Chrysalis - Anna Metcalfe - E-Book

Chrysalis E-Book

Anna Metcalfe

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Beschreibung

Sie geht ins Fitnessstudio. Sie verändert ihren Körper drastisch, will nach einer traumatischen Erfahrung schwerer, stärker und gelassener werden. Wie eine Chrysalis, ein Insekt im Zustand der Verpuppung, wird sie eine völlig andere werden. Diesen Wandlungsprozess beobachten drei Menschen, die ihr auf verschiedene Weise verbunden und von ihr fasziniert sind. Eliott, ein schüchterner Einzelgänger, begegnet ihr im Fitnessstudio und verehrt sie wie eine Heilige. Bella, ihre Mutter, muss erkennen, dass für die Tochter ihre Beziehung ein enger Kokon war, aus dem sie sich nun befreit. Susie, die beste Freundin, bietet ihr Zuflucht und Unterstützung während der Verwandlung. In klarer, betörender Prosa erzählt Anna Metcalfe über den Versuch einer Frau, sich von den Fesseln der Gesellschaft zu befreien und über sich selbst vollkommene Kontrolle zu erlangen. «Im Moment zu leben sei gar nicht so einfach, sagte sie; aber wenn ihr Körper schwerer und beherrschter wäre, würde ihr Denken aufklaren und ihr Verstand zu seiner alten Stärke zurückfinden.»

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Seitenzahl: 316

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Anna Metcalfe

Chrysalis

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Eva Bonné

 

Über dieses Buch

Sie geht ins Fitnessstudio. Sie verändert ihren Körper drastisch, will nach einer traumatischen Erfahrung schwerer, stärker und gelassener werden. Wie eine Chrysalis, ein Insekt im Zustand der Verpuppung, wird sie eine völlig andere werden. Diesen Wandlungsprozess beobachten drei Menschen, die ihr auf verschiedene Weise verbunden und von ihr fasziniert sind. Elliot, ein schüchterner Einzelgänger, begegnet ihr im Fitnessstudio und verehrt sie wie eine Heilige. Bella, ihre Mutter, muss erkennen, dass für die Tochter ihre Beziehung ein enger Kokon war, aus dem sie sich nun befreit. Susie, die beste Freundin, bietet ihr Zuflucht und Unterstützung während der Verwandlung.

In klarer, betörender Prosa erzählt Anna Metcalfe über den Versuch einer Frau, sich von den Fesseln der Gesellschaft zu befreien und über sich selbst vollkommene Kontrolle zu erlangen.

 

«Im Moment zu leben, sei gar nicht so einfach, sagte sie; aber wenn ihr Körper schwerer und beherrschter wäre, würde ihr Denken aufklaren und ihr Verstand zu seiner alten Stärke zurückfinden.»

Vita

Anna Metcalfe ist eine britische Autorin. Sie wurde in Deutschland geboren. Ihre Erzählungen wurden in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht und mit Preisen ausgezeichnet. In Großbritannien ist bislang der Erzählungsband Blind Water Pass von ihr erschienen. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an der Universität von Birmingham. Chrysalis ist ihr Debütroman.

 

Eva Bonné, 1970 geboren, studierte amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Seither übersetzt sie Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie lebt in Berlin.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Chrysalis» bei Granta Books, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Chrysalis» Copyright © 2023 by Anna Metcalfe

 

Das Eingangszitat von Vladimir Nabokov stammt aus: «Metamorphosen», in: Eigensinnige Ansichten. Gesammelte Werke Band XXI. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 552

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Future Herbarium © Laurent Grasso, courtesy of the Artist and PERROTIN

ISBN 978-3-644-01490-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Die Puppe reißt auf, wie die Raupe aufgerissen war – tatsächlich ist es eine letzte, bessere Häutung, und das Schmetterlingsweibchen kriecht hervor –und hängt nun ihrerseits am Ast, um zu trocknen. Zunächst ist sie nicht hübsch. Sie ist sehr feucht und verschlumpt. Doch jene schlaffen Anhängsel, die sie langsam frei gemacht hat, trocknen, sie dehnen sich, die Adern verästeln sich und werden hart – und in ungefähr zwanzig Minuten ist sie bereit zum Flug. Sie haben bemerkt, dass die Raupe männlich ist, die Puppe sächlich und der Falter weiblich. Sie werden fragen: Wie fühlt sich das Schlüpfen an? Nun ja, zweifellos rauscht Panik in den Kopf, gibt es den Kitzel einer atemlosen und seltsamen Empfindung, doch dann sehen die Augen, in einer Flut von Sonnenlicht sieht die Falterin die Welt, das große und schreckliche Gesicht des staunenden Entomologen.

