Chiemseeliebe - Franziska Blum - E-Book

Chiemseeliebe E-Book

Franziska Blum

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Beschreibung

Willkommen am See der großen Gefühle

Als Bergführerin lebt Kati ihren Traumberuf. Gemeinsam mit ihrem Freund Paolo erklimmt sie abenteuerliche Gipfel, zeigt ihren Gästen wunderschöne Landschaften und schafft ihnen unvergessliche Erlebnisse. Als Kati bei einer Tour abstürzt, bricht ihre Welt zusammen. Zwar hat sie ihre Heimat häufig vermisst, doch nun muss sie verletzt in den Chiemgau zurückzukehren. Wird Kati ihren Beruf jemals wieder ausführen können? Und was bleibt ohne die Berge als gemeinsame Leidenschaft von ihrer Beziehung mit Paolo übrig? Zum Glück findet Kati Rückhalt bei ihrer Familie und ihrem besten Freund Fabian, der ihr das Leben am glitzernden Chiemsee in ganz neuem Licht präsentiert. Als dann noch der charmante Stand-Up-Paddler Raffael auftaucht, erkennt Kati, dass auch ihre Heimat prickelnde Momente bereithält. Doch ist ein Leben am See genug für die Abenteurerin?

Noch mehr Sommer- und Inselfeeling erleben Sie in Franziska Blums Romanen »Chiemseesommer« und »Chiemseeträume«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 330

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Franziska Blum, geboren 1978, lebt am schönen Chiemsee im Süden Bayerns. Dort betreut sie zwei Kinder, zwei Katzen und ein gering motorisiertes Auto namens Wanderdüne, das zwar alt ist, aber dafür eine Sonne auf der Motorhaube trägt. Nach einigen sehr erfolgreichen Küstenromanen, die sie unter dem Pseudonym Lotte Römer veröffentlichte, wollte sie sich als Autorin nun endlich einmal ihrer Heimatregion zuwenden – denn ihre Liebe gilt seit Langem schon der herrlichen Landschaft rund um den Chiemsee, in dem sich die Berge spiegeln. Chiemseeliebe bildet den Abschluss der beliebten Chiemsee-Reihe.

Franziska Blum mit der Chiemsee-Reihe in der Presse:

»Zwei Romane, die sich schon beim Lesen wie Urlaub anfühlen!« HONEY Magazin über »Chiemseesommer« und »Chiemseeträume«

»Voller süßer Momente.« Frau von Heute über »Chiemseesommer«

»Romantisch.« TV für Mich über »Chiemseesommer«

»Die Geschichte zwischen Liebe, Familie und Selbstverwirklichung, vor allem als Frau, nimmt einen von der ersten Seite an gefangen.« StadtRadio Göttingen, »Book’s n’ Rock’s«, über »Chiemseeträume«

Außerdem von Franziska Blum lieferbar:

Chiemseesommer

Chiemseeträume

www.penguin-verlag.de

Franziska Blum

Chiemseeliebe

Roman

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 der Originalausgabe by Franziska Blum

Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Covergestaltung: bürosüd

Coverabbildungen: bürosüd

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31042-4V001

www.penguin-verlag.de

1. Kapitel

Der Wecker in ihrem Handy klingelte Kati aus tiefem Schlaf. Schwerfällig beugte sie sich zu ihrem Smartphone hinüber und drückte darauf herum, ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken. Sie hatte erst einen Moment der Orientierung gebraucht, aber jetzt wusste sie, wo sie war: in einem der Bettenlager in der Kürsingerhütte. Gleich würde es losgehen in Richtung Großvenediger.

Um sie herum herrschte schon rege Betriebsamkeit. Getrappel von sieben Menschen auf dem Holzfußboden, leises Flüstern, Leute, die in ihren Sachen wühlten. Das Bett über Kati quietschte. Dort schlief eine Frau aus einer anderen Gruppe. Wie immer auf Hütten waren die Bergsteiger in den Bettenlagern bunt zusammengewürfelt. Das Quietschgeräusch hatte sie immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Entsprechend unruhig war die Nacht gewesen. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht, versuchte, die Müdigkeit zu vertreiben. Sicher war ihre Gruppe schon wach, es war wirklich Zeit, aufzustehen. Als Bergführerin musste sie parat stehen, konnte es sich nicht erlauben, einfach liegen zu bleiben, auch dann nicht, wenn sie sich total matschig fühlte, weil sie schlecht geschlafen hatte.

Berghütten waren nun mal keine Luxushotels, man schlief in Bettenlagern und wusste nie, wie viele Menschen das Zimmer mit einem teilten. Wenn sie ihre Ohrstöpsel im Tal vergaß, war sie selbst schuld.

»Guten Morgen, Schönheit.« Plötzlich stand lächelnd Paolo neben ihrem Bett, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Bist du bereit, den Großvenediger zu erobern?« Er strahlte sie an und war offensichtlich kein bisschen müde. Während Kati morgens immer eine halbe Stunde brauchte, bis sie ansprechbar war, schien Paolo wie eine Sprungfeder aus dem Bett zu  hüpfen. Besonders, wenn es darum ging, auf Gletschtertour zu gehen, konnte er sich vor lauter Begeisterung kaum bremsen. Seine Spannung hielt den ganzen Tag an, bis er schließlich ins Bett fiel, wo er in der Regel sofort einschlief, sobald sein Kopf das Kissen berührte.

»Gleich bin ich so weit. In zehn Minuten. Oh, und nach einem Kaffee.« Kati gähnte.

»Gut, gut.« Paolo klopfte ihr auf den Arm. »Ah, Justine und Milan, ihr seid schon aufgestanden. Sehr schön.« Er strahlte die beiden an, die auch zu ihrer Gruppe gehörten und gerade mit Zahnbürste und Handtuch bewaffnet zu den Waschräumen wollten, schaute dann zurück zu Kati, die sich ein weiteres Mal mit den Händen über das Gesicht rieb. »Wir haben ein wenig Nebel, aber der wird sich noch lichten, dann haben wir herrliche Bedingungen.«

Wie immer war er Bergführer durch und durch. Kein Wunder, dass die Leute, die ihn einmal für eine Tour buchten, immer wieder auf ihn zurückkamen.

