Chorus Mortis - Svea Kerling - E-Book

Chorus Mortis E-Book

Svea Kerling

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Beschreibung

Svea Kerling - eine Meisterin der Schwarzen Romantik. J. Mertens - Erschaffer kompromissloser Horrorszenarien. Vereint werden sie zu Bonnie & Clyde, zum Duo Infernal der Schauerliteratur. Der Tod hat nicht nur viele Gesichter. Auch Geschichten. Geschichten, die zuweilen die Grenze zur Schizophrenie und Bipolarität überschreiten. Begleiten Sie die Erzähler auf eine Reise zurück in die Kindheit, in der ein nebulöser Verwandter eine große Rolle spielte. Werden Sie Zeuge des geistigen Verfalls eines gehörnten Ehemannes sowie den Machenschaften eines Chirurgen mit nicht ganz konventionellen Methoden. Lernen Sie die ominöse Frau Schmitt kennen, die gern zu einem ungewöhnlichen Nachmittagskaffee einlädt. Und versenken Sie sich in Gedichte voller Melancholie und seelischer Verlorenheit. Die klassische Gruselgeschichte paart sich mit dem Makabren, wobei auch der berüchtigte Galgenhumor nicht zu kurz kommt. Die erste gemeinsame Anthologie der beiden tiefschwarzen Autoren ist eine Geisterbahnfahrt durch die Welt ihres finsteren Universums. Mit Kurzgeschichten, Essays und lyrischen Zeilen entführen sie den Leser in ein Reich fahler Schatten, in dem die reine Vernunft keine Bedeutung mehr trägt. Zahlreiche Illustrationen runden die düstere Stimmung ab. Dieses Werk ist ein Tanz mit dem Tod, dem Wahnsinn und der Dunkelheit. Lesen Sie es bei Kerzenschein.

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Svea Kerling, als Sonntagskind anno 1974 in Kroatien geboren, verbrachte ihre Kindheit in einer kleinen Gemeinde inmitten der hügeligen Landschaft im österreichischen Weinviertel. Auf der Suche nach Freunden und Akzeptanz fand sie ihre treuesten Begleiter: Bücher. Heute lebt die Autorin mit Kind und Katz unweit der österreichischen Bundeshauptstadt.

J. Mertens wurde 1968 in Lüdenscheid geboren. Schon als Kind entdeckte er seine Vorliebe für Grenzwissenschaften und Schauergeschichten. Nach seinem Umzug 1999 in die Nachbarstadt Altena betrieb er einsame Studien im okkulten und psychologischen Bereich, bevor er sich ab 2007 aktiv dem Verfassen von phantastischer Belletristik widmete. Neben seiner Schreibtätigkeit verdingt er sich auch als Künstler im gleichen Genre.

Handlungen und Akteure in diesem Buch sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen, lebendig oder verstorben, wären rein zufällig.

In der Stille der Dunkelheit kannst du die Trauer deines Herzens hören. Und manchmal kannst du den Wahnsinn dieses Lebens fühlen.

(Ivonne Weingart)

Dunkelheit kann man nicht sehen. Sie ist.

(Erhard Blanck)

Inhalt

S. Kerling / J. Mertens

Vorwort

Svea Kerling

Schattenkind

J. Mertens

Mein Onkel Tyron

Svea Kerling

Der Krähenmann

J. Mertens

Noć i mrak

Svea Kerling

Gartenarbeit

J. Mertens

Brennende Liebe

Svea Kerling

Etwas

J. Mertens

Der Knirps

Svea Kerling

Die verlorenen Seiten

J. Mertens

Der Schattenpsalter

Svea Kerling

Die Frau von Herrn Schmitt

J. Mertens

Das zerrissene Haus

Svea Kerling

Eine Ewigkeit

J. Mertens

Die große Wäsche

Svea Kerling

Der erfüllte Wunsch

J. Mertens

Wir sind sieben

Svea Kerling

Der Virus

J. Mertens

Warten auf Erebos

Credits

VORWORT

Es gibt eine umstrittene physikalische These, welche besagt, dass zwei noch so weit voneinander entfernte Körper im endlosen freien Fall sich über gravitatorische Fernwirkung allmählich annähern, bis sie schließlich Seite an Seite ihren Abwärtsweg fortsetzen. Dies muss wohl auch im übertragenen Sinne auf die Autoren dieses bescheidenen Werkes zutreffen, denn selbst die fast neunhundert Kilometer räumliche Distanz konnten letztendlich unsere Zusammenkunft nicht verhindern. Das Gesetz der Anziehung scheint für alle Ebenen der Existenz zu gelten.

