gang, nahm die Treppe, die ihn aus dem zweiten Stock ins Erdgeschoss brachte, und warf dem Pförtner in der Loge ein freundliches „Auf Wiedersehen“ zu. „Wirsing!“, tönte es ihm unverhofft entgegen. Nein, er brauchte nicht zu hinzusehen. Natürlich war es Ferber, der in der Pförtnerloge stand und mit dem Wachmann schwätzte. Gratmann lächelte und trat hinaus auf den Parkplatz. Durch den Nieselregen eilte er zu seinem Wagen, schob den Schlüssel des 90er Volvo Kombis ins Schloss und startete. Ferber schien ihm wie - ja, wie eigentlich? Seltsam nervend. Joachim Ferber war der Neue aus Dresden, der eigentlich aus Hamburg kam.

Auch Gratmann hatte in Hamburg gearbeitet, mehrere Jahre lang. Er war erst kürzlich in die hessische Kleinstadt zurückgekehrt, in der er mehr als sein halbes Leben verbracht hatte. Ferber war gebürtiger Hansestädter und hatte sich in den letzten Jahren im Osten Deutschlands in seinem Kommissariat unbeliebt gemacht.

Gratmanns Beförderung in seiner Hamburger Dienststelle hätte noch Jahre auf sich warten lassen. Der Umzug in seine alte Heimat hatte seine Karriere ohne Frage beschleunigt. Dafür musste er sich jetzt nicht nur mit anfangs etwas beleidigten Kollegen herumschlagen, die beim Fortkommen auf der Karriereleiter dem Externen den Vorrang hatten einräumen müssen. Worauf er sich eingestellt hatte. Sondern eben auch mit einem Partner im Rang eines Kriminalkommissars, der ihn und das ganze Kommissariat ununterbrochen mit jugendlichem Blödsinn plagte. Worauf er sich nicht eingestellt hatte.

Im Pausenraum des Speditionsunternehmens Gehrke hatte der Sauerstoff gerade die Lufthoheit an den Zigarettenrauch abgegeben. Es war kurz vor 21 Uhr, kurz vor Schichtwechsel. Seit einer Stunde war kein Wagen mehr gekommen, seit einer Stunde spielten die Männer der Spätschicht Karten. Alkohol verboten, die mitgebrachten Brote längst gegessen, die Zigarette der einzige Genuss - Nichtrauchergesetze gelten wohl nicht für Speditionen. Etliche Rampenarbeiter der Nachtschicht waren schon angerückt, dröhnten und qualmten mit den Kartenspielern um die Wette.

Steffen Bürger, ein kräftiger Mann von dreiundvierzig Jahren, saß in der hintersten Ecke des fünfundzwanzig Quadratmeter großen Pausenraums und wartete darauf, dass die Uhr endlich seine Schicht beendete. Er war nicht der Typ für laute Kartenspiele, mochte seine Kollegen nicht besonders. Sein Intelligenzquotient entspräche seiner Schuhgröße, munkelten einige Kollegen hinter vorgehaltener Hand - und tatsächlich gehörte Steffen Bürger nicht gerade zu den Hochbegabten. Zu Hause wartete eine kleine Zweizimmerwohnung auf ihn, gedankenlos eingerichtet und mit einer Menge Konservendosen in den Schränken. Seine Mutter hatte ihm oft die Vorteile voller Vorratsschränke ans Herz gelegt. Doch während ihre eigene Speisekammer stets mit allerlei Selbstgemachtem gefüllt war, stapelte der des Kochens unkundige Sohn Dutzende von Blechdosen in seinen Küchenschränken. Fertig-Eintopf, Fertig-Ravioli, Fertig-Gulasch. Fertig.

Hans Werner Gehrke saß mit seiner Freundin und den Kobers am gedeckten Tisch seines Esszimmers. Lisa Kober erging sich gerade im berechtigten Lob über die Tafel, die mit in Größe und Form variierenden Schlüsselchen und Tellerchen gedeckt war. Eine Art Edel-Imbiss aus Fingerfood, Kanapees und Dips. Boris Kober war ein alter Freund Gehrkes. Das gemeinsame Studium hatte ihre Freundschaft begründet, der Hahnenkampf um ein Mädchen ihr keinen bleibenden Schaden zugefügt. Kober, Sozius einer prosperierenden Anwaltskanzlei, lernte noch während des Studiums seine Frau Lisa kennen, mit der er eine für jeden sichtbar gute Ehe führte. Gehrke, Inhaber eines Fuhrunternehmens, hatte seine zwölf Jahre jüngere Freundin erst vor einem Jahr in einem Hamburger Nobel-Restaurant kennengelernt. Ihr damaliger Begleiter konnte beim Versuch, die üppige Rechnung zu begleichen, mit keiner seiner Kreditkarten reüssieren, wodurch sich Gehrke eine Gelegenheit eröffnete, mit dem attraktiven Fräulein Herbst ins Gespräch zu kommen. Ein von beiden nimmermüde vorgetragenes Bonmot war denn auch, dass Fräulein Herbst für den Spottpreis von 175,10 Euro zu haben gewesen war.