Vladimir Nabokov

IElliot

Eins

Ich beobachtete sie gern. Anfangs bemerkte sie es nicht, oder es war ihr egal. Sie war nicht wie andere Leute, die einen fremden Blick als warme Stelle im Gesicht oder im Nacken spüren und sich dann unwillkürlich umdrehen. Falls sie die Wärme doch fühlte, gelang es ihr, sie zu ignorieren. Sie hatte das trainiert. Es war ihr großes Projekt – so still zu halten wie möglich. Sie wollte vollkommen unbewegt sein.

Ich hatte sie an einem frühen Nachmittag im unangenehm vollen Fitnessstudio kennengelernt. Menschen machen mich ganz generell nervös, was aber nicht daran liegt, dass ich unsicher wäre. Ich bin selbstständig tätig und lebe allein. Am liebsten ist es mir, wenn ich für mich sein und mir meine Zeit frei einteilen kann. Inzwischen bin ich ziemlich gut darin geworden, den ruhigsten Zeitpunkt für meine Aktivitäten zu finden, und ins Fitnessstudio gehe ich schon eine ganze Weile. Wie jedes Biotop folgt es einem eigenen Rhythmus, einem zyklischen Flow, und wenn man den einmal verstanden hat, ergibt sich alles andere wie von selbst.

Im Morgengrauen kommen die Manager. Nach einer schnellen Laufrunde stemmen sie schwere Gewichte. Ihr Training ist halb Performance, halb Ritual. Zügig und gewissenhaft arbeiten sie jeden einzelnen Körperteil ab. Sie duschen mit teuren Gels, bevor sie in ihre teuren Hemden schlüpfen und die Knöpfe vor dem Spiegel schließen wie reiche Leute im Fernsehen. Anschließend rufen sie ein Taxi und halten unterwegs noch mal kurz an, um sich einen extraheißen Kaffee zu holen. Sie arbeiten in hohen Glastürmen und bleiben den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen, während die Tür zu ihrem Büro sich in einem fort öffnet und schließt. In der Hinsicht verfolgt sie dasselbe Ziel wie diese Manager: ihre Bewegungen so zu optimieren, dass sie sich später gar nicht mehr bewegen muss. Danach sind die «Morgenmenschen» dran, strahlend und energiegeladen; dass keiner zurücklächelt, merken sie nie. Sie sind so munter und peinlich wie zweitklassige Schauspieler in einem Werbespot für Waschmittel oder Nudelsauce im Glas. Dass sie so tun, als wäre jeder Tag ein Geschenk und nicht bloß etwas, was einem zufällig zustößt, finde ich deprimierend. Später dann trudeln die Eltern und die Au-pairs ein, direkt vom Abschied im Kindergarten oder aus dem Stau vor dem Schultor. Oft haben sie irgendwelche Kindersachen dabei – Miniaturkopfhörer, eine winzige Wasserflasche, ein Handtuch mit Katzenohren. Anscheinend ist ihnen nicht bewusst, dass die Accessoires zu klein für sie sind und sie aussehen lassen wie Riesen. Zuletzt kommt der ganze Rest: Studentinnen, Barmänner, Nachtarbeiter, Wohnungslose, chronisch Schlafgestörte und Leute wie ich, die sich ihren Tag selbst einteilen können.

