Chocolate, please! - Gerda Bean - E-Book

Chocolate, please! E-Book

Gerda Bean

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Beschreibung

In Chocolate, please! erzählt Gerda Bean autobiografisch angelehnt von der kleinen Thea. Thea lebt mit Vater, einem Fagottisten im Kurorchester, ihrer Mutter und ihrem Bruder in Süddeutschland, und hat bisher (es ist 1944) vom Krieg noch nicht wirklich viel mitbekommen. Klar ist es ärgerlich, als ihr geliebtes Radio von einem Soldaten abgeholt wird und später auch irgendwann das einzige Fahrrad der Familie, aber viel belastender findet Thea das Getuschel der Nachbarinnen, die im Lebensmittelgeschäft tratschen, warum Theas Vater noch immer zu Hause ist, während ihre Männer und Söhne schon lange eingezogen wurden. Der Leser begleitet Thea durch die letzten Kriegsmonate, die sie bei der Großmutter in Thüringen erlebt, die zweite Hälfte spielt dann wieder im inzwischen von Frankreich besetzten Baden-Baden. Bean zeichnet die Jahre aus dem Blickwinkel eines Kindes, das im Kleinen erlebt, was im Großen angerichtet wurde. Da ist einerseits eine Unbekümmertheit, aber auch der ständig nagende Hunger, die Offenheit, mit der sich Kinder begegnen und die Vorurteile der Erwachsenen, die Freundschaften zwischen Deutschen und Franzosen zunichte machen.

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Seitenzahl: 216

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für alle Kinder auf der Welt, die sich Frieden wünschen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Der blöde Krieg

Kapitel 2: Ein Zug fährt ab

Kapitel 3: Bei Oma

Kapitel 4: Ungezogene Dinger

Kapitel 5: Trübe Stimmung und Apfelringe

Kapitel 6: Dableiben

Kapitel 7: Im Keller

Kapitel 8: Ein weißes Rinnsal

Kapitel 9: Es kracht

Kapitel 10: Kann man in die Zukunft schauen?

Kapitel 11: Der Mondmann

Kapitel 12: Plötzlich ist es still

Kapitel 13: Die Amerikaner sind da

Kapitel 14: Chocolate, please!

Kapitel 15: Rote Fahnen und ein Kleid

Kapitel 16: Auf den Feldern und im Wald

Kapitel 17: Der erste Schultag

Kapitel 18: Abschied

Kapitel 19: Daheim

Kapitel 20: Milch und Äpfel

Kapitel 21: Sneller! Sneller!

Kapitel 22: Frohe Weihnachten!

Kapitel 23: Noch ein Geschenk

Kapitel 24: Malen und schreiben

Kapitel 25: Drei Briefe

Kapitel 26: Eine rote Flamme zischt vorbei

Kapitel 27: Auf dem Friedhof

Kapitel 28: Wenn doch nur immer Sommer wäre!

Kapitel 29: Pakete aus Amerika

Kapitel 30: Mama, die Köchin

Kapitel 31: Paris

Kapitel 32: Tränen

Kapitel 33: Was soll ich nur tun?

Kapitel 34: Zwei grüne Äpfel

Kapitel 35: Papa erzählt

Kapitel 36: Papa kann wieder lachen

Kapitel 37: Es geht wieder los

1

Der blöde Krieg

M ama, wann backst du wieder mal einen Kuchen?“, fragte ich.

„Wenn der Krieg vorbei ist“, sagte sie.

„Und wann ist der vorbei?“

„Hoffentlich bald“, antwortete Mama.

Dieser blöde Krieg. Ständig redeten die Leute davon. Egal, wo man war. Beim Gemüsehändler, Bäcker oder Fleischer. Wenn Mama die Lebensmittelkarten über die Theke reichte, damit die Verkäuferin mit einer Schere Marken abschneiden konnte, erwähnte mindestens einer im Laden den Krieg. Und die anderen nickten mit ernsten Gesichtern. Was er wirklich bedeutete, verstand ich nicht. Denn wir lebten in einer kleinen Stadt, in der oft die Sonne schien, in der es bisher noch keinen Fliegerangriff gegeben hatte und keine Bomben gefallen waren.