Die Zeiger der Uhr sprangen auf die volle Stunde. 21 Uhr, das geräuschvolle Kartenspiel wurde abrupt unterbrochen. Als wäre jeder der Spieler weniger auf sein Karten- als auf das große Ziffernblatt konzentriert gewesen, erhoben sich die Männer fast gleichzeitig und bewegten sich auf die einzige Tür des Raumes zu. Steffen Bürger ärgerte sich wie immer darüber, dass er im hinteren Teil des Raumes stand, was ihm nun die längste Wartezeit beim Verlassen einbrachte. Immer wieder hatte er Zeit auf Rechnungen verwandt, wie viele Minuten Freizeit ihn diese schlechte Strategie im Jahr kostete. Doch jedes Mal kam er erneut zu dem Ergebnis, dass sich ihm kein Ausweg aus diesem Dilemma böte. Vorn an der Tür saßen die Spieler und die Neuankömmlinge der Nachtschicht. Jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete, sah sich Steffen Bürger zudem einem unangenehmen Luftzug ausgesetzt. Und so hockte er Abend für Abend, wenn sich der Feierabend näherte, wieder in der hinteren Ecke des Raumes und ärgerte sich Abend für Abend über das Gedränge an der Tür.

Gehrkes Smartphone klingelte während einer großartigen Anekdote seines Freundes Boris. Gehrke bat ihn, mit der Fortsetzung zu warten, und schaute auf das Display seines Telefons. Unbekannt.

„Ja? - Bitte? Ich kann Sie nicht verstehen. Was? Hallo? - Aufgelegt.“

Mit fahlem Gesicht ließ Gehrke das Handy sinken und blickte ratlos in die Runde. Cynthia Herbst merkte ihm ebenso wie die Kobers an, dass sich der Anrufer offensichtlich nicht verwählt hatte. Noch einmal hob Gehrke sein BlackBerry, das Display dimmte in diesem Augenblick die Beleuchtung herunter.

„Und?“, fragte Boris Kober. „Wer war das? - Hans?“

„Ich - ich habe keine Ahnung.“ Gehrke zögerte. „Aber es dürfte ernst gemeint gewesen sein.“

Endlich! Endlich im Freien. Endlich die verregnete Luft des Speditionshofes atmen, endlich nach Hause. Steffen Bürger zog eine etwas alberne Wollmütze aus der Jackentasche und setzte sie auf seinen breiten Kopf. Ohne sich von seinen Kollegen zu verabschieden, ging er mit großen Schritten auf die parkenden Lkw an der Westseite des Speditionsgeländes zu. Schlafende Riesen, dachte Bürger. Heute Nacht werdet ihr schon sehen. Ihr werdet es erleben, Paletten mit Kartons werden sie euch geben. Viele Kartons, damit ihr schön zu schleppen habt. Viele Kisten mit Fernsehgeräten und eimerweise Tapetenfarbe. Ihr werdet schon sehen.

Zwischen zwei Lkw hindurch steuerte Steffen Bürger auf ein Loch im Maschendraht zu, durch das ihn jeden Vormittag sein Weg zur Arbeit und durch das ihn jeden Abend sein Weg nach Hause führte. Er bemerkte nichts Ungewöhnliches. Keinen Schatten, keine Bewegung. So traf ihn der Schlag völlig unvorbereitet. Wie ein Kartoffelsack fiel Steffen Bürger auf den nassen Teer des Speditionshofes, direkt vor den rechten Hinterreifen des Wagens G8. Gehrke-Spedition, Wagen Nummer 8.

Kurz vor halb zehn schloss Axel Gratmann seine Garage. Der Volvo darin war so etwas wie eine emotionale Lebensversicherung. Als einer der Ersten von nicht mal 120.000 Exemplaren der Serie Nr. 1 war der 960er Axel Gratmann zu einem sehr, sehr lieben Hobby geworden. Seine sechs Zylinder schnurrten nicht nur ausgesprochen verlässlich in jedem deutschen Bundesland - der Wagen war nach all den Jahren immer noch so zeitlos schön wie die Kirche der Heiligen Elisabeth in Marburg, der erste rein gotische Kirchenbau auf deutschem Boden. Diese Zusammenhänge stellte er selbst nach seinem Empfinden etwas zu oft her, aber der Volvo erdete ihn in vielen Situationen. Seine Frau Beate hatte ihn schon mal „dein zweites Zuhause“ genannt - und Gratmann fand das durchaus passend.

Noch immer ärgerte er sich über seinen penetranten Kollegen, den der Zufall zu seinem Partner gemacht hatte. Ein Kollege, der betont spaßig war, sonst schwer einzuordnen. Der „Wirsing“ statt „Auf Wiedersehen“ und „Prostata“ statt „Prost“ sagte. Der aber, wenn man seiner Vita trauen konnte, ein ziemlich guter Polizist war. Ob er mit diesem Mann dauerhaft zusammenarbeiten könnte? Aber welche Alternativen boten sich? Beschwerde? Nein, er war selbst der Neue - und Ferbers Vorgesetzter. Es gäbe sicher kein gutes Bild ab, gleich den ersten unliebsamen Kollegen abzuservieren. Und tatsächlich machte Ferber als Bulle gar keinen schlechten Eindruck auf ihn.

Beate wusste immer einen Weg, wenn er nicht mehr weiterkam. Er musste dieses Thema heute Abend anschneiden. Auch wenn es schon kurz nach neun war.