Zwischen zwei und vier – meine liebste Zeit – fühlt sich das Studio hell und ruhig an. Zwischen zwei und vier sind alle mit sich beschäftigt. Sie hören einen Podcast oder schauen auf den kleinen Monitoren fern. Alle kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten und lassen nicht zu viel von sich selbst – Launen, Ideen, was auch immer – in die Welt hinaus. Sie nehmen sich Zeit und verletzen sich nie; verstauchte Knöchel, verdrehte Knie, Muskelkrämpfe und ausgekugelte Schultern gibt es ausschließlich in den Stoßzeiten vor und nach der Arbeit. Am schlimmsten ist der frühe Abend. Die Leute strahlen schon beim Hereinkommen eine nervöse, hektische Energie aus, die sich als Luftfärbung bemerkbar macht, gräulich rot und so verschwommen wie Bremslichter im Nebel. Am frühen Abend ereignen sich die schlimmsten Unfälle. Ich habe schon alles Mögliche erlebt: verknotete Gliedmaßen auf der Beinpresse, die blutige Schweinerei in einem klemmenden Reißverschluss, eine Gehirnerschütterung nach einem bösen Ausrutscher. Einmal habe ich gesehen, wie sich jemand bei einfachen Hampelmännern auf der Matte ein Bein brach. Und sogar ohne Verletzungen herrscht die Unfreundlichkeit. Wer zu sich selbst gemein ist, ist es oft auch zu anderen. Kommt man den Leuten zu nahe, erschaudern sie wie zur Warnung: Bleib bloß weg. Früher habe ich diese Dinge gar nicht wahrgenommen, aber seit ich besser auf mich achte, bin ich für alles Mögliche empfänglich geworden. Ich habe mir, allein indem ich meinen körperlichen Reaktionen nachspüre, eine völlig neue Wissensebene erschlossen. Muskelzucken, Wadenkrämpfe, verspannte Schultern, flacher Atem – sie sind für mich wie eine erlernte Fremdsprache, und auch das habe ich nur ihr zu verdanken. Als ich sie traf, war ich in keiner guten Verfassung. Ich konnte nicht besonders weit laufen und fühlte mich schlecht. Trotz meiner robusten Natur war ich ständig müde und gereizt. Ich war einer dieser Menschen, die ihre Energien verschwenden, sich selbst zerfleischen und zu anderen unfreundlich sind. Zu meiner Persönlichkeit vorzudringen und auch dort eine Veränderung anzustoßen, hat mich viel Muskelkraft gekostet.

Als sie an jenem Tag zum ersten Mal ins Studio kam, wollte der Typ am Empfang sie in die Umkleide schicken, aber sie ignorierte ihn und ging einfach durch. Sie trug eine altrosa Bluse, graue Chinos und Schnürstiefel. An ihrer Hand baumelte ein Einkaufsnetz mit einer Wasserflasche, einer Armbanduhr, einem Notizblock, einem Bleistift und mehreren kleineren Objekten – Make-up, Deo oder Vitamintabletten vielleicht. Zwischen den grauschwarzen Fitnessgeräten, den funkelnden Spiegeln, den kleinen Monitoren und den Leuten in glänzenden Leggings und Turnschuhen mit Rallyestreifen wirkte sie wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Wie das verblasste Foto einer Fabrikarbeiterin aus den Vierzigerjahren oder eine frühe feministische Ikone. Was wir dachten, war ihr offensichtlich egal. Aber sie war ohnehin nicht gekommen, um in einer fremden Aufführung mitzuwirken, denn sie hatte ihr eigenes Ziel vor Augen. Sie hat mich etwas über Fokus gelehrt: Wenn man seinem Lebensweg folgt und eine Mission hat, rückt alles andere in den Hintergrund. Für mich war das eine wertvolle Lektion, und seit ich sie verinnerlicht habe, fühle ich mich unbeschwerter. Stellen Sie sich einen Hund vor, der nach einem langen Bad das kalte Meer verlässt. Im Wasser war es schön, aber jetzt schüttelt er es ab.

Sie sah sich um, und als sie nicht fand, wonach sie suchte, kam sie zu mir. Beim Gehen schwang sie die Hüften. Sie bewegte sich langsam und hielt die ganze Zeit den Blickkontakt.

