E-Book 1251-1260 - Diverse - - E-Book

E-Book 1251-1260 E-Book

Diverse

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! E-Book 1: Die verwunschene Villa E-Book 2: Lara – am Ende ihrer Kraft E-Book 3: Wenn nur noch Hoffnung bleibt E-Book 4: Aufbruch in ein neues Glück E-Book 5: Verliebt in einen Traum E-Book 6: Das Geheimnis des Professors E-Book 7: Eine schwere Entscheidung E-Book 8: Die Liebe wartet auf dich, Johanna! E-Book 9: Ihr erster Fall E-Book 10: Verliebt in eine Lüge

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1142

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Die verwunschene Villa

Lara – am Ende ihrer Kraft

Wenn nur noch Hoffnung bleibt

Aufbruch in ein neues Glück

Verliebt in einen Traum

Das Geheimnis des Professors

Eine schwere Entscheidung

Die Liebe wartet auf dich, Johanna!

Ihr erster Fall

Verliebt in eine Lüge

Chefarzt Dr. Norden – Staffel 15 –

E-Book 1251-1260

Diverse -

Die verwunschene Villa

Unveröffentlichter Roman

Roman von Taylor, Amy

Es war einer von diesen Tagen, die Pia Kirsch an sich und der Welt verzweifeln ließen. Alles, wirklich alles schien schief zu gehen. Das Elend hatte schon am frühen Morgen begonnen, als ihre Kaffeemaschine keinen einzigen Mucks mehr von sich gab. Sie konnte nicht herausfinden, woran es lag und beschloss, auf dem Weg zur Arbeit einen Kaffee zum Mitnehmen zu besorgen. Weil sie sich viel zu lange mit dem defekten Gerät auseinandergesetzt hatte, fuhr ihr ihre gewohnte Straßenbahn davon. Beim Bäcker konnte die Verkäuferin dann ihren 20-Euro-Schein nicht wechseln und sie musste die 2,95 für den Kaffee tatsächlich mit ihrer EC-Karte bezahlen, was sie eigentlich nicht so gern tat. Dann verbrannte sie sich fast die Lippen an dem viel zu heißen Kaffee. Mit fast einer Viertelstunde Verspätung und reichlich entnervt sperrte sie ihren kleinen Antiquitätenladen in einer Seitenstraße zur Fußgängerzone im Zentrum Münchens endlich auf. Sie wusste, dass viele andere Menschen über solche Missgeschicke nur milde lächeln würden. Aber sie gehörte zu denjenigen, deren Nervenkostüm meistens dünn und manchmal sogar rissig war. Sie begann daher ihren Arbeitstag mit nervösem Herzklopfen und hoffte inständig, dass es in den nächsten Stunden besser laufen möge.

Aber dann schlug sie die Tageszeitung auf, die sie beim Bäcker zum Kaffee mitgenommen hatte und entdeckte eine Anzeige. Schlagartig wurde es ihr heiß und kalt gleichzeitig. Nur wenige Worte, schwarz umrandet, in dick gedruckten Buchstaben. »Vorbesichtigung«, las sie zum wiederholten Mal. »Der gesamte Inhalt der herrschaftlichen Villa der Unternehmerfamilie Augstein wird versteigert. An den folgenden zwei Tagen ist eine Vorbesichtigung möglich, Katalog liegt auf.« Dann folgten zwei Datums- und Uhrzeitangaben und darunter, in wesentlich kleineren Buchstaben, waren Straße und Hausnummer zu lesen. Pia war der Meinung, dass die Nennung der Adresse überflüssig war, denn sie war sich sicher, dass jeder in München die Villa kannte. Früher war es jedenfalls so, als es die Firma der Augsteins noch gab.

Ihr Blick richtete sich auf den Wandkalender in dem kleinen Büro ihres Ladens. Schon morgen war der erste von zwei Tagen, an denen eine Vorbesichtigung möglich war.

»Lass es sein«, meldete sich eine mahnende Stimme in ihrem Kopf. »Auch wenn es für dein Geschäft eine selten gute Gelegenheit wäre.«

Energisch faltete sie die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Die Glocke an der Ladentür hatte gerade den Kunden angekündigt, den sie bereits erwartet hatte. Es war einer ihrer langjährigen Stammkunden, der vorgestern eine wunderschöne antike Kommode aus den Dreißigerjahren gekauft und für heute die Abholung angekündigt hatte.

Pia liebte das, was sie tat. Eigentlich war sie studierte Betriebswirtschaftlerin, aber sie hatte schon während ihres Studiums hier gejobbt und sich damit ein paar Euro dazu verdient. »Peters Antiklädchen« hieß das Geschäft zu jener Zeit, nach dem damaligen Inhaber Peter Waldmann. Von ihm hatte sie viel gelernt und der Umgang mit schönen Dingen aus der Vergangenheit hatte sie glücklich gemacht. Deshalb hatte sie nicht lange gezögert, als er ihr nach ihrem Examen anbot, das Geschäft in eigener Regie übernehmen zu können. Er meinte, er wolle sich wohlverdient zur Ruhe setzen und wüsste niemanden, dem er sein Geschäft lieber anvertrauen würde. Pia reagierte spontan, was bei ihr selten vorkam. Aber die Idee, ihr eigenes Geschäft führen zu können, hatte sie auf der Stelle begeistert. Sie hatte auch sofort einen neuen Namen für das kleine, aber feine Antiquitätengeschäft gefunden. Es hieß nun »Pias Antiklädchen«. Sie war damals erst fünfundzwanzig Jahre alt gewesen, aber sie fühlte sich in der Lage, diese Verantwortung zu übernehmen. Schließlich könnte sie ja jederzeit wieder etwas anderes machen, allerdings wusste sie, dass der Laden ganz gut lief. Warum sollte das unter ihrer Führung anders sein?

Das war vor dreizehn Jahren gewesen und Pia Kirsch hatte keinen einzigen Tag davon bereut. Reich war sie nicht geworden, aber sie konnte vom Ertrag ihres eigenen Ladens ganz gut leben und mehr brauchte sie nicht. Allerdings fiel es ihr jedes Mal schwer, wenn sie eines ihrer schönen Dinge tatsächlich verkaufte. Im Ankauf wählte sie immer nur das aus, wovon sie selbst begeistert war. Die Sachen dann wieder hergeben zu müssen, war vernünftig, schließlich lebte sie davon, und trotzdem musste sie sich oft zusammenreißen und sich daran erinnern, dass Pias Antiklädchen nur durch Verkäufe bestehen bleiben konnte.

Sie fand die kleinen und großen Kostbarkeiten meistens auf Flohmärkten, in den Kleinanzeigen der Zeitung oder auch bei Haushaltsauflösungen und Versteigerungen. Dass ein gesamter Hausstand zur Versteigerung kam, war gar nicht mal so selten. Entweder waren es die Erben der ehemaligen Wohnungs- oder Hausbesitzer, die möglichst schnell alles zu Geld machen wollten, oder aber es waren die Eigentümer selbst, die sich aus welchem Grund auch immer von ihrem bisherigen Lebensmittelpunkt trennen wollten.

Die Zeit, die sie in ihrem Laden verbrachte, war für sie keine Arbeit im eigentlichen Sinn. Sie war umgeben von zauberhaften Gegenständen, von denen jeder seine eigene Geschichte hatte. Manchmal verlor sie sich in ihrer Fantasie, wenn sie sich vorstellte, was die einzelnen Dinge in ihrem Laden wohl zu erzählen hätten, wenn sie reden könnten.

Heute hatte sie jedoch keinen Sinn für sentimentale Träume. Sie musste Abschied nehmen von der zierlichen Kommode aus hochpoliertem Kirschbaumholz. Glücklich über den Verkauf und gleichzeitig traurig über den Verlust sah sie zu, wie der Kunde zusammen mit seinem Begleiter das Möbelstück vorsichtig zur Ladentür hinaus trug und auf einem Hänger fest verzurrte. Fast hätte sie darüber die Annonce vergessen, aber die Erinnerung daran kam sofort zurück, als sie wieder in ihr Büro zurückgekehrt war und ihr Blick auf die Zeitung fiel. Erneut schlug sie die Seite mit den Kleinanzeigen auf und las immer und immer wieder denselben Text. Morgen … sollte sie hingehen?

In ihrer Brust stritten sich zwei Widersacher. »Du müsstest deinen Laden für ein paar Stunden zusperren«, gab der eine zu bedenken.

»Aber du könntest noch einmal in das Haus, in dem du so glücklich warst«, wisperte der andere.

»Glücklich?! Warst du dort wirklich glücklich?«, provozierte der Erste.

»Ja, bis zu dem Tag, an dem es zu Ende war«, parierte der zweite.

»Du wirst es bereuen, wenn du hingehst«, drohte der Bedenkenträger.

»Mag sein, wahrscheinlich hast du recht«, gab der andere Gedanke schließlich klein bei.

»Ganz schön feige«, hallte es irgendwo in ihrem Hinterkopf.

Pia warf die Zeitung in den Papiermüll, als ob sie damit die Angelegenheit auch gleich mit beseitigen könnte. Aber in ihrem Kopf hatte sich bereits ein Funke der Versuchung festgesetzt. Als ob sie sich selbst eine letzte Chance zum Ausweichen geben wollte, nahm sie sich vor, erst am nächsten Tag wieder daran zu denken und dann eine Entscheidung zu treffen.