Steffen Bürger war ein starker Mann. Einer, dem der fünfzehnte Wodka oder ein Kinnhaken nicht viel anhaben können. Einer, der kein Wort zu viel spricht und dessen Kraft in jener Ruhe liegt, die er rund um die Uhr ausstrahlt. Einer, der sich nie mehr Gedanken als nötig über das Geschehene macht. Einer, der aufsteht, wenn er gefallen ist - und sei es noch so tief. Steffen Bürger rieb sich den Kopf und blickte verstört um sich. Wo war er? Wieso war es so kalt? Seine Kleidung war so nass wie die Pfütze, in der er lag. Und seine Haare? Verklebt. Wo war die Mütze? Aufstehen unmöglich. Steffen Bürger schaute in seine Hand. Blut. Wieso lag er hier?

Er setzte sich auf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Schlag auf den Kopf musste es wohl gewesen sein. Wahrscheinlich zwei. Aber wer? Er schaute sich um. Nein, natürlich keiner mehr da. Er durchsuchte seine Umhängetasche und förderte alle Habseligkeiten zutage, die er dort vermutete: Eine leere Brotdose, eine leere Thermosflasche, eine Packung Taschentücher und seine Geldbörse. Mit Personalausweis, Betriebsausweis, 23 Euro 50 und seiner EC-Karte in der roten Schutzhülle. Steffen Bürger versuchte ein zweites Mal aufzustehen. Diesmal schaffte er es. Er lehnte sich an G8 und tastete nach seiner Wunde auf dem Kopf. Und während er sich von der Belanglosigkeit seiner Platzwunde überzeugte, fiel sein Blick auf einen Mann, der einige Meter entfernt nahe an der Stelle im Maschendraht lag, an der sich Steffen Bürgers Loch befand. Sehr ruhig analysierte er die Haltung des liegenden Körpers, die so unnatürlich war, dass es dem Mann nicht gut gehen konnte. Er hatte den Kopf seltsam auf den Rücken gedreht, die Arme sahen aus, als ob man sie vertauscht hätte. Und seine Beine waren offenbar an den Knöcheln aneinandergebunden. In der rechten Hand hielt der Mann einen Baseballschläger. Nein, Steffen Bürger konnte keinen klaren Gedanken fassen, und er war erleichtert, als er Stimmen hörte. Stimmen von Leuten, die ihm helfen, die ihm seine ungewöhnliche Situation erklären konnten.

„Was tun Sie dort?“

Es war die Stimme seines Chefs Gehrke, die sich als erste an ihn wandte.

„Wirsing“, sagte Beate, und sie schaute dabei wie Charlotte in „Sex and the City“, wenn sie mit den Angewohnheiten ihrer Mitmenschen in inneren Konflikt gerät. Gratmann schwieg. „Jetzt warte doch erst mal ab. Und wenn er dich in zwei Wochen noch immer so nervt, sprich ihn drauf an. Vielleicht ist der nur ein bisschen unsicher, weil er doch auch noch nicht lange da ist.“

Sie legte ihren Arm um die Schulter ihres Mannes. Als sie das vor vierzehn Jahren zum ersten Mal getan hatte, war ihr Axel sofort verfallen. Seine Statur hatte Frauen seltsamerweise immer davon abgehalten, ihn einfach zu umarmen. Er war ein großer Mann, kräftig und vielleicht ein ganz kleines bisschen übergewichtig, aufgrund seiner Leidenschaft fürs Schwimmen mit einem breiten Kreuz ausgestattet, seit er vierzehn war. Und diese Schulterbreite schien Frauen eher Angst zu machen, ihr Arm könne zu kurz sein. Nach dem wirklichen Grund hatte er freilich nie gefragt. Doch als Beate ihm gleich am ersten Abend ihren Arm, einer Boa gleich, über sein Kreuz legte, hatte er das sichere Gefühl, dass sie die Richtige sein müsse.

Seit beinahe elf Jahren waren die beiden verheiratet. Anfangs hatte sie sich darüber beschwert, dass Axel sich zu sehr in seine Arbeit vertiefte, bis spät in den Abend an irgendwelchen Fällen arbeitete. Bis sie eines Tages verstanden hatte, dass man einen Mordfall nicht auf Kommando aus seinem Kopf streichen kann und dass Axel die Stunden, in denen ihm die Leiche nicht aus dem Kopf ging, besser im Büro als zu Hause verbrachte. Sie hatten sich arrangiert, zumal Beate sich täglich daran freute, dass Axel seinen Job eigentlich liebte und keine Missstimmung von der Dienststelle mit nach Hause brachte. Nie. Jedenfalls war das bislang so. Seit dem Umzug aus Hamburg hatte sich etwas geändert, und das beunruhigte sie.

„Geh mit ihm essen. Das funktioniert doch immer. Dann ist die Mauer schon mal ein bisschen niedriger und ihr lernt euch kennen. Kannst du nicht auch mal mit Konrad sprechen?“

Konrad Füssler, ein Hesse mit österreichischer Abstammung, war Gratmanns Freund aus Kindertagen, jetzt als Kriminaldirektor Leiter der Dienststelle und nicht ganz unschuldig an dem reibungslosen Ortswechsel Gratmanns.

„Beate, das geht gar nicht. Wie sieht das denn aus? Dass da ein paar Leute lieber sich als mich auf der Stelle gesehen hätten, das kriege ich schon hin. Aber ich kann jetzt nicht so offensichtlich mit meinem Chef kungeln und meinen Partner abschießen. Im Übrigen muss ich mich doch in solchen Situationen zurechtfinden, oder?“

„Du sollst ihn ja nicht gleich abschießen“, lachte Beate. „Ich sage nur, nimm es ernst. Nimm dich ernst. Egal, was du tust: Nichts wäre schlimmer als eine schleichende Eskalation. Und das weißt du.“

Für Hans Werner Gehrke gab es nicht den kleinsten Zweifel daran, dass der Mann hinter seinem Wagen mit der Nummer 8 tot war. Er blickte Steffen Bürger, so gut es bei dem Licht ging, in die Augen.