Hatten wir einfach nur Glück gehabt, oder war unsere Stadt viel zu schön, um sie kaputt zu machen?, fragte ich mich.

Unsere Stadt schmiegte sich an dunkelgrüne Berge und hatte ein Kurhaus und einen Kurpark mit einer großen Muschel, in der Papa mit anderen Männern musizierte. Heute Nachmittag war er auch dort. Hoffentlich kam er bald nach Hause.

Ich ging ans Fenster, vielleicht kam er ja schneller, wenn ich ihn mir ganz fest herbeiwünschte. Mir war langweilig. Peter, mein Bruder, der in die dritte Klasse ging, machte Schularbeiten und wollte nicht gestört werden.

„Mama, wie lange gibt es denn schon Krieg?“, löcherte ich deshalb meine Mutter.

„Ach Thea, das weißt du doch!“

„Ich bin jetzt schon fast sechs.“

„Stimmt, und als der Krieg begann, warst du neun Monate alt“, sagte Mama und bügelte weiter. „Also noch ein kleines Baby. Und nächstes Jahr kommst du schon in die Schule.“

„Ja, da freu ich mich drauf. Dann bin ich ein großes Schulmädchen und Peter darf mich nicht bei meinen Hausaufgaben stören!“

Ob Papa nach der Arbeit vielleicht noch ein bisschen Luft schnappen will?, überlegte ich. Hoffentlich fragt er mich dann, ob ich mitkommen möchte. Natürlich würde ich Ja sagen, denn für mich gab es nichts Schöneres als mit ihm Rad zu fahren.

Ich schaute die Straße entlang. Sie führte ziemlich steil bergab. Unser Haus war das letzte in einer langen Reihe. Es war dunkelrosa gestrichen und hatte drei Stockwerke. Unsere Wohnung lag genau in der Mitte und von unserem Wohnzimmerfenster aus hatte ich eine gute Sicht. Ich guckte gern hinaus und beobachtete die Leute. Heute waren aber nicht viele unterwegs.

Plötzlich tauchte ein Mann auf. War das Papa?

Dann sah ich, dass es der alte Herr Meier war, der vier Häuser weiter unten wohnte. Er überquerte die Straße ziemlich schnell und verschwand im Haus gegenüber. Molli, seine grau gestreifte Katze, rannte ihm hinterher und kratzte an der Tür der Nachbarin, die Herr Meier anscheinend besuchte. Die Tür öffnete sich einen Spalt und Molli schlüpfte hindurch. Das ging alles so schnell, dass Mollis Schwanz fast eingeklemmt wurde.

Wo blieb nur Papa? Jetzt war wieder ein Mann zu sehen. Das musste er sein. Ja, er war’s! In der einen Hand trug er einen langen Kasten und in der anderen eine Zeitung. Papa war eigentlich leicht zu erkennen, denn er hatte nicht mehr viele Haare auf dem Kopf. Herr Meier hatte allerdings noch viel weniger. Und unser Friseur am Ende der Straße hatte überhaupt keine mehr. Sein ganzer Kopf glänzte wie eine große, dicke Murmel.

Aber trotz seiner Glatze war mein Vater der schönste Mann weit und breit.

Alles kam dann so, wie ich es mir gewünscht hatte. Nachdem Papa seinen Fagottkasten verstaut, sich ein wenig mit Mama unterhalten und Peter, der eifrig in seinem Heft kritzelte, kurz über die Schulter geschaut hatte, fragte er mich tatsächlich, ob ich noch ein bisschen Luft schnappen wollte.

„Oh ja, Papa, ich brauch viel Luft!“, antwortete ich begeistert und rannte gleich in den Flur, um meine Schuhe anzuziehen.

Papa ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Er wollte ja seinen schönen Anzug nicht schmutzig machen und bequemer angezogen sein.

Dann stiegen wir die Treppe hinunter, und ich wartete vor dem Haus, bis Papa das Fahrrad aus dem Keller geholt hatte. Jetzt ging es los!