Sie versuchte, sich den ganzen restlichen Tag auf andere Dinge zu konzentrieren. Um sich abzulenken, nahm sie sich sogar des Schuhkartons an, der ein heilloses Durcheinander an Belegen für den Steuerberater beherbergte. Sie hielt es für eine Sache des Anstands, die Zettel halbwegs sortiert zu haben, bevor sie ihm die Quittungen, Rechnungen und den sonstigen Papierkram übergab.

Am Abend versuchte sie vergeblich, dem Defekt an der Kaffeemaschine in ihrer Küche auf die Spur zu kommen und beschloss dann, morgen eine Viertelstunde früher aufzustehen, um noch beim Bäcker vorbeigehen zu können. Es schien, als habe sie den Entschluss schon gefasst. Sie würde nicht zur Vorbesichtigung in die Villa Augstein gehen.

Aber dann kam es doch anders. Es war kurz vor zwölf Uhr, die Zeit, in der sie normalerweise eine kleine Mittagspause einlegte, als sie ihrem inneren Impuls nachgab. Auch wenn es in ihrem Bauch bedrohlich grummelte, fasste sie sich ein Herz, sperrte ihren Laden ab und fuhr mit Straßenbahn und Bus zu dem Haus, dessen Adresse sie auch nach so vielen Jahren und Jahrzehnten noch immer auswendig wusste.

*

Dr. Daniel Norden dachte nach. Seine wundervolle Ehefrau Fee hatte zwar keinen Geburtstag, aber er wollte ihr dennoch eine Freude machen. Sie war es, die ihm mit ihrer unerschütterlichen Liebe seinen mitunter sehr stressigen Alltag versüßte. Felicitas Norden war zwar selbst Ärztin, und noch dazu hatte sie mit der Leitung der Kinderstation in derselben Klinik, in der er Chefarzt war, genug eigene Verantwortung und Herausforderungen zu meistern. Trotzdem fand sie immer wieder die Kraft, ihm in allem, was er tat, zur Seite zu stehen. Er liebte sie von ganzem Herzen, und er bewunderte sie für ihre Tatkraft und ihre Disziplin. Ohne diese Eigenschaften hätten sie beide als Elternpaar die zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte nicht so gut bewältigen können, wie sie es getan hatten. Ihre fünf gemeinsamen Kinder waren allesamt wohlgeraten und bestens auf das Leben vorbereitet, ihr gemeinsames Zuhause war ein Rückzugsort für die ganze Familie, und seine Fee war als Mutter und Ehefrau unbestritten der Mittelpunkt dieses Glücks. Dafür wollte er ihr ›Danke‹ sagen, denn das tat er seiner Meinung nach viel zu selten. Das war ihm bewusst, aber jetzt hatte er sich fest vorgenommen, jede mögliche Ablenkung zu ignorieren, die ihn bei seinem Plan stören könnten.

Das Inserat in der gestrigen Morgenzeitung kam ihm daher wie gerufen. Die Villa Augstein kannte jeder in München, zumindest von außen. Von innen hatte sie bisher vermutlich nur eine Handvoll Menschen gesehen und das Ehepaar Norden gehörte nicht dazu. Die Vorbesichtigung zur geplanten Versteigerung des Inventars wäre doch eine perfekte Gelegenheit! Fee und er waren zwar keine ausgemachten Experten für Antiquitäten, aber schon alleine die Möglichkeit, sich in der Villa einmal umschauen zu können, erschien ihm verlockend. Er war sicher, dass Fee genauso dachte und wenn ihnen bei der Besichtigung das eine oder andere hübsche Stück ins Auge fallen würde, dann könnte er sich gut vorstellen, an der Versteigerung teilzunehmen, die zwei Wochen später stattfinden sollte. Er bat Fee, sich für den betreffenden Tag ein paar Stunden frei zu nehmen und kündigte eine Überraschung an.

Er hatte mit seinem Plan ins Schwarze getroffen! Erst am schmiedeeisernen Tor des weitläufigen Anwesens, auf dem die Villa Augstein stand, offenbarte er ihr, was er vorhatte.

»Du meinst, wir beide können da jetzt einfach so hineinmarschieren und uns umschauen?«, fragte sie mit leuchtenden Augen. »Wie aufregend!«

»Überall, wo wir hindürfen. Ich denke mal, dass so ziemlich jeder Raum begehbar ist, schließlich wollen die ja alles unter den Hammer bringen, was drin ist«, vermutete Daniel. »Halte die Augen offen, meine Fee, denn wenn dir was gefällt, können wir es vielleicht ersteigern … sofern wir Glück haben. Aber warum soll uns das Glück denn nicht hold sein?«

»Du meinst, ich kann mir was aussuchen?« Fees Wangen waren leicht gerötet.

»Wenn es nicht gerade ein Ungetüm von einem Möbelstück ist oder ein potthässlicher Kronleuchter«, schränkte Daniel lächelnd ein.

»Keine Sorge, aber ein Väschen vielleicht, eine Porzellandose oder ein Kerzenleuchter«, zählte Fee begeistert auf und Daniel wusste, dass seine geliebte Frau Feuer gefangen hatte. Er beglückwünschte sich innerlich für seine geniale Idee und drückte auf die reichlich verzierte Klinke des Eingangstores zum Grundstück, beides aus geschmiedetem Eisen. »Ich geh mal voraus, mein Schatz«, kündigte er an.

»Weißt du denn, wie das jetzt abläuft?«, rief Fee hinter ihm. Sie konnten nicht nebeneinander laufen, denn der Weg bis zur Villa war schmal. Ursprünglich schien er breit und bequem gewesen zu sein, aber jetzt holte sich die Natur links und rechts der Waschbetonplatten ihren angestammten Platz zurück. Fee erkannte auf den ersten Blick, dass der Garten, der eigentlich auch als Park bezeichnet werden konnte, schon länger keine ordnende Hand mehr gesehen hatte.

»Siehst du dort die Rosensträucher?«, fragte Daniel, der ihre Frage zwar gehört hatte, aber der Anblick der ungehindert wuchernden Rosen hatte ihn auf andere Gedanken gebracht. »Fast wie Dornröschens Schloss, findest du nicht auch?«

»Es ist die zweite Blütezeit im Jahr für Rosen«, erklärte Fee. »Im September und Oktober zeigen sie noch mal, was sie können. Aber die hier sind schon wirklich etwas ganz Besonderes«, staunte sie. »Man hat sie wohl schon länger nicht mehr geschnitten und deshalb sind sie derart in die Höhe und Breite gewuchert. Und wie die duften, riechst du das?«

»Ja«, sagte Daniel, obwohl er damit ein wenig schwindelte. Aber er konnte seine Frau sehr gut verstehen. Sie liebte Rosen und er gönnte ihr einen Moment den atemberaubenden Anblick. Nach seinem Geschmack standen die Rosensträucher viel zu nah am Gebäude. »Sind das Kletterrosen oder nutzen die Sträucher nur die günstige Gelegenheit? Sieh nur, einige Ausläufer reichen schon bis zur ersten Etage hinauf.«

»Da ist doch extra ein Klettergerüst an der Mauer der Villa angebracht, siehst du das nicht? Das ist so geplant, aber sie müssten trotzdem dringend geschnitten werden … wie so manches hier«, sagte sie, ohne den Blick von der verschwenderisch üppigen Blütenpracht in Rot, Rosa, Orange und Weiß abzuwenden.

»Na komm, dann gehen wir mal hinein«, forderte Daniel sie auf. »Wir müssen uns zum Glück nicht um den Garten kümmern.« Er zwinkerte ihr zu, nahm sie am Arm und begleitete sie die breiten Stufen hinauf bis zur Haustür.

»Na das nenne ich mal einen Eingang«, staunte er. Die überbreite und hohe zweiflügelige Tür bestand aus schwerem Holz mit üppigen Schnitzereien. »Es würde mich nicht wundern, wenn uns ein Diener im Livree öffnet«, sagte er, griff nach dem schweren Messingring mit dem polierten Löwenkopf und klopfte damit energisch gegen die Haustüre.

Die junge Frau, die daraufhin von innen öffnete, schien auf den ersten Blick so gar nicht zu Daniels Fantasien zu passen. Sie war höchstens dreißig und trug einen hellgrauen, sehr gut geschnittenen Hosenanzug. Das straff nach hinten frisierte Haar wirkte streng und dieser Eindruck wurde noch durch die schwarz umrandete Brille verstärkt, die ihre großen, stark geschminkten Augen noch größer erscheinen ließen. »Sie kommen zur Vorbesichtigung, meine Herrschaften?«, flötete sie betont fröhlich und ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie Daniel einen Katalog in die Hand. »Die einzelnen Gegenstände sind mit Nummern versehen«, erklärte sie ungefragt. »Anhand dieser Nummern können Sie in diesem Katalog nähere Infos nachlesen. Dazu gehört natürlich auch der Aufrufpreis. Sollten Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Sie können natürlich auch gerne Herrn von Rabenberg ansprechen.«

»Herrn von Rabenberg«, wiederholte Daniel. »Ist das der Eigentümer?«

»Nein, er ist der juristische Vertreter der Eigentümerin«, antwortete die junge Frau nachsichtig lächelnd.

