Christines Weg durch die Hölle - Robert Heymann - E-Book

Christines Weg durch die Hölle E-Book

Robert Heymann

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Beschreibung

Russland 1919, zur Zeit des Bürgerkriegs. Gräfin Christine Kusmetz lebt inmitten von Hunger, Chaos und Verfall; ihr Schloss droht, von Bauern und Bolschewisten in Trümmer gelegt zu werden. Da erhält sie unerwünschten Besuch: der ungeliebte Hauptmann Odojewskij steht plötzlich vor ihr. Er nimmt ihr alle Hoffnungen: Der Sieg der Roten Armee über die Weiße stehe unmittelbar bevor und damit das endgültige Ende der alten Ordnung. Kurz darauf schlagen die ersten Granaten ein. Was soll die Gräfin nun tun? Wie auch immer sie sich entscheidet – Christine erwartet ein Weg durch die Hölle. Auf überaus spannende Weise macht Robert Heymann (alias Sir John Retcliffe der Jüngere) in seinem Roman die Ereignisse im langen und grausamen Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution wieder lebendig.-

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Robert Heymann

Christines Weg durch die Hölle

Roman

Sir John Retcliffe dem Jüngeren

Saga

Christines Weg durch die Hölle

© 1929 Robert Heymann

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711503683

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Der Sturm hat die Tür zum Wirtschaftsgebäude aufgerissen. Wie eine weisse Meute peitschte heulend der Schnee herein. Eine Mauer bildete sich drüben vor dem einsamen Eingang ins Schloss.

Gräfin Christine, längst ohne Dienstboten, ist beschäftigt, das magere Obst einzukochen. Man muss sich auf einen langen und harten Winter gefasst machen. Fleisch ist sehr selten geworden, denn die Bauern haben rücksichtslos den Wildbestand zusammengeschossen. Nichts geschieht mehr für die Wintersnot der Tiere. Nur die Wölfe dringen des Nachts rudelweise bis aus Schloss heran und müssen von Michael mit Flintenschüssen verfagt werden.

Christine will die Tür schliessen, denn die eisige Kälte dringt schon durch ihren Pelz, da löst sich ein dunkler Schatten aus dem Schleier von Schnee und Sturm.

Sie erkennt ihn sofort an dem nur ihm eigenen Lachen. An den schmalen Schultern erkennt sie ihn, an der Art, wie er nachlässig die Hand hebt.

„Alexeij!“ ruft sie entsetzt. „Alexeij Odojewskij!“

Das Gefäss mit Obst entfällt ihrer Hand. Sie schaut ihm entgeistert ins Gesicht, aus dem er die Eisperlen wischt. Er eilt auf sie zu, um ihre Wangen zu küssen, aber sie weicht schnell zurück. Sein Lachen, unecht, eine stete Maske, bleibt in seinem harten Gesicht stehen.

„Nicht anrühren, Hauptmann Odojewskij! Ich bin Gräfin Kusmetz.“

„So,“ sagt er trocken und wirft sich auf die Bank. „Das ist keine Neuigkeit für mich, Gräfin!“

Sie steht noch immer fassungslos.

„Wo kommen Sie her?“ fragt sie.

„Von überall und nirgends. Ich stehe natürlich bei den Weissen. Vorläufig bin ich in Odessa, nachdem ich lange unter Petljura gekämpft habe.“

Die Gegenwart ist brennend. Russland ist ein Flammenmeer. Tausend Jahre alte Einrichtungen sind fortgefegt. Die Menschen wandern und wandern ... Das drängend Gegenwärtige lässt Christine Vergangenes vergessen.

„Wir erhoffen alles von dem Eingreifen der Alliierten,“ sagt sie hastig. „Sie müssen uns retten. Sie sind stark genug! Russland zerfleischt sich selbst. Die Bolschewisten haben keine Armee ... Es sind undisziplinierte Horden ...“

Hauptmann Odojewskij zuckt die Achseln und vergräbt die Hände, von denen er die grossen Handschuhe gezogen hat, in den Taschen.

„Was weiss man ... und was wissen Sie, Gräfin? Kornilow fiel vor den Toren von Jekaterinodar ... am 31. März 18, im verflossenen Jahre ... ich habe den Eisfeldzug mitgemacht ... das Schlimmste, Fürchterlichste, was Sie sich denken können, Gräfin ...“

Der Erzähler bläst in den Ofen, aber Christine kann längst kein grosses Feuer mehr anzünden. Nur ein Flämmchen brennt am offenen Herd. Es ist eisig kalt, und die Winternebel senken sich mit früher Dunkelheit über die Erde.

„Die Bauern haben uns das Holz genommen. — Wir leben immer in Pelzen — Transportmittel gibt es auch nicht. — Kein Pferd mehr, keinen Wagen!“

„Und so leben Sie?“

Sie lächelt ergeben. Das kleine Feuerchen wirft einen matten Schein auf ihr junges, liebliches Gesicht. Sie hat dunkelblondes Haar, jetzt erscheint es rot. Ihr Kopf sitzt auf dem beweglichen Hals. Sie erinnert an eines jener ernsten Kinderbilder des englischen Meisters Reynolds.