Und in der Tat befinden auch wir uns in einem fortwährenden freien Fall. Unsere Seelen sind ähnlich gestrickt. Nicht etwa auf einem lichtvollen Weg in einen hypothetischen siebten Himmel, sondern auf einem rasanten Abstieg in eine gemeinsam ersehnte dunkle Sphäre, bereits zu Lebzeiten angesetzt irgendwo zwischen Schizotypie, Borderline und Depression. Im Zuge unserer tiefen, intensiven Verbindung kamen wir somit mehr als einmal auf den Gedanken, dass all dies auf einer Fügung beruht, basierend auf unbekannten Statuten, die fest und unauslöschlich in die Grundfesten des Universums eingemeißelt sind.

Da wir beide der schreibenden Zunft angehören, dauerte es somit nicht lange, bis die Idee zu einer Zu­sammenarbeit spruchreif wurde. Was zunächst als reiner Lyrikband geplant war, entwickelte sich dann zu einem Streifzug durch unsere gesamte Schaffenswelt, und wir waren uns schnell einig, dieses literarische Duett zu einem kleinen Kunstwerk zu gestalten. Zu diesem Behufe nahmen wir auch die Zeichnerin Petra Bichler mit ins Boot, die mit ihrem Kohlestift die Hälfte der Zeichnungen beisteuerte.

Diese Form von Kunst zu verstehen, liegt jedoch im Auge des Betrachters. Sie entstammt in jeder Hinsicht finsteren Regionen, und wer angesichts der Texte und Illustrationen auf die Ausschüttung von Endorphinen hofft, wird sicherlich alsbald vom gegenteiligen Effekt überrannt werden. Unsere Interessen und Neigungen beinhalten keineswegs literarisch-lutherische Apfelbäumchen, sondern wandern zwischen Gräbern, Gruften und seelischen Abgründen, wenn auch, sofern angebracht, mit einer Prise schwarzen Humors gespickt.

Die in diesem Werk zusammenfassten Geschichten, Essays und Gedichte behandeln somit allesamt in ihrer Grundessenz das Thema Tod, seelisch oder körperlich, in der einen oder anderen Weise.

Der Tod hat nicht nur viele Gesichter. Auch Geschichten. Und der Tod beobachtete das Leben, wie es sehnsuchtsvoll am grünen Ufer saß, unweit des kleinen Bächleins. Damals hatten sie gemeinsam Äon erschaffen, lange bevor die Zeit sie in ihren Grundfesten erschüttert hatte und sie schmerzlich auseinanderriss. Der Tod kam näher und trat vor das Leben. Das Leben hob sein Köpfchen, als es den schwarzen Schatten spürte.

Und er Tod fragte das Leben: »Liebst du mich?«

Das Leben zögerte, doch nicht, weil es etwa nach einer Antwort suchen musste; die Antwort war es selbst.

Und so antwortete das Leben: »Bis in alle Ewigkeit.«

Der Tod reichte dem Leben die Hand, dankbar griff es danach. Er legte seinen schützenden Schleier um seine Geliebte, niemals wieder würde er sie der Erbarmungslosigkeit der Zeit opfern. Sie waren vereint, der Tod war zu ihr zurückgekehrt. Zu seiner wahren Liebe.

Und so, unsere werten Leser, lassen Sie sich von uns an die Hand nehmen. Vergessen Sie die Zeit, begleiten Sie uns an jenen Ort, an dem ein kleines Bächlein plätschert …

Svea Kerling & J. Mertens

im Juni 2019

SCHATTENKIND

Nicht mehr als ein Schatten. Nicht mehr als ein Gefühl. Dieses Gefühl einer sanften Berührung. Wohlwollend. Beinahe liebevoll. Ein zärtliches Tippen an deiner Schulter. Du erzitterst. Dein Blut, es rauscht. Dein Kopf, er pocht. Du bist allein. Alles ist ruhig. Lausche – wenn du ganz leise bist, kannst du die Stille hören.

In der Nacht

Sanft und leise

Flüstert er dir zu

Worte mit Bedacht

So zärtlich, warm und fein

Deine Seele

Noch so rein

Deine Seele

Bald nennt er sie Sein

Noch ein wenig Geduld. Gewähre deinen Sinnen etwas Zeit. Du wirst bald belohnt werden. Deine Augen gewöhnen sich an die Finsternis.