»Entschuldigen Sie«, mischte sich Fee ein. Sie hatte bereits einen Blick in den Katalog geworfen und hatte etwas entdeckt, was ihr unklar war. »Hier steht o.L. hinter einem Artikel, was bedeutet das?«

»O.L. bedeutet ›ohne Limit‹«, erklärte die Dame im Hosenanzug. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie in Fees Frage eine gewisse Unsicherheit erkannt hatte. »Das heißt, es gibt keinen Aufrufpreis und damit auch keinen Mindestpreis, zu dem Sie diesen Artikel ersteigern können – falls Sie das wollen. Die Auktion findet dann in vierzehn Tagen statt. Den genauen Termin und die Uhrzeit finden Sie auf der letzten Seite im Katalog.« Sie wartete nicht ab, ob Fee und Daniel noch weitere Fragen hatten, sondern drehte auf dem Absatz um und ließ die beiden stehen.

»Aha, jetzt wissen wir das also auch«, murmelte Fee. »Findest du nicht auch, dass man hier ruhig mal richtig durchlüften hätte können, bevor fremde Leute hier hereinkommen?«

»Es riecht muffig, da muss ich dir recht geben. Aber dieses ehrwürdige Gemäuer ist gut und gern zweihundert Jahre alt und wir müssen hier ja nicht wohnen.« Daniel ließ seinen Blick über die mit dunklem Holz vertäfelten Wände gleiten. Die Eingangshalle wirkte dadurch nicht gerade einladend, um nicht zu sagen, sie präsentierte sich ausgesprochen ungemütlich.

»Hast du die Stuckdecke schon gesehen, Dan?«, hörte er Fees beinahe ehrfürchtig klingende Stimme neben sich.

»Jetzt schon, ich bin noch mit der Holzvertäfelung der Wände beschäftigt. Tolle Stuckarbeit, aber … naja … etwas aus der Zeit gefallen, findest du nicht?«

»Es passt aber irgendwie zu diesem Haus. Hier ist eine ganz bestimmte Stimmung, lach mich bitte nicht aus«, wisperte sie so leise, als ob sie befürchtete, von den anderen Gästen in der Eingangshalle gehört zu werden.

»Och, meine Frau verbündet sich schon wieder mit Geistern«, sagte Daniel lachend. »Na komm, wir streifen mal durch die Räumlichkeiten und denke bitte daran, mir zu sagen, wenn dir etwas gefällt.« Er wedelte vielsagend mit dem Katalog und richtete seine Schritte in einen Raum, der sich beim Betreten als eine Art Salon herausstellte. Fee fühlte sich schon bald in eine andere Zeit versetzt. Nicht nur in diesem Raum, auch in allen anderen Zimmern schien die Zeit vor vielen Jahrzehnten stehen geblieben zu sein. Nur in der Küche und in den Badezimmern waren moderne Zeiten eingezogen. Ansonsten bestand das gesamte Mobiliar aus längst vergangenen Zeiten. Das galt auch für die Gegenstände, die teilweise in Vitrinen ausgestellt waren, teilweise feinsäuberlich auf Tischen und Kommoden aufgereiht standen. Jeder mit einem Aufkleber versehen, auf der eine Nummer stand.

»Und, hast du schon was gefunden?«, wollte Daniel nach der Besichtigung von weiteren drei Räumlichkeiten wissen.

»Das ist alles sehr wertvoll«, antwortete Fee.

»Schau bitte nicht auf den Preis. Der sagt eigentlich sowieso nichts aus, es kommt ja dann immer noch auf das Ergebnis bei der Versteigerung an«, ermunterte sie Daniel.

»Ich war noch nie auf einer solchen Auktion«, wandte Fee ein. »Es würde mich schon mal interessieren. Wollen wir hingehen? Steht da irgendwo, wann sie stattfindet?«

»Warst du schon zu sehr mit den Geistern hier beschäftigt, als die Dame von vorhin erklärte, dass auf der letzten Seite im Katalog das Datum steht?«, neckte Daniel seine Frau. »In zwei Wochen«, fügte er hinzu. »Wenn du willst, nehmen wir uns in der Klinik frei. Was ist denn dort drüben los?«, fragte er unvermittelt.

Auch Fee war abgelenkt. Sie befanden sich in einem Raum, der in früheren Zeiten vermutlich als Arbeitszimmer gedient hatte. Jedenfalls ließ der ausladende Schreibtisch aus schwerem Mahagoni darauf schließen. Er stand mitten im Zimmer, an den Wänden befanden sich raumhohe Regale, die meisten davon waren mit Büchern gefüllt. In einer Ecke, vor einem zierlichen Damensekretär aus poliertem Holz mit sicherlich sehr wertvollen Intarsien redete eine aufgelöste Frau lebhaft auf einen Herrn im hellgrauen Anzug ein.

»Da gibts wohl Streit«, vermutete Fee.

»Komm weiter, das geht uns nichts an«, schlug Daniel vor, und dann wunderte er sich keine Sekunde darüber, dass Fee genau das Gegenteil tat. Sie trat ein paar Schritte auf das streitende Paar zu und schien sich einmischen zu wollen.

*

In Pias Brust tobte ein Chaos der Gefühle. Es war eine explosive Mischung aus Ablehnung, Unsicherheit und Neugier. Sie stand vor dem schmiedeeisernen Tor zum Grundstück und zögerte. In ihrer Erinnerung hörte sie das Quietschen der alten Scharniere und sie wusste, wenn sie jetzt auf die Klinke drückte und einen Schritt hinter das Tor setzte, wäre sie ihrer Vergangenheit ausgesetzt. Wollte sie das wirklich? Kurz zögerte sie, dann setzten sich Neugier und Abenteuerlust in ihr durch. Beherzt drückte sie gegen das Tor und musste schmunzeln, als sie das längst vergessen geglaubte Quietschen wiedererkannte.

Der Blick auf die Villa ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen. Sie sah noch immer so aus, wie vor vierundzwanzig Jahren, als sie damals zusammen mit ihrer Mutter nahezu fluchtartig dieses Anwesen verlassen hatte. Sie war damals vierzehn Jahre alt gewesen und hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Der einzige Unterschied zu früher war die Höhe der Kletterrosen am verwitterten Mauerwerk und das herbstbunt verfärbte Laub, das teilweise noch an den Bäumen und Sträuchern hing, sich aber auch auf dem viel zu hohen Rasen ausgebreitet hatte. Ein Gärtner wurde hier wohl schon sehr lange nicht mehr beschäftigt, ebenso wenig ein Hausmeister. Das war früher anders gewesen.

Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie an ihrem Vorhaben zweifeln ließ. Was, wenn Tante Cilli hier ist? Pia wusste nicht, ob sie überhaupt noch am Leben war. Eine Todesanzeige hatte sie in der Zeitung nicht gelesen, nur das Ableben des Seniorchefs des Augstein-Unternehmens vor etlichen Jahren war durch die Presse gegangen. Cäcilie Augstein war als seine Witwe erwähnt worden, aber seither hatte Pia nichts mehr über das Schicksal der Frau, die sie Tante Cilli nennen hatte dürfen, erfahren. Wie sollte sie sich ihr gegenüber verhalten, wenn sie in der Villa aufeinanderträfen? Wieso hatte sie sich das nicht früher überlegt, schalt sich Pia in Gedanken. Aber es war ja noch nicht zu spät. Noch könnte sie umdrehen und ungesehen einfach wieder von hier verschwinden.

»Wollen Sie zur Vorbesichtigung?«, hörte sie eine tiefe Männerstimme neben sich. »Dann kommen Sie doch gleich mit mir, wir haben den gleichen Weg«, forderte sie der Mann lächelnd auf.

Pia schaute in kastanienbraune Augen in einem männlich-markanten Gesicht. Die dunklen Haare waren seitlich sehr kurz gehalten und über der Stirn bauschte sich eine Tolle, die Pia sofort an Elvis Presley erinnerte. Der Mann trug einen perfekt sitzenden hellgrauen Anzug, unter den Arm hatte er eine schmale Aktentasche aus hellem Leder geklemmt.

»Wollen Sie sich auch umschauen?«, fragte Pia, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sie war von der Gegenwart des gut aussehenden Mannes leicht verunsichert.

»Ich kenne schon alles. Darf ich mich vorstellen? Doktor Claudius von Rabenberg. Rechtsanwalt und gesetzlicher Vertreter der Eigentümerin, Frau Cäcilie Augstein.«

»Ah, dann ist sie also nicht selbst hier?« Pia fühlte sich erleichtert. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

»Nein, Frau Augstein hat mich mit der Abwicklung beauftragt. Sind Sie jetzt enttäuscht?«, fragte Claudius von Rabenberg.

»Nicht wirklich«, wich Pia aus. »Dann können wir?« Mit einem kecken Seitenblick gab sie ihm zu verstehen, dass sie seinen Vorschlag gerne annahm, sich von ihm das letzte Stück Weg bis zum Eingang der Villa begleiten zu lassen. »Pia Kirsch, ich bin Antiquitätenhändlerin in München«, stellte sie sich schnell vor.