„Dann leben Sie also mitten im Verfall?“

„Ja. Das ist das rechte Wort. Rund um uns zerfällt alles. Die Erde, die Ernte, die Häuser zerfallen. Die Steine fallen aus dem alten Schlossflügel in die Zugbrücke. Aber —“ wieder huscht das Kinderlächeln über ihr bleiches Gesicht — „wir warten. Wir haben ja die Hoffnung. Und der Frühling kommt, und der Sommer, wenn auch menschlicher Wahnwitz am liebsten die Erde stille stehen hiesse und die Sonne auslöschte!“

„Sie hoffen, Gräfin! —“ Der Hauptmann pfeift durch die Zähne ... „Bis sich Ihre Hoffnungen erfüllen, liegt Ihr Schloss in Trümmern, und Ihre Bauern haben Sie längst begraben.“

Er fährt, sich in Hitze redend, fort: „Worauf hoffen Sie? Auf den Sieg der Weissen? Die Weissen werden nicht siegen!“

Die erschreckten Augen der Gräfin leuchten durch das Dunkel.

„Aber Sie sind doch selbst — sagten Sie nicht, dass Sie Petljuraoffizier sind?“

„Ja. Ich war es. Und trotzdem! — Vorher war ich bei Kornilow. Ich kann Ihnen nicht schildern, was die Kornilow-Armee gelitten hat. Schliesslich hielten nur noch die Tekintzen, die mongolische Leibwache, die Freiwilligen zusammen! Die Roten trieben uns aus Rostow in die Steppe ... immer südwärts in Schnee und Eis ...“

Christine steht mit gefalteten Händen. Was sich einmal zwischen ihr und dem ehemaligen Zarenoffizier zugetragen hat, ist vergessen! Er hat Kornilows Eisfeldzug mitgemacht! Er wächst vor ihren Augen ins Legendäre.

„Erzählen Sie, Hauptmann Odojewskij! Erzählen Sie!“ bittet sie. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Verzeihen Sie, dass ich völlig vergass —“ sie schaut mit unruhigen Augen umher in dem kahlen Raume und hält im Geiste Musterung über ihre kargen Vorräte.

„Einige geschmorte Pflaumen — etwas Zuckerwasser?“ Sie senkt die Stimme bei dem Wort „Zucker“.

In seinem gesunden Gesicht öffnet sich der Mund weit zu einem Lachen.

„Zuckerwasser? Ja?“ Er lacht noch stärker. „Wir trinken französischen Champagner in Odessa, schöne Gräfin! Nein, wirklich, ich will Sie nicht berauben! Aber ich darf Ihnen eine Zigarette geben?“

Während ihr Kopf verneint, sucht die Hand die Dose aus edlem Holz, die er ihr entgegenhält. Er reicht ihr Feuer. Sie tut den ersten Zug.

„Ach,“ sagt sie in einem Ton, wie Kinder unter dem Weihnachtsbaum.

Er trinkt sich nicht satt an der sanften Rundung ihres Mundes, an den jungen, zärtlichen Augen, die bei jedem Zug, den sie an der Zigarette tut, für Sekunden in rotes Licht getaucht sind.

„Ich wollte Ihnen von Kornilow erzählen.“ Er schliesst schnell die Tür und kehrt zurück, setzt sich auf die Bank, während Christine mitten im Raume steht. —

„Immer enger wurde die Umklammerung der Roten. Es ging noch so, als wir durch das Gebiet der Donkosaken marschierten — obgleich auch die Kosaken damals noch nichts von uns wissen wollten. Inzwischen sind sie ja alle längst unter Denekin gegen die Roten mobilisiert. Aber erst, als die Eiswüste uns umfing, als wir Bauerndorf um Bauerndorf mit der Waffe in der Hand nehmen mussten, ohne Proviant, verzweifelt, halb erfroren ... da erst kam uns das ganze Elend zu Bewusstsein. Die Roten sandten ihre Späher vor uns her. Die logen die Bauern an, hetzten sie gegen uns auf, und wo uns etwa die Bauern nicht Widerstand leisten wollten, da waren schnell ein paar bolschewistische Helfershelfer gefunden, die diesen Widerstand erzwangen. Auch die deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen wurden von den Roten bewaffnet. Wenn wir ankamen, wurden wir mit Feuer empfangen. Dorf für Dorf, Gräfin, es war ein Jammer! Wir konnten die Waffen keine Stunde ablegen. Hinter uns die Roten, vor uns die Bauern. Es gab keine Wahl! Wir stürmten Dorf um Dorf und massakrierten die Verteidiger. Und fanden immer weniger Lebensmittel. So erreichten wir Jekaterinodar. Kornilow beschliesst, die Stadt zu stürmen. Wir sind kaum ein paar tausend Mann und haben einen unabsehbaren Zug von Verwundeten und Kranken, die wir mitschleppen. Ein Elend! Ein Kampf entbrennt, unbeschreiblich! Wir haben schreckliche Verluste. Kornilow beugt sich eben über seine Generalstabskarte, da schlägt eine Granate ein und zerschlägt ihm Arm und Bein.