„Wie heißen Sie?“

Steffen Bürger schien verwirrt.

„Das ist Steffen Bürger, Chef. Arbeitet seit knapp einem Jahr bei uns“, klärte ihn Perske, sein diensthabender Bodenmeister, auf.

„Große Güte, natürlich …“ Gehrke zögerte und bemerkte Perskes Anflug von Verwunderung. „Und der Mann dort?“ Gehrke ging auf die am Boden liegende Gestalt zu, musste aber feststellen, dass er in der Dunkelheit nichts sah, was er nicht schon aus fünf Metern Entfernung hätte ausmachen können, und drehte sich wieder um. „Gibt es denn kein Licht hier? Perske!“

Richie „das Fass“ Perske war noch nie durch herausragende Intelligenz aufgefallen, sorgte aber seit den Kindertagen der Spedition für einen reibungslosen Ablauf der Nachtschicht. Linkisch kramte er in seiner Jackentasche und förderte schließlich eine Taschenlampe zutage, die tatsächlich hinter G8 für Licht sorgte. Gehrke richtete den Lichtkegel auf den Mann am Boden. Erschrocken und angewidert wandte er gleich darauf seinen Kopf zur Seite.

„Grundgütiger.“

Eine Mischung aus Neugier, Sensationslust und Wissbegierde ließ ihn den Kopf des Mannes jedoch gleich noch einmal anleuchten. Dieses Mal schwieg Gehrke sehr lange.

Das Gesicht des Toten war zerschunden. Die Augen zugeschwollen wie die eines Boxers in der zwölften Runde, blutunterlaufen und bläulich. Die Nase mehrfach gebrochen. Die Lippen aufgeplatzt, das ganze Gesicht verschmiert mit angetrocknetem, dunklem Blut.

Richie „das Fass“ stand neben seinem Chef und stellte fest: „Da ist nichts mehr zu machen.“

„Aach, tut mir leid, Beate. Gerade heute. Aber Tote nehmen eben keine Rücksicht auf den Feierabend eines EKHK.“ Nicht ganz ohne Stolz benutzte Gratmann die Abkürzung seines neuen Dienstgrades: Erster Kriminalhauptkommissar.

„Es würde ja reichen, wenn sie den seiner Ehefrau berücksichtigten.“ Sie lächelte ihren Mann an und streichelte ihm über die Wange.

Beate kam Axel manchmal wie ein Wunder vor. Sie schaffte es eigentlich immer, für ihn da zu sein. Wenn er vom Dienst kam, war in der Küche alles fürs gemeinsame Kochen vorbereitet. Als kurz nach ihrem Einzug ein geplatztes Wasserrohr den Keller geflutet hatte, hatte sie bis zu Axels Heimkehr schon eine Armada an Helfern, Handwerkern und Feuerwehrleuten organisiert und eingewiesen, so dass ihr Mann von dem Desaster so gut wie nichts mitbekam. Beate strahlte eine Ruhe aus, die ihm manchmal schon fast unheimlich gewesen war. In all der Zeit, die sie sich kannten, hatte er sie eigentlich erst zweimal aufgebracht erlebt: Vor einigen Jahren wurde er während einer Ermittlung angeschossen. Was Beate wütend machte, war aber vor allem der Umstand, dass ihr Mann „vergessen“ hatte, eine Schutzweste anzuziehen, was die Kugel gefährlich nah zu seinem rechten Lungenflügel vordringen ließ. „Die Zeit kann man mal vergessen - oder den Hochzeitstag. Aber nicht die Schutzweste“, hatte sie damals in großer Erregung gerufen, daran erinnerte Gratmann sich bis heute. Die zweite emotionale Eskalation hatte er miterlebt, als in Beates Werkstatt eingebrochen wurde. Beate war Schmuckdesignerin. Diese Bezeichnung lehnte sie allerdings ab, weil sie nicht mit Spielerfrauen und Ich-weiß-nicht-was-ich-machensoll-deswegen-bin-ich-Schmuckdesignerin-Tussies in einen Topf geworfen werden wollte. Nach erfolgreicher Prüfung zur Goldschmiede-Meisterin hatte sie sich in eigener Werkstatt auf das aufwändige Herstellen von historischem Schmuck spezialisiert, was ihr mittlerweile Auftragsarbeiten und Anerkennung über Deutschlands Grenzen hinaus eingebracht hatte. Als bei einem Einbruch die Ergebnisse von zwei Monaten Arbeit abhandenkamen, reagierte Beate abermals für ihre Verhältnisse aufgebracht, indem sie für vier Tage jegliche Kommunikation einstellte.