Wäre sie alleine gewesen, hätte sie sicherlich vor der eindrucksvollen Eingangstür zum Wohnhaus noch einmal gezögert, aber mit ihm an seiner Seite hatte sie gar keine Gelegenheit dazu. Er hatte sie sogar mit seiner freien Hand leicht am Ellbogen berührt und sie sanft durch die offene Haustüre geschoben. »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß«, sagte er mit einer angedeuteten Verbeugung. »Wir begegnen uns sicherlich öfters, dann können Sie mir Fragen stellen, wenn Sie möchten.«

Pia sah ihm nach, wie er mit geschmeidigen Bewegungen und sicheren Schritten die Eingangshalle durchquerte und in einem Raum verschwand, von dem sie sofort wusste, dass es sich um das frühere Arbeitszimmer von Herrn Augstein handelte. Die Aufteilung der Räumlichkeiten war in ihrem Gedächtnis, als sei sie erst gestern hier ausgezogen. Sie stand wie angewurzelt in der Mitte der Halle und ließ ihre Blicke durch den Raum gleiten. Hier ging es zum Esszimmer, dort zum Wohnzimmer, gleich daneben schloss sich der Raum an, den Tante Cilli immer ganz stolz als ihren Damensalon bezeichnet hatte. Pia erkannte die Tür wieder, die zu den Wirtschaftsräumen führte. Einen Moment lang sah sie sich selbst als Kind, mit Zöpfen und Kniestrümpfen zum Sonntagskleid, wie sie sich heimlich durch genau diese Tür schlich und den direkten Weg in die Küche einschlug. Dort hatte immer Frau Hübner gewerkelt, eine rundliche Frau, die sie niemals anders als mit Schürze, Haube und Kochlöffel in der Hand gesehen hatte. Frau Hübner hatte ihr jeden Sonntag etwas vom Dessert aufgehoben, das eigentlich für die Herrschaften bestimmt war. Manchmal waren es sogar zwei Portionen, dann brachte sie eine davon ihrer Mutter mit. »Lass dich nicht erwischen«, hatte Frau Hübner, die Köchin, ihr jedes Mal mit einem faltigen Lächeln im Gesicht zugeflüstert. Dabei wusste sie genau wie Pia, dass jede Heimlichkeit überflüssig gewesen wäre, denn sie durfte sich frei in der Villa bewegen, sofern sie sich ordentlich benahm. Eine einzige Ausnahme bildeten die Zeiten, in denen die Augsteins Gäste hatten. Dann waren die Räumlichkeiten der Villa tabu. Pia musste dann in der kleinen Wohnung bleiben, deren Eingang sich direkt neben der breiten Steintreppe in der Halle befand. Diese Treppe war mit einem reichlich verzierten Holzgeländer versehen, das Pia jetzt, wo sie als Erwachsene darauf schaute, längst nicht mehr so wuchtig erschien, wie in ihrer Kindheit. Ihr Blick blieb an dieser Tür neben dem Treppenaufgang hängen. Ob die Räume dahinter auch geöffnet waren? Pia versuchte, sich zu erinnern.

Nach dem überstürzten Auszug hatte ihre Mutter nicht sofort eine Bleibe für sich und Pia gefunden. Sie waren erst bei einer entfernten Verwandten untergekommen, bis sie eine kleine Wohnung fanden und endlich wieder ein eigenes Dach über dem Kopf hatten. Es dauerte nicht lange, bis dann ein Möbelwagen vor der Tür stand und ihre Sachen brachte, die sie in der Villa zurückgelassen hatten. Bestimmt waren die Räume ihrer früheren Dienstwohnung jetzt leer. Aber das war nicht der einzige Grund, warum Pia beschloss, es gar nicht erst zu versuchen, ob die Türe abgeschlossen oder offen war. Die Erinnerungen wären zu schmerzhaft gewesen. Hier hatte sie die glücklichsten Jahre ihrer Kindheit verbracht und bevor sich ein wehmütiger Schmerz in ihrer Brust breitmachen konnte, gab sie sich einen Ruck, verstärkte ihren Griff um den Katalog, der ihr vorhin übergeben worden war und begann mit ihrer Besichtigung.

Aber so sehr sie sich auch um Professionalität bemühte, es gelang ihr nicht. Die Augstein Villa war eben keine Villa wie jede andere. Die hübschen, teils wertvollen Antiquitäten waren Pia alle bestens vertraut. Schon als Kind hatte sie mit großen Augen die Dinge betrachtet, die ihr nicht gehörten, die sie auch nicht anfassen durfte, aber anschauen war ihr erlaubt gewesen. Tante Cilli hatte sie oft an der Hand genommen und dann standen sie manchmal sehr lange vor der Vitrine mit den kleinen Porzellanfiguren. Damals hatte Pia noch keine Ahnung vom Wert der einzelnen Stücke gehabt. Jetzt wusste sie, dass es Einzelstücke darunter gab, die mehrere Hundert und vielleicht sogar tausend Euro wert waren. Sie stand auch jetzt wieder lange vor der Glasvitrine und betrachtete den Inhalt. Einen Moment lang glaubte sie den sanften Druck an ihrer Hand zu spüren, als würde Tante Cilli ihr damit sagen wollen, dass sie weitergehen solle, es gebe noch mehr zu entdecken. Sie riss sich los und schaute sich weiter um. Jeder Stuhl, jedes Sofa, jeder Schrank, jedes Tischchen – einfach alles bedeutete für Pia Heimat. Auch wenn diese Heimat für immer verloren war.

Ihr eigentliches Ziel, sich auf die bevorstehende Versteigerung zu konzentrieren, geriet in den Hintergrund. Wie in Trance ging sie durch alle Räumlichkeiten und ließ die Stimmung der Villa auf sich wirken. Es war, als sei sie wieder zum Kind geworden und mit einem Schlag war die Sehnsucht nach der damaligen Geborgenheit wieder da. Ihre Mutter war als Hausdame eine angesehene Persönlichkeit im Haushalt der Augsteins gewesen. Sie hatte den Respekt aller anderen Bediensteten und Pia gegenüber setzte sich dieser Respekt fort. Jeder war ihr in diesem Haus mit Wohlwollen begegnet und es hatte lange gedauert, bis Pia alt genug war, um zu begreifen, dass sie nicht zur Familie gehörte, sondern ›nur‹ die Tochter einer Angestellten war. Aber das änderte nichts daran, dass sie sich in der Augstein Villa zu Hause gefühlt hatte.

Ohne überlegen zu müssen, wusste Pia, zu welchen Räumlichkeiten die breite Steintreppe hinauf führte. Dort oben erwarteten sie die Schlaf- und Gästezimmer, teilweise mit eigenem Bad und mehrere kleinere Räume, von denen früher einige als Abstellräume verwendet worden waren. Andere dienten den engsten Hausangestellten als Zimmer. Sie brauchte lange, bis sie alles besichtigt hatte und obwohl sie wusste, dass Tante Cilli nicht hier war, fühlte sie in jeder Ecke ihre Anwesenheit. Anfänglich kam ihr dieses Empfinden seltsam und befremdlich vor, aber dann war die Vertrautheit aus der Kindheit wieder da. Im Gegensatz zu vorhin tat es ihr jetzt fast leid, dass sie die alte Dame hier nicht antreffen konnte.

Was wohl aus ihr geworden war? Die Tatsache, dass ihr gesamtes Eigentum versteigert werden sollte, wies darauf hin, dass sie wahrscheinlich in einem Pflegeheim wohnte. Eine andere Erklärung hatte Pia nicht. Claudius von Rabenberg fiel ihr wieder ein. Ob sie ihn nach Tante Cilli fragen konnte? Wenn sie ihm sagte, dass sie die Eigentümerin dieser Villa von früher kannte, würde er ihr vielleicht Auskunft geben.

Den Katalog immer noch ungeöffnet zusammengerollt in der Hand, stieg sie die abgenutzten Steinstufen wieder hinab in das Erdgeschoss. Bevor sie die Tür zum früheren Arbeitszimmer öffnete, fiel ihr Blick erneut auf die Eingangstür ihrer alten Wohnung. Ohne nachzudenken drückte sie auf die Klinke. Die Türe war nicht abgeschlossen!

Mit einem leichten Schauer im Rücken trat sie ein. Die Wohnung bestand nur aus zwei Räumen, dazu noch ein kleines Badezimmer und eine Küche. Es roch modrig und Pia konnte die Ursache dafür sofort feststellen. An einigen Wänden hatten sich dunkle Schimmelflecken gebildet. Hier war wohl schon sehr lange nicht mehr gelüftet worden.

In den Räumen gab es keine Möbel. Nichts deutete darauf hin, dass hier irgendwann einmal eine Frau mit ihrem kleinen Kind bis zu dessen Teenageralter gewohnt hatte. Pia wunderte sich. Hatte Tante Cilli danach die neue Hausdame nicht mehr direkt in der Villa wohnen lassen? Oder hatte es am Ende gar keine Nachfolgerin für ihre Mutter gegeben? Es schien so zu sein.

Vom kleinen Flur aus blickte sie in den Raum, der früher das Schlafzimmer ihrer Mutter und gleichzeitig gemeinsames Wohnzimmer war. Sie ging nicht hinein, es gab ja sowieso nichts zu sehen. Aber das zweite Zimmer betrat sie nach kurzem Zögern – und erstarrte. In einer Ecke, dort wo früher ihr Bett gestanden hatte, lag Bettina! Ihre Puppe!

All die Jahre hatte sie nicht mehr an Bettina gedacht, aber jetzt kam der Schmerz mit voller Wucht zurück. Sie hatte diesen Moment auf einmal wieder genau vor Augen. Es war vollkommen unerwartet geschehen. Ihre Mutter hatte sie hektisch aufgefordert, die wichtigsten Sachen in eine Reisetasche zu packen. Sie selbst stopfte scheinbar wahllos einige Dinge in einen Rucksack, dann zerrte sie Pia am Arm hinaus, durch die Halle und hinaus zur Eingangstür. Die schwere Holztür fiel hinter ihnen krachend ins Schloss, da war Pia eingefallen, dass sie Bettina vergessen hatte.