Eine Stunde später war er tot. Die Soldaten durften es nicht erfahren. Sie waren schon in die Strassen der Stadt eingedrungen. Man kämpft um die Häuser, um die Vorstadt, um jeden Stein. Wir müssen wieder heraus — zurück in die Steppe! Müssen die Kranken und Verwundeten und die Pflegeschwestern zurücklassen!

In der Steppe senken wir den toten General in die gefrorene Erde. Wieder endlose Flucht durch das weisse Russland. Und endlich, dezimiert, ein Häuflein armseliger Offiziere, erreichen wir wieder das Gebiet der Donkosaken und sind gerettet.“

Christine ist auf einen Schemel gesunken. Starrt den Erzähler mit weitaufgerissenen Augen an: „Aber nun! Nun hat Denikin doch die Hilfe der Engländer und Franzosen und Griechen! Auch die Deutschen in Nikolajew stehen zu ihm!“

Hauptmann Odojewskij schweigt. Sein gepflegtes Gesicht, das kleine, schwarze Bärtchen auf der vollen Oberlippe möchten seine Heldengeschichten Lügen strafen. Aber er hat die Wahrheit gesprochen. Mond und Schnee scheinen durch das zerbrochene Fenster.

„Ach, wären wir in Sibirien oder im Kaukasus,“ seufzt Christine. Alexeij schaut ihr erstaunt zu, wie sie einen Kienspan entzündet. „Wir haben kein Licht mehr,“ sagt sie mit einem hilflosen Lächeln — „auch keine Kerzen! — Ja, Hauptmann Odosewskij, mein Mann und ich, wir leben hier unter trostlosen Verhältnissen. — Es ist die Heimat, ja, aber keine Zeitungen — die Bauern rund herum reden viel ... man weiss nicht ... ist Koltschak wirklich Oberkommandierender in Sibirien?“

„Ja. Er hat einen Tag vor Weihnachten — letztes Jahr — Perm eingenommen — bereitet jetzt cine neue grosse Offensive vor ... im Frühjahr soll der Marsch nach Moskau beginnen ...“

Er lacht kurz, sonderbar, seine Augen kleben an ihrer rührenden Gestalt. Ihre Zöpfe hängen mädchenhaft über ihre Schultern. Das schwelende Licht fällt auf ihren dichten Scheitel und taucht ihre forschenden Augen in geheimnisvolles Zwielicht. —

„Wie ist es denn aber überhaupt möglich, dass ich Sie hier noch finde, Gräfin?“

„Sehr einfach! Ich habe den Grafen Kusmetz geheiratet ... wir zogen hierher auf seine Güter.“

„Den Revolutionär ...“

„Er war kein Revolutionär. Er ist unschuldig nach Sibirien geschickt worden. Sie wissen es so gut wie ich. Aber die Bauern haben es ihm nicht vergessen, dass er einst für sie eintrat. Dass er keine Herrenrechte geltend machte wie die anderen Gutsbesitzer rundum, die alle ausnahmslos flüchten mussten. Die Bauern haben uns nichts zuleide getan, haben eine Abordnung geschickt und uns sagen lassen, sie wollten wohl unser Land aufteilen, aber wir sollten ruhig im Schlosse weiterwohnen, und was wir brauchten, wollten sie uns geben.“

„Und Sie sind geblieben?“ fragt der Hauptmann mit einem Anflug ehrlicher Bewunderung.

„Ja! Mein Mann konnte sich nicht von der Heimat trennen!“

„Ihr Mann!“

„Sie müssen nicht so sprechen! Auch ich hätte es nicht übers Herz gebracht. Freilich, als alle flohen, als wir den Feuerschein über den Herrenhäusern unserer Nachbarn bald da, bald dort aufleuchten sahen, da klopfte manchmal die Furcht bei mir an — aber Michael vertraut den Bauern.“

„So lange, bis das Gesindel ...“

„Es ist kein Gesindel. Sie betreuten uns weiter. Es war rührend. Aber dann — dann kamen die Roten, die Weissen, wieder die Roten, Requisitionen über Requisitionen, und schliesslich der Hunger. Nun haben auch die Bauern nichts mehr. Also können sie uns nichts abgeben.“

„Sie hungern also, Gräfin! Sie hungern?“

„Ja. Wir hungern.“

„Und Michael? Ihr Mann? Wo ist er?“

„Mein Mann ist über Land! Er versucht, bei einem ehemaligen Leibeigenen seines Vaters etwas aufzutreiben. Wir sind ja nun auch arm. Gewiss habe ich meine Kostbarkeiten gerettet —. Aber hier unter den Bauern sie zu Geld machen, hiesse, die bösen Instinkte wachrufen. Und wenn wir fliehen — wer kann sagen, wie lange das Geld reicht, das wir für den Schmuck erhalten?“

„Trotzdem sind Sie unermesslich reich,“ sagt der Hauptmann langsam, lauernd. „Sie kennen doch das Geheimnis des Platinlagers.“

Zum ersten Male lacht Christine leise: „Das Geheimnis des Platinlagers ...“

„Nun? Man sagt, die Ausnützung würde Milliarden erbringen!“

„Vater behauptete es. Und ich glaube auch daran. Aber der Sturz des Zaren hat die Verwertung vereitelt. Vater ist nun gestorben.“

„Aber er hat Ihnen die Pläne vermacht.“

Sie schweigt. Sein listiges Auge beunruhigt sie.