Enttäuscht, dass er ausgerechnet heute auf einen ruhigen Abend mit seiner Frau verzichten musste, verließ Gratmann das Haus in Richtung Garage, schwang das Tor in die Höhe und stieg in seinen Wagen. Nachdem er den 960er Volvo rückwärts auf die Straße gesetzt hatte, hielt er einen Moment inne. Er schaute durch das Seitenfenster, vorbei am Haus, den Hügel hinunter auf die Lichter der Stadt. Es hatte wirklich geklappt. Die Versetzung in seine Heimat war beinahe schon zu reibungslos vonstattengegangen. Hier war er vor fünfundvierzig Jahren geboren worden, hatte er seine Kindheit verbracht, seine Schulzeit. Sein Elternhaus stand auf den gegenüberliegenden Hügeln - und dennoch schien ihm der Blick in das Tal auch von dieser Seite sehr vertraut. Der mittelalterliche Stadtkern, ein Durcheinander von schiefen Giebeln, die sich dicht an dicht drängten. Links daneben ein kleiner schwarzer Fleck: der Chatten-Weiher, eingerahmt von den teuersten Immobilien der Stadt. Villen mit großen Gärten, für eine Innenstadt höchst ungewöhnlich. Mehrfamilienhäuser lagen wie zufällig verstreut um dieses Ensemble aus Altstadt und Weiher, dahinter der Bahnhof, in den gerade ein erleuchteter Personenzug einfuhr. Ein großes Bürogebäude war am rechten Rand dazugekommen, passte sich aber harmonisch ins Stadtbild ein. Aus dem Nieselregen wurde in diesem Moment ein herbstlicher Wolkenbruch. Gratmann kniff die Augen zusammen und versuchte, in den Lichtpunkten auf den gegenüberliegenden Hügeln sein Elternhaus zu finden. Er orientierte sich am Bahnhof und zog eine virtuelle Linie nach rechts oben. Dort irgendwo saß sein Vater vermutlich wie immer vor dem Kamin, ein Glas Wein auf dem Beistelltisch. In der Hand ein Logik-Rätsel, das er wahrscheinlich mit der üblichen Akribie zu Ende brachte. Herr Krause hat einen blauen Hund und wohnt rechts von dem Mann mit dem Rosenbeet. Der gelbe Hund wühlt im Veilchenbeet, das nicht Herrn Klawuttke gehört. Welche Blumen liebt der Mann, der links von dem mit dem roten Hund wohnt? So ähnlich. Axel hatte diese Rätsel nie verstanden, seine Mutter auch nicht. Sie hatte seinen Vater vor einem halben Jahr verlassen - mit Mitte sechzig aus dem klassischen Grund: ein anderer. In Dänemark. Sein Vater hatte diesen Schlag recht cool weggesteckt, dennoch hatte Gratmann angefangen, sich Sorgen zu machen. Seine recht unkonkreten Pläne, wieder in die Heimat zu ziehen, nahmen plötzlich ganz reelle Formen an, und er hatte durchaus das Gefühl, dass sein Vater diese Entwicklung schätzte. Komische Situation. Nein, das Haus konnte er bei dem Wetter nicht mehr erkennen.

Das Industriegelände lag nur etwa zehn Minuten die Stadtautobahn hinunter. Vielleicht wäre er ja gleich wieder zu Hause. Gratmann fuhr los und ignorierte an der Autobahnauffahrt eine rote Ampel.

„Das konnte nicht gut gehen.“ Fragend blickte Lisa zu ihrem Ehemann, ehe sie ihre Augen wieder auf die vor ihr liegende Landstraße richtete.

Boris Kober fuhr sich mit beiden Händen durch sein haselnussbraunes Haar und vergrub anschließend sein Gesicht in ihnen. „Ich habe ihn so oft gewarnt.“

„Gewarnt? Was ist denn los mit dir?“, fragte Lisa mit hörbarem Unbehagen. „Wovor hast du ihn gewarnt?“

„Ach, Scheiße. Vor dieser blöden Aktion mit seinem Betriebsrat.“

„Könntest du …“

„Ja. Wir wollten euch nichts davon erzählen. Hans hat in seinem Laden ein ganz großes Ding am Laufen. Wo soll ich bloß anfangen … Du kennst doch die Probleme mit den Fahrzeiten, den manipulierten Fahrtenschreibern und den Dumpingpreisen in seinem Gewerbe.“

„Klar.“

„Hans wollte diese beschissenen Strukturen ändern und hat sich damit sogar an seinen Betriebsrat gewandt.“

„Aber warum bringt ihm das Ärger ein? Damit verdient er sich doch einen Heiligenschein in der Branche.“

„Wenn er es einfach nur gemacht hätte, ja. Aber du kennst doch Hans. Der kann nicht einfach irgendwas machen. Der braucht den großen Knall, der braucht Publikum. Den Dings vom Spiegel hatte er an der Angel, er wollte der ganzen Branche zeigen, dass es auch unter regulären Bedingungen geht. Wer bei ihm auch nur zwanzig Minuten seine Fahrzeit überzog, wurde abgemahnt. Wegen geschönter Fahrtenschreiber hat er vor drei Wochen zwei Polen rausgeworfen.“

„Und?“

„Die sind mit der Story bei der Konkurrenz auf riesengroße Ohren gestoßen und wurden sofort bei irgend so einem Arsch in Norddeutschland eingestellt. Wo sie wahrscheinlich wieder munter gegen jede Vorschrift verstoßen. Egal, Hans hat in den letzten Wochen jedenfalls so einen Gegenwind bekommen, dass ich mir … dass ich mir wirklich Sorgen mache. Die ganze Branche redet von Verrat und davon, dass dieser Gehrke mit privaten Geldern eine Kampagne gegen die Innung führt, um seine Spedition in die Schlagzeilen zu bringen. Er steht in der Branche als der reiche Schnösel aus der Provinz da, der mit einem leicht verdienten Erbe die Konkurrenz gerade im Osten zu erdrücken versucht. Und das bringt ihm mehr als nur Ärger ein.“

„Wie, mehr?“

„Ach Lisa, sprich bitte um Himmels willen nicht mit Cynthia darüber. Hans hat in diesem Monat schon drei anonyme Anrufe bekommen. Sein Betrieb soll sabotiert werden. Einmal …“ Kober hielt inne.