Kati setzte sich im Bett auf. Eine Großvenediger-Besteigung war immer ein Abenteuer. Der Aufstieg über den langen Gletscherbereich am Seil, mit Steigeisen und Eispickel bewaffnet, auf dem Gipfel dann strahlende Sonne, eine hellauf begeisterte Gruppe – das war der Grund, warum sie Bergführerin geworden war. Auf diesem Weg konnte sie ihre Leidenschaft, die Berge, mit anderen teilen und noch dazu Geld damit verdienen – was wollte man mehr? Sie stand auf, der Schlafraum hatte sich bereits geleert, nur im Doppelstockbett ganz hinten am Fenster schlief noch das Paar, er oben, sie unten, das gestern erst im Dunkeln zur Hütte gekommen war und heute wieder nach unten ins Tal wollte.

In Unterwäsche stand Kati neben ihrem Bett und spürte die kühle Morgenluft auf ihren nackten Beinen, ließ sich von der allgemeinen Betriebsamkeit anstecken. Sie schlüpfte in ihre Hochtouren-Hose, dann ins Funktionsshirt, die Jacke: fertig! Mütze und Handschuhe und die restliche Ausrüstung befanden sich in ihrem Rucksack im Erdgeschoss der Hütte. Die Scheibe des Bettenlagers, in dem sie die Nacht verbracht hatten, war von innen beschlagen und die Landschaft draußen kaum mehr als verzerrte Schemen in der Dunkelheit, die jedoch bald der Sonne weichen würde.

Sie nahm ihr Handy, das noch auf der Matratze lag, und wollte es einstecken. Da sah sie, dass eine Nachricht von ihrer Schwester eingegangen war. Automatisch zauberte ihr der Gedanke an Christina ein Lächeln ins Gesicht. Ihre Beziehung zueinander hatte sich verändert, seit Christina eine Töpferei auf der Fraueninsel betrieb und nicht mehr im elterlichen Lakritzgeschäft in Prien am Chiemsee arbeitete. Christina hatte Kati immer vorgeworfen, ohne Rücksicht auf andere ihren Traum zu leben, während sie selbst sich als Gefangene des elterlichen Betriebs empfand. Seit Christina den Schritt gewagt hatte, die Töpferei zu übernehmen, verstanden sie sich sehr viel besser. Außerdem liebte Kati den kleinen Michael, ihren Neffen. Na ja, so klein war der gar nicht mehr, wenn man es genau betrachtete. Immerhin war er mittlerweile Fünftklässler.

Kati gab den Code in ihr Handy ein, um es zu entsperren.

Sonnenuntergang in der Heimat, hatte Christina geschrieben. Das Foto, das sie dazu schickte, musste auf dem Chiemsee aufgenommen worden sein. Vermutlich war sie mit ihrem Freund Bene mal wieder mit dem Kanu unterwegs gewesen. Das Abendlicht färbte das Wasser des Sees orange, dazu spiegelten sich noch die kleinen Schäfchenwolken auf der glatten Wasseroberfläche des Chiemsees. Ein zweites Bild musste etwas später aufgenommen worden sein. Das Licht war jetzt lila, und im Vordergrund sah man Christina in ihrem Kanu, gemeinsam mit Michael, der wie so oft seine Angel in der Hand hielt. Kati zoomte das Gesicht des Kindes heran. Der Junge sah total glücklich aus, stellte sie fest. Für ihn war der Umzug auf die Insel ein Segen gewesen. Michael angelte gern und liebte die Freiheit, die ihm das Leben auf der Insel bot, und auch, dass er dort sein konnte, wer er war: Ein manchmal etwas verträumter kleiner Forscher mit viel Liebe zur Natur. Mit einem Mal spürte Kati, dass sie ihre Familie vermisste, ihre Heimat. Sie war diesen Sommer fast ausschließlich in Österreich und Südtirol unterwegs gewesen. Zuletzt hatte sie sich im Rosengarten, einer Gebirgskette im Osten von Brixen, aufgehalten und eine Touristengruppe auf den Kesselkogel geführt. Mit Paolo in den Bergen unterwegs zu sein, machte diesen Sommer zu einem der schönsten ihres Lebens. Er kannte in Südtirol die aufregendsten Pfade, so wie Kati die in ihrer Chiemgauer Heimat. Sie waren nahezu täglich unterwegs. Wenn es keine Touristen zu führen gab, gingen sie auf Kletterabenteuer oder kundschafteten neue Touren aus. Es schien nie Stillstand zu geben und Kati war wie im Rausch.

Mit diesen Fotos gewinnst du jeden Wettbewerb! Da brauchst du gar nicht mehr zu töpfern, schrieb Kati und schob ein Zwinkersmiley hinterher, bevor sie das Telefon in ihrer Jacke verstaute. Kürzlich hatte Christina bei einem Töpferwettbewerb mit einer Büste der netten Nonne, mit der sie sich auf der Insel angefreundet hatte, den zweiten Preis gewonnen, und die gesamte Familie war wahnsinnig stolz auf sie.

Kati schaute sich um, aber alles, was sie dabeigehabt hatte, trug sie bereits am Körper. Die Reisezahnbürste und die winzige Zahnpastatube befanden sich in der Tasche ihrer Funktionsjacke. Eine Katzenwäsche musste um vier Uhr morgens reichen.

»Ich geh noch ins Bad«, sagte Kati.

Justine winkte mit ihrer Zahnbürste. »Ich komm gleich mit.«

»Dann treffen wir uns beim Frühstück«, meinte Milan, der gerade hereinkam. »Ich bin schon fertig mit allem. Ach, ich kann die Tour kaum erwarten.«

Kati lachte. Das waren ihr die liebsten Gäste. »Na dann, iss dich auf jeden Fall ordentlich satt. Du wirst die Energie heute brauchen.«

Sie riet das jedem Gast, auch wenn sie selbst so früh am Morgen kaum eine Scheibe Brot runterbrachte.

Mittlerweile herrschte in der Hütte Aufbruchstimmung. An Ruhe war nicht mehr zu denken. Alle Bergsteiger, die die Nacht hier verbracht hatten, schienen sich synchron zu bewegen. Die Berghütte war wie ein Organismus, der langsam erwachte.

Justine ging schweigend neben Kati her in Richtung Waschraum. Eine Fünfergruppe Bergsteiger, die schon Klettergurte angelegt hatten, kam ihnen von unten entgegen, waren offensichtlich noch etwas eher aufgestanden als Kati und ihre Gruppe und hatten schon gefrühstückt.