Aber er fährt hartnäckig fort: „Verkaufen Sie das Geheimnis an die Entente. Ich bin bereit, zu vermitteln.“

„An die Entente? Russlands Schätze? Halten Sie mich für eine Verräterin?“

„Die Entente soll aber Russland aus dem Abgrund des Bolschewismus helfen. Sie selbst sagten ähnliches vorhin — warum also wäre es Verrat, ihr Bodenschätze zur Verwertung zu übermitteln, die doch wieder Russland zugute kämen? Oder glauben Sie, Gräfin, die Engländer sind nach Batum gekommen, weil Idealismus sie getrieben hat? Das russische Petroleum reizt! Und die Franzosen? Die wollten den Italienern zuvorkommen, und die Griecheu wollen Kompensationen.“

Christine hat sich inzwischen von ihrer ersten Überraschung erholt und antwortet kühl, sie wisse überhaupt nicht mehr, wo sich das Lager befände, und sie wolle nichts mehr damit zu tun haben. Russlands Feinde bleiben Russlands Feinde, auch wenn sie im Sinne des Menschenrechts und der Kultur jetzt dem russischen Volke beistünden. „Übrigens habe ich alles vergessen. Ich habe nicht einmal Michael jemals davon erzählt. Nein, er hat keine Ahnung von der Existenz dieses Platinlagers, von dem ich selber nichts mehr wissen will. Wer hat zu Ihnen davon gesprochen?“

„Ich erfuhr es von dem damaligen Petersburger Stadtkommandanten. Doch lassen wir das Platinlager! Sie wollen wirklich hier bleiben?“

„Ja.“

„Und wenn die Bolschewiki kommen?“

„Die sind ja schon mehrmals durchgekommen. Die Bauern verstecken uns dann.“

Hauptmann Odojewskij steht auf und legt die Hände auf die Schultern der jungen Gräfin. „Ich muss wieder fort, Christine! Das ist kein Leben für Sie! Das ist Wahnsinn! Kommen Sie mit mir! Nach Odessa! Odessa lebt im Licht. Der Glanz der ganzen Welt ist über Odessa.“

Sie stösst seine Arme von sich und steht schnell auf. „Wir bleiben hier,“ sagt sie einfach. „Michael will hierbleiben.“

„Und deshalb, weil Ihr wahnwitziger Michael hierbleiben will ...“

„Ich sagte Ihnen ja schon — auch ich will es! Wenn wir die Heimaterde verlassen, dann vielleicht im Frühjahr.“

„Und ich erkläre Ihren Mann für wahnsinnig!“ schreit der Hauptmann. „Will er warten, bis er Sie eines Tages mit durchschnittener Kehle vorfindet? Geschändet? Oder bis ein Trupp Partisanbrüder Sie mitnimmt als Lagerdirne und zum Wäschewaschen? Haben Sie denn eine Ahnung, in welcher Gefahr Sie schweben?“

„Die Bauern werden mich schützen!“ antwortet sie erschrocken.

„Die Bauern! Schützen Sie die Bauern vor mir? Kann ein Bauer Ihnen helfen, wenn ich Kriegsrecht walten lasse, schöne Gräfin? Oder haben Sie alles vergessen, Christine?“

Der Wind reisst von neuem die Tür auf. Sie starrt den unheimlichen Besucher entsetzt an. In der Tat: Niemand ist erreichbar, der ihr Hilfe bringen könnte. Schweigend, kalt und dunkel liegt das Herrenhaus. Draussen tobt das Unwetter. Sie sieht jetzt schwach die Umrisse seines Schlittens, die Pferde hat er unter schützende Bäume gestellt.

Sie will fliehen, aber es ist schon zu spät. Er umfasst sie ...

„Verstehst du, Christine, dass ich dich immer noch liebe? Dass ich nicht verzichten werde?“

Seine grossen, weissen Zähne funkeln sie an. Sie schreit laut. Sie trommelt mit den Fäusten gegen sein Gesicht. Er mag schon schärfere Hiebe in ähnlichen Situationen empfangen haben. Er lacht nur. Der Wind bauscht ihre Röcke. Wirft sie ihr fast über den Kopf. — Macht sie hilflos und steigert seine sinnliche Wut. Wie ein Schraubstock pressen sich seine Arme um sie, ihr Kopf sinkt zurück, sein Atem geht über ihre Lippen und schon fühlt sie sich schaudernd als Beutestück — eines der tausendfachen in dieser wüsten, verfluchten Zeit — da pfeift etwas — sss — wie Gottes Zorn über das Gebäude weg, ein furchtbarer Krach folgt, draussen gehen die Pferde durch, und Odojewskij schleudert den zuckenden Frauenleib von sich.

„Eine Granate,“ schreit er wild. Da kommt schon der zweite, der dritte Einschlag, das Dach geht nieder, Balken stürzen umher. —

„In den Keller! In den Keller!“ ruft Odojewskij. Christine, keines klaren Gedankens mehr fähig, stürzt zu der Falltür. Er reisst sie auf. Sie fallen hinab. In ein eisiges, dunkles Grab. Und gleich hinter ihnen her prasselt die Vernichtung.