„Was denn, Schatz?“

„Einmal hat er sogar eine Morddrohung erhalten.“

Das Gespräch verstummte, bis Lisa den schwarzen BMW in der Doppelgarage ihres ausgebauten Bauernhauses parkte. Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte. Darüber, dass ihre Männer Räuber und Gendarm auf sehr dünnem Eis gespielt und dies vor ihr und Cynthia Herbst verborgen hatten. Oder darüber, dass sie sich ohne Warnung bei einem Mann zum Abendessen eingefunden hatten, gegen den anonyme Morddrohungen ausgesprochen worden waren.

Für gewöhnlich war der triste Hof des Speditionsgeländes abends um halb elf in das fahle Licht der Neonröhren entlang der Laderampe getaucht. Die Arbeiter der Nachtschicht - fünfzehn, wenn alle da waren - ent- oder beluden wortreich die an der Rampe stehenden Lkw. Das Scheppern der Hubwagen war auch in großer Entfernung noch zu hören, weswegen das Gelände in einem wenig reizvollen Industriegebiet lag. An diesem Abend stand die gesamte Nachtschicht - elf, es waren nicht alle da - schweigend auf der Rampe, der Hof war in das beunruhigende Flackern der Blaulichter eines Notarztwagens und zweier Polizeiautos getaucht.

Joachim Ferber war vor Gratmann am Tatort gewesen, was er ohne Wimpernzucken als eine Art Kompetenzbonus verkaufte. Gratmann versuchte, Ferber soweit es ging zu ignorieren, sparte ihn bei seiner Grußrunde aus und bat ihn stattdessen um einen kurzen Rapport.

„Und bitte ohne irgendwelche Schlussfolgerungen, Herr Ferber. Ich möchte nur wissen, was hier passiert ist.“

Ferber war einerseits sichtlich amüsiert über den „Herrn“, zugleich jedoch irritiert, dass er seine Schlussfolgerungen für sich behalten sollte. Wenn Gratmann wüsste … Dennoch hielt er es in diesem Falle instinktiv für ratsam, den Wunsch seines Vorgesetzten zu befolgen. Gratmann wandte sich an den Inhaber der Spedition. Ferber entging nicht, dass die beiden einen überraschten Blick austauschten, bevor sein Chef das Gespräch eröffnete.

„Sie haben die Leiche gefunden, Herr … ähm … Gehrke?“

„Nein, das heißt, eigentlich schon. Ich habe sie zusammen mit Bürger gefunden. Steffen Bürger, er arbeitet für mich. Er stand neben der Leiche an den Lkw da gelehnt und hielt sich den Kopf.“

„Kennen Sie den Toten?“

„Nein.“

„Vermissen Sie einen Ihrer Angestellten?“

„Perske, mein Vorarbeiter, hat mich wissen lassen, dass heute keiner unentschuldigt fehlt.“

„Wie lange arbeitet Bürger bei Ihnen?“

„Fast ein Jahr. Unauffällig und zuverlässig, hat kaum Kontakt zu seinen Kollegen.“

„Kennen Sie alle Ihre Angestellten so gut?“

„Gut? Nein. Ich … ich habe Bürger persönlich eingestellt, weil … weil ich an diesem Tag zufällig in das Bewerbungsgespräch geplatzt bin und er … und er mir sympathisch war. - Das ist übrigens Perske, Richie Perske.“

„Perske ist Ihr …“

„… Vorarbeiter, ja. Heißt Bodenmeister bei uns. Er ist hier, seit es die Spedition gibt. Seit acht Jahren also. Immer die Nachtschicht, der kennt hier jeden Stein.“

Gratmann merkte, dass ihn dieses Gespräch nicht weiterbringen würde, und ließ den Speditionsbesitzer einfach stehen. Es musste ja nicht gleich heute Abend jeder sehen, dass er und Gehrke einander gut kannten. Er wandte sich an den Notarzt, der Steffen Bürgers Kopfverletzung untersuchte.

„’n Abend, haben Sie schon was? Uhrzeit?“

„Grüß Gott, noch keine zwei Stunden, würde ich sagen. Der Mann hier kam kurz nach neun von seiner Schicht, da war der Kerl noch warm. - So, jetzt tut’s noch mal weh. Am besten nehmen wir Sie mit ins Krankenhaus, Sie haben eine Gehirnerschütterung und sind unterkühlt. Aber das wird schon wieder, wenn Sie sich ein paar Tage schonen.“

„Kennen Sie den Toten?“, wollte Gratmann wissen.

„Ich, nö, wieso?“, antwortete der Arzt.

