Astrid Rathmayr
Chiron
der Meeresdrache
Die geheimnisvolle Macht der Lebensblume
Impressum © Astrid Rathmayr, Luzern 2022
Umschlaggestaltung & Illustrationen: Astrid RathmayrDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.2. Auflage 2024, überarbeitetISBN 9783759224231Der Titel ist auf www.antolin.de gelistet.
Inhalt
Titelseite
Impressum
1. Das Felsenriff
2. Unter Wasser
3. Verständigung mit Hindernissen
4. Eine verborgene Welt
5. Sympathische Diebe und ein seltsames U-Boot
6. Freund oder Feind?
7. Die Drachenstadt
8. Eingekerkert
9. Verbündete
10. Fluchtvorbereitungen
11. Die Flucht
12. Aufgefischt
13. Das Symbol
14. In letzter Sekunde
15. Schicksalswende
Bücher von Astrid Rathmayr
KAPITEL 1
Das Felsenriff
Nilin hob vorsichtig den rechten Fuss, um einer Brombeerranke aus dem Weg zu gehen. Der steil abfallende Trampelpfad war vom nächtlichen Regen aufgeweicht und glitschig. Ob sie es mit den Flip-Flops schaffte, ohne auszurutschen, durch den Wald bis zur Steintreppe zu gelangen?
Farne, Brombeersträucher und Stechginster, ein ihr verhasstes Gewächs, drohten den Pfad zu überwuchern. Weder ihr hellgelbes T-Shirt noch ihre violetten Shorts waren geeignet, sie vor den perfiden Dornen und Stacheln zu schützen. Erstere versuchten sich andauernd in ihrer gebräunten Haut festzuhaken, Letztere schlitzten sie mühelos auf. Es war ein sehr früher Sonntagmorgen. Die Maisonne stand kurz davor, sich über den Horizont zu schieben, und eine kühle Brise verursachte dem Mädchen Gänsehaut.
«Zu dumm, dass ich nicht lange warme Kleider angezogen habe. Obendrein hätten sie mich vor den Dornen geschützt», murmelte sie fröstelnd und betrachtete ihre zerkratzten Arme und Beine. «Immerhin hat es mich nicht auf den Hintern gesetzt», lachte sie und blickte über das Geländer der Steintreppe hinunter auf den Sandstrand – ihren Hausstrand –, der Muschelbucht genannt wurde. Der Name rührte wahrscheinlich vom Felsenriff, welches das Meer bei Flut bedeckte und bei Ebbe zu Fuss erreichbar war. Und genau zu diesem mit Muscheln übersäten Riff wollte sie.
«Ob meine Eltern die Notiz bereits gelesen haben?», fragte sich Nilin. «Ich hoffe, sie nehmen es mir nicht übel, dass ich vor ihnen aufgebrochen bin, um am Strand den Sonnenaufgang zu geniessen.»
Zuerst hatte sie sich überlegt, ihren Hund Arko mitzunehmen, einen vierjährigen Malinois. Am Ende hatte sie Bedenken, ihn allein am Ufer zurückzulassen, weshalb er jetzt in ihrem Bett schlief. Nur mit diesem Trick ging sie kein Risiko ein, dass der belgische Schäferhund bellte, wenn er gegen seinen Willen zu Hause bleiben musste. Denn nach der Meinung ihrer Mutter hatte Arko nichts in ihrem Bett zu suchen. Und wenn sie es ihm ausnahmsweise erlaubte, bekam ihn da niemand so schnell wieder heraus.
Was sie heute im Sinn hatte, war ihr strengstens verboten. Zwar durfte sie ohne Begleitung an den Strand, jedoch keinesfalls in die Nähe des Wassers. Sie war nicht umhingekommen, dafür ihr Wort zu geben. Heute brach sie das Versprechen das erste Mal. Klar hatte sie ein schlechtes Gewissen. Es war nicht ihre Art, ihre Eltern anzulügen, ausser ab und zu die Wahrheit zurechtzubiegen – das schon. Und – das musste sie sich eingestehen – gegen die Regeln ihrer Eltern zu verstossen, fügte ihrem Vorhaben einen zusätzlichen Kick hinzu.
Mit Ausnahme von ihr war heute niemand unterwegs, nicht einmal ein Fischer.
«Zum Glück sind die meisten Leute zu faul, um mit dem Fahrrad von der Stadt die steile Küstenstrasse hochzutrampeln und am Ende eine längere Viertelstunde den Feldweg hinabzusteigen. Erfahrungsgemäss sind gerade die Angler eher bewegungsscheu», war sie überzeugt. «Wenigstens ist es hier ein Vorteil, dass der Bus dermassen selten fährt, obwohl ich mir bei stürmischem Regenwetter das Gegenteil wünschte. Mit dem Rad in die Stadt hinunterzudüsen, macht zwar Spass, aber der Rückweg zieht sich immer so unendlich in die Länge», stöhnte sie bei sich.
Eigentlich war es gar nicht die Strecke, sondern die verfluchte Steigung der Hauptstrasse auf die Anhöhe, wo Nilin wohnte. In dieser Gegend waren zerstreut Häuser und Bauernhöfe anzutreffen. Hecken, Weiden, Apfelhaine und dichte Mischwälder prägten das restliche Landschaftsbild. Nilins Anwesen befand sich rund einen Kilometer weit von der Hauptstrasse entfernt in Richtung Küste und von allen Häusern am nächsten zur Muschelbucht. Zwischen den Bäumen, die ihr Grundstück vor dem Wind schützten, der besonders im Winter ungebremst vom Atlantik auf das Festland raste, erblickte man sogar das weite blaue Meer.
«Hoffentlich baut die Stadt am Eingang des Feldweges niemals Parkplätze, sonst ist es aus mit der Idylle», vermutete Nilin.
Es genügte längst, dass im Sommer die Sonnenanbeter mit der Vespa aufkreuzten. Diejenigen mit geländegängigen Motorrädern erreichten leider auch die Steintreppe. Genau dort stand sie nach wie vor und erfreute sich der fantastischen Aussicht auf den Strand und der im Osten aufgehenden Sonne. Schelmisch grinste sie in sich hinein bei der Erinnerung, wie sie mit ihren Freunden auf den Felsblöcken, die beidseits der Bucht lagen, herumgeklettert war und dabei Liebespärchen erschreckt hatte.
Allein erkundete sie gern den Bach, der sich durch das Tal abwärtsschlängelte und in die Muschelbucht mündete. Bei ihren Streifzügen durch den dichten Wald des Tals hatte sie schon öfters graubraune Nattern zwischen den bemoosten Steinen und Baumresten aufgestöbert, die ziemlich gross werden konnten und Frösche, Mäuse sowie Eidechsen jagten.
Ihre Augen blieben nun an dem kleinen See hängen, der sich vor dem Meer zurückgestaut hatte. Auch diesen Winter hatte die starke Brandung während der wilden Atlantikstürme eine Unmenge von Sand vor die Bachmündung geschwemmt und somit einen natürlichen Damm aufgehäuft, der den Bach zurzeit hinderte, direkt ins Meer zu fliessen. Im Sommer wärmte die Sonne den seichten See auf und lud zum Planschen und Entdecken ein. Ihr gruseligster Fund waren Blutegel gewesen, vor denen sie sich mächtig ekelte. Und dann war da dieses Felsenriff.
«Exakt, wie ich es mir ausgerechnet habe», stellte Nilin zufrieden fest und stieg vorsichtig die nassen Stufen hinunter.
Es war gerade Ebbe, sodass das Riff aus dem Wasser ragte. Auf der letzten Stufe zog sie sich rasch die Flip-Flops aus. Der Sand war kühl und feucht von der Nacht. Gemächlich trat sie an das Ufer, wo eine sanfte Welle sie erwischte.
«Brr, ist das kalt!», quiekte sie und wäre am liebsten zurück ins Trockene gehüpft. Sie rührte sich eine Weile nicht vom Fleck, während die ruhige Brandung immer wieder ihre Füsse umspielte, die sich langsam an die Kälte gewöhnten.