Habe ich es dir nicht versprochen? Die Dunkelheit, sie umgibt dich. Schmiegt sich an dich. Sie umarmt dich. Fürsorglich. Liebevoll. Deine Augen strengen sich an. Sie wollen mehr sehen, doch verrate mir: Werden sie erkennen? Wirst du erkennen?

Diffuse Schatten, die sich langsam am gegenüberliegenden Ende des Zimmers abzeichnen. Siehst du sie? Komm, streng dich mehr an! Du blinzelst. Ihre Konturen werden schärfer. Kannst du es schon erahnen?

Du mahnst dein Herz dazu, ruhiger zu schlagen.

Du überlegst dir, warum. Warum in Gottes Namen du jetzt wach liegst und warum … warum in Gottes Namen du nicht weiterschlafen kannst. Obwohl …

Wir wollen Gottes Namen hier unerwähnt lassen. Und Gott selbst? Lassen wir ihn schlafen. Er ist müde. Auch du bist müde, drehst dich zur Seite.

Schlafen kannst du nicht, also beruhige dich und konzentriere dich auf deinen Atem. Es mag dir wohl nicht recht gelingen. Ich kann dein Herz schlagen hören. Ich sehe, wie sich deine Brust langsam hebt und verflacht. Dein Herzschlag ist zu laut.

Ich beobachte dich, du wälzt dich im Bett. Du starrst gegen die Decke. Solange du im Bett bleibst, kann dir nichts passieren. Denkst du so? Solange du nicht in die Ecke blickst, kann dir nichts passieren. Kann es nicht?

Dein Körper ist müde, doch dein Geist wacht. Welch ein mieser Verräter!

Schatten erwachen

Stimmen erbeben

Geister beseelen

Gedanken quälen

Sei ruhig, mein Kind

Ganz leis und spitz die Ohren

Gib gut acht, sonst bist du verloren

Du schimpfst dich einen Narren, bist kein Kind mehr und glaubst auch nicht an Märchen.

Ich stimme dir zu.

Du bist kein Kind. Nicht mehr.

Du glaubst nicht an Märchen. Nicht mehr.

Der Glaube, mein Kind, ist doch wahrlich nicht mehr als ein Märchen und wer glaubt denn schon an Märchen? Du doch bestimmt nicht.

Doch verrate mir: Woran glaubst du, wenn nackte Angst dich packt und sich um deine Kehle legt? In jenem Moment, in dem deine Augen sich angsterfüllt weiten. Was hat denn dein Glaube für eine Bedeutung, wenn du mit starrem Blick versuchst, die Dunkelheit zu durchbrechen? Doch nicht, um zu sehen, nein, weit gefehlt, sondern um nicht zu sehen. Hoffst du, das Nichts zu erkennen, wenn du es siehst?

Würde ich dir erzählen, dass …

Nein, ich möchte dich nicht beunruhigen. Es wird die Zeit kommen, wenn du diese Geschichte erzählen wirst. Es wird deine Geschichte sein. Doch wir schweifen ab. Konzentriere dich auf die Schatten. Sie beunruhigen dich. Sie starren dich an, nicht wahr? Du spürst sie, nicht wahr? Wie fühlt es sich an? Angstvoll? Irritierend? Ich entdecke die Neugier in dir, du willst mehr wissen.

Nur mit deiner Willenskraft bewaffnet, kämpfst du gegen das Rauschen in deinen Ohren. Zwingst dich dazu, Ruhe zu bewahren. Dazu, leise zu atmen. Niemand soll dich hören, doch wie so oft wendet sich dein verräterisches Herz gegen dich. Deine Sinne gehören diesen schemenhaften Gestalten, die sich just in diesem Moment auf dich zubewegen. Du erkennst sie. Du erinnerst dich. Es ist keine Einbildung. Es ist wie damals … damals als Kind.

Damals hast du dich gefürchtet als Kind

Hast dich versteckt

Gehofft, dass dich niemand entdeckt

Hab keine Angst, vertraue mir

Diese Schatten

Sie gehören zu dir

Unmöglich, zu entkommen. Als Kind bist du heulend vor ihnen davongelaufen. Du hast dich eingeschlossen – gewartet, bis die Schatten verschwinden.