„Nein, ich dachte bei meiner Frage eigentlich an den Herrn mit dem Verband um den Kopf.“ Steffen Bürger, der nicht merkte, dass er angesprochen war, blickte starr auf den Asphalt zu seinen Füßen. „Herr Bürger?“

Lisa Kober hatte zuerst nach den Kindern gesehen: Martin, dreizehn, hatte sich noch nicht von seiner kleinen Spielekonsole trennen können, Grete, acht, schlief fest. Erst nach dem ersten Schluck Wein wandte sich Lisa wieder an Boris. „Ich finde es ganz und gar unglaublich, dass Ihr Cynthia und mich nicht darüber aufklärt, dass gegen Hans eine scheiß Morddrohung ausgesprochen wurde.“

„Aber Lisbet, wie viele Morddrohungen gehen heutzutage bei erfolgreichen Unternehmern ein?“ Boris Kober merkte noch beim Reden, dass das einer seiner schwächeren Wortbeiträge war. Das entging auch Lisa nicht.

„Du weißt ganz genau, dass es unter den gegebenen Umständen angeraten gewesen wäre, die Polizei zu verständigen. Im Übrigen ist eine Morddrohung eine Morddrohung. Und wenn du sie so harmlos gefunden hättest, dann hättest du mir davon ja auch erzählen können. Was für ein reizender Abend es doch geworden wäre, wenn statt des Anrufs eine russische Handgranate unser Treffen beendet hätte. Ihr seid kindische Idioten, ihr beide. Wir Männer managen das schon, uns haut doch eine Morddrohung nicht aus unseren Budapestern.“

Beim letzten Satz hatte Lisa ihr Gesicht verzogen und ihre Stimme eine Oktave nach unten sinken lassen. Sowohl sie als auch Boris mussten trotz Lisas Ärger lachen.

„Hast recht“, sagte Boris und nahm seine Frau in den Arm. „Ich werde noch mal mit Hans reden.“

„Setz dir aber lieber einen Helm auf, wenn du dich mit ihm triffst.“ Sie kuschelte sich in seinen Arm und lächelte, wenngleich sie nicht restlos beruhigt war.

Steffen Bürger schreckte auf. „Herr Kommissar?“

„Gratmann, ja.“ Axel Gratmann wurde lieber mit seinem Namen angesprochen als mit seiner Berufsbezeichnung. „Kennen Sie den Toten?“

„Ich glaube nicht. Aber viel von ihm gesehen habe ich noch nicht.“

„Ich habe ihn noch gar nicht gesehen, Herr Bürger. Kommen Sie doch einmal kurz mit, bitte.“

Zusammen mit dem schwankenden Speditionsarbeiter näherte sich Gratmann der noch immer auf dem Asphalt liegenden Person. Perske gab nur zu gern zum wiederholten Mal den Beleuchter und illuminierte den kläglichen Anblick nun professionell mit zwei Stablampen. Gratmann verzog das Gesicht, der schon reichlich mitgenommene Bürger erbrach sich direkt in den Maschendrahtzaun. Perske, der trotz seiner Einfalt ein feines Gespür für skurrile Situationen hatte, ließ die Lichtkegel im Takt seines lautlosen Lachens auf den Toten wippen, hatte sie aber rasch wieder zum Stillstand gebracht, so dass Gratmann einen genaueren Blick auf die Leiche werfen konnte. Der Tote trug einen dunkelblauen Seemannspullover über einem orangefarbenen Karohemd, eine schwarze Jeans mit einem Gürtel mit großer Hufeisenschnalle und stabile, etwas abgetragene Laufschuhe. Er hatte pechschwarze, dichte Haare und ungepflegte Hände.

„Hat dieser Mann Sie niedergeschlagen?“

„Herr Kommissar, das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass meine Schicht zu Ende war. Danach ist alles schwarz. Ich habe diesen Mann bestimmt nicht geschlagen, ich weiß gar nicht, warum ich das tun sollte.“

Gratmann klopfte Bürger auf die Schulter, lächelte ihn an und riet ihm, sich jetzt in ärztliche Obhut zu begeben, die weiteren Fragen könnten schließlich auch in ein paar Tagen beantwortet werden. Dann wandte er sich an Perske, der im Begriff war, zur Rampe zurückzukehren.

„Entschuldigen Sie, Herr Perske.“

„Ich dachte, Sie brauchen mich nicht mehr.“

„Sie kennen doch alle Mitarbeiter hier so gut wie kein Zweiter.“

„Da haben Sie recht, Herr Kommissar.“

„Kommt Ihnen der Tote irgendwie bekannt vor?“

„Nein, Herr Kommissar, der hat hier nie gearbeitet.“

„Ich habe gefragt, ob er Ihnen bekannt vorkommt. Nicht, ob er hier mal gearbeitet hat. Im Übrigen heiße ich Gratmann.“

„Ach so, Herr Kommissar, ja, nein, bekannt kommt er mir nicht vor. Also, ich glaube, den hab ich hier noch nie gesehen. Ich dachte nur zuerst -“

„Was dachten Sie?“

„Nein, das ist Unsinn.“

„Dass er Ähnlichkeit mit Steffen Bürger hat?“

„Ist Ihnen das auch aufgefallen?“

„Na ja, ich weiß nicht, ob ich meinem Bruder noch ähnlich sähe, wenn mich einer so zurichten würde, zumal ich keinen Bruder habe. Aber eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden kann man doch nicht bestreiten.“

„Herr Kommissar …“

„Gratmann.“

„Ja, Herr Kommissar, weiß ich doch. Das würde ja bedeuten, dass der Mörder vielleicht gar nicht den Mann da töten wollte, sondern unseren Herrn Bürger. Haben Sie den mal gefragt?“