2

Es war für das Dorf vollkommen überraschend gekommen. Niemand hatte Zeit, etwas in Sicherheit zu bringen, aber das tat auch nicht not, denn die Bande, die mit Geheul, eine Rotte Korahs, auf kleinen Wagen stehend, mit schnaubenden Pferden durch die Dorfstrasse jagte, waren Machnoleute, Soldaten des Bauernvaters, der es weder mit den Weissen noch mit den Roten hielt, der die Welt erlösen und den Bauer frei machen wollte.

Gehetzt und gejagt und gesucht ist er, der „Befreier“. Er hat den Gutsbesitzern ihre Länder und ihre Forsten weggenommen und hat sie den Bauern gegeben. Er hat gegen die Deutschen und die Österreicher gekämpft, die nach dem Frieden von Brest-Litowsk in die Ukraine kamen. Sie haben einen hohen Preis auf seinen Kopf gesetzt, aber sie haben ihn nicht bekommen, denn seine Scharen sind flink wie die Teufel, und die Bauern beten ihn an. Er wird ein christliches Zeitalter begründen, dieser moderne apokalyptische Reiter mit dem wilden Blick und dem langen Haar über dem kranken Gesicht. Die Deutschen haben ihn gejagt wie einen Hund! Sie haben ganze Dörfer angezündet, in denen sie ihn vermuteten, sie haben das Haus seiner Mutter in Asche gelegt, sie haben seinen Bruder erschossen — aber sie haben Nestor Machno nicht fangen können.

Da kamen die Österreicher. Denen nahm der Bandenführer die Eisenbahn ab, die das Kohlenbecken des Donez mit den Küsten des Asowschen Meeres verbindet. Hier lag er auf der Lauer und fing die Reisenden ab, die grossen Handelsherren, die mit Kohle, Salz und Naturalien zu tun hatten, erpresste Lösegelder, raubte, mordete und organisierte seine Bande immer besser. Auf den zweirädrigen Tatschanki, auf denen immer ein Maschinengewehr montiert war, sassen je zwei seiner Leute. Über tausend solcher Karren verfügte Machno, seit er einen grossen Train der Österreicher aufgehoben hatte. Mit diesen tausend Kriegswagen rast er durch die Steppen, taucht heute hier, morgen dort auf, entzieht sich allen Nachstellungen, kämpft mit allen Truppen, heute mit denen Petljuras, morgen mit denen Trotzkis, am fanatischsten gegen die Weissen, und hält die ganze Ukraine in Atem.

Aber diesmal ist ihm ein Trupp weisser Soldaten auf den Fersen. Er hat die Eisenbahn zerstören wollen, da kommt ein Panzerzug aus Odessa angerast, und plötzlich sah er sich von Artilleriefeuer bedroht. Wie der Blitz flüchtet er nun. Seine Wagen ratterten durch das Bauerndorf, während die Russen hinter ihm herschiessen.

Während der Kampf zwischen den Weissen und den „Grünen“, wie sich Machnos Anhänger nennen, mit der Flucht der Grünen endet, hört Christine, eingeklemmt zwischen Balken und Mauerwerk, in weiter Ferne die Einschläge schwerer Minen und das helle Gewehrfeuer. Sie kann sich nicht rühren, wähnt den Hauptmann erschlagen. Sie ruft, aber keine Antwort folgt.

Tschschsch ... Bum! Krach! macht es über dem Haupt Christines. Ein neuer Einschlag wirft das Wirtschaftsgebäude völlig in Trümmer, der Keller scheint nachzugeben. Christine glaubt zu sinken ... tiefer und tiefer ...

Michael muss um diese Zeit zurückkehren, schiesst es ihr durch den Kopf. — Jähe Angst um ihn packt sie ... er wird mitten in den Kampf geraten ... er wird vielleicht daran teilnehmen, wird sich verleiten lassen ... wie hasst er diesen Machno, den er einen Wahnsinnigen nannte, einen Gottlosen, einen Anarchisten.

Wird mich Michael noch finden?

„Michael!“ ruft sie mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft. Aber hohl und leer klingt es in ihrem Grabe wider. Der Hauptmann gibt keinen Laut mehr von sich.

Wie ein Schleier sinkt halbe Bewusstlosigkeit über Christine. Michael ist in das Dorf gekommen, als sich ein dunkler Vorhang mit rasender Schnelligkeit vom Walde her den ersten Häusern näherte.

Die Bauern wussten sofort: „Überfall!“

Zuerst dachte Michael an die Bolschewiki. Er wollte ins Schloss, Christine holen. Aber der erste Bauer, der ihn sah, riss ihn vom Woge ab und hinein in die Hütte.