Es war herrlich, auf den Waldwegen um die Kurven zu sausen und den Wind im Gesicht zu spüren. Ich saß auf einem kleinen Sattel vor Papa und musste mich an der Lenkstange festhalten und aufpassen, dass meine Füße nicht von den Stützen am Vorderrad rutschten. Das Sonnenlicht blitzte durch die Tannenzweige, und ab und zu, wenn die hohen Bäume nicht zu dicht standen, grüßte der Kirchturm vom Hügel gegenüber. Die Ziegeldächer der Häuser, die um die Kirche herum standen, waren leuchtend rote Flecken zwischen den dunklen Ästen. Die Tannennadeln spritzten unter den Rädern zur Seite. Papa ist der beste Radfahrer auf der ganzen Welt, dachte ich.

Mitten im Wald gab es ein Wassertretbecken. Unsere Stadt war ja wegen der vielen Quellen, aus denen Thermalwasser sprudelte, ein Kurort. Und das Wasser, das ununterbrochen aus einem Rohr in das kleine steinerne Becken hinein- und durch ein anderes Rohr wieder ablief, war schön warm. In der Mitte des Beckens stand ein eisernes Geländer, an dem man sich festhalten konnte, wenn man im Wasser herumstapfte, was sehr gesund war, wie Papa mir mal erklärt hatte.

Papa hielt mit quietschenden Bremsen und ich durfte meine Schuhe und Socken ausziehen und im Wasser planschen. Papa setzte sich auf eine Bank und sah mir lächelnd dabei zu.

Nachdem ich genug im Wasser herumgestapft war, das mir bis zu den Knien ging, setzte ich mich neben ihn. Die Bank war schön warm, weil die Sonne darauf schien.

„Du kannst mein großes Taschentuch haben, um dir die Füße abzutrocknen“, sagte Papa und fügte lachend hinzu: „Keine Angst, ich hab es noch nicht benutzt. Es ist ganz sauber.“

Ich wischte mit dem Tuch an meinen Füßen herum, zog meine Socken wieder an und schob meine Füße in die Halbschuhe, die mir ein bisschen zu groß waren. Ich hatte sie nämlich von Peter geerbt, weil es kaum noch Schuhe zu kaufen gab.

Ein großer grüner Vogel pickte gar nicht weit von uns entfernt im Gras unter einem Baum herum.

„Das ist ein Grünspecht“, erklärte Papa. „Ist er nicht schön?“

„Ja. Darf ich ihn streicheln? Seine Federn sind bestimmt ganz weich.“

Papa lachte. „Probieren kannst du’s ja“, sagte er.

Vorsichtig stand ich auf und ging ganz langsam auf den Grünspecht zu. Ein Zweig knackte unter meinen Füßen. Der Vogel hob den Kopf und flog durch die Zweige davon.

Ich ging enttäuscht zur Bank zurück, setzte mich wieder neben Papa und fing an, mit den Schuhspitzen auf der Erde Kreise zu malen. Papa hob ein Stöckchen auf, das vor ihm lag, und zeichnete damit zwei Punkte in einen Kreis, einen kleinen Strich in der Mitte und einen halbrunden darunter. Es war ein lächelndes Gesicht.

Dann sagte Papa: „Komm, jetzt müssen wir aber los. Mama wartet mit dem Essen.“

Ich hatte nichts dagegen. Mein Magen knurrte.

In dieser Zeit glich ein Tag dem anderen. Mama machte den Haushalt, Peter war in der Schule oder erledigte seine Hausaufgaben, und ich stand an meinem Lieblingsplatz am Fenster und beobachtete die Straße. Eines Tages war da eine junge Frau, die einen Kinderwagen schob, der viel breiter war, als alle, die ich bisher gesehen hatte. Es sah ziemlich anstrengend aus, schließlich ging es bergauf. Ich kannte sie nicht.

Ich überlegte, ob ich trotzdem runterrennen und ihr helfen sollte, und wollte Mama fragen, aber da bog die Frau schon ab und stattdessen tauchte ein Soldat auf. Er war noch ziemlich jung und seine graue Uniform schien ihm ein bisschen zu groß zu sein. Er lächelte vor sich hin. Kurz darauf klingelte es.