„Herr Perske, wo waren Sie zwischen halb neun und neun?“

„Also, Herr Kommissar …“

„Muss ich fragen, sagen Sie’s mir einfach.“

„Na, zu Hause. Komme ja immer erst um kurz vor neun. Bin dann immer vorne im Büro, um den Abend vorzubereiten. Wissen Sie, es kommen ja jeden Abend andere Lkw und es müssen auch jeden Abend …“

„Ja ja, danke. Kann jemand bestätigen, dass Sie vorher zu Hause waren?“

„Na klar, meine Frau und meine zwei Kinder. Ich gehe ja immer erst um Viertel vor neun los, wir wohnen gleich da drüben, im ersten Haus in der Straße hinter dem Industriegebiet. Und um kurz vor neun habe ich vorne meine Stichkarte durchgezogen und bin im Büro geblieben. Also, Herr Kommissar, ich war um kurz nach neun, als der Bürger hier übern Hof ging, ganz bestimmt hinten im Büro.“

„Herr Perske, niemand verdächtigt Sie. Ich muss diese Fragen stellen, um mir ein Bild von der Situation zu machen.“

„Ja. Ich bin nur so aufgeregt, weil ich mich frage, warum jemand unseren Herrn Bürger umbringen wollte.“

„Danke, Herr Perske. Sie können jetzt zu Ihrer Schicht gehen. Die Männer warten ja alle auf Sie.“

II

Nach dem gestrigen Einsatz zu vorgerückter Stunde war Axel Gratmann heute etwas später aufgebrochen als sonst, um direkt zum Elternhaus des verletzten Steffen Bürger zu fahren. Er war froh, dass ihn der Weg nicht gleich ins Büro und zu seinem Kollegen Ferber führte. Die Ereignisse des vorigen Abends ließen ihn heute Morgen um kurz nach neun in eine Ecke seiner Stadt fahren, die er schon früher in seiner Ausbildungszeit als „schönste Open-Air-Psychiatrie der Welt“ bezeichnet hatte. Der Stadtteil Asseln bestand ausschließlich aus bescheidenen Einfamilienhäusern, deren Architekten von ihren Entwürfen so beseelt gewesen sein mussten, dass sie jeden gleich in zehnfacher Ausführung auf die ehemalige Pferdekoppel in leichter Hanglage gestellt hatten. Entstehungszeitraum dieses Wohnparks waren die Jahre zwischen 1964 bis 1969. Damals wurde ein großer Büromöbelhersteller in der Stadt ansässig, und die vielen Arbeiter dieses Unternehmens bekamen eben diese Pferdekoppel, das heutige Asseln, als Baugrund zugewiesen. Seitdem war Asseln immer ein etwas zu gepflegtes Fleckchen Vorstadt gewesen. Die Gärten hätten sämtlichst Preise gewinnen können, die Bürgersteige waren stets gekehrt und die Häuser allesamt so gut in Schuss, dass man meinte, sie seien erst vergangenes Jahr errichtet worden. 2007 schloss der marode Büromöbelhersteller endgültig seine Pforten, was sich auf den äußeren Zustand von Asseln bisher jedoch nicht ausgewirkt hatte. Dennoch kannte Gratmann diese Gegend nur zu gut, eine Kriminalität ganz eigener Art hatte hier in den vergangenen Jahren Einzug gehalten. Männer schlugen ihre Frauen, Frauen schlugen ihre Kinder, Kinder gingen statt zur Schule auch mal in die Bahnhofstrinkhalle. Im letzten Jahr erschoss ein Mann mitten am Tag seinen Hund, seine Frau und sich selbst, ein paar Wochen zuvor hatte ein 24-Jähriger seinen sechzig Jahre älteren Nachbarn im Streit um den Lärm eines Laubbläsers geohrfeigt, was der Herr umgehend mit einem empörten Herzstillstand quittiert hatte. Ja, Gratmanns Kollegen waren in letzter Zeit häufiger zu Gast gewesen in Asseln, das hatte er mitbekommen.

Auch heute Morgen strahlten die Häuschen in der Sonne um die Wette, als er seinen Volvo in den Blaumeisenweg lenkte. Axel Gratmann freute sich einmal mehr über dieses Auto, für das er seinen Dienstwagen stehen ließ, wann immer sich die Gelegenheit bot. Denn natürlich war es versicherungsrechtlich schwierig, wenn Gratmann im Dienst mit seinem Privatwagen unterwegs war. „Ich besorg dir was aus der Asservatenkammer“, hatte Konrad Füssler ihm versprochen - und Gratmann hatte mit den Augen gerollt. Auf einen ehemaligen Zuhälter-Cadillac hatte er nicht wirklich Lust. Schon mehrfach wollte Gratmann sich auch privat ein neues Auto kaufen, um seinen Volvo zu schonen. Doch mit den neueren Volvos konnte er sich nicht identifizieren, zu einer anderen Marke sich nicht durchringen. Sein 960er war ein echtes Schmankerl: Er entstammte der allerersten Serie vom August 1990. Unter Volvo-Fans gilt die 900er-Serie als letztes „echtes“ Engagement in der Oberklasse, bevor die Wagen immer mehr ihrer skandinavischen Ecken beraubt und das Unternehmen zweimal verkauft wurde. Auf der Website eines englischen Volvo-Clubs wird diese Baureihe bis heute als the quintessential Volvo gepriesen. Gratmanns Exemplar war ein Kombi in dezentem Dunkelblau metallic, das sich vor dem Haus mit der Nummer 16 noch ein wenig schmucker ausnahm als sonst.