»Das Wasser ist ja eisig!« Justines Hand zuckte vor dem kalten Wasserstrahl zurück. Sie kam aus Ingolstadt, würde heute ihre erste Hochtour erleben.

Kati lachte. »Das weckt dich auf. Das ist Absicht.«

»Echt?« Justine schaute Kati aus großen Augen an.

»Nein, das war ein Scherz. Auf einer Berghütte kannst du nicht so viel Luxus erwarten. Das Frühstück gleich wird auch sehr einfach.«

Vorsichtig hielt Justine ihre Hand unter das kalte Wasser. Dieses Mal zuckte sie nicht zurück, sondern spritzte sich das kalte Nass in ihr Gesicht, das am Vortag schon ordentlich Farbe abbekommen hatte. Anschließend band sie sich die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz.

»Ich hab so einen Hunger, mir reicht Brot und Marmelade«, meinte sie. »Der Aufstieg gestern war ja nicht ohne.«

»Ich weiß, ja. Aber dafür auch ein Abenteuer.« Kati empfand es als ihre Aufgabe, stets das Positive hervorzuheben. Auf den Berg zu gehen war oft strapaziös, wenn es über einfache Wanderungen hinausging, aber die Ausblicke und die Naturerfahrung waren jede Mühe wert, jedenfalls aus Katis Sicht.

Der Aufstieg zur Kürsingerhütte, wo sie übernachtet hatten, erfolgte über einen leichten Klettersteig, seit der übliche Weg wegen massiver Steinschlaggefahr geschlossen worden war. Diese Tour war die fünfte Tour auf den Venediger, die Kati leitete, und die meisten Gäste waren von der Kletterei am Fixseil mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken beeindruckt. Nicht alle hatten so etwas schon erlebt. Justine hatte sich von Kati noch zusätzlich am kurzen Seil sichern lassen, war aber problemlos mitgeklettert.

Auf dem Weg zum Einstieg des Steiges lief man einen sogenannten Aufklärungsweg entlang, das war so etwas wie ein Naturlehrpfad, auf im Stein angebrachten Tafeln konnte man lesen, wie sehr das Weiterbestehen des vermeintlich ewigen Eises der Gletscher bedroht war. Viele der Gäste waren nachhaltig beeindruckt gewesen von der Erfahrung, die ihnen bereits der erste Tag auf Hochtour geboten hatte. Wenn sie später am Gipfel stünden, würde sicher auch Justine so begeistert sein wie alle anderen Menschen vor ihr, die es geschafft hatten, den hohen Gipfel zu besteigen. Es würde ein anstrengender Tag für alle werden, und es war ein Glück, dass Justine und Milan im Alltag regelmäßig joggen gingen. Eine solche Unternehmung wie diese Gipfelbesteigung wäre ihnen sonst kaum möglich gewesen.

Kati sah Justine im Spiegel an, die gerade ihren Pferdeschwanz band. »Mach den Zopf eher weiter unten, du musst ja nachher einen Helm tragen können.« Kati war schon so erfahren als Bergführerin, dass sie solche Details wusste. Justine nickte und fasste ihre Haare erneut zu einem Zopf zusammen. Dann standen sie nebeneinander und putzten sich die Zähne. So langsam hatte Kati das Gefühl, ganz wach zu sein. Und das schon vor dem Kaffee, dachte sie amüsiert. Sie freute sich auf den Tag, der vor ihr lag. Es war immer wieder erhebend, auf dem Gipfel des Großvenedigers zu stehen.

Kati spuckte die Zahnpasta aus. »So. Fertig. Wie sieht es aus, Justine? Bereit für neue Abenteuer?«

Justine nickte eifrig, die Zahnbürste noch im Mund. Sie war schon Anfang vierzig, hatte aber wenig Erfahrung mit dem Bergsteigen. Diese Tour hatte ihr Mann Milan ihr zum Geburtstag geschenkt. Auch Justine beugte sich über das Waschbecken. »Auf jeden Fall!«, antwortete sie schließlich. »Komm, lassen wir uns eine Scheibe Brot und dünnen Kaffee schmecken.«

»Woher willst du wissen, dass er dünn ist?«, entgegnete Kati.

»Na, du hast doch gesagt, ich soll nicht zu viele Erwartungen an das Frühstück haben.« Justine lachte. Sie war herrlich unkompliziert.

»Stimmt.« Kati seufzte. An schlechten Kaffee am Morgen konnte sie sich einfach nicht gewöhnen.

Ein weiteres Mal wanderten Katis Gedanken zu Christina, die sicher noch schlief. Aber später würde ihre Schwester den Tag auf ihrer kleinen Terrasse mit Blick über den See beginnen, mit einer Tasse ihres göttlichen Kaffees aus der kleinen Espressokanne zum Schrauben, die man auf den Herd stellte und die den wundervollsten Kaffee lieferte, den man sich vorstellen konnte. Hätte Kati sich für das Frühstück auf die Fraueninsel, wo Christina lebte, beamen lassen können, sie hätte jeden Tag mit ihrer Schwester in der herrlichen Morgensonne gefrühstückt, wenn man das Plätschern des Wassers hörte, während man den würzigen Kaffee roch, den Christina mit einer Prise Zimt verfeinerte. Kaffee war das Einzige, was ihre Schwester wirklich kochen konnte. Dazu tanzten die Bienen schon morgens durch die Kletterrose, die ihre Mutter im vergangenen Frühjahr hier gepflanzt hatte. Es war ein Fest der Sinne, dort auf Christinas Terrasse, ganz anders als hier, wo es mehr um Nahrungsaufnahme als um Genuss ging. Aber das gehörte dazu, das war der Preis für einen Tag in atemberaubender Berglandschaft.

Justine war mit ihrer Morgentoilette fertig, und sie gingen in den Gastraum hinunter, der ein Stockwerk tiefer lag. Paolo winkte schon, ein breites Grinsen im Gesicht. Der Platz neben ihm war frei, er hatte bereits einen Teller mit Brot, Wurst und Käse auf dem Tisch abgestellt.

»Für dich«, strahlte er Kati an. Sie schielte in Richtung der Marmelade auf dem kleinen Frühstücksbüffet. Eigentlich mochte sie kein salziges Frühstück, hatte sie noch nie. Andererseits war da Paolos liebevolle Geste, die Kati nicht zurückweisen wollte.