Mama öffnete die Tür. Der Soldat fragte sie, ob die Familie für die tapferen Helden des Vaterlandes ein Radio hätte. Mama nickte zwar, ging aber mit finsterem Blick ins Wohnzimmer, holte unser kleines Radio und überreichte es ihm.

Das gefiel mir gar nicht, denn ich hörte mir so gern die lustigen Geschichten an, die das Kasperle erzählte. Und es gefiel mir erst recht nicht, dass eine Woche später ein anderer Soldat an die Tür kam und anschließend Papas Fahrrad auf die Straße schob.

Ich stand am offenen Fenster und sagte zum Fahrrad ganz leise: „Auf Wiedersehen.“

„Für den Sieg!“, rief der Soldat mir strahlend zu und schwang sich auf den Sattel. Ich schluckte und begann, den Krieg zu hassen.

2

Ein Zug fährt ab

I nzwischen war es Herbst geworden, aber die Sonne schien noch warm. Wenn Papa nicht im Kurpark musizierte, ging er mit mir zum Spielplatz oder wir machten zusammen einen Spaziergang. Peter, der Fleißige, saß entweder am Esstisch und erledigte seine Schulaufgaben oder besuchte einen Freund, und Mama hatte wie immer viel im Haus zu tun.

Wenn Papa und ich durch die Straßen spazierten, sahen uns manche Leute unfreundlich an. Es kam sogar vor, dass Papa zu einer Nachbarin guten Tag sagte und sie nicht zurückgrüßte, was sehr unhöflich war. Mama sagte doch immer, wenn man gegrüßt wird, grüßt man auch zurück. Und Papa war so ein freundlicher Mann. Seine Stimme war leise und sanft. Es tat mir richtig weh, wenn Nachbarinnen ihn so behandelten.

Wenn ich allein oder mit anderen Kindern auf der Straße spielte, wurde ich oft von Leuten aus der Nachbarschaft angesprochen und gefragt, warum mein Vater immer noch zu Hause war. „Was macht er denn noch hier? Weshalb kämpft er nicht wie die anderen?“

Was sollte ich sagen? Dass er „unabkömmlich“ war, wie Mama es mir erklärt hatte? Dass er mit seinen Kollegen in der großen Muschel im Kurpark weiter Musik machen musste, um die Leute aufzuheitern? Ich schaute den Frauen, die mich angeblafft hatten, ins Gesicht. Auch das hatte Mama Peter und mir beigebracht. „Wenn ein Erwachsener mit euch spricht, seht ihr ihn an“, hatte sie gesagt. Die Frauen waren blass und ihre Augen funkelten. Sie machten mir Angst. Da hielt ich lieber den Mund.

Aber es stimmte. In unserer Straße gab es wirklich nicht mehr viele Männer. Die meisten waren eingezogen worden, was bedeutete, dass sie als Soldaten in den Krieg ziehen mussten. Die Väter meiner Spielkameraden waren alle fort. Manchmal bekamen sie ein paar Tage Urlaub und gingen dann mit ihren Kindern spazieren. Sie hielten sie an den Händen, und die Kinder schauten stolz zu ihren Vätern hoch, die graue Uniformen trugen.

„Warum sind die Frauen auf der Straße immer so böse?“, fragte ich Mama einmal.

„Sie sind nicht böse, Thea. Sie sind verbittert. In unserer Straße gibt es kaum eine Familie, die nicht einen Vater, Bruder oder Sohn verloren hat. Sie sind neidisch, weil wir unseren Papa noch haben. Das verstehst du doch, nicht wahr?“

„Hmm“, sagte ich. Ich verstand es nicht.

Der Spielplatz war ganz in der Nähe. Wenn Papa nicht mit mir hingehen konnte, machte ich mich allein auf den Weg und traf mich mit meinem Freund Achim. Er war ein Jahr jünger als ich und immer mit allem einverstanden, was ich vorschlug. Am liebsten buddelten wir beide im Sandkasten. Einmal waren wir so in unsere Arbeit vertieft, dass wir nicht merkten, wie still es um uns herum geworden war. Die anderen Kinder waren alle nach Hause gegangen. Nur Achim und ich drehten unermüdlich unsere Förmchen um und verzierten den Rand des Sandkastens.