Mein Kind, was wirst du tun, wenn die Finsternis nach dir ruft? Wie wirst du ihrer Umarmung widerstehen? Wie, wenn du ihr Verlangen schier körperlich spürst? Hör doch nur, sie ruft nach dir – die Finsternis. Sie bittet nicht. Sie gebietet. Woran glaubst du? Jetzt? Weckt es denn nicht die Sehnsucht in dir? Das Verlangen nach mehr? Folge ihren Rufen! Welche Wahl bleibt dir schon? Ihrer Begierde entfliehen kannst du nicht. Du willst nach Hause? Meine Liebe, das ist dein Zuhause. Sie ist dein Zuhause.

Ja, verdammt, ich weiß. Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist. Du wiederholst dich. Du bist dir sicher, dass die Schatten längst jedwede Macht über dich verloren haben. Du hast keine Angst, versuchst deine eigenen Gedanken zu lesen. Sie von der Wand zu kratzen. Du bist dabei, sie zu ordnen. Ihnen Form zu geben. Sie nehmen Gestalt an. Werden mächtiger. Ergreifen von dir Besitz. Dein Geist, er war doch eben noch wach. Wo ist er? Ist er krank geworden? Haben sie es dir damals nicht prophezeit? Sie wussten, dass es so kommen würde. Sie haben es alle gewusst. Nur du konntest nicht wissen. Hast dich gewehrt.

Wehren hat doch längst jegliche Bedeutung verloren. Wogegen wehrst du dich? Gegen das, was dir vorbestimmt ist? Du machst dich lächerlich. Du weißt, was zu tun ist. Du willst es doch. Tu es! Es ist ganz leicht. Es ist ein Geschenk. Nimm es an und jedwede Schwere aus deinen Gliedern wird verschwinden. Deine Gedanken werden aufgefangen. Einer nach dem anderen. Du wirst nach ihnen greifen. Greif zu! Begreife dich! Sie werden dir eine Geschichte erzählen und du wirst verstehen. Es ist deine Geschichte.

Ich bin es

Dein Seelenpein

Öffne die Tür, bitte mich herein

Bin dein Dunkel, bin dein Licht

Dich verlassen

Werd ich nicht

Verstecken macht doch keinen Sinn. Versuche nicht, die Dunkelheit zu überlisten, indem du dich in ihr zu verstecken versuchst. Wähle ihre Hand und nicht dein Scheitern. In welcher Nische du dich auch immer zusammenkauerst und versteckst ... was denkst du, wer ist es, der längst dort auf dich wartet? In dieser dunklen Ecke? Du kennst sie. Kennst ihr Gutenachtlied. Wie sanft sie dich stets in den Schlaf gewiegt hat. Du kannst ihre Stimme nun deutlich hören. Es ist Zeit, mein Kind. Schlaf, mein Kind, schlaf ein.

Kennst du die Nacht

All ihre Lieder?

Sie dringen an dein Ohr

Lausche

Auf dass es deine Sinne berausche

Dieses eine Lied

Du kennst es bestimmt

Hast es gehört

Damals, als Kind

Hast dich gefürchtet

Dich versteckt

Gehofft

Dass dich niemand entdeckt

Vertraue mir

Hab keine Angst

Diese Stimmen

Sie gehören zu dir

Dideldideldum

Dreh dich ja nicht um

Dunkel bring ich in dein Licht

Mich vertreiben?

Kannst Du nicht

MEIN ONKEL TYRON

Man sagt, dass Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse mit der Zeit verblassen und das Gehirn die Lücken mit den abenteuerlichsten Inhalten füllt, bis schließlich das tatsächliche Geschehen völlig verfremdet neu im Kopf entstanden ist. Diese natürlichen Verfälschungen der Vergangenheit seien unter anderem eine Ursache für angeblich erlebte Begebenheiten, die nur auf dem Wege der Metaphysik zu erklären sind. Es bedürfe zu einer unverfälschten Darstellung der Vergangenheit somit der Aussagen mehrerer voneinander unabhängiger Zeitzeugen.

Eine solche verfälschte Erinnerung ist möglicherweise die an meinen Onkel Tyron, denn alles, was mit den damaligen Geschehnissen zusammenhängt, erscheint mir mysteriös, unerklärlich und bizarr. Spuren oder Beweisstücke, die auf die Tatsächlichkeit dieser Dinge schließen lassen könnten, existieren nicht mehr. Onkel Tyron ist nichts als ein ungreifbarer Schatten der Vergangenheit und weder mein Vater noch meine Mutter äußerten sich bis zu ihrem Ableben irgendwie schlüssig genug, um Licht in das Dunkel seiner Existenz zu bringen.