„Auf den Ofen, Väterchen,“ schreit er, schiebt, stösst, drängt Michael über die kleine Leiter auf den hohen Ofen, wirft alte Pelze über ihn. „Zudecken, Väterchen, den Kranken spielen!“

Sie lieben Michael. Sie lieferten ihn nicht aus. Was kümmert es die Bolschewiki, dass er einst für das unterdrückte Volk gekämpft, gelitten hat? Ihnen ist er ein Bourgeois, ein verhasster Bürger, ein ehemaliger Aristokrat. Wenn sie auf der Flucht sind, die Roten, erschiessen sie kurzerhand, wer ihnen irgendwie verdächtig erscheint. Und ein Adeliger ist verdächtig!

Jetzt hört Michael schon das wilde Schnauben der Rosse, das Geschrei, er hört Schüsse und denkt mit verhaltenem Atem an Christine. — Doch er verriete sie, wenn er jetzt versuchte, ins Schloss zu gelangen. Sie werden es für unbewohnt halten ... Angeber gibt es hier nicht, denn es sind keine armen Bauern da. Sie besitzen alle gleich viel. Sie bilden keinen Ortssowjet: Ehemalige Besitzlose, die mit Neid und Hass auf die Besitzenden schauen und willige Verleumder und Verräter sind.

Jetzt schlägt die erste Mine ein. Michael fährt hoch.

Was ist das? Wer schiesst hier mit Minen?

Gruben die Bolschewisten sich ein? Sind die Weissen so nah? Er war doch den ganzen Tag unterwegs und hat nichts gesehen noch gehört! Kein Bauer wusste etwas zu erzählen von einem Vormarsch der Weissen. Kein Bolschewist hatte sich seit langer Zeit sehen lassen. Nur die Banden des roten Grigorjew, des ehemaligen Gardeoffiziers, der geschworen hat, Odessa zu erobern, sollten heraumarschieren.

Waren es die Horden Grigorjews?

Die Luft ist erfüllt von ohrenbetäubendem Lärm: Geheul, Einschlagen der Minen, Knattern der Gewehre. Aber es ist ein Lärm von vielen fliehenden Pferden. Die Bande nahm sich nicht Zeit, haltzumachen. Wieder der Einschlag. Nun wird es stiller und stiller. Und dann liegt wieder Grabesstille über dem Dorf.

Michael springt von der Ofenbank herab. Bauern kommen, sich bekreuzigend.

„Machno,“ sagen sie.

Den fürchtet Michael mehr als alle anderen. Ohne sich Zeit zu nehmen, dein Bauer zu danken, stürmt er durch den eisigen Wind dem Schloss entgegen.

Alles ist dunkel und still. Gott sei Dank, keiner der Marodeure ist auf den Gedanken gekommen, Nachschau zu halten. Sie sind im Walde verschwunden, wie sie kamen, und wer weiss, wo Machnos Räuber morgen wieder auftauchen werden.

Michael eilt zur verschneiten Freitreppe. Er ruft, stürzt hinauf, durch die Korridore, die kalt und schwarz liegen, nur vom Mondschein beleuchtet, ruft und ruft und bekommt keine Antwort.

Da sieht er durchs Fenster das zertrümmerte Wirtschaftsgebäude. Fiebernde Angst fasst ihn. Er rennt hinaus. Er wühlt mit den Fäusten in den Trümmern, ruft den geliebten Namen. Von Ferne tönt Antwort. Leise, kaum hörbar, aber die Nacht ist so still im Schnee, dass er doch Christines Ruf aus der Tiefe vernimmt ...

Er versucht, die Balken zu heben. Umsonst!

Er rennt ins Dorf, die Bauern laufen zusammen. Mit Eisen und Schaufeln und Hacken kommen sie. Im Scheine von Fackeln graben sie nach der Gräfin. Michael arbeitet, als klatsche die Knute hinter ihm. Immer näher kommen sie dem Grabe, in dem Christine nach Atem ringt.

Jetzt endlich fährt ein eisiger Luftzug in das Loch. Die Verschüttete holt tief Atem ... und erwacht aus ihrer halben Bewusstlosigkeit. Da schlägt auch schon die Spitzhacke eines unvorsichtigen Retters dicht an ihrem Ohr vorbei.

Sie schreit auf.

Gerettet!

Gerettet in letzter Stunde, denn schon sickert Blut aus ihrer Nase, schon hat sie mit dem Erstickungstod gekämpft und den Tod gefühlt, der über sie hinstreifte ... einen grausamen Tod.

Weinend und lachend sinkt sie Michael in die Arme.

Die Bauern gehen ins Dorf zurück. Michael trägt die Gerettete ins Schloss.

Sie will danken und kann es nicht. Irgend etwas mahnt in ihr und klopft an ihr Herz, aber sie kann es nicht fassen.

Sie liegt, in alle verfügbaren Pelze gehüllt, auf dem Diwan, und Michael bemüht sich, Feuer zu machen. Ein kleines Feuer, um die Hände zu wärmen und etwas Fleisch zu kochen.

Er erzählt mit der überstürzten Hast der freudigen Erregung. Sie will zuhören und kann es nicht. Immer wieder drehen sich die Dinge um sie. Die Gedanken fliehen vor ihr, sie kann sie nicht einfangen, sie fliegen fort wie leichtbeschwingte Vögel, ins Blaue eines lichten Himmels, einer sonnigen Landschaft, bis wieder Geschrei und Toben sie aus ihrem Halbschlummer reisst.