Im Haus gegenüber klopfte jemand gegen das Fenster, was uns nicht weiter kümmerte. Schließlich riss eine Frau das Fenster auf. „Lauft schnell nach Hause, Kinder!“, rief sie uns aufgeregt zu. „Es hat Fliegeralarm gegeben. Habt ihr denn die Sirene nicht gehört?“

„Nein!“, brüllten wir beide zurück. Wir sahen uns an und wussten nicht, ob wir weiterbacken oder lieber heimgehen sollten, wie die Frau es uns geraten hatte. Das Buddeln machte doch so viel Spaß. Der Rand des Sandkastens war fast schon voll mit kleinen Kuchen. Es fehlten höchstens noch drei Stück. Und wovor sollten wir überhaupt Angst haben? Es war bisher noch nie etwas passiert.

Aber da kam Mama schon um die Ecke gerannt. Sie packte mich an der Hand und lief schnell mit mir nach Hause. Achim brauchte nur über die Straße zu gehen.

Jetzt bekam ich doch noch einen Schreck.

„Wenn die Sirene heult, musst du immer sofort losrennen – sofort!“, sagte Mama streng und zog mich weiter.

Im Keller unseres Hauses saßen schon die anderen Bewohner auf Bänken. Die alte Frau Neuhäuser, die in der Wohnung über uns wohnte, strickte. Sie lächelte mir wie immer freundlich zu und schien keine Angst zu haben.

Auch unser Vermieter, Herr Becker, und seine Frau waren da. Herr Becker war in einem anderen Krieg Soldat gewesen, dem Ersten Weltkrieg, wie Mama mir mal gesagt hatte. Er hatte gegen die Franzosen gekämpft und war schwer verwundet heimgekehrt. Sein rotes Gesicht sah ganz zerknautscht aus – wie ein Stück Papier, das jemand zusammengeknüllt hatte. Und am Ende seines linken Arms war ein Haken statt einer Hand. Wenn Herr Becker Peter oder mich kommen sah, drehte er sich immer um und tat, als wären wir Luft.

Frau Becker schien mit ihren Gedanken meistens weit weg zu sein, auch wenn sie direkt vor uns stand. Peter und ich durften nie durch unsere Wohnung rennen, weil sie schwache Nerven hatte und keinen Lärm vertrug.

Selbst der unfreundliche schwarze Kater der Beckers war mit im Keller. Moritz mochte keine Kinder und machte immer einen Buckel und fauchte, sobald Peter und ich auftauchten. Ich hätte ihn gerne gestreichelt, aber er ließ mich nicht an sich heran.

Frau Neuhäuser sah mich an und sagte: „Es wird schon nicht rumsen. Es ist ja noch nie was passiert.“

Peter war noch in der Schule und saß dort bestimmt mit den anderen Schülern und Lehrern im Keller. Papa suchte wahrscheinlich im Kurhaus Schutz.

Es dauerte nicht lange und die Sirene gab Entwarnung – ein langer Heulton ohne Auf und Ab. Wir konnten alle wieder nach oben in unsere Wohnungen gehen. Ob ich mich noch mal mit Achim treffen sollte? Nein, dachte ich, lieber nicht.

Am nächsten Tag schickte Mama mich die Straße hinunter zum Lebensmittelladen.

„Thea, gehst du bitte zu den Bohns und holst mir einen Rotkohl? Der Papa isst doch so gerne Rotkraut mit Klößen.“

Sie fand, dass ich jetzt groß genug war, um alleine einzukaufen.

Hmm, Rotkraut mit Klößen aß nicht nur Papa gern.

Der Laden war voller Menschen, obwohl die Regale ziemlich leer aussahen. Die Nachbarinnen kauften, was immer es gab – ein paar verschrumpelte Äpfel, grau aussehende Möhren, Kohlköpfe und Kartoffeln.