Es ist sicherlich nicht bedeutungslos zu erwähnen, dass es sich bei Onkel Tyron höchstwahrscheinlich nicht um meinen richtigen Onkel handelte. Jedenfalls war er nicht der Bruder eines meiner Elternteile. Doch ich war von Anfang an mit dieser Anrede vertraut und machte mir daher keine Gedanken darüber. Im Alter von vier Jahren stellt man solche Fragen nicht und fast jeder, den man zusammen mit seinen Eltern besucht, wird irgendwie als Onkel oder Tante vorgestellt, was vermutlich den Hintergrund hat, Kindern die Dinge so unkompliziert wie möglich nahezubringen.

Dass Onkel Tyron in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu uns stehen konnte, war schon allein an seiner Erscheinung zu erkennen. Er hatte fast schon etwas Puppenhaftes an sich, etwas Unheimliches, das mich in kurioser Weise an die Pappmachéfiguren in der Geisterbahn auf dem Jahrmarkt erinnerte und beinahe konnte man den Eindruck bekommen, gar kein menschliches Wesen vor sich zu haben. Sein Kopf war kahl, wobei sein Kinn spitz nach unten zulief und seinem Haupt damit annähernd die Form eines Luftballons verlieh. Er hatte sehr kleine Ohren, deren Formen nur angedeutet erschienen. Das Gleiche galt für seine Nase, die sehr flach war und pfeilförmig nach unten zeigte. Auch seinen Mund erkannte ich nur als dünnen Strich, der sich beim Sprechen kaum öffnete, obwohl seine Stimme sehr klar und deutlich zu vernehmen war. Das Seltsamste an ihm waren jedoch seine Augen, die sich im Gegensatz zu den anderen Elementen seines Gesichtes riesengroß aus ihren Höhlen hervorhoben und kaum Lider erkennen ließen. Die Augäpfel waren schneeweiß und aderlos. Eine Iris fehlte völlig, lediglich die pechschwarzen Pupillen stachen aus ihnen hervor. Wenn er einen ansah, schienen die schwarzen Punkte asynchron innerhalb von Sekunden leicht zu wachsen und wieder zu schrumpfen, was ihnen einen hypnotischen Ausdruck verlieh. Dies passte zu den oft sonderbaren Sachen, die er erzählte. Ansonsten fiel auf, dass er sich, obwohl er offenbar ein Einzelgängerdasein pflegte, stets hochgeschlossen mit Schlips und Anzug präsentierte; ein vornehmer, aber eher hässlicher Vertreter, der mich jedoch irgendwie stets faszinierte und immer aufs Neue in seinen Bann zog.

Trotz all dieser optischen Widerwärtigkeiten kann ich jedoch nicht behaupten, dass Onkel Tyron jemals schlecht zu mir gewesen wäre. Im Gegenteil zeigte er mir gegenüber zu jeder Zeit eine ganz besondere Freundlichkeit. Er hatte stets Geschenke für mich, bei denen es sich in den meisten Fällen um Spielsachen handelte, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Da ich diese Dinge auch nicht aus Katalogen oder Schaufenstern kannte, wunderte es mich oft, von wo er diese Objekte bezog. Es waren auch keineswegs irgendwelche Figuren, wie man sie zuhauf in den Regalen der Spielzeugläden fand, sondern zumeist eher wissenschaftlich orientierte Artikel, mit denen man sehr erstaunliche Dinge tun konnte. Einmal bekam ich beispielsweise ein kleines Röhrchen mit einer Plastiklinse an einem Ende. Wenn man es auf einen Menschen richtete und hindurchsah, konnte man dessen Innenleben sehen. Je nachdem, wie man die Augen anstrengte und fokussierte, war es damit sogar möglich, die Tiefe dieses Röntgenblickes selbst zu steuern. Ein anderes Mal schenkte er mir eine Art Fotoapparat, der nicht nur starre Bilder aufnahm, sondern bis zu zehn Sekunden der fotografierten Szene speicherte, die auf dem fertigen Foto wie in einem Film abliefen. Doch all diese wundersamen Gegenstände hatten eines gemeinsam: Sie hielten im Höchstfall bis zu zwei Wochen. Es war aber nicht etwa so, dass sie nach dieser Zeit einfach kaputt waren und nicht mehr funktionierten – nein, sie zerfielen regelrecht und der in letzter Instanz übrig gebliebene Staub löste sich auf. Danach war es, als hätte es diese Spielzeuge nie gegeben.