»Danke«, sagte sie deshalb und setzte sich zu ihrer Gruppe, die diesmal nur aus Paolo, Justine und Milan bestand, die die Wanderung schon im April gebucht hatten. Fast sofort spürte sie Paolos warme Hand auf ihrem Oberschenkel. Sie kannten sich jetzt ein knappes Jahr, aber die erotische Spannung zwischen ihnen war noch wie am ersten Tag. Kati rückte ein Stück näher an ihn heran. Sofort war es gar nicht mehr so schlimm, Käse statt Marmelade zu essen.

Der Kaffee war schön heiß – was wollte man mehr? Vorsichtig nahm Kati einen ersten Schluck. Bitter und so stark, dass er einen unter normalen Umständen für Tage wach halten konnte. Genau das Richtige vor einer langen Bergtour. Da hätte sie ihre Erwartungen gar nicht so niedrig ansetzen müssen, dachte sie erfreut.

»Also, gehen wir alles noch mal durch.« Paolo hatte schon fertig gegessen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ihr habt eure Stirnlampen bereit, draußen ist es noch dunkel, ihr werdet sie also brauchen. Ihr braucht Steigeisen, Helm und Klettergurt. Deshalb sind diese Sachen ganz oben im Rucksack. Denkt auch daran, dass es weiter oben kalt werden kann. Vergesst eure Handschuhe nicht, genauso wie eine Mütze und die warme Jacke. Alles, was ihr nicht braucht, bleibt bitte hier. Je weniger ihr tragen müsst, umso besser. Wir kommen auf dem Rückweg noch mal her und holen alles ab.«

Die beiden Gäste nickten. Täuschte sich Kati, oder hing besonders Justine an Paolos schönen Lippen? Gewundert hätte es Kati nicht, er war ein Frauenmagnet mit seinen dunklen, fast schwarzen Haaren. Außerdem hatte er heute einen leichten Bartschatten, der sein verwegenes Abenteurer-Image, das ihm als Bergführer automatisch anhing, noch unterstrich.

Während er sprach, konzentrierte Kati sich auf ihre Brote. Sie hatte keinen Appetit um diese Tageszeit, aber es war unerlässlich, dass sie etwas aß, damit ihr später nicht die Kraft ausging. Ihr fiel auf, dass Paolo zu diesem Thema etwas Entscheidendes vergessen hatte zu erwähnen. Wenn man selbst so viel in den Bergen unterwegs war, wurden viele Details zur Selbstverständlichkeit, die für Gelegenheitswanderer aber wichtig waren.

»Entschuldige, Paolo, kann ich auch kurz was sagen?«, fragte sie deshalb. Sie ärgerte sich, weil sie so vorsichtig formulierte, aber Paolo war längst zu Landschaftsbeschreibungen übergegangen und schwärmte vom zu erwartenden Panorama, sodass Kati ihn mitten im Satz unterbrechen musste.

»Klar«, seine Rechte lag noch immer auf ihrem Schenkel und streichelte jetzt weiter nach oben, begleitet von einem verschmitzten Grinsen, das Kati die Hitze in die Wangen trieb. Großer Gott, dieser Mann! »Was wolltest du denn sagen?«

»Ach so, ja.« Kati räusperte sich und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf die Gruppe zu lenken. »Nehmt euch genug zu trinken mit. Ihr habt doch beide eine Thermoskanne für Tee dabei, oder? Super. Füllt sie auf und denkt zusätzlich noch an Wasser. Jeder sollte mindestens zwei Liter Flüssigkeit dabeihaben.«

»Stimmt, das hätte ich fast vergessen, danke, Schatz.«

Es fühlte sich immer seltsam an, wenn Paolo sie vor den Gästen mit einem Kosenamen ansprach. Aber zugleich genoss sie es so sehr, dass sie ihn noch nie darum gebeten hatte, es zu lassen.

Kati lächelte ihm stattdessen zu und er schaute sie aus seinen dunklen Augen an. Paolos Blick hatte immer etwas Feuriges, egal wann und wo. Selbst nach langen Bergtouren verfehlte er diese Wirkung nicht, und auch jetzt sah er einfach umwerfend aus, und Kati strich sich die Haare aus der Stirn, weil sie ganz nervös wurde.

Sie biss von ihrem Brot ab, kaute, schluckte mühsam. Nein, sie brachte beim besten Willen keine zweite Scheibe runter.

»Herrlich«, Justine wirkte ganz schön mitgenommen, fand Kati. Auch Milan schwitzte stark, hatte rote Wangen. Kati schrieb es der Anstrengung zu. Ein Sonnenbrand konnte es nicht sein, denn sie hatte am Einstieg zum Gletscher noch eine Runde Sonnencreme für alle ausgegeben, weil der Morgennebel sich mit Sonnenaufgang in nichts auflöste und ihnen ein herrliches Aufstiegspanorama geschenkt wurde. Am Gletscher war guter Sonnenschutz eine der obersten Prioritäten.

Als endlich der Gipfel erreicht war, fielen sich Justine und Milan überglücklich in die Arme. Sie hatten sich tapfer geschlagen. Nicht alle Gruppen kamen oben an.

Natürlich waren sie bei diesem Bombenwetter aber nicht die Einzigen, die das Gipfelkreuz berühren und Fotos machen wollten, doch das störte nicht.

»Ich mach ein Foto von euch«, schlug Paolo vor und wies Justine und Milan an, sich in der Warteschlange für das Gipfelbild einzureihen.

Kati schaute sich um. Ja, dafür stieg sie auf die Berge. Man sah die Dolomiten, den Großglockner, herrliche weiße Bergspitzen vor strahlend blauem Hintergrund. Da war es einem ganz egal, wenn man weniger gut Luft bekam als im Tal oder wenn einem am Ende des Tages die Beine schmerzten. Sie ging ein paar Schritte zur Seite, wo weniger Menschen standen, um einen Moment der Ruhe zu genießen, nur sie und das Panorama, sonst nichts. Sie war schon fünf Mal hier oben gewesen, zweimal allein und dreimal mit einer Gruppe, die sie geführt hatte, aber der Venediger verlor seinen Charme nicht, egal wie oft man ihn auch bestieg.

Plötzlich legten sich zwei Arme von hinten um sie. Kati lächelte und lehnte sich leicht gegen Paolo. Sein Helm und ihr eigener stießen klackend gegeneinander und Kati musste lachen. Dann küsste Paolo sanft ihren Hals.