»Das geht jetzt nicht, wir können nicht mehr hinein«, hatte ihre Mutter gesagt. »Und überhaupt, du bist vierzehn! Du spielst doch gar nicht mehr mit Puppen!«

Pia konnte betteln und flehen, so viel sie wollte und selbst weinen half nichts. »Und unterstehe dich, in den nächsten Tagen wieder hierher zu kommen und nach deiner Puppe zu fragen, hörst du?«, hatte ihr die Mutter eindringlich eingeschärft. »Wir haben hier nichts mehr zu suchen.«

Pia fragte mehrmals nach dem Grund. Sie verstand die Welt nicht mehr und suchte verzweifelt nach einer Erklärung für die Flucht aus der Villa. Aber ihre Mutter sagte nichts. »Das wirst du noch früh genug erfahren«, hatte sie nur gemeint.

Als dann Wochen später der Möbelwagen an ihrer neuen Bleibe vorfuhr, hatte Pia die allergrößte Hoffnung, dass Bettina unter ihren Sachen war. Aber da war keine Puppe.

Und jetzt, Jahrzehnte später, hatte sie Bettina gefunden. Verstaubt, verdreckt und mit seltsam verrenkten Gliedern lag sie auf dem Boden und schien vierundzwanzig Jahre lang auf ihre Puppenmutter gewartet zu haben. In ihren starr dreinblickenden Glasaugen glaubte Pia den blanken Vorwurf lesen zu können. ›Warum hast du mich allein gelassen? Du hast mich vergessen!‹ Pia zögerte nicht. Sie hob Bettina auf, strich das blonde Kunsthaar ein wenig aus dem Gesicht und klopfte den Staub aus dem hellblauen Prinzessinnenkleid. Gerührt drückte sie ihre Gefährtin aus der Kindheit an sich und wusste, dass sich ihr Entschluss, dieses Haus zu betreten, auf jeden Fall gelohnt hatte.

Auf einmal fühlte sie sich frei und leicht. Die Begegnung mit ihrer Vergangenheit hatte sie nicht in Verzweiflung oder gar Panik gestürzt, wie sie anfänglich befürchtet hatte. Das Gegenteil war der Fall. Es fühlte sich an, als sei sie nach einer langen Reise endlich wieder nach Hause gekommen. Nur eins gab es jetzt noch, was ihr auf dem Herzen lag. All die Jahre hatte sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, Kontakt zu Tante Cilli aufzunehmen. Solange sie noch nicht erwachsen war, hatte sie oft daran gedacht, wenigstens einmal anzurufen. Aber die Mutter hatte es verboten. Dann wurde sie volljährig, begann zu studieren und hatte andere Dinge im Kopf. Später hatte sie ihren Wunsch, Tante Cilli wiederzusehen, beinahe vergessen. Ihr Verhalten kam ihr jetzt, wo sie darüber nachdachte, ziemlich schäbig vor. Aber vielleicht war es ja noch nicht zu spät?

Entschlossen lenkte sie ihre Schritte durch die Halle in Richtung des Raumes, in dem sie Claudius von Rabenberg vermutete. Aber sie kam gar nicht bis zur Tür, denn er eilte plötzlich aus dem Salon, direkt auf sie zu.

»Halt!«, blaffte er sie an. »Was machen Sie mit der Puppe?«

»Ich«, stotterte sie unsicher. »Ich wollte gerade zu Ihnen und nach der neuen Adresse von Cäcilie Augstein fragen«, antwortete sie.

»Eine dümmere Ausrede fällt Ihnen wohl nicht ein? Kommen Sie mit in mein Büro, wir wollen kein Aufsehen erregen.« Er klang jetzt etwas ruhiger, aber sein Auftreten war noch immer ziemlich dominant.

Pia folgte ihm widerspruchslos in das Arbeitszimmer. Ihr fiel nicht auf, dass er die Tür hinter ihnen nicht schloss.

»Geben Sie sofort die Puppe her!«, wies er sie barsch an. »Dann überlege ich mir noch mal, von Konsequenzen abzusehen«, knurrte er.

»Konsequenzen?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Bettina hielt sie immer noch fest an ihre Brust gedrückt.

»Eigentlich müsste ich die Polizei holen«, erklärte er. »Alles sieht nach einem versuchten Diebstahl aus. Woher haben Sie die Puppe überhaupt?«

»Nein!«, widersprach sie heftig. »Die Puppe gehört doch mir. Sie lag in der Dienstbotenwohnung, dort habe ich sie gefunden.«

»Ach was.« Nun war es an ihm, die Augenbrauen hochzuziehen. Keinem der beiden fiel auf, dass sie dieselbe Angewohnheit hatten. »Wie kommen Sie denn darauf, dass sie Ihnen gehört?«

»Ich habe früher in der kleinen Wohnung dort drüben gewohnt, mit meiner Mutter, bitte glauben Sie mir doch.«

Pia konnte ihm nicht in die Augen sehen, denn ihr Unterbewusstsein sandte dann seltsame Signale, die sie nicht einzuordnen wusste. Sie schaute deshalb an ihm vorbei, während sie ihm in unzusammenhängenden Sätzen zu erklären versuchte, was sie ja selbst kaum glauben konnte. Wie sollte sie es denn formulieren, dass sie vor 24 Jahren dieses Haus verlassen und ihre Puppe dabei zurückgelassen hatte. Sie versuchte es trotzdem, mit dem Erfolg, dass er jetzt auch noch zynisch wurde.

»Bettina heißt die Prinzessin also. Soso. Trotzdem muss die Prinzessin hierbleiben. Sie wurde wohl bei der Kategorisierung vergessen, ich kümmere ich sofort darum und nehme… Bettina … nachträglich noch auf die Liste für die Versteigerung. Sagen wir …«, er schien zu überlegen, »… fünf Euro Aufrufpreis? Ich sehe ja auf den ersten Blick, dass es sich nicht um eine wertvolle Marke handelt.«

»Ich soll sie ersteigern?«, fragte Pia aufgebracht. »Aber sie gehört mir doch, warum glauben Sie mir nicht?«

»Das würde ich ja gerne«, gab er von oben herab zurück. »Aber Sie müssen schon verstehen, dass ich im Auftrag der Eigentümerin handle und deshalb nicht leichtfertig mit den Gegenständen umgehen darf.«

»Ich wollte Sie sowieso fragen, wie ich Tante Cilli erreichen kann, dann wird sie bestätigen, dass die Puppe mir gehört«, rief Pia.

»Tante Cilli«, wiederholte er. »Das wird ja immer schöner. Frau Augstein hat keine Verwandten, das hat sie mir versichert. Also stehlen Sie nicht nur, Sie lügen auch noch dreist.«

Hätte Pia ihn endlich direkt angesehen, wäre ihr der belustigte Ausdruck in seinen Augen aufgefallen. »Das hat mir noch niemand unterstellt«, wehrte sie sich entschieden. »Herr von …«

»Rabenberg«, half er ihr schmunzelnd weiter.

»Richtig. Herr Doktor von Rabenberg.« Sie sprach mit Absicht seinen vollen Namen aus, langsam und bedacht. Und endlich wagte sie, ihn direkt anzuschauen. Sie musste schlucken, als sich ihre Blicke trafen. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Diese Puppe ist mein Eigentum und ich werde das auch beweisen können. Wenn Sie sie in die Versteigerung nehmen und verkaufen, sind Sie der Dieb und nicht ich. Damit das mal klar ist.« Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. In welche Situation war sie nur geraten? Dabei wollte sie doch nur wissen, wie sie Tante Cilli erreichen konnte und nun wurde sie des Diebstahls verdächtigt.

»Trotzdem muss ich darauf bestehen. Geben Sie mir die Puppe«, forderte er sie auf.

Weder er noch sie waren darauf gefasst, dass sich unvermittelt eine weitere Person in ihr Gespräch einmischte.

»Sagen Sie, kann ich die Puppe vielleicht als Sofortkauf erstehen?«, fragte Felicitas Norden. Sie war wohl schon eine Weile in ihrer Nähe gestanden, ohne dass die beiden Streithähne sie bemerkt hatten. »Ich habe im Katalog irgendwo gelesen, dass diese Option bei manchen Artikeln möglich ist.«

»Das kommt ganz darauf an, wie viel Sie bieten«, antwortete Claudius von Rabenberg. »Die Puppe wurde noch nicht in den Katalog aufgenommen, daher kann ich Ihnen keine näheren Infos dazu geben, aber eine wertvolle Marke ist sie sicherlich nicht. Allerdings müsste ich im Sofortkauf mindestens zwanzig Euro verlangen.«

»Aber …« Pia drückte Bettina noch fester an sich. »Sie können mein Eigentum doch nicht einfach so verkaufen«, fauchte sie.

»Vorhin sprachen Sie von fünf Euro?«, fuhr Fee ungerührt fort.

Claudius wurde klar, dass die sympathische Frau mit den blonden Kringellocken wohl schon länger in ihrer Nähe gestanden hatte. »Na gut, dann handeln wir … sagen wir fünfzehn?«

»Dan?«, rief die Blondine.

»Ja, mein Liebling?«

Pia beobachtete fassungslos, wie der Ehemann dieser Frau, die ihr Bettina wegnehmen wollte, seine Geldbörse zückte, drei Fünfeuroscheine herauszählte und sie dem Anwalt übergab. Sie hasste beide Männer dafür, auch wenn derartige Gefühle ihr bisher fremd gewesen waren.