Ich stellte mich hinten an und es dauerte bestimmt hundert Stunden, bis ich endlich an die Reihe kam. Sobald die Schlange ein Stück vorwärts rückte, ging die Tür auf und eine neue Kundin betrat den Laden. Es wurde immer voller und ich stand eingekeilt zwischen Frauen mit riesigen Einkaufstaschen und spitzen Ellbogen. Hinter mir bohrte jemand seine Knie in meinen Rücken.

„Warum ist ihr Vater eigentlich immer noch zu Hause?“, zischelte eine der Frauen.

„Sind die vielleicht was Besseres als wir?“, sagte eine andere.

„Jeden Tag läuft der mit seinem Kasten die Straße runter und mein armer Karl hat seine Beine verloren … zerschossen.“

„Die sollten überhaupt nichts zu essen kriegen! Das verdienen die nicht!“

Mein Herz fing an zu hämmern und mein Kopf wurde ganz heiß. Ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte und guckte auf meine Schuhspitzen. Am liebsten wäre ich unsichtbar gewesen.

Als ich schließlich vor dem Tresen stand, bekam ich kaum ein Wort heraus. Meine Wangen brannten und ich traute mich nicht, hochzusehen. Schüchtern streckte ich der Verkäuferin das Geld hin, nahm den Kohlkopf und schob mich durch die Wartenden zur Tür. Draußen holte ich erst einmal tief Luft, dann rannte ich nach Hause.

Ich erzählte Mama nicht, was ich gehört hatte. Sie hatte mir ja schon erklärt, warum manche Leute so unfreundlich waren. Und wenn ich sie immer wieder mit den gleichen Geschichten plagte, wurde sie ungeduldig.

Der Rotkohl mit den Klößen schmeckte dann aber ganz wunderbar. Mama war eben die beste Köchin auf der Welt. Aber als ich am Abend im Bett lag, gingen mir schreckliche Gedanken durch den Kopf: Warum ist Papa überhaupt noch da? Wieso kämpft er nicht wie die anderen Männer? Wenn Papa auch in den Krieg zieht, sind alle Frauen in der Nachbarschaft zufrieden und lassen uns in Ruhe.

Und dann schlief ich ein.

Ein paar Tage später erhielt Papa einen Brief. Er drehte ihn unschlüssig in der Hand. „Hilft ja nichts“, sagte er und öffnete den Umschlag. Er zog ein Blatt Papier heraus, auf dem viele gedruckte Wörter und ein Stempel mit einem großen Vogel zu sehen waren, der die Flügel ausbreitete. Der Vogel war der Reichsadler, ein ganz wichtiger Vogel, wie Peter, der Alleswisser, mir mal klargemacht hatte. Und unter seinen Krallen war das Hakenkreuz abgebildet. Das sah man überall. An Litfaßsäulen, auf Schildern, an Hausmauern, auf Briefmarken – einfach überall.

Papa las den Brief und wurde sehr traurig. „Jetzt ist es so weit“, sagte er zu Mama.

Sie schüttelte den Kopf und schwieg. Ihr Gesicht verzog sich, und es sah aus, als ob sie gleich weinen würde. Aber Mama weinte nicht. Dann sagte sie: „Mach dir keine Sorgen, der Krieg ist bald vorbei.“

„Ich werde Soldat“, sagte Papa zu Peter und mir.

„Bist du zu meinem Geburtstag wieder da?“, fragte ich.

Er hatte nämlich versprochen, an meinem Geburtstag mit mir in ein Puppentheater zu gehen. Ich liebte die Marionetten in dem kleinen Theater, in dem ich schon ein paarmal gewesen war. Ganz besonders mochte ich den Klavierspieler, der seine langen grauen Haare herumschwenkte, während er wild in die Tasten haute. Und Prinzessin Zimberimbimba in ihrem wunderschönen rosa Kleid und den goldenen Haaren.