»Es ist immer wieder ein Wunder, oder?«, sagte er leise und Kati nickte. Paolo musste sie nichts erklären. Er spürte die Berge wie sie selbst. »Wie wäre es, wenn wir nächstes Mal über den Nordgrat aufsteigen?«

»Klingt fantastisch. Aber dann ohne Gruppe.«

»Natürlich ohne Gruppe.« Paolo lachte leise.

So war er: Nach der Tour war vor der Tour. Er hatte immer große Pläne, manchmal so viele, dass man sich über ein Schlechtwetterfenster freute, das man auf dem Sofa verbringen konnte. Der Nordgrat vom Großvenediger war allerdings eine anspruchsvolle Kletterei, die Kati schon eine ganze Weile selbst im Hinterkopf gehabt hatte. »Das wäre großartig. Vielleicht schaffen wir den Grat sogar noch diesen Sommer.«

»Vielleicht, ja.« Paolo verstärkte den Druck seiner Umarmung. Kati schien die Sonne ins Gesicht. Für ein paar Sekunden schloss sie die Augen, gab sich ganz der Umarmung in dieser atemberaubenden Landschaft hin. Das hier war ihr Leben, ihr Glück. Alles war perfekt, voll und ganz perfekt. Kati atmete tief die klare Bergluft ein.

»Sollen wir langsam wieder los? Nicht dass Justine und Milan am Ende zu müde werden«, schlug Paolo vor.

»Ja, klar.« Kati machte die Augen auf. Er löste seine Arme von ihr und Kati drehte sich um. Sie küssten sich, und Paolo zwinkerte Kati zu – ein Versprechen auf sinnliche Stunden am Abend, da war sie sich sicher.

»Auf geht’s!«, rief er Minuten später in Richtung Milan und Justine, die ein Stück vom Kreuz weggegangen waren – in Richtung der Schneeverwehung, die sich regelmäßig unterhalb des Gipfels bildete –, um Platz für die folgenden Bergsteiger zu machen.

»Wir wollen schauen, dass es nicht zu spät wird, der Abstieg ist noch ein ordentliches Stück. Habt ihr etwas gegessen oder getrunken?«

»Ja, beides. Wir sind startklar!«, rief Milan zurück.

»Wunderbar.« Kati schulterte ihren Rucksack. Sie selbst hatte einen Proteinriegel gegessen, einen halben Liter Tee getrunken und war bereit. Der Plan war, an der Hütte vorbei, wo sie ihre Sachen holen würden, bis ins Tal abzusteigen, sodass sie sich wirklich ein wenig beeilen mussten.

Kati schaute sich um. »Milan, vergiss deine Stöcke nicht.«

»Oh.«

Sie hatten noch am Kreuz gelehnt, wo gerade zwei Bergsteiger sich glückstrahlend von einer Frau fotografieren ließen. Kati ging hin, lächelte entschuldigend und nahm die Wanderstöcke aus dem Bild, um sie Milan zu bringen.

Dann machten sie sich an den Abstieg. Gleich am Anseilpunkt nahmen sie ihre Gäste ins Seil und bildeten so eine Gletscherseilschaft. Paolo vorne, hinten sie selbst und dazwischen die beiden Gäste. Kati hatte noch den Sitz der Steigeisen kontrolliert – alles passte. Das zweite Ehepaar, das auch noch mit auf die Tour hatte kommen wollen, war an einer hartnäckigen Grippe erkrankt und hatte sich deshalb entschuldigt. Sonst wären sie in zwei Dreierseilschaften unterwegs gewesen. Aber so ging es natürlich auch gut.

Schneeglitzern in der Sonne, dachte Kati bei sich. Davon konnte sie auch Ende Mai nicht genug bekommen, wenn andere den Sommer herbeisehnten.

Der Schnee, der vorhin noch hart und eisig gewesen war, eine Fläche, auf der sie gehen konnten, wurde in der Sonne langsam zu Sülze, in die sie bis zu den Knien einsanken und aus der sie immer wieder mühevoll die Füße herausziehen mussten. Im Aufstieg hatten sie mit Pausen sechs Stunden gebraucht, jetzt im Abstieg würden sie bestimmt schneller sein, wenn die Luft mit jedem Schritt wieder sauerstoffreicher wurde. Paolo ganz vorne schlug jedenfalls ein ordentliches Tempo an, sodass sie die herrliche Aussicht auf die aus dem Schnee ragenden Felsformationen um sie herum, die überzuckerten Nachbargipfel und die weite Landschaft, die sich weiß vor ihnen erstreckte, kaum genießen konnte.

Sie hatten schon die ersten Gruppen überholt. Kati konzentrierte sich auf die Gäste. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Justine ganz schön mit der Geschwindigkeit zu kämpfen hatte, die Paolo vorgab.

Kati wollte ihn gerade bitten, langsamer zu gehen, als sie sah, dass sie auf eine weitere Gruppe Bergsteiger aufliefen. Paolo verließ den gespurten Weg und ging den Hang schräg an. Er wollte offenbar die Kurve abkürzen, die der ausgetretene Pfad weiter vorne machte, und querte in Richtung Tal. Das fand sie unnötig, wollte lieber hinter der Gruppe bleiben, deren Tempo ihr okay vorkam.

»Paolo!«, rief sie ihm zu und er drehte sich zu ihr um. In diesem Moment spürte Kati, wie der Boden unter ihr nachgab.

Kati spürte einen harten Schlag gegen den Helm, dann folgte der freie Fall, der plötzlich abrupt vom Seil gestoppt wurde, das mit einem Schmetterlingsknoten an ihrem Hochtourengurt befestigt war. Abrupt zu fallen, kannte sie von der Kletterwand und auch von der einen oder anderen Tour. Was sie nicht kannte, war der Schmerz, der durch ihr Bein fuhr, hinauf bis zur Hüfte strahlte und sie laut aufschreien ließ. Ihr Schmerzensschrei wurde von den eiskalten Wänden der Gletscherspalte, die sie verschluckt hatte, zu einem dumpfen Laut gedimmt. Es war düster um sie herum, sie kam sich vor, als wäre sie ganz allein auf der Welt, nur von Eis und Schnee umgeben. Sie wollte nach dem Knie fassen, sehen, was kaputt war, aber jede Bewegung erzeugte eine leuchtend rote Schmerzwelle. Außerdem baumelten noch ihre Bergstöcke um ihre Handgelenke und behinderten jede Bewegung.