«Bist du Simon?», fragte sie. Ihre Stimme war weich und tief. Sie legte den Kopf leicht zur Seite.

Ganz kurz wollte ich lügen und Ja sagen, aber stattdessen schwieg ich.

«Oder weißt du vielleicht, wo Simon ist?», fragte sie. «Simon macht heute meine Einführung.»

Ich erklärte ihr, dass ich nicht Simon sei, Simon aber kenne. Alle kannten Simon, so gut sah er aus. Er war einer dieser Menschen, die jederzeit und ganz zufällig berühmt werden können. Ich legte die Hanteln in die Halterung zurück und drehte eine Runde durchs Studio.

«Simon ist nicht da», sagte ich, als ich wieder vor ihr stand. Meine Kehle war trocken, meine Stimme klang seltsam. Ich hustete und entschuldigte mich sofort dafür. Sie ließ mich nicht aus den Augen. «Frag mal am Tresen nach», sagte ich schließlich und verlagerte mein Gewicht aufs andere Bein.

Ihre Haare glänzten, ihre Wangen waren gerötet. Sie machte mich nervös, aber auf eine gute Art. Ich mochte es, in ihrer Nähe zu sein, und dieses Gefühl war neu. Fremde Leute fand ich meistens abstoßend, überhaupt verursachten andere Menschen mir Kopfschmerzen. Aber sie war eine angenehme Abwechslung, eine erfrischende Brise. Sie roch nach Minze und irgendwie süßlich.

Sie griff in das Einkaufsnetz und holte die Armbanduhr heraus.

«Ich bin zu früh», sagte sie. «Ich werde am Tresen fragen.»

Ich hörte, wie der Typ vom Empfang sie ein zweites Mal in die Umkleide zu schicken versuchte. Als Simon endlich gefunden war, fragte auch er, ob sie sich nicht umziehen wolle.

«Nein danke», sagte sie knapp. «Ich fühle mich ganz wohl so.»

Er musterte sie von oben bis unten. «Tja, dann», sagte er. «Wenn du meinst.»

Sie ließ die Uhr zurück ins Netz fallen.

Weil ich gewusst hatte, dass Simon früher oder später auftauchen würde, hatte ich mich an den Kabelzug gesetzt und die schwersten Gewichte gewählt, und nun bemühte ich mich um Haltung. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Es durfte nicht nach harter Arbeit aussehen. Gleich, dachte ich, wird Simon sie berühren. Eine stützende Hand im Rücken, ein aufmunterndes Schulterklopfen. Schon bei der Vorstellung bekam ich ein mulmiges Gefühl, das mir als Kribbeln über die Arme lief, und prompt krachten die Gewichte herunter. Sie war etwas Besonderes, und ich wollte der Einzige sein, der es erkennen konnte, gerade so, als bewiese ich dadurch meinen hervorragenden Geschmack. Sie war wie ein kostbares Gemälde, das subtile Werk eines Genies, ein Ding, das alle übersahen, bis der Experte sie darauf hinwies. Eigentlich hat sich an dem Gefühl bis heute nichts geändert, obwohl ich natürlich weiß, dass viele Menschen ihr zuschauen. Ich bilde mir ein, ich wäre der Einzige, der sie wirklich und wahrhaftig sieht und richtig versteht.

Simon murmelte etwas von einer Fundkiste.

«Ich kann mich gut darin bewegen», sagte sie. Ihre Stimme war fest und klar und viel leiser als seine. Sie zupfte am Stoff ihrer Bluse. «Stretch.»

«Okay», sagte Simon. «Wie du willst.»

Simon war es gewohnt, dass alle um ihn buhlten und ständig versuchten, ihn zu beeindrucken oder zum Lachen zu bringen. Sie kicherten, fassten sich ins Gesicht, blinzelten zu schnell. Seine Gesichtszüge waren symmetrisch, einfach perfekt. Er hatte volles Haar, das sich, wenn er unter der Klimaanlage stand, in eleganten Wellen bewegte. Er war muskelbepackt, sah aber nicht so aus, als hätte er sich dafür anstrengen müssen. Es wirkte eher, als wären die Muskeln zuerst da gewesen, und nun benutzte er sie eben, um Gewichte zu stemmen.