„Ich glaube nicht, Thea“, sagte Papa. „Nicht so bald. Aber nächstes Jahr bestimmt. Versprochen.“

An einem grauen Regentag machten wir uns alle auf den Weg zum Bahnhof. Jetzt trug Papa auch so eine Uniform wie der Soldat, der unser Radio geholt hatte, und ich ging neben ihm, meine Hand in seiner.

Auf dem Bahnsteig hatten sich viele Leute versammelt. Sie standen eng in Grüppchen zusammen. Alle machten traurige Gesichter.

Papa sagte mit leiser Stimme: „Sobald ich Urlaub habe, sehen wir uns wieder.“

Und Mama sagte: „Ich hoffe, dass es keinen frühen Winter gibt.“

Dann blickte Papa auf seine Uhr. „Es ist Zeit“, murmelte er. „Ich muss einsteigen.“

Ich schlang meine Arme um Papa. Er durfte nicht gehen. Es war mir egal, was die Nachbarinnen flüsterten!

Papa löste vorsichtig meine Umklammerung und drückte uns alle noch einmal an sich, zuerst Mama, dann Peter und zuletzt mich.

Kurz darauf schaute er aus einem Fenster des Zuges und winkte. Ein schriller Pfiff, und die Bahn ruckte und setzte sich langsam in Bewegung. An allen Fenstern waren Köpfe und viele, viele Arme winkten. Ich konnte Papa nicht mehr sehen. Ich stand eingequetscht zwischen fremden Frauen und sehr alten Männern. Als der Zug um eine Kurve bog und nichts mehr von ihm zu erkennen war, drehten Mama, Peter und ich uns um und machten uns auf den Heimweg.

Obwohl viele Leute unterwegs waren, hatte ich das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Ich wollte mich bei Mama festhalten, aber sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt und in ihren Manteltaschen vergraben. Peter und ich hielten uns schon lange nicht mehr an den Händen. Wir waren schließlich keine kleinen Kinder mehr!

Der Weg zurück zu unserem Haus erschien mir viel länger als sonst. Es war, als ob sich irgendetwas an meinen Beinen festkrallte und nicht wollte, dass ich die Straße hochging. Irgendetwas hielt mich zurück, zog mich zum Bahnhof und wollte Papa aus dem Zug holen.

In unserer Wohnung war es sehr still. Beim Abendessen blieb ein Stuhl leer.

„Papa kommt bestimmt bald wieder – wartet’s nur ab!“, sagte Mama fröhlich. Aber es klang falsch. Und ihre Augen sahen überhaupt nicht fröhlich aus. Ich starrte auf meinen Teller. Eine Scheibe Brot, die mit Schmalz bestrichen war, lag darauf. Schmalzbrot aß ich sonst immer besonders gern, auch wenn das Fett nur dünn aufs Brot gekratzt wurde. Aber heute hatte ich keinen Hunger. Ich würgte eine Hälfte hinunter und gab Peter die andere.

Dann lag ich in meinem Bett und dachte daran, dass mein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Papa war fort.

Es war schrecklich dunkel im Zimmer, am Fenster hing ein schwarzer Vorhang, so wie hinter allen Fenstern in unserer Straße. Das musste so sein, damit die Feinde in ihren Flugzeugen keine Lichter sahen und Bomben abwarfen. Manchmal gingen Männer an den Häusern entlang, und wenn sie irgendwo ein helles Viereck sahen, schrien sie: „LICHT AUS!“ Das klang unheimlich.

Ich kletterte aus dem Bett und schlich zum Fenster, wo ich den Vorhang ein ganz kleines bisschen zur Seite schob, und schaute zum Himmel hinauf. Ich suchte den Mond, aber er hatte sich hinter Wolken versteckt. Sterne waren auch nicht da, nirgends ein winziges Licht. Ich tastete mich zum Bett zurück und kroch unter die Decke.

Wenige Tage, nachdem Papa mit dem Zug losgefahren war, bekam auch Mama einen Brief, den sie wütend auf den Küchentisch warf. „Ich soll helfen, einen Bunker zu bauen!“, schimpfte sie. „Und wenn ich es nicht tue, dürfen wir nicht hinein!“

„Was ist ein Bunker?“, wollte ich wissen.