»Hilfe! Paolo!«, schrie sie erneut.

Das war das Tückische am Gletscher: Man sah eine solche Spalte nicht, sie war vom aufgeweichten Schnee verborgen gewesen und hatte an dieser Stelle unter ihrem Gewicht einfach nachgegeben. Sie schaute nach oben, hinauf zu dem wenigen Licht, das durch die Öffnung fiel, die sie durch ihren Fall erzeugt hatte. Aber natürlich war Paolo noch nicht da, mit Sicherheit war er damit beschäftigt, die Gruppe zu beruhigen, bevor er mit ihnen gemeinsam einen Seilanker baute und Kati mit der losen Rolle, einer Rettungstechnik zur Spaltenbergung, befreien konnte. Kati musste sich beruhigen. Sie hing schließlich fest im Seil, das von Paolo gehalten wurde, konnte sich halbwegs gemütlich in ihren Gurt setzen. Sie holte tief Luft, beschwor sich, Ruhe zu bewahren. Vorsichtig versuchte sie, ihr schmerzendes rechtes Bein zu bewegen. Etwas stimmte nicht mit ihrem Knie, da war sie mittlerweile sicher. Sie stöhnte. Nein, es abzuknicken war keine gute Idee. Von der Intensität des Schmerzes wurde ihr schwarz vor Augen, und das Letzte, was sie sich jetzt erlauben konnte, war, ohnmächtig zu werden.

»Paolo!«, schrie sie erneut und hörte selbst die Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie hatte jetzt lauter als vorhin gerufen, panischer. Was dauerte denn da so lange? Hier unten wurden Sekunden zu Ewigkeiten. Dabei hatte sie eins noch gar nicht gewagt: den Blick nach unten. Sie wusste nicht, wie weit sie noch fallen hätte können. Aber das war jetzt auch gar nicht wichtig. Nach oben waren es ungefähr vier Meter. Das war nicht die Welt, tröstete sie sich, das war für Paolo ein Klacks. Da wäre sogar theoretisch die Selbstrettung aus der Gletscherspalte noch gut möglich gewesen, hätte sich ihr Bein nicht angefühlt, als hätte jemand ein Messer hineingerammt.

Trotzdem hatte sie, so wie es aussah, Glück im Unglück gehabt, hatte sich im Fallen nicht an den scharfen Spitzen ihrer Steigeisen verletzt.

Sie könnte mit dem gesunden Bein mitarbeiten, sobald die lose Rolle, ein einfacher Flaschenzug, installiert war, den jeder Bergsteiger auf Hochtour beherrschen sollte. Alles, was sie tun musste, war, darauf zu warten, dass das Seil in Sichtweite kam, das mit einem Karabiner zu ihr heruntergelassen würde.

Aber ihr Bein tat minütlich mehr weh, und Kati war jetzt schon klar, dass sie damit den Abstieg keinesfalls würde bewältigen können. Kalte Tränen liefen ihre Wangen hinunter und sie fluchte leise. So ein Pech! Wie ärgerlich! Sie war also am Ende doch hilflos.

»Paolo, wo bleibst du denn?« Das dauerte zu lange.

Vorsichtig warf Kati einen Blick nach unten. Ihr Atem stockte. Das waren sicher noch weitere zehn Meter, bis die Spalte sich verjüngte. Sie hatte ganz schön viel Glück gehabt. Schnell schaute sie wieder hinauf ins Licht. Aber da war noch immer kein Seil. Langsam tat ihr die Sitzposition weh. Der Gurt schnitt sich schmerzhaft in ihren Oberschenkel und ihr Schädel pochte ebenfalls immer unerträglicher.

»Kati? Geht es bei dir?«

Sie schaute nach oben. Endlich! »Nicht besonders. Ich hab mich ziemlich böse am Knie verletzt. Kannst du mir das Seil runterwerfen? Ich muss hier raus«, rief sie zurück. Es war noch nie so schön gewesen wie in diesem Moment, Paolos Stimme zu hören.

»Na klar. Seil kommt!« Er klang ruhig und aufgeräumt. Natürlich wusste Paolo ganz genau, was er zu tun hatte. Als erfahrener Bergführer übte er Spaltenstürze jedes Jahr mehrfach, besonders weil seine Spezialität Hochtouren aller Art waren. Er beherrschte alle Rettungstechniken mit der Routine, die einem Bergführer eigen war.

Auch Kati wusste genau, was zu tun war. Sie befestigte den Karabiner an ihrem Gurt. Gleich würde Paolo sie hochziehen. »Bin so weit!«, rief sie hinauf.

Sekunden später spürte Kati einen kräftigen Ruck von oben. Der Schmerz in ihrem Bein explodierte bei der Krafteinwirkung, aber sie biss die Zähne zusammen, rechnete damit, gleich nach oben gezogen zu werden, und schaute hinauf. Doch im nächsten Moment gab das Seil einfach nach, und Kati spürte, wie sie erneut fiel. Ihr Kopf schlug ein weiteres Mal gegen die eisige Wand der Gletscherspalte. Im nächsten Augenblick wurde alles schwarz und die Welt verschwand.

2. Kapitel

Jemand hielt ihre Hand. Kati spürte die Wärme, die von Paolo ausging. Noch hatte sie die Augen geschlossen, wollte sie nicht öffnen, wollte nicht zurück in die Welt. Warum genau, das hätte sie nicht sagen können. Wo war sie? Was war geschehen?

Ganz langsam lichtete sich die Benommenheit, die ihr Denken lähmte. Sie war in eine Gletscherspalte gefallen. Ihr Körper zuckte bei der Erinnerung ganz automatisch zusammen und der Druck auf ihre Hand verstärkte sich. Es war kein schmerzhafter Druck, mehr so, als versuchte Paolo, sie zu trösten. Dann begann er, ihren Handrücken mit einer Zärtlichkeit zu streicheln, die Kati innerlich lächeln ließ. Wie gut es tat, nicht allein zu sein. Wie gut, dass er bei ihr war. In seiner kleinen Berührung lag so viel Geborgenheit, dass Kati sich in Sicherheit fühlte.