Diesmal wird unten am Tor gerüttelt.

Michael tritt ans Fenster, duckt sich schnell.

Eine Kugel schlägt krachend in die Wand.

„Aufgemacht!“ brüllen rohe Stimmen. „Dachte ich doch, dass einer da oben versteckt ist! Los! Auf!“

Ehe Michael sich weigern kann, brechen sie unten das schwere Tor ein.

Schnell schieben sich seine starken Arme unter Christine. Durch eine Flucht von Zimmern jagt er mit der geliebten Last wie ein Schatten. Gespenstisch geistert der Mond hinter ihm drein. Treppen geht es empor ... überall fallen hinter ihm die Türen ins Schloss. Seine Füsse rollen Tische und Stühle davon. Weiter!

Nun ist er im letzten Zimmer. Er hat längst für diese Möglichkeit alles vorbereitet.

Waffen liegen schussbereit umher. Christine sinkt in die Knie.

„Michael, wir sind verloren! Nur nicht lebend in ihre Hände! Michael! Nicht lebend!“

In ihres Herzens Not sieht sie noch, wie Michael verändert ist. Die Güte seines Gesichtes ist weggewischt. Wie ein Tatar steht er da mit flammenden Augen, den Mund geöffnet in wilder Kampfeslust. Ja, mit einem gurgelnden Schrei antwortet er dem näher kommenden Lärm, und als könnte er sie nicht erwarten, diese Auseinandersetzung auf Leben und Tod, die doch nur mit seiner und Christines jammervollen Ermordung enden kann, stürzt er vor die Tür, an die Treppe. Hier macht sie eine Wendung.

Christine hört ihn schiessen. Schreie ... Flüche. Er schiesst wieder. Schnell feuert er und sicher. Und Menschenkörper rollen schwer aufschlagend hinab.

Sein Kriegsgeschrei hallt heulend durch die endlos traurigen Räume. Das Geschrei der Angreifer antwortet.

Es sind wieder die Grünen, die zurückgekommen sind. Auf ihrer Flucht haben sie das Schloss bemerkt ... Ein Schloss, heil und stolz. Man musste es plündern, man musste es nach etwa versteckten Adeligen durchsuchen.

In ihrer Todesnot horcht Christine doch immer von neuem auf die gellenden Schreie des Geliebten. Nie hat sie ihn so gesehen! Sie begreift: Die Natur des Vaters bricht durch, das Blut der alten Bojaren rauscht auf. Sie werden es nicht leicht haben mit dem letzten Spross des Hauses Kusmetz.

Jetzt zieht er sich langsam vor der Übermacht zurück ...

„Lade, Christine! Lade!“ ruft er.

Sie sucht in dem matten Mondlicht nach der Munition.

„In dem Kasten, nahe dem Ofen,“ schreit er. Sie hört ganze Salven, und die Kugeln der Grünen schlagen schon ins Zimmer.

Sie schiessen nun auch von unten. Aber sie wagen nicht, sich ein bestimmtes Ziel zu suchen, aus Angst, die Ihren zu treffen.

An die Tür gelehnt, steht Michael und feuert. Blitzschnell lädt sie: Das Gewehr, das er ihr hereinreicht, den Armeerevolver, und reicht ihm die anderen Waffen hinaus, die er längst geladen hatte, eines solchen Zwischenfalles sicher.

Warum sind wir geblieben? schiesst es Christine durch den Kopf. Und dann ist sie doch wieder voll Stolz und todesbanger Freude: So hat wohl keiner der russischen Grafen und Fürsten seinen Boden, die Heimat, verteidigt. So ist kein Adeliger gestorben, eine Hekatombe Gefallener nach sich ziehend in das Schattenreich.

Der Kampf geht weiter. Sie kommen nicht über die Treppenbiegung herauf, wenn sie auch Schnellfeuer geben. Die Kugeln können ihn nicht treffen, und ehe einer der verwegenen Schützen, sich um die Ecke schleichend, abdrücken kann, hat ihn Michaels Kugel schon gepackt.

Da schlägt furchtbares Knattern Christine beinahe zu Boden. Die Tür splittert. Michael stürzt herein. Kugelt über den Boden, springt aber schon auf und feuert weiter ... ins Dunkle, Wirre hinein, in den Menschenknäuel, der sich heranwälzt.

Sie haben eine Handgranate geworfen. Durch ein Wunder blieb Michael unversehrt. Wohl rinnen ihm Blutbäche über das Gesicht. Aber das hetzt ihn nur an. Er schreit wie ein Trunkener, und die Anderen weichen zurück vor dem barbarischen Feuer, stürzen hinunter trotz der geborstenen Tür.

„Ein Teufel,“ sagt unten im Hof einer der Offiziere zu Machno.

„Dann werden ihn hundert Teufel herausholen. Und das Weib lebend!“ brüllt Machno und haut mit der Peitsche wütend auf den Wagenrand.

Wieder stürmen sie.

Jetzt zerschlagen sie im Ansturm alles Erreichbare, schieben Matratzen und Tische vor sich her als Schutz gegen den Einen.

„Michael, ist das Ende der Welt gekommen?“ stammelte Christine.