Auffällig war, dass Onkel Tyron uns niemals zu Hause besuchte. Es waren immer wir, die in regelmäßigen Abständen zu ihm kamen. Überhaupt schien er eine immense Abneigung dagegen zu haben, seine vier Wände zu verlassen. Er wohnte in einem abgeschiedenen Haus am Stadtrand, und ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals außerhalb dieses Gebäudes gesehen zu haben. Selbst bei unserem Eintreffen erwartete er uns stets im Foyer mindestens fünf Meter von der Haustür entfernt. Dennoch war sein Garten sehr gepflegt und ich vermutete daher, dass er einen Gärtner angestellt hatte. Für die täglichen Besorgungen war sicherlich ebenfalls Personal von außerhalb zuständig.

Wenn wir Onkel Tyron besuchten, was normalerweise alle zwei Monate angesetzt war, bekam ich bereits zwei Tage zuvor besondere Verhaltensmaßregeln seitens meiner Eltern übermittelt: keine Aufmüpfigkeit oder anderes schlechtes Benehmen, keine Widerworte und dergleichen. Aus irgendeinem Grund schienen sie mich immer rechtzeitig auf unseren Besuch vorbereiten zu wollen, und es war ihnen augenscheinlich sehr wichtig, dass ich mich dort besonders gut benahm, als hinge etwas sehr Bedeutendes davon ab. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass der Hintergrund dieser Instruktionen in einer diffusen Angst begründet war, wobei sich mir der Ursprung dieser möglichen Furcht nicht erschloss.

Auch unsere Besuche selbst waren augenscheinlich nicht rein freundschaftlicher Natur. Es war nie die Stimmung vorhanden, die man verspürte, wenn man regelmäßig Verwandte oder Bekannte besuchte. Es wurde zwar über dieses und jenes gesprochen, vieles davon waren die üblichen Belanglosigkeiten, und es gab auch stets Kaffee und Kuchen, obwohl Onkel Tyron davon selbst nie etwas zu sich nahm, aber über allem lag immer ein merkwürdiger emotionaler Schatten – fast könnte man sagen: etwas Bedrohliches. Hinzu kam, dass Onkel Tyron im Laufe des Tages Einzelgespräche mit meinem Vater und meiner Mutter in einem anderen Zimmer führte. Diese Unterredungen, über deren Inhalt ich nie in Kenntnis gesetzt wurde, dauerten jeweils bis zu einer halben Stunde, während der ich mit neuen »Spielsachen« beschäftigt war. Wenn meine Eltern dann wieder aus dem Raum herauskamen, machten sie meistens einen verstörten und eingeschüchterten Eindruck, während Onkel Tyron ihnen lächelnd folgte. Ich empfand das zu dieser Zeit zwar als eigenartig, doch es handelte sich meiner Meinung nach halt um Erwachsenengespräche, bei denen ich in meiner kindlichen Unbeschwertheit ohnehin nicht mitreden konnte. So machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber.

An einem verschneiten Wintertag spielte sich dies jedoch ein wenig anders ab. Ich litt an einem grippalen Infekt, hatte Fieber und war völlig verschnupft und verhustet. Dennoch bestanden meine Eltern auf den Besuch. Durch die Krankheit war ich verständlicherweise schlecht gelaunt und in einem Zustand, den sie dann als »quengelig« oder »twersch« bezeichneten. Und genau das machte sich im Haus von Onkel Tyron natürlich besonders bemerkbar, denn ich wollte eigentlich nur wieder nach Hause. Ich jammerte herum, fing gelegentlich an zu weinen und spielte voll und ganz das störrische Kind. Auch Onkel Tyrons Beschwichtigungsversuche halfen nichts – im Gegenteil. Ich vergaß alle üblichen Verhaltensmaßregeln seitens meiner Eltern und gab auch ihm ordentlich Kontra.