Dennoch – sie brauchte noch ein wenig Zeit für sich, bevor sie die Augen aufschlug, spürte in ihr Bein, spürte in ihren Kopf hinein. Das wilde Pochen war einem dumpfen Kopfschmerz gewichen, wie sie erleichtert feststellte. Die Schmerzen im Knie schienen verebbt zu sein. Was für eine Erleichterung! Kati erwiderte den Druck auf ihre Hand. Ihr Handrücken wurde noch immer mit einer Zärtlichkeit gestreichelt, die sie klar spüren ließ, wie wertvoll sie für Paolo war. Paolo wurde nicht müde, sie zu liebkosen.

Plötzlich wusste sie, dass sie Paolo sehen wollte. Sie schlug ihre Augen auf.

»Kati! Da bist du ja wieder.« Die Stimme verriet pure Erleichterung, als sie ihre Hand losließ.

»Fabian! Was machst du hier? Wo bin ich?« Kati wollte sich aufsetzen, aber Fabian hielt sie sanft an den Schultern fest.

»Bitte bleib liegen. Du hast eine ordentliche Gehirnerschütterung und brauchst dringend noch Ruhe.«

Kati schaute sich um, aber sie erkannte nichts an ihrer Umgebung. Ein weißer Raum mit Aussicht auf einen Vorplatz. Das war die Nüchternheit eines Krankenzimmers, natürlich.

»Bin ich sonst okay?«, fragte sie und schaute Fabian an, der seinen Stuhl ein Stückchen vom Bett weggeschoben hatte. Er sah aus wie immer, nur ein wenig blasser und mit dunklen Augenringen. Sie kannte Fabi schon seit ihren gemeinsamen Jugendtagen. »Und was machst du überhaupt hier?«

»Na, ich schau dir beim Wachwerden zu, wonach sieht es denn aus?«

»Schlagfertig wie immer, hm?« Kati versuchte ein Grinsen.

»Wir haben uns ordentlich Sorgen um dich gemacht.« Fabian schaute Kati direkt in die Augen. Es war ihm noch nie schwergefallen, Blickkontakt zu halten. Er war der Typ Mensch, dem es leichtfiel, über sich und seine Emotionen zu sprechen.

»Apropos wir – wo ist denn Paolo?« Beim Reden wurde das Pochen hinter ihrer Stirn wieder stärker.

»Der kommt bestimmt später noch vorbei. Vielleicht magst du mir ja seine Nummer geben, dann kann ich ihn anrufen.«

»Das kann ich selber.«

»Ich glaube, dein Handy ist in die Gletscherspalte gefallen. Außerdem sollst du dich noch ruhig verhalten. Du musst dich wirklich schonen.« Fabian knetete seine Hände. Dann langte er in die Innentasche seiner Jeansjacke. »Also, wenn du seine Nummer auswendig weißt, dann her damit!«

Kati kramte in den Tiefen ihres Gedächtnisses herum, aber wollte nicht so recht etwas zutage bringen. Sich Zahlen zu merken, war eh nicht ihre Spezialität. »Im Moment nicht.«

»Gut, macht ja nichts, lass dir Zeit.« Fabian tätschelte ihren Handrücken. Die Geste wirkte irgendwie unbeholfen, als wäre er nicht der gleiche Mann, der eben noch ihre Hand festgehalten hatte.

»Ja. Er wird gleich kommen.«

Fabian lächelte. »Natürlich.«

»Wie kommst du überhaupt hierher?«, wollte Kati wissen. Wenn sie flüsterte, tat es weniger weh.

»Mit dem Auto.«

»Haha.«

»Entschuldige. Christina hat mich gefragt, ob ich mit zu dir kommen kann. Sie war völlig außer sich, hat die Töpferei einfach zugesperrt und Michael zu euren Eltern gebracht. Nelly konnte nicht mit, die war im Laden unabkömmlich. Aber natürlich wäre sie auch gerne gekommen. Jedenfalls bin ich dann mitgefahren.«

Nelly und Christina waren Katis Schwestern, und Nelly betrieb ein Lakritzgeschäft in Prien, das davor schon ihr Vater geleitet hatte. Um diese Jahreszeit konnte man den Laden nicht so einfach zusperren, das verstand Kati gut. Fabian hingegen arbeitete in der Gemeindeverwaltung, ein relativ langweiliger Bürojob, zu dessen Vorteilen allerdings gehörte, dass man sich meistens kurzfristig freinehmen konnte.

»Warum war Christina denn so außer sich?«

»Meine Güte, Kati, du bist echt unglaublich. Schließlich bist du in eine Gletscherspalte gefallen, verdammt noch mal!« Fabian schüttelte ungläubig den Kopf. »Noch dazu hast du dich verletzt und …« Er stockte und sprach nicht weiter.

»Du meinst die Gehirnerschütterung«, stellte Kati fest.

»Die auch.«

Da war die ganze Erinnerung wieder. Natürlich, ihr Bein! »Was ist mit meinem Knie?«

Fabian schaute auf den Boden, stand auf und ging ans Fenster. »Ah, da kommt Christina!«

»Fabi! Lenk nicht ab. Was ist mit meinem Knie?« Kati schlug die Decke zur Seite, um sich selbst ein Bild von ihrem Bein zu machen.

»Das besprichst du vielleicht besser mit dem Arzt.« Er drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett.

Kati verdrehte die Augen, was ihr Körper sofort mit ziehenden Kopfschmerzen quittierte. Dann begutachtete sie ihr Bein. Das Knie war eingebunden und ruhig gestellt, sodass sie es nicht auf seine Beweglichkeit hin überprüfen konnte. Kein gutes Zeichen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie dachte an den Nordgrat des Großvenedigers, an die Spätsommertouren in der Schweiz, die sie mit Paolo geplant hatte, an den Klettertag zu Hause an der Zellenwand, den sie dem kleinen Michael versprochen hatte. Ihre Augen füllten sich ganz automatisch mit Tränen. Verdammt! Es war Ende Mai, noch dazu in einem Jahr mit wenig Schnee, sodass sie ihre Tour schon hatten unternehmen können. Wie lange würde es dauern, bis ihre Verletzung heilte? Das konnte Monate dauern! Kati haute mit der Faust auf die Matratze, direkt neben dem Bein.

»Verdammt!« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.

Kati war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie Fabian neben ihr Bett gekommen war. Jetzt legte er seine Hand auf ihre Faust.