»Wie können Sie nur …«, sagte sie tonlos, ohne genau zu wissen, an wen ihre resignierten Worte gerichtet waren.

»Ach bitte, machen Sie sich keine Gedanken«, mischte sich die Käuferin ein. »Mein Name ist Felicitas Norden und ich möchte Ihnen gerne die Puppe schenken. Wie ich mitbekommen habe, sind die Eigentumsverhältnisse ungeklärt. Das dürfte ja jetzt keine Frage mehr sein. Ich habe sie rechtmäßig gekauft und kann sie Ihnen schenken. Damit gehört sie Ihnen jetzt tatsächlich.«

Pia wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte gar nicht glauben, dass es in ihrer oft nüchternen Realität tatsächlich Menschen gab, die selbstlos handelten. »Danke«, stammelte sie und war froh, dass sich das Ehepaar bereits wieder verabschiedete. Pia fiel noch das liebevolle Lächeln im Gesicht des Mannes auf, den Frau Norden vorhin gerufen hatte. Selbst ein Blinder hätte gesehen, wie sehr dieser Mann seine Ehefrau liebte. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie verschwendete jetzt keine Zeit dafür, herauszufinden, woher sie ihn kannte.

»So habe ich das aber nicht gemeint, als ich sagte, du sollst dir was Hübsches aussuchen«, flüsterte er ihr beim Gehen noch zu.

»Ich weiß, aber der Kummer der armen Frau war ja nicht zum Mitansehen«, antwortete sie und hakte sich bei ihm unter.

»Dann hätten wir das ja jetzt geklärt«, meinte Claudius von Rabenberg. »Es tut mir leid, dass wir diese Meinungsverschiedenheit hatten, aber Sie müssen mich schon auch ein bisschen verstehen. Schließlich handle ich im Auftrag und bin meiner Auftraggeberin verpflichtet.«

»Dass Sie mich für eine Diebin gehalten haben, war schon ein starkes Stück«, warf sie ihm entgegen. Sie war wieder mutiger und selbstbewusster geworden. »Glauben Sie wirklich, ich würde die Puppe so offen mit mir herumtragen, wenn ich sie gestohlen hätte?«

»Ach wissen Sie, ich habe schon die abenteuerlichsten Sachen erlebt«, erwiderte Claudius. »Ich würde mein Verhalten gerne wieder gutmachen«, kündigte er an. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen? Sagen Sie mir, wann Sie Zeit haben, ich würde mich wirklich sehr freuen.«

Pia war über diese Wendung überrascht. Sie konnte weder aus seinem Blick noch aus seiner Stimmlage herauslesen, ob er es ehrlich meinte. Aber eigentlich war ihr das auch ganz egal, denn sie wäre am liebsten auf der Stelle von hier verschwunden. Sie war aufgewühlt, wütend und gleichzeitig glücklich, ihre Puppe nun doch behalten zu dürfen. Sie sparte sich deshalb eine Antwort auf seine Frage und eilte so schnell sie konnte davon.

*

Claudius von Rabenberg hasste manchmal seinen Beruf, auch wenn er sich niemals einen anderen hätte vorstellen können. Aber dennoch fiel es ihm in manchen Situationen schwer, seine Professionalität zu wahren. Einige von seinen Studienkollegen waren Richter, Staatsanwälte oder Strafverteidiger geworden. Er aber hatte nach seinem glänzenden Staatsexamen die Anwaltskanzlei seines Vaters übernommen. Er hatte geglaubt, keine Wahl zu haben und ehrlichgesagt hatte er auch nie in Erwägung gezogen, eine andere Fachrichtung einzuschlagen. Sein Vater hatte ihm eine gut gehende Kanzlei für Familien- und Erbrecht übergeben und es war für Claudius niemals etwas anderes im Raum gestanden. Wäre ihm damals schon klar gewesen, welche menschlichen Schicksale künftig sein Tagesgeschäft bestimmten, hätte er es sich vielleicht doch anders überlegt. Besonders schwer tat er sich, wenn sich Eltern über das Sorgerecht ihrer gemeinsamen Kinder nicht einig wurden, oder wenn – wie im Falle seiner Klientin Cäcilie Augstein – jemand keinerlei Angehörige mehr hatte und sich voll und ganz auf ihn verlassen musste, wenn wichtige Dinge zu regeln waren. Im Grunde seines Herzens war Claudius weich und empfindsam. Aber er musste beruflich immer nüchtern und sachlich handeln und im Lauf seiner bisherigen Berufsjahre fiel es ihm zunehmend schwerer, diesen Spagat bewältigen zu können.

Er hielt sich selbst für einen guten Anwalt und das wurde ihm auch schon oft genug von seinen dankbaren Klienten bestätigt. Aber welche Anstrengung es ihm kostete, seine Gefühle und Empfindungen in Schach zu halten, sah ihm nach außen niemand an. Wie gerne hätte er vorhin diese alte, in seinen Augen kitschige Puppe, der Frau überlassen, die sie so fest umklammerte, als sei sie selbst noch ein kleines Mädchen und die Puppe das Einzige, was ihr wichtig war. Aber da waren sein Pflichtgefühl, seine Seriosität und seine Verpflichtung seiner Klientin gegenüber, die ihn davon abgehalten hatten. Als sich die freundliche Dame einmischte und die Puppe kurzerhand kaufte, war er richtig froh gewesen über diese mögliche Lösung.

Aber es war auch noch etwas anderes, was ihn innerlich berührt hatte. Pia Kirsch … so hatte sie sich ihm vorgestellt. Antiquitätenhändlerin in München, hatte sie gesagt. Hätte er sie woanders kennengelernt, in einem Café, bei einer Veranstaltung oder einfach nur in der Straßenbahn, dann hätte er sie angesprochen. Das wusste er ganz genau. Ihr glänzendes Haar, ihre grünen Augen und der blasse Teint … stundenlang hätte er ihr schönes Gesicht anschauen können. Es strahlte so viel kindliche Unschuld aus, wie er es an einer erwachsenen Frau noch nie gesehen hatte. Ihre schlanke Figur, die geschmeidigen Bewegungen, ihre stolze Körperhaltung – alles an ihr fand er anziehend. Letztlich gefiel es ihm auch, dass sie für das, was sie wollte, wie selbstverständlich einstand. Er wusste nicht, warum ihr diese alte Puppe so wichtig war, aber das war auch egal. Sie hatte dafür gekämpft, und auch wenn sie ohne die Hilfe der Frau, die sich als Felicitas Norden vorgestellt hatte, ihr Ziel nicht erreicht hätte, so hatte er sehr wohl die Leidenschaft in ihrem Blick erkannt, mit der sie für ihre Sache eingetreten war.

Seine spontane Einladung zum Essen war untypisch für ihn. Im beruflichen Umfeld flirtete er grundsätzlich nicht. Aber er konnte nicht anders. Pia faszinierte ihn und er musste sie unbedingt wiedersehen. Sie hatte ihm nicht geantwortet. Vielleicht kam sie ja auch zum zweiten Besichtigungstermin oder zur Versteigerung. Er hoffte es. Ansonsten würde er versuchen, herauszufinden, wo sie ihren Laden hatte.

Pias Herz klopfte immer noch laut und viel zu hastig, als sie wieder in ihren Laden zurückkehrte. Dabei war sie gar nicht gerannt oder zu schnell gelaufen. Ihre Aufregung hatte eine andere Ursache. Außer Atem ließ sie sich in den Ohrensessel fallen, der mit seinem neuen bordeauxroten Samtüberzug wieder wie neu aussah und nun auf einen Käufer wartete. Bettina wurde von ihr noch immer ganz fest umklammert. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie ihre wichtigste Freundin aus Kindertagen wiederhatte.

»Nein, du wirst nicht verkauft«, flüsterte sie. »Ich nehme dich mit nach Hause und dann bleibst du für immer bei mir.«

Ihre Gedanken wanderten zu Claudius und sofort wusste sie den Grund für ihren inneren Aufruhr. Er war ein sehr gut aussehender Mann, aber das war es nicht alleine, was eine deutliche Spur in ihrem Herzen hinterlassen hatte. Bei aller Entrüstung über sein Verhalten spürte sie, dass er ein ganz besonderer Mensch sein musste. Sie konnte es sich nicht erklären, warum sie so empfand, denn sie hatten ja nur ein paar Sätze miteinander gewechselt und diese waren reichlich unerfreulich gewesen. Und dennoch. Sie hätte ihn gerne unter anderen Umständen kennengelernt, obwohl sie schon von vorneherein gewusst hätte, dass es zu nichts geführt hätte. Wie immer, wenn sie einen interessanten Mann kennenlernte.