«Ob der Zeitpunkt stimmt, um über die überflutete Sandbank zu gehen?», fragte sie sich und schätzte die Distanz bis zum Felsen. Sie kam auf ungefähr achtzig Meter. Vorsichtig watete sie ins Wasser und hielt einen Moment inne, als es ihr bis zu den Oberschenkeln reichte.
«Mhm, vielleicht muss ich am Ende doch schwimmen. Ich bin erst auf halber Strecke», zögerte sie. So gab sie sich einen Ruck, hob das T-Shirt mit einer Hand über den Bauchnabel, mit der anderen die Flip-Flops in die Höhe und schritt auf das Riff zu. Der Bauch war definitiv ihre empfindlichste Stelle. Sie biss die Zähne zusammen, weil die Wellen bereits bis in ihr Gesicht spritzten. Auch wenn der Atlantik sich heute von seiner friedlichen Seite zeigte, war er stets in Bewegung, allein schon wegen der Gezeiten.
Nilin hatte Glück. Obwohl sie komplett durchnässt war, gelangte sie gehend an ihr Ziel.
«Bei der Rückkehr wird es einfacher sein. Schliesslich hat die Ebbe ihren Tiefstand noch nicht erreicht», versicherte sie sich.
Vorsichtig kletterte sie auf den Felsen. Sie war froh, die Flip-Flops mitgebracht zu haben, die nun ihre Füsse vor dem spitzen Gestein, den schneidenden Muscheln und stacheligen Seeigeln schützten.
Ach, wie sie es liebte, hier herumzustreunen. Eifrig suchte sie Mulden, die das Meer mit Wasser gefüllt hatte. Sie hoffte, in ihnen auf Schnecken, einzigartige Muscheln, Krabben, Minifischchen und anderes Kleingetier zu stossen, die auf die nächste Flut warteten. An einer, so gross wie ein kleiner Teich, setzte sie sich hin und starrte in die Tiefe, um eventuell heute etwas besonders Aufregendes zu finden.
«Genau, einen prächtigen roten Seestern. Das wäre die Sensation!», dachte sie und schickte sich an, das Becken eingehender zu inspizieren. Im ersten Augenblick sah sie nichts wegen der Sonne, die sich in ihm spiegelte und ihr die Sicht nahm. Sie ärgerte sich gerade, keine Taucherbrille mitgenommen zu haben, als sie plötzlich aufsteigende Luftblasen entdeckte.
«Die können nicht von den kleinen Strandbewohnern stammen. Die sind viel zu gross!», überlegte sich Nilin. Ob dieser Teich mit dem Meer verbunden war?
Behutsam kniete sie sich auf dem rauen Felsen hin und verfluchte sich sogleich, ihr Badetuch zu Hause gelassen zu haben. Das Riff war aufgrund der Kalkskelette toter Muscheln und Schnecken, die sich mit ihm verbunden hatten, schmerzhaft scharf. Immerhin trug sie heute Flip-Flops, die sie auszog und unter die Knie schob. Sich mit den Händen am Rand des Beckens abstützend, senkte sie den Kopf, bis ihr Gesicht fast die Wasseroberfläche berührte. Dabei fielen ihr ihre wilden schwarzen Locken vor die Augen, die sie geschwind mit einer Hand hinter die Ohren klemmte. Jetzt erkannte sie vereinzelte silbrige Fischchen, die nervös hin- und herflitzten. In einer Ecke haftete ein Dutzend Seeigel und an den Wänden verstreut hatten sich die gewöhnlichen gerippten Muscheln festgesaugt.
«Eigentlich sind das keine Muscheln, sondern Napfschnecken», verbesserte sich Nilin.
Mit den Augen forschte sie zwischen den Algen weiter nach dem Urheber der Luftblasen.
Nichts.
Ungeduldig griff sie mit der einen Hand ins Wasser, um die glitschigen Pflanzen zu teilen und so allenfalls den Blick auf ein sich versteckendes Tier zu erhaschen.
Wieder nichts.
Sie hatte die Hand nach wie vor zwischen den aufgescheuchten Fischchen, die gestresst hin- und herschossen, als weitere nussgrosse Blasen an die Oberfläche strebten. Fasziniert näherte sie sich ihr, bis die Nasenspitze ins Wasser tauchte. Auf einmal verlor sie das Gleichgewicht und plumpste kopfüber in den Teich. Anstatt schmerzhaft gegen den harten Untergrund zu prallen, verspürte sie einen ungeheuren Sog am Körper und ein dumpfes Surren in ihren Ohren.
KAPITEL 2
Unter Wasser
Nilin schluckte Salzwasser. Todesangst stieg in ihr hoch. Instinktiv schloss sie den Mund, ruderte und strampelte wild. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie hektisch um sich. Sie war nicht ins Becken gefallen, sondern ins Meer! Wie sie auf seinem Grund gelandet war, dafür gab es keine Zeit zum Nachdenken. Sie musste schleunigst Luft holen!
Hastig stiess sie sich vom sandigen Meeresboden ab und versuchte, mit kräftigen Arm- und Beinbewegungen möglichst schnell aufzutauchen. Verzweifelt presste sie die Lippen zusammen, denn ihre Lungen schrien nach Sauerstoff.
Nach einem vergeblichen Kampf war der angeborene Reflex stärker. Ihr Mund öffnete sich und sie japste gierig nach Luft. Stattdessen drang aber Wasser hinein und dieses Mal auch in die Lungen. Das war ihr sicheres Ende. Sie glaubte, bald ohnmächtig zu werden. Ihre Lungen brannten und wollten das fremde Element auswürgen, worauf sie sich gleich erneut verschluckte. Nach und nach war es kein Würgen mehr, sondern ein Ausstossen, auf das wieder ein Einsaugen folgte, und die Schmerzen in ihrer Brust verschwanden allmählich. Erstaunt realisierte sie, dass sie durch diesen Vorgang irgendwie zu Sauerstoff gelangte! Langsam liess die schlimmste Panik, nämlich die zu ersticken, nach.
Desorientiert schaute sie um sich. Bisher hatte sie einzig den Grund wahrgenommen. Sie befand sich ein gutes Stück unter dem Meeresspiegel. Sonnenstrahlen drangen bis zu ihr und zauberten ein wundervolles Lichtspiel ins transparente Blau.
«Ich muss eiligst an Land», dachte Nilin und schickte sich an, nach oben zu schwimmen, «sonst unterkühle ich, so kalt wie der Atlantik zu dieser Jahreszeit ist.»
Erst in dem Moment bemerkte sie, dass sie entgegen ihrer Annahme nicht fror. Sie hielt inne und schwebte eine Weile an derselben Stelle. Um sich herum registrierte sie Fische verschiedener Grössen und Farben, die in Schwärmen oder einzeln unterwegs waren. Der sandige Grund ging zu ihrer Rechten in eine zerklüftete, mit Muscheln übersäte Felswand über, die bis zur Wasseroberfläche zu reichen schien. Ihr Gesicht war zum Ufer gewandt, da das Gelände vor ihr leicht anstieg.
«Das ist sicher das Riff an seinem tiefsten Punkt», erkannte Nilin und beobachtete, wie eine Krabbe eine braun gestreifte Felsengarnele verfolgte. Ihr Blick wanderte von den Tieren weg, den Meeresboden entlang und stoppte am Rand einer Seegraswiese, wo ein roter fünfarmiger Seestern lag. Sie zögerte. Zwar hatte sie bereits einige dieser Stachelhäuter in den Händen gehalten, allerdings war es das erste Mal, dass sie selbst einen fand.
«Ich hole den Purpurstern und tauche dann auf», beschloss sie. Zielstrebig näherte sie sich ihm und nahm ihn behutsam in die Hand. Seine Arme waren länger als ihre Finger und seine Oberfläche hatte etwas Seifiges. Aus kleinen Vertiefungen wuchsen kurze schwarze Stacheln. Neugierig drehte sie ihn, um seine Unterseite zu erforschen. In der Mitte entdeckte sie eine Öffnung, die wohl das Maul war, und auf jedem seiner Arme befanden sich zwei Reihen mit Saugfüsschen.