»Nicht, Kati. Tu dir nicht noch mehr weh, hm?« Seine leise, ruhige Stimme tat ihr gut. Sie nahm einen tiefen Atemzug.

»Seit wann bin ich hier?«, wollte sie wissen.

»Seit gestern Nachmittag.«

»Und wann seid ihr gekommen?«

»Auch gestern. Aber am Abend. Der Arzt meinte, man würde dich operieren und du würdest dann heute aus der Narkose aufwachen.« Fabians Hand lag noch immer auf ihrer. Aber jetzt nahm er sie weg, griff nach der Bettdecke und legte sie wieder über Katis Beine.

»Nicht, dass du frierst«, erklärte er.

Kati dankte ihm mit einem Nicken, als es an der Tür klopfte.

Christina öffnete sie ganz vorsichtig, wie es ihre Art war. »Kati, oh mein Gott, Kati!«, rief sie aus, als sie sah, dass ihre Schwester aufgewacht war. Dann stürzte sie regelrecht in den Raum, ließ die Tür einfach offen, und es war Fabian, der aufstand, um sie leise zu schließen, während die Schwestern sich in die Arme fielen.

»Geht es dir gut? Wie fühlst du dich? Ach, bin ich froh, dich zu sehen! Hast du Hunger oder Durst? Ich könnte dir was bringen.«

Kati lachte leise. »Nicht alle Fragen gleichzeitig, okay?«

»Ja, entschuldige. Ich bin aufgeregt, weißt du?« Sie hielt Kati an den Schultern fest und schaute sie an. »Du hast geweint«, stellte Christina schließlich fest.

»Nein, hab ich nicht.«

»Hat sie geweint?«, wandte Christina sich an Fabian, als wäre Kati ein Kind.

»Ich bin die Schweiz, mich darfst du nicht fragen.« Fabian hob abwehrend die Hände und zwinkerte Kati zu. Ihr Verbündeter durch und durch, wie früher schon in der Schule.

»Typisch!« Christinas tadelnder Blick schien allerdings an Fabian einfach abzuprallen. Er grinste nur.

In diesem Moment klopfte es erneut energisch an der Tür und ein Mann im weißen Kittel trat herein.

»Na, Frau Rieger, da sind Sie ja wieder! Sie haben geschlafen wie Dornröschen.«

»Hallo.«

Christina war aufgestanden und einen Schritt zurückgetreten, um dem Arzt Platz zu machen.

»Wie geht es Ihnen denn?«, fragte der Arzt, ein freundlicher, ruhiger Mann mit feingliedrigen Fingern, dafür gemacht, Operationen präzise durchzuführen.

Kati lauschte kurz auf das Pochen hinter ihrer Stirn und versuchte, in ihr Bein hineinzuspüren, aber da war nichts.

»Sagen Sie es mir«, forderte sie deshalb. »Wann kann ich wieder meiner Arbeit als Bergführerin nachgehen? Ich habe in diesem Jahr ein paar sehr spannende Touren vor und bin bereit, viel dafür zu tun, dass die auch klappen.« Sie mühte sich um ein Lächeln. Berge waren ihr Leben. Berge und Paolo, mit dem sie ihre Abenteuer in diesem Jahr geplant hatte. Das Leben mit Paolo war ein Fest, eine endlose Bergsteigerparty.

Der Arzt presste die Lippen zusammen und machte eine abwägende Bewegung mit der Hand, die nichts Gutes verhieß, so viel war Kati klar. »Bitte, seien Sie absolut ehrlich mit mir, ich halte das aus.« Nichts hasste sie mehr, als wenn Menschen um den heißen Brei herumredeten.

»In diesem Jahr werden Sie ganz sicher keine harten Touren mehr unternehmen. Um ehrlich zu sein, können Sie froh sein, wenn sie überhaupt wieder auf Berge steigen können.«

Hatte sie eben noch gesagt, dass sie etwas aushielt? Die Worte des Arztes waren zu viel. Sie waren Messer, die ihr ins Herz gerammt wurden. Sie taten mehr weh als ihre Knieverletzung.

Mit zwei Sätzen hatte der Mann es geschafft, Katis bisheriges Leben auszuradieren. Denn was, fragte sie sich, was blieb von ihr übrig, wenn sie die Berge nicht hatte?

»Verdammt!« Unweigerlich schlug sie erneut mit der Faust auf die Matratze. Heiße Tränen brannten in ihren Augen, aber Kati würde ihnen nicht erlauben, zu fließen. Nein, auf keinen Fall. Man hörte immer wieder von medizinischen Wundern, von schneller Heilung und Irrtümern. Sicher waren ihre Heilungschancen gut, weil sie topfit war. Bestimmt täuschte sich dieser fremde Mann mit dem Bedauern im Gesicht in ihr. Er hielt sie für ein Weichei, jemanden ohne die nötige Power, um sich den Weg zurück in die Berge zu bahnen. Aber da hatte er sich geschnitten!

»Ich schaff das«, sagte sie laut. »Mein Bein wird wieder ganz gesund.«

»Es tut mir leid.« Der Arzt schien das wirklich so zu meinen. Er fing an, mit medizinischen Fachbegriffen um sich zu werfen, redete von Bändern, die gerissen waren, und – ganz entgegen Katis Empfinden in der Gletscherspalte – von einer schweren Verletzung durch das Steigeisen, die sie sich zugezogen hatte und die sie nur wegen der starken Schmerzmittel nicht spürte. Aber Kati wollte die Details nicht wissen. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, während der Arzt sprach.

Was ging sie die Diagnose an? Sie wollte möglichst schnell gesund werden. Denn was blieb von ihr übrig, wenn die Berge wegfielen? Nicht viel, dachte sie, wirklich nicht viel. Kati war ohne Berge nicht denkbar.

Draußen wurde es dunkel. Christina war wieder gegangen, nachdem Kati ihr mehrfach versichert hatte, dass sie zurechtkam und ein bisschen schlafen wolle.

»Paolo kommt doch eh noch vorbei«, hatte sie gesagt, und schließlich war ihre Schwester tatsächlich bereit gewesen, in die Pension zu fahren, die sie für sich und Fabian gebucht hatte.

»Hals- und Beinbruch«, hatte er mit einem dicken Grinsen im Gesicht zum Abschied gesagt und wie zwischen ihnen üblich hatte Kati ihm gegen den Oberarm geboxt wegen des blöden Spruchs.