«Dann zeig mal eine Stretchübung», sagte er und warf mir einen verschwörerischen Blick zu. Selbst sein Grinsen war attraktiv. Ich wandte mich ab und stellte mich taub. Ich wollte mich an keinem Witz beteiligen, nicht auf ihre Kosten, nicht hinter ihrem Rücken.

«Was für eine Stretchübung?», fragte sie. Ein paar Leute schauten herüber, auf den Laufbändern wurde gekichert. Anscheinend merkte sie nichts. Als ich die anderen böse ansah, schlugen sie die Augen nieder.

Simon machte einen tiefen Ausfallschritt und stemmte die Hände auf das gebeugte Knie, bis seine Oberarme sich wölbten. Er bedeutete ihr mit einer Geste, es ihm gleichzutun, was ihr mühelos gelang. Anschließend beugte er sich vor und dehnte seine Waden und die Rückseiten seiner Oberschenkel, und wieder folgte sie seinem Beispiel. Sie war kräftig und hatte breite Schultern und große, starke Hände. Als sie sich aufrichtete, verrutschte ihre Bluse und gab den Blick auf ihren BH frei, grau und undurchsichtig wie ein industrielles Gehäuse. Sie zog die Bluse nicht wieder herunter. Stattdessen blieb sie hoch konzentriert und achtete nur auf ihre Bewegungen. Ihre langen Glieder waren biegsam, sie machte ihre Sache gut. Wann immer Simon ihr eine Pose vorgab, führte sie sie noch korrekter aus als er. Sie verdrehte ihren Körper in wunderschöne Formen – ausgewogen, geschmeidig, elegant.

«Super», sagte Simon, ohne es zu meinen. Er ärgerte sich darüber, dass er ihre Kleidung falsch eingeschätzt hatte. «Cool», ergänzte er im selben Tonfall. «Ein guter Anfang!»

«Und jetzt?», fragte sie. Anscheinend ließ sie die Tatsache, dass er sie mitten im Studio sinnlose Dehnübungen machen ließ, während die anderen langsamer joggten und ruderten, um besser gaffen zu können, vollkommen kalt. Im Fitnessstudio sollen sich Neulinge falsch fühlen. Ihre Leggings sind zu eng oder zu weit, ihre BH-Träger und Schnürsenkel verrutschen ständig. Alle paar Minuten schauen sie aufs Handy und wünschen sich, die Zeit würde schneller vergehen; sie hassen sich selbst und fühlen sich schwach, lahm und unförmig. Aber da stand sie nun mitten im Raum, bückte und bog sich vor aller Augen und zeigte uns unbekümmert ihre Unterwäsche. Die Ungewissheit verunsicherte sie nicht. Die Neue zu sein, verunsicherte sie nicht. Dass sie absolut unpassende Kleidung trug, war ihr egal. Sie wollte einfach nur dazulernen, und das hatte etwas Kindliches. Es zog mich zu ihr hin, weil mir die Eigenschaft irgendwie liebenswert erschien und ich sie selbst gern besessen hätte.

Simon wurde aus ihr nicht schlau. Den Umgang mit Leuten, die sich aus seinem Urteil nichts machten, war er offensichtlich nicht gewohnt. Sein Charme und sein gutes Aussehen sorgten dafür, dass alle sich nach seiner Anerkennung sehnten, selbst wenn sie ihn nicht besonders mochten. Hin und wieder machte er mir ein Kompliment – «Super Session, Mann!», «Heute hängst du dich ganz schön rein» –, und dann lächelte ich gegen meinen Willen und kam mir übereifrig und dumm dabei vor. Ich freute mich, wenn er mich bemerkte, und erlebte nicht selten, dass seine Klienten um seine Aufmerksamkeit wetteiferten. Doch was immer der Grund war, warum wir anderen uns vor Simon zum Affen machten – sie war dagegen immun.

«Halt mal», sagte sie zu ihm und reichte ihm das Netz.

Er nahm es zögerlich und mit spitzen Fingern entgegen, als wäre es schmutzig.