Während sie innerlich mit sich rang, ob sie den Seestern nach oben mitnehmen oder lieber in seinem Lebensraum zurücklassen sollte, zogen grosse Luftblasen an ihr vorbei. Diese erinnerten sie wieder an den kleinen Teich, an dem sie vor ein paar Minuten gesessen hatte. Zweifelnd schüttelte sie den Kopf. Der Teich, die Luftblasen, der Fall ins Becken, die Angst zu ertrinken, das Atmen unter Wasser … Sie kam zum Schluss, dass sie träumte. Nervös zwickte sie sich in ihren Unterarm.
«Autsch!» Das tat weh. «Aber kalt ist mir nicht. Deshalb muss es doch ein Traum sein», redete sie sich ein, «und allein, dass ich unter Wasser atme!»
Schliesslich fiel ihr ein zusätzliches Detail auf. Sie griff sich mit der freien Hand an den Kopf. Sie trug keine Taucherbrille und sah trotzdem glasklar! Wahrscheinlich war sie einfach auf dem Riff eingeschlafen.
«Träume dauern bekanntlich nur Sekunden», versuchte sie, sich zu beruhigen. «Folglich kann nichts passieren. Gewiss wache ich bald wieder auf. Andere fliegen und ich atme halt unter Wasser. Das ist sicher dasselbe.» Und die Luftblasen im Becken? Hatte sie sich diese bloss eingebildet? Vielleicht war sie zu jenem Zeitpunkt schon eingenickt und sie gehörten bereits zum Traum. Und nun schwebten sie an ihr vorbei und stiegen der Felswand entlang in die Höhe.
Der Seestern glitt aus ihrer Hand und langsam, wie hypnotisiert, bewegte sie sich in die Richtung, aus der die nussgrossen Blasen auftauchten, nämlich hin zum anderen Ende der Seegraswiese. Der Boden fiel hier leicht ab. Gleichzeitig nahm ein schmerzhafter Druck in ihren Ohren zu und zwang sie, die Nase zuzuhalten und einmal kräftig mit geschlossenem Mund zu niesen. Ein Ploppen im Trommelfell verschaffte sofort Erleichterung.
Immer mehr Braunalgen wuchsen zwischen dem Seegras und verdrängten es am Ende vollständig. Nach weniger als hundert Metern erreichten sie die Grösse eines Erwachsenen und wiegten sich einheitlich im Rhythmus der Meeresströmung. Leider hafteten auch an ihnen Fetzen von Plastikmüll.
«Wir Menschen sind so idiotische Ignoranten», dachte Nilin bekümmert. Die weltweite Verschmutzung der Ozeane und die Untätigkeit der Regierungen, geeignete Massnahmen zu treffen, beschäftigten sie sehr.
Die Blasen, die an ihr vorbeistrichen, rissen sie aus ihren düsteren Gedanken. Diese tanzten, eine hinter der anderen, über den Tangwald hinweg und da – endlich! – brach ihre Kette ab. Genau an dieser Stelle schob sie die Algen auseinander, wo ihr tatsächlich neue aus der Tiefe entgegenkamen. Ihr Blick wanderte an ihnen hinab bis zum Grund. Funkelte dort unten nicht etwas Orangefarbenes? Nilins Herz pochte schneller. Und wenn das ein Raubfisch war?
«Ein oranger Raubfisch …», grübelte sie. «Davon habe ich noch nie gehört. Oder eine Qualle? – Nein, das wird es auch nicht sein. Ausserdem stossen weder Fische noch Quallen so viel Luft aus, und orange Meeressäuger gibt es nicht!», redete sie sich ein.
«Vermutlich ist es ein oranges Schlauchboot mit einem Leck», rätselte sie weiter und näherte sich zögernd dem mysteriösen Gegenstand.
Es war kein Schlauchboot, sondern ein ovales Ding, das einem gigantischen Osterei glich. Sein Äusseres glänzte je nach Lichteinfall gelborange, silbrig bis bläulich wie beim Perlmutt auf der Innenseite von bestimmten Muschelschalen. Konnte es eine Riesenperle sein? Von einer Monstermuschel?
Erschrocken suchte Nilin die Umgebung ab, wo sie zum Glück nichts Derartiges entdeckte. Die Grösse und der orange Schimmer des Fundes irritierten sie. Locker hätte sie in Embryostellung hineingepasst, und orange Perlen waren ihr nicht bekannt. Sie nahm all ihren Mut zusammen und berührte mit dem Zeigefinger für den Bruchteil einer Sekunde die Oberfläche.
Nichts.
Beim zweiten Mal hielt sie den Kontakt länger. Das Material war glatt und fest. Der befürchtete elektrische Schlag, wie er von manchen Aalen erzeugt wurde, blieb erfreulicherweise aus. Es musste Perlmutt sein und nicht zum Beispiel Fischlaich, weil der eine gallertartige Konsistenz hätte. Dann legte sie die Handfläche darauf. Das Objekt strahlte eindeutig Wärme ab! Aufgeregt untersuchte sie es und bemerkte einen kleinen Riss, aus dem die geheimnisvollen Luftblasen entwichen.
«Also doch ein Ei», stellte sie aufgeregt fest. Gespannt lauschte sie an der Schale. Ein seltsames Geräusch drang heraus: «Bum, bum-bum, bum, bum-bum …»
Aus einem Impuls heraus pochte Nilin vorsichtig gegen das ovale Ding und verharrte bewegungslos am selben Fleck. Unterlag sie einer Sinnestäuschung oder hatte sich im Innern tatsächlich etwas gerührt? Lediglich für einen kleinen Moment und kaum wahrnehmbar?
Und jetzt? Sollte sie die Handlung wiederholen? Vielleicht war es das Ei einer gefährlichen Muräne, zumal sie den Nachwuchs dieser aalartigen Raubtiere nicht kannte. Sie schaute um sich. Die Algen wuchsen auf steinigem Untergrund, hingegen genau um sie herum spärlicher. Einige Meter hinter ihr befand sich ein Felsblock, der ihr ein gutes Versteck bot.
Wollte sie es wirklich erneut wagen?
Sie zauderte eine Weile, bis die Neugier siegte. Entschlossen klopfte sie kräftiger gegen das Gehäuse und schwamm danach schleunigst zum Felsen. Als sie sich dahinter duckte, sah sie gerade noch, wie das Ei kurz hin- und herschwankte. Der zuvor kleine Riss zog sich währenddessen in die Länge und wurde von einem dumpfen Krachen begleitet.
Nilin war entsetzt über ihre Kühnheit und ihren Leichtsinn. Überall bildeten sich Sprünge und ein Seitenteil fiel auf den Meeresboden. Aus der entstandenen Öffnung wurde etwas Blaugrünes herausgestossen, das einem zerknitterten Fledermausflügel ähnelte. Auf der gegenüberliegenden Seite erschien ein zweiter. Anschliessend krachte es auf der Rückseite. Aus dem klaffenden Loch bahnte sich ein langer blauer Schwanz mit blaugrünen Zacken und einer Pfeilspitze seinen Weg ins Freie. Pranken mit Schwimmhäuten durchbrachen wenige Sekunden später die Vorderseite.
Das nackte Grauen packte Nilin. Was hatte sie nur angestellt?
Soeben brach auch der obere Teil des Eis und ein echsenartiger Kopf reckte sich in die Höhe. Aus seinem Maul, aus dem spitzige Zähne hervortraten, hing eine knallrote und gespaltene lange Zunge, identisch der einer Schlange. Die Nasenlöcher waren ungefähr so gross wie die Nüstern eines Pferdes, aus denen das Meeresungeheuer Furcht einflössend schnaubte und Luftblasen aufsteigen liess. Ein Paar kleine Hörner thronte auf seinem Haupt und zwei seltsame fächerartige, auf der Innenseite behaarte Ohren standen seitlich ab.
Da öffnete das blaugrüne Monster die bis dahin geschlossenen Augen und blinzelte ins Licht. Sie waren schrecklich. Die Iris hatte dieselbe gelborange Farbe wie die Eierschale, einfach leuchtender … ja, so leuchtend, dass sie Licht versprühten! Und die vertikal geschlitzten Pupillen, die geschuppte Haut …!