Es gab in den letzten Jahren immer wieder einmal reizvolle Männerbekanntschaften, aber nie war es über ein flüchtiges Kennenlernen hinausgegangen. Hin und wieder eine Nacht voller Leidenschaft oder auch ein paar romantische Abende mit guten Gesprächen. Dann war jedes Mal Schluss. Es lag nicht an den Männern, es lag an ihr und das war ihr durchaus bewusst. Seit sie dem Teenageralter entwachsen war, scheute sie sich davor, sich zu verlieben. Stets hatte sie im Hinterkopf, dass eine Liebe auch wieder zu Ende sein könnte. Ihr war klar, dass ihre Verlustängste manchmal überhandnahmen und sie daran hinderten, in einer Liebesbeziehung ihr Glück zu finden. Immer war sie sich selbst im Weg gestanden – nie hatte sie darüber nachgedacht, woher ihre Ängste kamen. Dabei wäre es so einfach gewesen, dem Ganzen auf die Spur zu kommen. Aber immer, wenn sie eine Ahnung davon beschlich, dass ihre Bindungsunfähigkeit mit dem Verlust ihres Zuhauses und des Geborgenseins in der Villa Augstein zusammenhängen könnte, hatte sie schnell aufgehört, sich damit zu beschäftigen. Es war zu schmerzhaft. So schmerzhaft, dass es sogar einfacher und leichter war, eine Beziehung noch in der Entstehungsphase wieder zu beenden. Den Schmerz so gering wie möglich zu halten, das war ihr Ziel.

Claudius von Rabenberg würde ganz bestimmt keine Ausnahme bilden. Ein Mann von seinem Format hatte sicherlich die freie Auswahl unter den Bewerberinnen für eine feste Beziehung mit ihm. »Ein schöner Mann gehört dir niemals alleine«, hatte ihre Mutter immer gesagt. »Als Frau kommst du auch ganz gut alleine durchs Leben«, war eine andere Weisheit gewesen, die sie immer wieder zum Besten gegeben hatte.

»Ach Mama«, seufzte Pia. Der Gedanke an ihre Mutter gab ihr einen wohlbekannten Stich ins Herz, wie immer, wenn die Erinnerung sie überkam. Sie hatten ein gutes Verhältnis gehabt und trotzdem konnte Pia nicht umhin, ihre Mutter für alles, was in ihrem Leben schief gelaufen war, verantwortlich zu machen.

Bevor sie sich, wie so oft, in ihrer deprimierenden Gedankenwelt verlieren konnte, ertönte die Glocke an der Ladentür. Pia brachte Bettina schnell ins kleine Hinterzimmer, das ihr als Büro diente und kümmerte sich um ihren neuen Kunden. Sie war froh über die Ablenkung.

Nach Feierabend ging sie auf direktem Weg nach Hause, wusch vorsichtig das hellblaue Prinzessinnenkleid im Handwaschbecken, reinigte mit einem Waschlappen Bettinas Gesicht sowie ihre Hände und kämmte dann den Staub vieler Jahre aus dem blonden Kunsthaar. Ihre Gedanken gingen dabei wieder auf Wanderschaft.

Sie erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie ihre Mutter damals ständig nach dem Grund gefragt hatte, warum sie die Villa Augstein verlassen mussten. Erst wollte Mama nicht damit herausrücken, aber ein Jahr nach ihrer gemeinsamen Flucht aus der Villa tat sie es dann doch. Eines Abends hatte Pia einfach nicht locker gelassen, bis sie die Wahrheit erfuhr.

Pias Mutter war des Diebstahls verdächtigt worden! Cäcilie Augstein hatte einen wertvollen Ring vermisst und nach allem, was bekannt war, hatte Pias Mutter diesen Ring als Letzte in der Hand gehabt. Sie hatte den Schmuck der Dame des Hauses aufgeräumt und dabei den Ring etwas länger als nötig betrachtet. »Er war so schön«, hatte sie damals Pia erzählt. »Ein funkelnder Rubin umgeben von zahllosen kleinen Brillanten, das Ganze in Gold gefasst. Frau Augstein erzählte mir, dass es sich um ein Familienerbstück handelte, das sie nur sehr selten trug. Deshalb sah ich ihn an diesem Tag zum ersten Mal.«

»Aber was geschah dann?«, hatte Pia gefragt.

»Der Ring war danach verschwunden und ist auch nie mehr aufgetaucht. Ich weiß genau, dass ich ihn in die Schmuckschatulle zu den anderen Ringen gelegt habe und diese Schatulle habe ich genau dorthin gestellt, wo sie hingehörte. Als Frau Augstein am nächsten Tag nachschaute, war er weg.«

»Aber den Ring hätte doch jeder nehmen können! Wieso kam sie denn auf die Idee, ausgerechnet du hättest ihn gestohlen?«

Pia war fünfzehn gewesen, als ihre Mutter ihr diese Geschichte erzählte und sie wusste Eines ganz genau: Niemals hätte ihre Mutter diesen Ring gestohlen. Das war ganz und gar unmöglich.

»Ach, es kam zu einem fürchterlichen Streit, bei dem Frau Augstein auch frühere Geschehnisse ausgegraben hat und mir zur Last legen wollte.«

»Wovon sprichst du, Mama?«

»Es ging um Herrn Augstein, ihren Ehemann. Er hat mal versucht, mich zu einem romantischen Abend zu überreden. Das hat er nicht nur mit mir gemacht, auch andere Hausangestellte haben sich solche Sachen hinter vorgehaltener Hand erzählt.«

Pia hatte sehr wohl verstanden, was ihre Mutter mit der Umschreibung ›romantischer Abend‹ gemeint haben könnte. »Aber du bist doch bestimmt nicht darauf eingegangen?«

Pias Mutter hatte betreten geschwiegen.

»Mutter?!«

»Naja, ich war jung, einsam und Herr Augstein konnte sehr verführerisch sein. Mehr sage ich nicht dazu.«

Pia war entsetzt. »Und Tante Cilli hat davon erfahren?«

»Ja, irgendwie, ich weiß nicht, woher sie es wusste. Jedenfalls hat sie gemeint, das Fass sei jetzt voll und ich müsse gehen. Sofort. Du erinnerst dich?«

»Wie könnte ich das vergessen! Tante Cilli war sehr wütend und ich wusste nicht, was passiert war.«

»Jetzt weißt du es. Den Ring habe ich nicht gestohlen, aber ich glaube, der Ring war auch nicht der Grund. Sie wollte mich loswerden und dafür war ihr jeder Vorwand gut genug.«

Dieses Gespräch erschien Pia, als habe es gestern stattgefunden. Während sie gedankenverloren Bettinas Haar kämmte, kullerten ihr ein paar Tränen über die Wangen. Lange hatte sie ihrer Mutter damals nicht verzeihen können. Wegen ihres Fehltritts hatte Pia ihr Zuhause verloren und den Bezug zu Tante Cilli, die ihr damals als einziger Mensch ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit vermittelt hatte.

Erst kurz bevor Pias Mutter als Folge einer schweren Krankheit starb, konnte sie ihr sagen, dass sie ihr nichts mehr nachtrug. Wenigstens das! Sie hatten ihren Frieden miteinander machen können, aber das änderte nichts daran, dass Pia das Urvertrauen in die Liebe verloren hatte und das schien sich bis heute nicht geändert zu haben.

Die Geschichte wiederholte sich immer wieder und auch diesmal sagte ihr eine innere Stimme, sie solle am besten nicht mehr an den attraktiven Claudius von Rabenberg denken. Er hielt sie ja sowieso für eine Diebin.

Am nächsten Tag hatte sie ihren Vorsatz zwar nicht vergessen, aber er geriet in den Hintergrund. Beim Aufwachen nach einer unruhigen Nacht fiel ihr Blick auf Bettina, die auf dem Nachtkästchen saß, eingehüllt in ein flauschiges Frotteehandtuch, weil ihr Kleid gestern Abend noch nicht trocken war. Sofort war sie in Gedanken wieder in der Villa Augstein. Heute war der zweite Vorbesichtigungstag für die geplante Auktion. Sollte sie noch einmal hingehen? Gestern hatte sie sich zwar umgesehen, aber sie hatte sich keine Notizen gemacht. Außerdem würde sie höchstwahrscheinlich auf Claudius treffen. Dann könnte sie ihm wenigstens persönlich sagen, dass sie nicht mit ihm ausgehen werde. Diese Antwort war sie ihm gestern schuldig geblieben.

Gut gelaunt schwang sie sich aus dem Bett, erledigte ihre Morgentoilette und trällerte dabei lauthals die Songs aus dem Radio mit. Ihre Kaffeemaschine stand immer noch nutzlos herum und Pia nahm sich vor, sich sehr bald um eine neue zu kümmern. Ohne gefrühstückt zu haben, fuhr sie direkt zur Villa, ihren Laden konnte sie auch gegen Mittag noch öffnen. Die meisten ihrer Kunden kamen normalerweise sowieso erst am Nachmittag.

Heute gab es kein Zögern und kein Zaudern. Sie betrat die Villa so selbstverständlich, als ob sie nach all den vielen Jahren noch immer ihr Zuhause wäre. In ihrer Magengrube machte sich dennoch ein seltsames Gefühl breit. Sie konnte es nicht so recht einordnen, aber es beunruhigte sie auch nicht. Fast kam es ihr so vor, als hieße sie die Villa willkommen, und obwohl diese Vorstellung völlig unrealistisch war, fühlte sie sich doch recht angenehm an.

Pia genoss ihren Rundgang durch die Räumlichkeiten. Es fiel ihr leicht, sich auf die Exponate zu konzentrieren, für die sie sich nach einer Durchsicht des Katalogs besonders interessierte. Nach Claudius hielt sie nicht Ausschau. Wenn es das Schicksal so vorsah, würden sie sich ohnehin begegnen, oder eben auch nicht.