„Meine Güte – Fragen, Fragen, Fragen! Ein Bunker ist so etwas Ähnliches wie ein Keller, in den viele Leute passen, nur mit viel dickeren Wänden. Dort ist man noch besser vor den Bomben geschützt. Es ist Krieg, Thea, das weißt du doch! Und jetzt bitte keine Fragen mehr. Ich weiß nicht, was ich heute auf den Tisch bringen soll. Es ist nichts mehr da und die Läden sind leer.“

Mama setzte sich an den Tisch, senkte den Kopf und stützte ihn mit den Fäusten ab. Seit Papa in den Krieg gezogen war, hatte sich zwischen ihren Augenbrauen eine tiefe Furche eingegraben.

Ich ging auf Zehenspitzen aus der Küche. In meinem Zimmer zog ich meinen Teddy vom Bett, setzte mich auf meinen kleinen Stuhl und drückte den Bär an mich. Wenn Mama jetzt schon wütend war – wie wütend würde sie erst werden, wenn sie erfuhr, dass ich Papa fortgewünscht hatte? Ich wusste gar nicht mehr, warum ich das überhaupt getan hatte. Er fehlte mir jetzt schon so sehr, und ich hoffte inständig, dass er bald wieder nach Hause kam.

„Es ist mir egal, was die Leute sagen“, flüsterte ich meinem Teddy ins Ohr. „Wenn der Papa nur zurückkommt …“

Am Fuß eines felsigen Hügels, dem Spielplatz gegenüber, hatten alte Männer angefangen, ein Loch zu graben. Achim und ich standen jetzt viel lieber auf der Straße und schauten zu, wie das Loch immer größer und größer wurde, als selbst im Sandkasten zu buddeln.

„Da drinnen ist es bestimmt ganz furchtbar dunkel“, sagte Achim ängstlich.

„Ach was, die hängen da Lampen rein, damit man was sieht“, behauptete ich.

Nach ein paar Tagen konnte man den Bunker schon betreten und ein paar Schritte ins Innere tun. Die Männer hatten die Höhle mit Brettern und Pfosten abgestützt. Gemütlich war es nicht gerade, es roch feucht, und es war so dunkel, wie Achim befürchtet hatte.

Mama und ein paar andere Frauen aus der Nachbarschaft fuhren die Erde, die lehmig gelb war, in Schubkarren weg und kippten sie auf einen großen Haufen. Die Frauen trugen Schürzen über ihren Kleidern und Kopftücher, die sie im Nacken verknotet hatten. Die Arbeit schien ihnen Spaß zu machen. Die Männer und Frauen riefen sich lustige Sachen zu und lachten viel. Sogar Mama machte ein fröhliches Gesicht. Weil Papa jetzt auch Soldat war, redeten die Leute wieder freundlich mit uns.

Trotzdem sagte meine Mutter ein paar Wochen später: „Der Sommer ist fast vorbei. Wir müssen uns auf den Weg machen, bevor es kälter wird. Wir fahren zur Oma und bleiben bis zum Ende des Krieges bei ihr.“

3

Bei Oma

M ama packte ein paar große Koffer. Leider mussten Peter und ich die meisten Spielsachen zurücklassen. Ich durfte nur meine Puppe Gerlinde mitnehmen und Peter packte seine Lokomotive und seine Schulbücher ein.

Wir gingen ein letztes Mal durch die Wohnung, und ich verabschiedete mich vom Wohnzimmer mit seinem großen grünen Kachelofen, der im Winter so viel Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte, von den Schlafzimmern und der großen Küche mit ihrem Tisch in der Mitte und dem Küchenschrank in der Ecke. Auf dem Schrank standen Gläser mit eingemachtem Obst und dunkelroter Marmelade aus Beeren, die wir im Sommer im Wald gepflückt hatten. Gemein, dass die nicht mehr in unsere Koffer passten. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mir in der letzten Zeit mehr davon aufs Brot gestrichen.

Nachdem wir Frau Neuhäuser und den Beckers auf Wiedersehen gesagt hatten, kam Herr Bohn aus dem