Nilin traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Zu guter Letzt zerbrach das Wesen seine Behausung vollends und begann, seine Glieder zu strecken. Vor Schreck gelähmt erkannte Nilin, dass sie nicht irgendeine Bestie aufgeweckt hatte, sondern einen leibhaftigen Drachen!
Angestrengt sog dieser durch seine Nase Wasser ein, und kurz darauf blickten seine funkelnden Augen in ihre Richtung. Ein Gefühl sagte ihr, dass er sie roch oder schmeckte. Und sie wünschte sich momentan nichts anderes als an einen weit entfernten Ort.
Zu ihrem Entsetzen fuhr das blaue Ungeheuer den Hals nun in voller Länge aus, sodass sein wuchtiger Unterkiefer über den Felsen und sie hinwegragte. Sie hätte die glitzernden Schuppen mit der Hand leicht berühren können. Die bedrohliche Nähe löste in ihr ein heftiges Zittern aus, das eine Strömung verursachte. Der bizarre Kopf machte eine abrupte Drehung und blickte direkt in ihr von Todesangst versteinertes Gesicht.
«Jetzt ist’s aus mit mir!», war das Einzige, was sie zu denken vermochte.
Das Maul des Untiers verzerrte sich.
«Es wird mich fressen!», schrie es in Nilin.
Entgegen ihrer Annahme sperrte es sein Maul nicht auf und fletschte auch nicht seine scharfen Zähne. Es verzog bloss die Mundwinkel nach hinten oben. Und der Rest seiner Miene wirkte irritierend weich, beinahe liebevoll.
War das ein Drachenlächeln?
Das Wesen bewegte sein Haupt noch näher zu Nilin hin, deren Herzschlag auszusetzen drohte, und rieb es behutsam an ihrer Schulter. Aber weil sie nicht reagierte, sondern unbeweglich vor ihm kauerte, liess es traurig den Kopf hängen und wollte sich schon zurückziehen, als ihre Finger instinktiv sanft über seine Wangen streichelten. Und sofort kehrte das Lächeln auf sein Antlitz zurück.
Freudig wandte es ihr eins seiner fein behaarten, fächerartigen Ohren zu. Sachte fing sie an, ihn dahinter zu kraulen. Darauf liebkoste sie auch seinen grünblauen Hals, der sich angenehm warm und glatt anfühlte. Blitzschnell zog sie ihre Hand zurück, als plötzlich ein lautes Rumoren ertönte.
Nach wenigen Sekunden rumpelte es ein zweites Mal. Es kam tief aus dem Bauch des Reptils!
Nilin erschauderte. Knurrte da etwa sein Magen?
Im selben Augenblick schaute es sie an und öffnete das Maul. Schützend nahm sie die Arme vor ihr Gesicht, in der Meinung, dass es endgültig um sie geschehen war. Es hatte mit ihr gespielt wie eine Katze mit der Maus, und jetzt musste sie sterben. Sie wartete auf das Unvermeidliche.
Nichts passierte.
Vorsichtig guckte sie zwischen ihren Armen hindurch. Seine Schnauze befand sich weiterhin direkt vor ihr und seine gelborangen Augen blickten sie verloren an.
«Hunger?», fragte sie ihn leise und gleichzeitig fiel ihr ein, dass er vermutlich weder die Fähigkeit besass zu sprechen noch sie zu verstehen. Deshalb bewegte sie ihre Hand zum Mund, so als würde sie einen Happen Essen zu ihm führen, kaute auf der imaginären Nahrung herum, um sie danach hinunterzuschlucken. Neugierig schnupperte der Drache an ihrer Hand, während sie überlegte, was auf seinem Speiseplan stehen könnte. Sicherlich irgendwelche Fische …
«Komm, suchen wir dir etwas, was dir schmeckt!», rief sie und forderte ihn mit einer Geste auf, ihr zu folgen.
Willig schwamm er hinter ihr her. Schon bald stiessen sie auf einen Fischschwarm, der zwischen den Algen nach Futter Ausschau hielt. Aufmerksam betrachtete sie das Riesenbaby. Allerdings blieb der von Nilin erwartete Reflex aus, nämlich dass es automatisch nach den schlanken silbrigen Tieren schnappen würde. Ungeduldig zeigte sie auf die Fische und deutete hinterher auf ihren aufgesperrten Mund, um es zum Fressen zu ermuntern. Der Drache musterte sie mit einem verdutzten Gesichtsausdruck.
«Anscheinend nicht», murmelte sie, «obwohl diese Goldstriemenbrassen bei den Menschen sehr beliebt sind.» Sie zuckte verständnislos mit den Schultern und schickte sich an, zum Riff zu tauchen, wo es eine Menge Krustentiere gab.
Sie kamen an der Seegraswiese vorbei, an der die blaue Echse interessiert schnüffelte. Der Seestern lag nach wie vor am selben Fleck, wo er Nilin aus der Hand gerutscht war. Besorgt beobachtete sie, wie sich ihr Begleiter ihm näherte. Dieser berührte ihn mit seinem Maul, worauf er niesen musste. Die feinen Stacheln des Seesterns hatten ihn offenbar gekitzelt. Danach schubste er ihn mit einer seiner Tatzen, sodass der fünfarmige Meeresbewohner auf dem Rücken landete. Sogleich begann dieser sich wieder umständlich umzudrehen, was so seine Zeit beanspruchte.
Am Riff angelangt, dachte Nilin, dass ihr neuer Freund sich auf irgendeine Krabbe oder Garnele stürzen würde. Nichts dergleichen traf ein. Nicht einmal die Seeanemonen, die wie rotbraune Pferdeäpfel am Felsen klebten, waren imstande, seinen Appetit zu wecken. Hingegen nahm er sich Zeit, jedes Lebewesen zu bestaunen.
KAPITEL 3
Verständigung mit Hindernissen
Nach und nach weckte das Element Wasser die Experimentierfreude des Drachenjungen. Voller Tatendrang machte er sich daran, in ihm verschiedene Fortbewegungsarten zu erforschen.
Wie ein Pfeil schoss er nach oben, um einen Augenblick später wieder nach unten zu gleiten. Er schlug Purzelbäume und spielte Fangen mit seinem gezackten Schwanz. Anschliessend ruderte er allein mit seinen fächerartigen Ohren, um darauf nur mit den Flügeln und am Ende einzig mit dem Schwanz voranzukommen. Und als er entdeckte, welche Geschwindigkeit er erreichte, wenn er Ohren, Flügel und den Schwanz gleichzeitig einsetzte, war er im Nu aus Nilins Sicht verschwunden. Diese hatte versucht, mit ihm Schritt zu halten. Aber ihre erschöpften Muskeln zwangen sie zu einer Verschnaufpause und sie rechnete damit, dass sie den Drachen verloren hatte.
Unschlüssig, was sie jetzt tun sollte, verharrte sie eine Weile am selben Ort. Das seltsame Wesen kehrte nicht mehr zurück.
Wo war sie eigentlich?
Panik stieg in ihr auf. Sie wollte nach Hause. Der Strand lag gewiss fern, da sie nichts weiter als eine blaue Masse um sich herum wahrnahm. Den Meeresboden konnte sie nicht mehr erkennen. Unter ihren Füssen herrschte eine bedrohliche Dunkelheit.
Entschlossen strebte sie nach oben, dem Licht entgegen. Auf halber Strecke tauchte aus der Richtung, in die die Echse abgerauscht war, eine grosse Gestalt auf. War sie es? Falls es ein Hai war, hatte sie keine Chance. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken, und das Ufer war zu weit weg. Erleichtert atmete sie auf, als sie die deutlichen Umrisse des Drachen ausmachte.
Freundlich stupste er Nilin an die Schulter und schwamm wieder in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Sollte sie ihm wirklich folgen?