Es war schon beinahe Mittag, als sich das unbestimmte Gefühl in ihrem Inneren verstärkte. Es war, als sei sie plötzlich in einer anderen Welt gelandet. Oder war es gar keine andere Welt, sondern nur eine andere Zeit? Sie hatte schon manche Filme gesehen und Bücher gelesen, in denen Zeitreisen eine Rolle spielten. Pia hatte sich immer gut unterhalten gefühlt, es war ihr aber auch stets klar gewesen, dass es sich dabei um reine Fantasiegeschichten handelte. Und nun fühlte sie sich mittendrin in einer solchen Geschichte. Oder war sie nur müde, hatte vielleicht zu wenig getrunken und brauchte eine Pause? Ihr Magen hatte vorhin laut und vernehmlich geknurrt, vielleicht hätte sie doch nicht ohne Frühstück ihre Wohnung verlassen sollen. Mit etwas wackligen Beinen machte sie ein paar Schritte auf einen Stuhl zu, der ihr bestens bekannt war, wie fast alles hier in der Villa. Auf diesem Stuhl hatte sie als Kind oft gesessen, wenn ihre Mutter zu tun hatte und sie im Damensalon Tante Cilli Gesellschaft leisten durfte. Jetzt befand sich der mit grünem Brokat bezogene Stuhl allerdings in der Halle und trug auf der Holzlehne einen Aufkleber mit der Nummer A355. Pia setzte sich und suchte im Katalog nach dieser Nummer. Vielleicht würde sie ihn ersteigern können.

Ein leichter Luftzug ließ sie irritiert aufschauen. So wenig sie an Zeitreisen glaubte, so wenig glaubte sie an Geister und dennoch hatte sie eine Sekunde lang den Eindruck, eine Erscheinung gesehen zu haben. Aber dann verstand sie plötzlich die Zusammenhänge. Vor ihr, in einiger Entfernung stand eine zerbrechlich wirkende, alte Frau in einem weißen, wadenlangen Gewand. Tante Cilli!

*

Claudius hatte Pia schon längst entdeckt. Er war schon eine Stunde vor der offiziellen Öffnung in die Villa gekommen, um sie auf keinen Fall zu verpassen. Frau Augstein hatte zwar ein wenig gemurrt, so früh schon aufstehen zu müssen, denn sie wollte ihn unbedingt in das Haus begleiten, das ihr bald nicht mehr gehören sollte. Er hatte ihr versprochen, sie vom Pflegeheim abzuholen und sie spätestens gegen Mittag wieder zurückzubringen. Nach kurzer Überlegung erzählte er ihr nichts von seiner Begegnung mit Pia, die behauptet hatte, sie habe als Kind in der Villa gewohnt. Er wollte die alte Dame nicht durcheinanderbringen. ›Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ziehen zu lassen‹. Das hatte sie selbst gesagt, nachdem er sie gefragt hatte, wie es für sie sei, dass all ihr Hab und Gut an fremde Menschen verkauft und dann auch noch das Haus samt Grundstück zu Geld gemacht werden sollte. Falls Pia aber noch einmal in die Villa käme und die beiden Frauen aufeinander träfen, dann würden die zwei schon wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Cäcilie Augstein war zwar körperlich gebrechlich, aber im Geiste war sie noch immer hellwach. Er traute ihr zu, mit Überraschungen umgehen zu können.

Pia hatte er sofort bei ihrer Ankunft bemerkt. Er hatte sie durchs Fenster gesehen, als sie den geschwungenen Weg zwischen Gartentür und Villa entlanglief und den Blick über den leicht verwahrlosten Garten schweifen ließ. Beim Näherkommen konnte er ihr versonnenes Lächeln sehen. Wie bezaubernd sie doch war!

Er gab sich nicht sofort zu erkennen. Normalerweise machte er das nicht, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie heimlich zu beobachten und er schob den Moment der Begrüßung immer länger hinaus. Ein bisschen war er enttäuscht, dass sie nicht sofort zu ihm ins Büro gekommen war, aber solange er keine Antwort auf seine Einladung bekommen hatte, konnte er noch immer auf eine Zusage hoffen. Als es schon fast Mittag war, entschloss er sich, sich zu erkennen zu geben. Er wollte nicht riskieren, dass sie die Villa verließ, ohne mit ihm gesprochen zu haben. Pia hatte sich auf den Stuhl gesetzt, den er aus dem Damensalon in die Halle hatte stellen lassen, damit er dort besser zur Geltung kommen sollte. Er fand, das sei der perfekte Moment für eine Begrüßung. Aber dann musste er sein Vorhaben doch wieder verschieben, denn er machte eine seltsame Beobachtung. Er musste zwei Mal hinschauen, bis er sie erkannte. Cäcilie Augstein hatte sich an die Seitenwand des riesigen Barockschranks in der Halle gelehnt, den Blick starr auf Pia gerichtet. Versteckte sie sich etwa? Wollte sie nicht gesehen und erkannt werden? Ihre rechte Hand hatte sie auf den Brustkorb gelegt, als habe sie gerade etwas Erstaunliches entdeckt. Oder hatte sie sich erschrocken? Claudius überlegte. Dann beschloss er, nichts zu unternehmen, sondern die Situation weiter zu beobachten.

Pia schien in den Katalog vertieft zu sein. Dann hielt sie inne, hob den Kopf und entdeckte Cäcilie Augstein!

Sofort trat die Ältere aus ihrem Versteck, das keines war. Die zierliche Frau in dem weiten Kleid schien zu schweben, als sie mit ausgestreckten Armen auf Pia zuging. Mit ungläubig aufgerissenen Augen hatte diese begriffen, wer vor ihr stand. Sie achtete nicht auf den Katalog, der ihr beim Aufstehen auf den Steinboden fiel.

»Tante Cilli!«

»Pia, mein liebes Mädchen!«

Dann fielen sich die beiden Frauen in die Arme und Claudius wusste, dass er sich zurückziehen sollte. Bei diesem intimen Moment sollten die beiden Damen unbeobachtet sein.

»Ich habe so sehr gehofft, dich hier zu sehen«, sagte Tante Cilli nach einer langen Zeit, in der sich die beiden Frauen wortlos in den Armen gehalten hatten.

»Und ich habe es eher befürchtet«, gab Pia zu. »Ich hatte ein wenig Angst davor, weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest.«

»Trotzdem bist du hier«, stellte Tante Cilli lächelnd fest.

»Ja, ich habe mich getraut und nun bin ich unendlich froh, dich zu treffen. Wo können wir uns ungestört unterhalten, Tante?«

»Am besten besuchst du mich im Pflegeheim. Hier ist zu viel Trubel. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Menschen kommen und sich für all den alten Plunder interessieren. Schau dich um, sieh nur.«

Pia fragte sich, warum ihr erst jetzt die vielen Besucherinnen und Besucher auffielen, die mit Katalog und Stift ausgestattet wie sie durch die Räume streiften. Es waren heute mehr Menschen hier als gestern, aber Pia hatte sie tatsächlich nicht bemerkt.

Sie hätte Tante Cilli gerne so viele Fragen gestellt, aber ihr fehlten die Worte.

»Wir haben viel zu besprechen, liebste Pia. Bitte besuche mich bald in meinem neuen Zuhause. Wirst du kommen?«

»Ja, ich verspreche es«, sagte Pia.

»Ich bin müde und außerdem ist es schon gleich an der Zeit, dass ich zurück muss. Hast du Claudius von Rabenberg schon kennengelernt?«

»Ja, habe ich. Aber das war eher in schwieriges Aufeinandertreffen.« Pia überlegte kurz, ob sie Bettina und den Diebstahlverdacht erwähnen sollte, entschied sich dann aber anders. Das hatte Zeit, sie konnte das immer noch erzählen, wenn sie in den nächsten Tagen Tante Cilli im Pflegeheim besuchen würde.

»Er fährt mich gleich zurück. Ach da ist er ja schon«, rief Cilli erfreut. Claudius hatte ein gutes Gespür dafür, wann der richtige Zeitpunkt war, sich zu den beiden Frauen zu gesellen.

»Werden Sie noch hier sein, wenn ich zurückkomme?«, fragte er Pia mit einem Blick, denn Cilli sofort zu deuten wusste.

Am liebsten wäre Pia ausgewichen – wie immer in solchen Situationen. Aber dieses Mal versprach sie, in der Villa zu warten und sich in der Zwischenzeit weiterhin mit der eingehenden Sichtung der Gegenstände zu beschäftigen.

»Warst du schon in eurer früheren Wohnung?«, fragte Tante Cilli beim Gehen.

Pia nickte und schickte einen triumphierenden Blick zu Claudius, als ob sie sagen wollte: ›hast du gehört? Ich habe die Wahrheit gesagt‹.

Als die beiden weg waren, fiel Pia ein, dass sie gar nicht gefragt hatte, in welchem Altenheim Tante Cilli nun lebte. Sie musste schmunzeln bei dem Gedanken, denn so hatte sie nun einen weiteren triftigen Grund, oder besser gesagt, einen Vorwand, auf Claudius zu warten und ihn danach zu fragen.

Claudius … was für ein Name! Pia fand, es hätte keinen besseren Namen für ihn geben können. Er passte zu hundert Prozent zu seinem klassischen Profil und dem eleganten, sehr seriösen Auftreten.

Eine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr in der nächsten Stunde ständig diesen Namen vor … oder kam diese Stimme am Ende direkt aus ihrem Herzen?

Kurze Zeit später stand Claudius wieder vor ihr. Er hatte sein Versprechen gehalten und sich beeilt.

»Frau Augstein hat die ganze Fahrt nur von Ihnen gesprochen«, erzählte er. »Mir scheint, es hat ihr sehr gut getan, Sie zu treffen.«