Das führte schließlich dazu, dass ich ihn zum ersten Mal sehr verändert erlebte. Er funkelte Vater und Mutter mit seinen ohnehin bedrohlichen Augen an und gab zu verstehen, dass er sich doch mal mit ihnen unterhalten müsse. Dann folgte eine dieser Unterredungen, nur mit dem Unterschied, dass meine Eltern dieses Mal zusammen mit ihm hinter der Tür verschwanden. Eine Viertelstunde hörte ich nichts, doch als sie wieder zurück ins Wohnzimmer kamen, zog Vater ein Bein seltsam nach, während sein Gesicht von Schmerzen verzerrt war. Mutter hingegen war am Weinen und hielt sich ein Tuch vor das linke Auge. Onkel Tyron, der irgendwie besonders leise und konzentriert die Tür hinter ihnen schloss, zeigte einen erhabenen und herrischen, fast schon gebieterischen Gesichtsausdruck. Er wies meine Eltern an den Tisch zurück. Sie alle drei setzten sich, und Onkel Tyron fing ein offenbar völlig belangloses Gespräch an. Worum es ging, entzieht sich meiner Erinnerung, aber es waren völlig triviale Themen. Er erzählte und stellte zwischendurch Fragen, die seitens meiner Eltern nur durch Kopfnicken oder -schütteln beantwortet wurden. Ich war zu geschockt, um meine Trotzigkeit fortzusetzen. Ohnehin fühlte ich mich irgendwie schuldig an der Situation.

Was mit Vaters Bein passiert war, wurde ich nie wirklich gewahr, aber es dauerte Wochen, bis er wieder richtig laufen konnte. Meine Mutter trug längere Zeit eine dunkle Sonnenbrille, damit niemand ihr Auge sah. Als ich sie jedoch einmal im Profil betrachtete und hinter die Brille sehen konnte, bemerkte ich, dass ihr Augapfel grün angelaufen war.

Doch auch diese offenbar schmerzhafte Unannehmlichkeit ging vorbei, bis wir unseren nächsten Besuch bei Onkel Tyron antraten. Aber ich wagte es nie wieder, mich schlecht zu benehmen.

Mit der Zeit veränderte sich etwas am Verhältnis zu Onkel Tyron, auch seitens meiner Eltern. Sie sprachen nicht mit mir darüber, aber ich bemerkte ihr seltsames Verhalten. Sie saßen von Zeit zu Zeit zusammen und flüsterten, redeten über irgendwas sehr Ernstes, und ich schnappte zwischendurch einzelne Wortfetzen auf, aus denen ich schließen konnte, um wen es dabei ging. Es war die Rede davon, dass etwas nicht mehr rückgängig zu machen sei und dass es nur eine einzige Chance geben würde, die nicht verspielt werden dürfe. Vater telefonierte in dieser Zeit auch oft und hielt dabei seine Hand stets über die Sprechmuschel, damit ich nicht mitbekam, worum es genau ging. Sowohl Vater als auch Mutter machten einen sehr nervösen Eindruck bei all dem. Sie schienen etwas zu planen, was im Falle des Scheiterns verheerende Konsequenzen nach sich ziehen würde. Und sie setzten alles daran, mich aus der Sache herauszuhalten.

Diese mysteriösen Vorbereitungen dauerten knapp zwei Wochen, dann entwickelten sich die Dinge plötzlich rasend schnell. Meine Großmutter kam zu Besuch, um auf mich aufzupassen, denn meine Eltern mussten für ein paar Stunden fort. Wohin sie fuhren, sagten sie nicht, doch sie beteuerten ausdrücklich, ich müsse mir keine Sorgen machen. Allerdings verriet ihr Gesichtsausdruck dabei eine deutliche Skepsis und auch Großmutter erschien mir während ihrer Abwesenheit nicht sehr hoffnungsfroh. Sie ließ mich keine Sekunde aus den Augen, schaute immer wieder zum Fenster hinaus, prüfte das Schloss der Haustür und horchte bei ihrer Meinung nach ungewöhnlichen Geräuschen im Haus erschreckt auf. Die ganze Atmosphäre war von einer seltsamen Spannung erfüllt und als meine Eltern nach zwei Stunden immer noch nicht zurückgekehrt waren, wurde meine Großmutter sichtlich nervös. Sie fing an, ohne ihre bisherigen Kontrolltätigkeiten in der Wohnung auf und ab zu laufen. Dabei versuchte sie vergeblich, sich mir gegenüber nichts anmerken zu lassen, setzte immer wieder ein gekünsteltes Lächeln auf und redete belangloses Zeug. Das Zittern in ihrer Stimme konnte sie dabei jedoch nicht unterdrücken.