Er nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich ihr abermals näherte, mit dem Maul den Kragen ihres T-Shirts packte und sie auf seinen Rücken hievte. Sie landete zwischen zwei grünen Zacken hinter seinen Fledermausschwingen, an denen sie sich festhielt. Ihre Finger griffen dabei in einen weichen Flaum. Verdutzt stellte sie fest, dass auf der Innenseite der Flügel feine Härchen wuchsen, genauso wie in seinen Ohren!
Unter ihr spürte sie, wie er seine Muskeln anspannte, um nahezu gleichzeitig mit seinem kräftigen Schwanz auf und ab zu schlagen, wobei sie fast den Halt verlor. Die Flügel und Ohren benutzte er geschickt zum Steuern. Die Angst hinunterzurutschen und die Aufregung, auf einem Drachen zu reiten, erzeugten in Nilin schwindelerregende Gefühle.
Nachdem sie eine Zeit lang dahingeglitten waren, durchdrang immer helleres Licht das Wasser und Nilin machte von Neuem den Meeresboden aus. Zusätzlich registrierte sie eine stärkere Strömung, die auf die Nähe der Küste hinwies.
Der Grund war steinig und mit roten Algen übersät, die die Form und Länge von rötlichen Nudeln hatten und in Büscheln wie Wuschelköpfe zwischen den Felsspalten hervorlugten. Dazwischen entdeckte sie neben Seeigeln und Seetomaten Kolonien von schwarzen Miesmuscheln, die ihre Eltern so gerne assen.
Ährenfische, längliche dünne Tiere, deren Körper durchsichtig zu sein schienen, jagten Flohkrebse, indem sie ihre spitzen Köpfe zwischen die Algen steckten. Sobald diese die beiden Eindringlinge sahen, stoben sie auseinander. Und herrje, auch hier schwebten überall Plastikpartikel herum.
Der Drache steuerte schnurgerade auf die Rotalgen zu, riss mit der Pfote ein Bündel aus und stopfte es sich ohne zu zögern ins Maul. Nilin flog durch den jähen Stopp über seinen Kopf hinweg und landete sanft vor ihm. Die Wassermasse hatte den Schwung abgebremst und somit einen heftigen Aufprall verhindert.
Überrascht schaute er sie an und bot ihr spontan eine Handvoll dieser roten Nudeln an. Skeptisch nahm Nilin sie entgegen. Sie kamen ihr bekannt vor. Na klar! Es war Lappentang, in ihrer Heimat ‹Dulse› genannt, wo sie getrocknet gegessen wurden. Aber ehrlich gesagt, mochte sie ihn nicht besonders. Also rümpfte sie die Nase, schüttelte den Kopf und musste lachen: «Zum Glück bist du Vegetarier. So besteht keine Gefahr für mich, dass du mich verschlingst!»
Plötzlich fing der Angesprochene zu spucken und zu würgen an. Ein Ausdruck des Ekels trat in sein Gesicht. Mit einer Kralle zog er einen länglichen verwitterten Fetzen einer transparenten Plastiktüte aus dem Maul.
«O nein, das darfst du nicht essen. Das ist Plastik!», schrie Nilin entsetzt. Und bei sich dachte sie: «Erst seit Kurzem auf der Welt, und schon hat er Müll im Magen. Wahrscheinlich gibt es heutzutage kein Meerestier mehr, das keinen verschluckt hat. Der Plastikfetzen muss zwischen den Blättern des Lappentangs gehangen haben.»
Ihre Worte tönten unter Wasser eher wie ein Gurgeln. Natürlich waren Neugeborene nicht fähig zu sprechen, trotzdem hoffte sie, dass der frisch geschlüpfte Drache sie irgendwie verstehen würde. Daher fragte sie ihn: «Wie heisst du eigentlich?»
Obwohl der Satz vom Meer verschluckt wurde, fuhr sie fort: «Ich heisse Nilin.»
Dabei zeigte sie auf ihre Brust und wiederholte: «N-i-l-i-n.»
Überraschenderweise vernahm sie, kaum hatte sie ihren Namen ausgesprochen, ein Echo desselben. Verdutzt schaute sie ihr Gegenüber an, das sie aufmerksam beobachtete.
«Nilin», hallte es wie zuvor im Schädel des Mädchens. Und um ihre Vermutung zu bestätigen, erklang nochmals hintereinander: «Nilin, Nilin, Nilin!»
Jetzt war sie sich sicher. Die Stimme in ihrem Kopf war die des Drachen! Neugierig, ob diese Taktik auch mit anderen Begriffen funktionierte, deutete sie auf den Lappentang: «A-l-g-e.»
Und wie erwartet formten sich in ihrem Gedächtnis dieselben Buchstaben zu ‹Alge›. Zur Bestätigung nickte Nilin. Als Nächstes steckte sie sich eine geringe Menge von der roten Alge in den Mund und täuschte vor, genüsslich darauf herumzukauen, obschon sie sie scheusslich fand, und betonte: «E-s-s-e-n.»
Der frisch erkorene Schüler tat es ihr nach und augenblicklich hörte sie ‹Essen›, worauf sie wiederum zustimmend den Kopf senkte. Begeistert testete sie ihn ebenso mit den Fischen, Krebsen, Seeigeln und Muscheln.
Und nun wollte sie herausfinden, wie ihr geschuppter Freund hiess. Sie klatschte mit der rechten Hand auf die Brust und nannte ihren Namen, der eifrig vom Drachen nachgesprochen wurde. Im Anschluss richtete das Mädchen den Zeigefinger auf ihn.
Stille.
Er schaute sie ratlos an.
Nilin wiederholte den Vorgang.
Weiteres Schweigen.
«Wie heisst du?», repetierte sie die Frage.
Und prompt echote es: «Wie heisst du?»
Bereits ein wenig ungeduldig schüttelte sie den Kopf, was ihn verwirrte. «Ich Nilin.» Dabei wies sie abermals auf sich. «Du?», gleichzeitig machte sie eine Handbewegung zu ihm hin.
Der plapperte die Worte nach und imitierte diesmal auch die Gesten.
Dass jemandem das Sprechen zu lehren so schwierig war, hatte sich Nilin nicht vorgestellt. Wie sollte sie ihm beibringen, dass ‹du› die Person von einem gegenüber war und bei ‹ich› man sich selbst meinte?
Fieberhaft dachte sie über einen passenden Namen für ihn nach. Schliesslich gab es keine Anzeichen, dass er darüber Bescheid wusste. Neulich hatte sie eine der griechischen Sagen gelesen. Darin tauchte so ein seltsames Mischwesen auf, halb Pferd, halb Mann, sehr weise und Halbbruder vom Meeresgott Poseidon. Bis zum heutigen Tag hatte sie keine Ahnung über die Existenz von Drachen gehabt. Für sie gehörten sie zu den Fabeltieren wie dieser Zentaur. Das Drachenjunge schien intelligent und sehr lernfähig zu sein. Und Geschöpfe, die der Sprache mächtig waren, hatten jedenfalls etwas Humanes an sich. Obendrein, so glaubte sie sich zu erinnern, war der pferdeleibige Unsterbliche den Menschen wohlgesinnt.
Endlich fiel ihr ein, wie er hiess. Genau, Chiron. So wollte sie ihren Freund nennen. Entschlossen stupste sie ihn, während sie sagte: «Chiron.»
«Chiron», vernahm sie prompt.
Den jeweils zugehörigen Namen aussprechend, deutete sie zuerst auf ihn, dann auf sich. Er reagierte sofort, indem er sie nachahmte und zu ihrer Freude die Namen korrekt zuwies. Vor lauter Glück, dass es geklappt hatte, umarmte sie ihn stürmisch.
Dieses Mal rumorte es in Nilins Magen. Es war ihr Hunger, der sich meldete. Es musste längst Mittag sein und ihre Eltern sorgten sich bestimmt um ihr Wegbleiben.
Wie fand sie jedoch zur Muschelbucht zurück? Wenn sie Chiron nur begreiflich machen könnte, wieder zu den Überresten seines Eis zu schwimmen! Von dort aus gelangte sie leicht zum Riff.