Er nickt, mit allen Sinnen nach der Treppe horchend.

Das Geheul kommt wieder näher und näher.

„Das Ende dieser Welt, ja.“

Ein Schrei aus Seelentiefe.

Er wendet sich ihr zu.

„Michael! Fliehen wir! Wir sind jung! Jung!“

„Fliehen?“ Er lächelt. „Zu spät! Zu spät!“

„Der Tod — —? Wir sind verloren?“

„Ja, Christine. Es ist das Ende.“

Ihre Arme schlingen sich um seinen Hals. Sie drängt sich an seinen Körper. Sein Blut sprudelt über sie.

Ihre Lippen suchen die seinen. Seine Arme schlingen sich um den zuckenden Körper, Augen tauchen in Augen. Liebe empfängt zwei Seelen, Liebe einer Sekunde, die sich in ein Leben wandelt.

„Liebste! Mein Weib!“

„Im Tode, Michael!“

„In einem besseren Leben!“

„Jenseits dieser entsetzlichen Zeit und Welt.“

„Jenseits.“ —

Küsse überirdischer Trunkenheit. — Ein Chaos von Flüchen. — Splitter. — Braune Köpfe! Irrlichternde Augen! Gewehre!

„Michael! Michael! Nicht in diese Hände — barmherziger Gott —“

Blitze in ihrer Nähe.

Die Köpfe der Machnoleute verschwinden wieder für einen Augenblick. — Todesächzen. —

Michael steht aufrecht, mit zitternden Muskeln. Die Patronenkammer des Brownings lässt ihm noch Zeit.

„Michael — nur das nicht — nicht lebend —“

Er lächelt.

„Still, still, mein Liebling!“

Das Geheul schwillt wieder an zum Orkan. — Schrille Schreie dazwischen.

Feuer! Ein düsterer, brauner Kopf in der Türfüllung.

Schüsse. Wieder Schüsse.

Christine springt auf, vor den Geliebten.

Christine deckt Michael mit ihrem Körper.

Da verstummen die Schüsse. Da wird es still. Und die Stille schreit Christine das Entsetzliche zu: Lebend wollen sie das Weib haben, lebend!

„Nicht lebend!“ schreit Christine mit wahnsinnigen Augen.

Michael ist kühl wie ernst auf dem Exerzierplatz. Er hat seine Kugeln gezählt.

Noch zwei.

Die Tür bricht entzwei.

Da wendet er die Waffe gegen Christines Stirn — und — senkt sie.

Denn plötzlich, wie von Geisterhand verweht, ist der Spuk verschwunden.

Die Angreifer sausen hinab. Unten wird gekämpft. Ein schweres Maschinengewehr arbeitet.

Die Weissen aus dem Panzerzug sind gekommen. Der Kampflärm ist bis zu ihren Patrouillen gedrungen.

Trotzdem die Machnoleute überrumpelt sind, gelingt es den Weissen nicht, sie richtig zu fassen. Ehe der Hauptangriff erfolgt, sind sie schon auf und davon. Ihre kleinen Pferdchen jagen, den Bauch fast im Schnee, dahin und schleppen Maschinengewehre und Mannschaften mit sich hinaus in die grosse Landschaft der Ukraine, in die undurchdringlichen Wälder, in die endlosen Ebenen.

Als die Offiziere sich endlich den Weg über die Trümmer und Leichen gebahnt haben, sehen sie im obersten Stockwerk an der Treppe den Sieger, eine bewusstlose Frau im Arm. Wie eine Standarde weht ihr Haar im Wind.

Sie bringen warme Decken. Setzen das Paar in einen Schlitten. Und während in der Ferne der Kampf verklingt, fliegen Michael und Christine einem neuen Leben entgegen. Der Panzerzug steht auf den Schienen wie ein Untier aus grauer Vorzeit. Die Soldaten haben sich zu beiden Seiten eingegraben. Die Geretteten werden mit Jubel empfangen. Michael wird verbunden. Der Kommandeur des Zuges bittet ihn in seinen Wagen.

Es sind noch einige Passagiere da, Kaufleute, gerettete Gutsbesitzer.

Christine erwacht in einem wohlig geheizten Raum, lächelt und schläft wieder ein.

3

Einige Kaufleute hatten sich im Gefühle völliger Sicherheit zu weit von Odessa fortgewagt. Sie wollten Luxusartikel an die Bauern verkaufen und verborgenes Gold herauslocken. Aber einige wurden ermordet, andere retteten mit Mühe ihr nacktes Leben in den Panzerzug No. 12.

Nun lag das Ungetüm da, ständig unter Dampf, vorne die riesengrosse Lokomotive, und ihr Panzer berührte beinahe die Schienen.

Hinter ihm stand ein Wagen, langgestreckt wie ein lauerndes Raubtier, mit vielen Schiessscharten für die Gewehrschützen, und daran schlossen sich Pullman-Cars für die Passagiere, einige Karren mit Kanonen und Gepäck.

Vor der Lokomotive aber, umweht von Dampf und Rauch, war ein Panzerturm. Aus seiner Drehkuppel drohte eine Kanone, aus den Seitenwänden sahen die messingnen Maschinengewehre heraus.