Draußen dämmerte es bereits, als sich ein Motorengeräusch dem Haus näherte und. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich das Licht zweier Autoscheinwerfer, die zweifellos zum Wagen meiner Eltern gehörten. Als diese aus dem Fahrzeug ausstiegen, hörte ich Großmutter erleichtert seufzen. Dennoch war die Situation nicht gerade von wirklicher Freude gekrönt. Auch wenn ich aus den kryptischen Informationen, die meine Eltern meiner Großmutter gaben, heraushören konnte, dass wohl alles weitgehend geklappt hatte – was auch immer –, wurde alles von einer merkwürdigen Hektik begleitet. Vater hielt mich an, die nötigsten Dinge einzupacken, weil wir angeblich sofort von hier verschwinden mussten. Ich stopfte mit Großmutters Hilfe umgehend einige meiner Lieblingsspielzeuge in eine Sporttasche. Mutter stellte schnell ein paar Lunchpakete zusammen und Vater plünderte die Haushaltskasse. Dann verließen wir unser Zuhause und fuhren mit quietschenden Reifen davon.

Wir mieteten uns mitten in der Nacht in einem Hotel ein, das über 300 Meilen entfernt war. Doch auch hier, weit weg von unserem Heimatort, schienen sich meine Eltern nicht wirklich sicher zu fühlen. Immer wieder sahen sie zum Fenster hinaus, achteten auf ungewöhnliche Geräusche auf dem Hotelflur und führten scheinbar unsinnige Handlungen aus, um sich abzulenken. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken.

Nachdem wir jeden Tag die Unterkunft gewechselt und uns dabei immer weiter von unserem eigentlichen Zuhause entfernt hatten, bezogen wir eine gute Woche später ein neues Haus. Auffällig war an diesem Anwesen, dass es sich in der Nähe einer Polizeidienststelle befand; Streifenwagen fuhren fast durchgehend die Straße auf und ab. Vater ließ unseren alten Hausstand nicht hierher nachliefern. Es sei zu gefährlich, sagte er. Möglicherweise würde der Möbelwagen verfolgt werden, und dann sei alles umsonst gewesen. Es war mir schon damals klar, dass die neue Möblierung sowie alles andere, was wir neu kauften, ein Vermögen gekostet haben musste. Doch diese Option war meinen Eltern augenscheinlich lieber, als sich diesem mir unbekannten Risiko auszusetzen; einem Risiko, das sogar einen falschen Namen an Briefkasten und Türklingel begründete.

Mit der Zeit kehrte die Normalität wieder zurück, und nach ein paar Wochen nahm die Nervosität meiner Eltern ab. Doch es wurde mir gegenüber nie ein Wort über die seltsamen Geschehnisse verloren. Sprach ich über Onkel Tyron, wurden mir nur ausweichende Antworten gegeben. Die einzige klare Information, die mir zuteil wurde, bestand in der Aussage, dass ich ihn nie wiedersehen würde und am besten vergessen sollte.

Und so war es auch – Onkel Tyron, wer immer er gewesen war, gab es in meinem Leben nicht mehr. Er wurde mit der Zeit zu einer seltsam verblassenden Erinnerung, und alle Mysterien, die mit ihm verbunden waren, nahmen meine Eltern mit ins Grab. Nach all den Jahrzehnten ist mein Bild von ihm sicherlich von Fehlinterpretationen getrübt und Traumbilder und Phantasien haben die Lücken in meinem Gehirn aus­gefüllt. Dennoch kann ich die Zeit, in der er zweifellos eine so große Rolle in unserer Familie gespielt hatte, nicht wirklich vergessen. Ein merkwürdiger Drang ruft mir diesen eigenartigen Menschen, diese Kreatur, immer wieder ins Gedächtnis zurück.

So machte ich mich irgendwann schließlich auf eine Reise zurück in die Vergangenheit oder das, was von ihr noch übrig war. Ich besuchte meinen Geburtsort, um Spuren der damaligen Ereignisse so gut wie möglich zu rekonstruieren. Dieses Unterfangen unterwies sich jedoch schon bald als aussichtslos. Die Leute, die nach unserer Flucht in das alte Haus meiner Eltern eingezogen waren, kannten zwar noch meinen Namen, aber über die Umstände, die zu unserer Abreise geführt hatten, wussten sie nichts. Sie waren damals aus einer anderen Stadt zugezogen und hatten das Haus regulär über einen Makler erworben. Sie standen in keinem Verhältnis zu meiner Familie.