Ihr kam eine Idee. Sie winkte ihm zu, sie zu begleiten. Nicht weit hatte sie eine Fläche sandigen Untergrundes erspäht. Dort malte sie mit den Fingern die Umrisse eines Eis hinein. Leider wurde ihr Freund aus der Zeichnung nicht schlau. Deswegen sammelte sie rasch mehrere herumliegende Steine zusammen, formte damit ein grosses Oval und erklärte: «Ei.»
Und ‹Ei› erklang es in ihrem Kopf. Nun versuchte sie, im Inneren des Eis so gut wie möglich mit den Steinen einen Drachen nachzubilden, und zeigte nach vollendeter Arbeit auf ihr Kunstwerk, während sie sprach: «Chiron.»
Der Genannte runzelte irritiert die Stirn. Nilin ging ein Licht auf. Er wusste ja gar nicht, wie er aussah. Also entfernte sie die Steine innerhalb des Eis und legte sich in Embryostellung selbst hinein. Obwohl er immer noch nicht begriff, spiegelte sich weiterhin Interesse in seinem Gesicht. So durchbrach das Mädchen mit einem Arm die Kontur des Eis, dann mit dem anderen die gegenüberliegende Seite, darauf folgten die Beine und am Ende stieg es aus ihr heraus. Mit grossen Augen hatte der Drachenjunge die Vorführung beobachtet und nickte verständig: «Ei – Chiron.»
Nilin bejahte, deutete auf sich, danach auf das Ei und zuletzt in die Richtung, aus der sie gekommen waren: «Nilin zu Ei von Chiron.»
Zum Zeichen, dass er verstand, stellte er sich seitlich zu ihr hin, um sie zum Aufsteigen aufzufordern, und sie machten sich auf den Weg.
Sie flogen regelrecht durch das Wasser hin zu Chirons Geburtsstätte. Doch, o Schreck! Sie sahen ihn zu spät. Über dem zerbrochenen Ei kreiste ein gewaltiger Hai. Bevor sie in der Lage waren, die Flucht zu ergreifen, entdeckte er sie. Sein Körper und seine Schnauze waren lang, der dunkelblaue Rücken bildete einen Kontrast zum weissen Bauch.
«Was sucht ein Blauhai so nahe an der Küste? Ich nahm an, dass wir Menschen nicht auf seinem Speiseplan stehen», schoss es Nilin durch den Kopf.
Das Raubtier raste mit bedrohlicher Geschwindigkeit auf sie zu. Nilin krallte sich krampfhaft an Chirons Hals fest und schrie ihm angsterfüllt ins Ohr: «Du musst schneller schwimmen, sonst erwischt er uns!»
Fatalerweise hatte das Drachenbaby mit dem Mädchen auf dem Rücken keine Chance. Der Hai holte auf und biss ihm mit seinen scharfen Zähnen in den Schwanz. Chiron krümmte sich vor Schmerz und Blut trat aus der Wunde. Zur Überraschung aller hatte die pfeilartige Schwanzspitze dem Angreifer beim Zuschnappen einen elektrischen Schlag verpasst, der ihn veranlasste, unverzüglich loszulassen.
Durch die abrupten und heftigen Bewegungen vermochte sich Nilin nicht mehr zu halten. Trotz grösster Anstrengung löste sich ihre Umklammerung und sie rutschte weg.
Zwischen dem Hai und Chiron entstand ein erbitterter Kampf. Der Drache schlug den Gegner mit seinem Schwanz und erteilte ihm bei jedem Volltreffer einen Elektroschock. Im Gegenzug gierte der Widersacher danach, ihn an den Beinen oder Flügeln zu erwischen.
Unterdessen versuchte Nilin, schleunigst die Wasseroberfläche zu erreichen. Je mehr sie sich dieser näherte, desto intensiver durchflutete das Sonnenlicht das Wasser und blendete sie. Es wurde so grell, dass sie nichts anderes als Weiss sah. Und da war es wieder, dieses Surren …
KAPITEL 4
Eine verborgene Welt
Als Nilin die Augen aufschlug, lag sie neben dem Becken. Das spitze Gestein des Riffs schmerzte. Verwirrt schaute sie um sich. Gerade eben hatte sie sich im Meer befunden, mit einem blauen Drachen und einem Hai, der sie beide angegriffen hatte.
Oder war sie auf dem Felsen eingeschlafen und hatte alles bloss geträumt?
Es fröstelte sie. Die Ursache waren die triefenden Kleider und Haare sowie Wasserperlen, die an ihren Armen und Beinen hinunterrannen. Eine Weile starrte sie in den kleinen Teich. Weil keine Luftblasen erschienen, steckte sie die Hand hinein. Zwar ertastete sie Seegras und vereinzelte Algen, sonst allerdings nichts. So neigte sie den Kopf zur glitzernden Oberfläche, um ihn am Ende ganz einzutauchen. – Nichts.
Wiederum bereute sie, keine Taucherbrille mitgebracht zu haben. Ohne konnte sie die Unterwasserwelt nur verschwommen erkennen. Vielleicht hatte sie Erfolg, wenn sie in das Becken hineinstieg und es mit den Händen abtastete? Unerfreulicherweise riskierte sie dadurch, auf einen Seeigel zu treten. Mit den Stachelhäutern hatte sie Glück. Der Grund war lediglich von den Algen glitschig. Jedoch wurde ihre Hoffnung, das Rätsel zu lösen, enttäuscht. Hier gab es keinen verborgenen Spalt, der direkt mit dem Meer verbunden gewesen wäre.
«Komisch», murmelte sie.
Sie schaute nach oben. Anstatt der erwarteten Regenwolken lachte die Sonne sie von einem strahlend blauen Himmel an. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Sie war bis auf die Haut nass. Gewiss war sie in den Tümpel hineingefallen. Aber sie entsann sich nicht, aus ihm wieder hinausgeklettert zu sein. Sie fand keine plausible Erklärung für ihren Zustand. Die Sonne war kurz davor, den Zenit zu überschreiten, und das Riff wurde bereits teilweise von Wellen überflutet. Dies bedeutete, dass sie auf ihm den ganzen Morgen verbracht hatte! So musste sie zu allem Übel die Strecke zum Strand schwimmen. Das Knurren ihres Magens und die Sorge, von ihren Eltern zurechtgewiesen zu werden, trieben sie schleunigst nach Hause. Und dort gab es auch das befürchtete Donnerwetter.
«Wo bist du gewesen?», wollte ihr Vater wissen.
«Wir haben dich überall in der Muschelbucht gesucht», tadelte ihre Mutter.
Das Letzte verstörte Nilin in höchstem Masse, was sie sich hingegen nicht anmerken liess. «Ähem, ich war schon dort, bin aber später dem Bach stromaufwärts gefolgt und dabei ausgerutscht und im Wasser gelandet», redete sie sich aus der Situation heraus. Damit hatte sie ihren Eltern obendrein die Ursache für ihre durchnässten Kleider liefern können, und sie beruhigten sich.
Den Rest des Tages grübelte sie über die Geschehnisse nach, kam aber zu keinem schlüssigen Resultat. Wenn die Eltern sie nicht auf dem Riff gesichtet hatten, wo war sie demnach zu diesem Zeitpunkt gewesen? An den darauffolgenden Tagen stattete sie dem mysteriösen Wasserbecken mehrere Male bei Ebbe einen Besuch ab. Trotz mitgebrachter Taucherbrille entdeckte sie nichts Besonderes.
An diesem Abend wälzte sie sich lange im Bett hin und her. Am Ende siegte die Müdigkeit und sie fiel in einen unruhigen Traum. Ein zähnefletschender Hai lauerte ihr auf und schnappte nach ihr. Vergeblich bemühte sie sich, vor ihm zu fliehen. Als sie ihm ins Gesicht sah, verschwammen seine Konturen und nahmen die Form eines anderen Wesens an. Es war das Gesicht dieses geheimnisvollen, doch äusserst sympathischen blauen Drachen. Er rief ihr irgendetwas zu, was sie leider nicht verstand. Dessen ungeachtet fühlte sie seine Angst. Und ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass er traurig war.
Verschwitzt und gedanklich aufgewühlt erwachte sie sehr früh. Die Morgendämmerung hatte kaum eingesetzt. Arko schlief wie immer auf seinem Hundekissen neben ihrem Bett. Um ihn nicht in seiner Nachtruhe zu stören, ging sie auf Zehenspitzen zur Zimmertür.
Sie hatte keine Chance. Er stand bereits, bevor sie sie erreicht hatte, schwanzwedelnd neben ihr.
«Okay, du hast gewonnen», kapitulierte Nilin, kehrte zum Bett zurück und klopfte mit der Handfläche auf die Decke.
Arko liess sich nicht zweimal bitten und sprang sofort auf ihr Bett, wo ihn niemand so einfach herunterholen würde.
Ohne zu frühstücken, lief sie mit der Taucherbrille in der Hand an den Strand hinunter. Zuvor hatte sie den Eltern eine Notiz geschrieben:
Ich bin im Wald auf Dachssuche,
weshalb ich Arko nicht mitgenommen habe.
Bis bald, Nilin.
Tatsächlich, es war Ebbe und der Felsen ragte aus dem Meer. Rasch suchte sie den rätselhaften Teich auf und hatte endlich Erfolg. Grosse Blasen stiegen aus seiner Tiefe auf. Sie legte sich behutsam auf den Bauch, um mit der Taucherbrille den Spalt aufzuspüren, durch den die Luftblasen in das Becken gelangen mussten. Eine andere Erklärung kam für sie nicht in Frage. Und in dem Moment fühlte sie es erneut, diesen starken Sog … und dasselbe durchdringende Surren erfüllte ihre Ohren …
Sie schluckte Salzwasser. Panik keimte in ihr auf. Während sie krampfhaft den Atem anhielt, versuchte sie, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es beim Eintauchen vor einigen Tagen gewesen war. Sachte saugte sie das Wasser in die Lungen, als wäre es Luft, und liess es anschliessend aus dem Mund strömen. Ihre Lungen brannten anfänglich, aber die Sauerstoffaufnahme im Meer funktionierte wieder. Langsam blickte sie um sich. Da war Blau, Blau und nochmals Blau.
Bevor sie in der Lage war, Einzelheiten zu erkennen, vernahm sie eine freundliche und überglückliche Stimme in ihrem Kopf: «Nilin! Ich Nilin sehr vermisst.» Und sanft legte jemand eine Pfote auf ihre Schulter. Es war eine blaue Pfote mit glitzernden Schuppen und hellgrünen Schwimmhäuten zwischen den Zehen.
Nilin brauchte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiederfand. Wortlos starrte sie den Drachen an und kniff sich in ihren Arm. «Autsch!» Der Schmerz war real. «Dann bist du wirklich echt und nicht bloss ein Traum? Und du sprichst schon so gut?»
«Chiron echt. Chiron lernt schnell», ertönte es stolz.
Doch bevor er fortzufahren vermochte, brach der ganze Frust der vergangenen Tage aus ihr heraus: «Wo warst du nach unserer Begegnung? Ich habe täglich auf dem Riff nach dir Ausschau gehalten. Aber da waren weder Blasen noch ein anderes Zeichen von dir!»
Offensichtlich verstand er ihre Worte, denn er senkte den Kopf. Auf der Stelle bereute Nilin ihren Vorwurf und schwieg. Der Drache erzählte ihr nun in gebrochenen Sätzen von der Auseinandersetzung mit dem Hai. Sie begriff, dass er sein Leben hatte verteidigen müssen und er es am Ende geschafft hatte, den Hai mit Elektroschlägen aus seiner Schwanzspitze davonzujagen. Der Kampf hatte ihn eine beträchtliche Strecke vom ursprünglichen Ort abgetrieben.
«Und als zum Ei zurück, du weg. Nachher ich dich suchen.» Das, was er jetzt sagte, war äusserst mysteriös. «Ich nicht können in deine Welt. In der Nähe der Wasseroberfläche ich mich auflösen. Nur sprechen zu Nilin über Traum.»
Hatte sie richtig gehört? Er wurde unsichtbar, sobald er auftauchte? Der einzige Weg, mit ihr in Kontakt zu treten, war der über den Traum?
Chiron nickte ihren Überlegungen immer wieder bejahend zu. Endlich kapierte sie, dass sie ebenfalls fähig war, allein über Gedanken mit ihm zu kommunizieren.
Neugierig berührte er ihr mitgebrachtes Sportutensil.
«Ah, das ist eine Taucherbrille, damit sehe ich unter Wasser besser», erklärte sie ihm. Gleichzeitig erinnerte sie sich, dass sie sich das letzte Mal auch ohne sie gut zurechtgefunden hatte. Flugs schob sie sie über die Augen auf die Stirn. In der Tat machte ihre Verwendung keinen Unterschied. Die Sicht blieb unabhängig von ihr scharf. Ausserdem war sie jetzt in der Lage, durch die Nase zu atmen, die zuvor von der Brille abgedeckt gewesen war.
Nach einer längeren Zeit des Schweigens – schliesslich musste Nilin diese Informationen irgendwie in ihrem Kopf ordnen – riss der Drache sie aus ihren Gedanken: «Komm, ich dir etwas zeigen, was ich entdeckt, als du weg!» Mit seiner grossen Schnauze deutete er ihr an, dass sie auf seinen Rücken klettern sollte.
Den Angriff des Hais noch sehr präsent, murmelte sie beim Aufsteigen: «Hoffentlich bringst du mich in eine Gegend, wo es keine gefährlichen Tiere gibt.»
«Dort Haie sehr selten. Du erster Mensch, der das zu Gesicht bekommt. Ihr nicht wisst, dass das existiert», antwortete er geheimnisvoll.
Kaum hatte sie aufgesessen, zielte er Richtung Meeresgrund, den sie im Nu erreichten. Eine Weile glitten sie über ihn hinweg. Die Fische, denen sie begegneten, schienen sich nicht vor dem Drachen zu fürchten. Ein kleiner Schwarm begleitete sie sogar ein Stück. Plötzlich hielt Chiron an.
«Was ist?», fragte Nilin.
Er antwortete nicht.
Vorsichtig spähte sie an seinem Hals vorbei nach vorne. Vor ihr war der Boden verschwunden. Langsam senkte sie den Blick. Sie standen am Rand eines felsigen Abgrundes. Unter ihnen klaffte eine schwindelerregende schwarze Tiefe, die sie nach unten zog.
Nilin erschauderte. Das war nicht etwa der grosse submarine Graben vor ihrer Küste!? Waren sie wirklich so weit geschwommen? Hier waren Riesenkalmare und Pottwale gesichtet worden!
«Da willst du doch nicht hinunter? Ohne mich!», protestierte sie vehement. «In diesem Nichts leben sicher Ungeheuer und wir werden uns verirren.»
Chiron schmunzelte schelmisch: «Ungeheuer wie ich durchaus. Aber dir kein Leid antun.» Verschmitzt fügte er hinzu: «Und schau, was meine Augen können!» Auf einmal durchdrangen zwei Lichter wie Scheinwerfer das dunkle Blau.
«Wow, wie machst du das?», wunderte sie sich.
«Keine Ahnung. Wir alle diese Fähigkeit haben», meinte er achselzuckend.
«Was wir alle?»
Chiron schwieg.
«Nun sag schon, wohin bringst du mich?», hakte sie ungeduldig nach.
«Also, ich dir verraten, dass ich nicht der Einzige meiner Spezies. Wohin, ist eine Überraschung», lachte er vergnügt.
Sie zögerte. «Ich weiss nicht. Diese unheimliche Finsternis bereitet mir eine Heidenangst. Und deine Artgenossen, sind die so nett wie du?»
Nach ermutigendem Zureden und obwohl er nicht auf die zweite Frage einging, stimmte Nilin letztendlich zu. Ihre Bedenken wegen der anderen Drachen schob sie mit der Überlegung beiseite, dass ihr Freund ebenfalls einer war und sie im Notfall beschützen würde. Beklommen umschlang sie Chirons Hals, der ihr Wärme und Sicherheit vermittelte. Beim Verlassen des Randes überkam sie ein Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füssen wegziehen. Sie verstärkte die Umklammerung, während Chiron kopfvoran in die Tiefe steuerte. Einmal mehr verfluchte das Mädchen seinen Wagemut. Das Licht der Drachenaugen erhellte die Umgebung und liess sie in eine fremde Welt eintauchen.
KAPITEL 5
Sympathische Diebe und ein seltsames U-Boot
Chirons Scheinwerfer reichten ungefähr vierzig Meter. Ausserhalb des Lichtkegels breitete sich unterhalb von ihnen eine undurchdringliche Schwärze aus. Von oben drang noch genügend Tageslicht zu ihnen durch, weshalb Nilin es bevorzugte, den Blick dorthin zu richten. Und so entdeckte sie einen Heringsschwarm, der über sie hinwegglitt und geschickt mit einer abrupten Richtungsänderung einem Dutzend blauer Nesselquallen auswich.
«O nein, die sind garantiert giftig», durchzuckte es sie, «aber unser Abstand zu ihnen sollte genügen, um nicht Gefahr zu laufen, durch ihre Tentakel gestreift zu werden.»
Aus sicherer Distanz bewunderte sie die schirmartige Form ihrer Körper und die violette Unterseite, die durch die gallertartige transparente Aussenhülle schimmerte.
Völlig überraschend wurde sie an die Schulter gestupst. Ihr Herz machte vor Schreck einen Aussetzer. Reflexartig drehte sie sich um. Sie traute ihren Augen nicht. Eine graue Schnauze blickte ihr direkt ins Gesicht und schnappte sich ihre Taucherbrille.
«He! Gib die mir sofort zurück!», protestierte sie lauthals.
Anstatt zu gehorchen, schleuderte der Dieb die Brille zu einem zweiten Delfin, der sie geschickt mit seinem Maul packte. Die beiden waren nicht allein. Von hinten näherte sich eine grosse Delfinschule.
Aufgeregt tätschelte Nilin Chirons Hals, der die grossen Tümmler natürlich längst entdeckt hatte. Diese schwammen um sie herum und berührten Nilin immer wieder herausfordernd mit der Nase. Zeitgleich breitete sich ein zunehmender Schmerz in ihrem Kopf aus, der ihre Schädeldecke und Ohren zu zerbersten drohte. Sie befürchtete, dass ihr nächstens das Trommelfell platzen würde. Ohrensausen stellte sich ein, das langsam in ein Pfeifen überging, wodurch der stechende Druck verschwand. Das waren eindeutig die Laute der Delfine, die sie jetzt innerhalb wie ausserhalb ihres Kopfes vernahm! Sie fühlte sich in eine Halle versetzt, in der jedes Geräusch zurückgeworfen wurde.
Endlich löste eine Bassstimme die Pfeiflaute ab, die sie zusammenfahren liess. Die Worte formten sich in ihrem Gehirn auf dieselbe rätselhafte Weise, wie es Chirons kindliche Stimme tat: «Wer ist dieses Menschenkind?»
Ohne zu zögern, antwortete der kleine Drache stolz: «Das ist Nilin, gute Freundin.»
In piepsigem Tonfall wollte jemand wissen: «Ah, ist das das Mädchen, das bei deiner Geburt anwesend war?»
«Ja genau», nickte Chiron.
Nun dämmerte es Nilin. Während ihres Aufenthalts an Land hatte ihr geflügelter Gefährte Kontakt mit anderen Meeresbewohnern aufgenommen. Und so wie er kommunizierten sie über Telepathie! Deshalb hatte er beim Sprechen derart rasche Fortschritte erzielt.
Die Delfingruppe begleitete die beiden, worüber Nilin sich freute. Der Haufen neckte sich gegenseitig und bestaunte fasziniert die Licht versprühenden Drachenaugen.
Fünf junge Tiere näherten sich neugierig Chirons Schwanz und erweckten den Eindruck, eine Art Mutprobe zu veranstalten. Ihm selbst war es dabei nicht sehr wohl, denn er war nicht erpicht darauf, ihnen wehzutun. Der Draufgängerischste kam ihm so nahe, als beabsichtigte er, ihn mit der Schnauze anzutippen. Doch im letzten Moment überlegte er es sich anders, drehte sich um und berührte Chirons Schwanzspitze mit seiner Fluke. Obwohl es den Elektroschlag erwartet hatte, schrie das Delfinkalb schmerzerfüllt auf und brachte sich eiligst aus der Gefahrenzone. Nur noch ein Waghalsiger wiederholte den Schabernack. Den Übrigen war die Lust am Spiel vergangen.
Nach einer Weile teilte eine besorgte Mutter dem ungewöhnlichen Paar mit: «Wir müssen euch jetzt verlassen, um Luft zu holen. Ausserdem halten wir uns schon in maximaler Tiefe auf. Viel Glück auf eurer Mission!»
Zum Abschied schwamm die ganze Schule nochmals um sie herum und strebte danach steil nach oben an die Wasseroberfläche.
«He, und was ist mit meiner Taucherbrille?», rief Nilin ihnen hinterher.
«Die du nicht mehr wiedersehen werden», lachte Chiron. «Delfine lieben Spielzeug.»
«Obwohl sie so frech sind, schade, dass sie weg sind», seufzte sie, «die waren äusserst unterhaltsam.»
«Delfine sehr gute Freunde von Drachen», bestätigte er.
Seit geraumer Zeit drang kein Licht mehr zu ihnen durch und die Meeresbewohner wurden immer skurriler. Sie wirkten, als würden sie schwerelos dahinschweben. «Wie ein Astronaut im Weltraum», dachte Nilin.
Bei einigen Fischen ragten spitze, lange Zähne aus dem Maul. Ihre Haut, ob mit oder ohne Schuppen, wurde zunehmend farbloser bis transparent.
Es war nicht allein diese alles verschlingende Dunkelheit, die sie belastete. Je weiter sie in den Grossen Graben hinabtauchten, desto kälter wurde es. Kontinuierlich kam ein Gefühl des Erdrücktwerdens in ihr auf, das später jeweils wie durch ein Wunder verschwand. Ihr Körper schien sich auf irgendeine geheimnisvolle Weise an das Gewicht der Wassermasse zu gewöhnen. Den Druckausgleich für die Ohren vollzog sie längst automatisch. Um nicht allzu sehr auszukühlen, schmiegte sie sich fest an Chiron. Leider entdeckte sie im Licht der Scheinwerfer andauernd Plastikstückchen und -fetzen, die leicht mit Plankton oder Quallen zu verwechseln waren.
«Das hat bestimmt fatale Konsequenzen für die Meerestiere», überlegte sie sich. «Ob man im Verdauungssystem der wirbellosen Kleinlebewesen wie Muscheln und Schnecken, die aus dem Wasser Plankton filtern, auch Plastikteilchen findet?»
Nach einer halben Ewigkeit ortete sie ein winziges Licht. Chiron hatte es ebenso bemerkt. «Du einmal gehört von Tiefsee-Anglerfischen?», erkundigte er sich.
«Sind das jene, die ein Teil vor dem Kopf tragen, das einer Glühbirne ähnelt, um kleine Fische anzulocken?»
«Genau. Licht von diesem stammen!»
«So weit unten sind wir?!», staunte Nilin. «Gibt es hier wirklich Riesenkalmare und Pottwale?»
«Ja, wirklich. Allerdings nur mit Glück du sie antreffen», meinte er.
«Oder Pech», murmelte sie, die keinerlei Lust verspürte, solch gigantischen Wesen zu begegnen. «Wann erreichen wir endlich unser Reisez…?» Ihr versagte die Stimme. Denn in diesem Augenblick nahm sie einen monströsen, länglichen Fleck vor sich wahr. «Was ist das?», stammelte sie bange.
«Ich nicht wissen», erwiderte er und schwamm entgegen ihren Protesten in Richtung des gewaltigen Schattens. «Keine Angst. Es sich nicht bewegen und kein Geräusch machen», versuchte er sie zu beruhigen.
Seine Worte beruhigten sie mitnichten.
---ENDE DER LESEPROBE---