Sie rollte die Schultern und ließ dann die Arme kreisen. Sie drehte den Kopf von rechts nach links und winselte leise. «Ich bin noch nicht warm genug», sagte sie.

Simon zeigte auf die Matten, wo ich gerade dabei war, den Muskel aufzulockern, den ich mir mit den zu schweren Gewichten gezerrt hatte. «Mach da drüben weiter», sagte er.

Sie sah nicht einmal hin und bewegte sich nicht vom Fleck. Stattdessen sagte sie: «Hier ist okay.»

Sie reckte und streckte sich in alle Richtungen, während Simon verlegen lächelnd danebenstand und das Netz von einer Hand in die andere gleiten ließ. Er sah ein paarmal zu mir herüber, aber ich ignorierte ihn. Es machte Spaß, ihn so ratlos zu sehen. Als sie mit den Dehnübungen fertig war, schüttelte sie ihren ganzen Körper aus, angefangen bei den Füßen. Sie ließ die Hüften weit kreisen und warf den Kopf hin und her wie eine Besessene. Das Zittern durchlief sie wie eine einzige lang gezogene Welle. Es sah nicht menschlich aus, eher wie ein schwacher Stromstoß oder ein Erdbeben in Zeitlupe. Der Vorgang wirkte sehr intim, viel zu persönlich zum Hinsehen. Mittlerweile hielt das halbe Studio den Atem an und schaute zu. Sie zerrte an ihrem Haargummi, schüttelte ihre Haare aus und verzwirbelte sie oben auf dem Kopf zu einem Dutt.

Als sie sich zu Simon umdrehte, zuckte er zusammen.

«Jetzt können wir anfangen», sagte sie.

Er zeigte ihr die Laufbänder, die Crosstrainer und die Liegeräder. Das Nachmittagslicht veränderte sich. Ein sattes Gelb strömte durch die bodentiefen Fenster herein und malte Umrisse auf den Boden, die an Fäuste erinnerten. Das Studio füllte sich, Musik und Füße stampften. Ich wurde müde. Wenn es so voll war, hasste ich die Geräuschkulisse – den schweren Atem zu vieler Menschen, das kollektive Keuchen. Normalerweise wäre ich nach Hause gegangen und hätte auf dem Heimweg den Sonnenuntergang bewundert, aber stattdessen folgte ich den beiden durchs Studio. Ich wahrte den gebotenen Abstand und stellte alle Geräte möglichst niedrig ein, damit ich sie in Ruhe betrachten konnte. Ich wollte hören, was sie zu sagen hatte. Ganz kurz hatte sie mir ein kühles, angenehmes Gefühl vermittelt, wie ich es nur selten verspüre. Ich hoffte, dass es sich erneut einstellte, wenn ich nur in ihrer Nähe blieb.

Leider konnte ich sie nur verstehen, wenn sich zwischen zwei Songs eine Lücke ergab oder jemand einen neuen Radiosender oder eine neue Playlist wählte. «Wenn du Kardio machst», erklärte Simon, «muss dein Puls oben bleiben. Zwischen den Stationen solltest du nicht zu lange pausieren. Das ist schlecht für den Stoffwechsel.»

Sie nickte und bewegte auf dem Crosstrainer mechanisch ihre Glieder vor und zurück.

«Wenn du die Kilos loswerden willst», fuhr er fort, «musst du das Tempo halten.»

Ich horchte auf.

Sie stieg abrupt vom Gerät herunter. «Wie bitte?», fragte sie. Die Kunststoffpedalen des Crosstrainers drehten sich ohne sie weiter. Ein neuer Song setzte ein, hell und blechern, aber ihre Stimmen schnitten hindurch.

«Du musst dranbleiben, wenn du, du weißt schon … ein bisschen abnehmen willst.»

Sie kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Weil sie zu schnell aufgehört hatte, schoss ihr das Blut ins Gesicht. Sie holte tief Luft und baute sich breitbeinig vor ihm auf.

«Ein bisschen abnehmen», wiederholte sie.

«Falls das, na ja, deine Absicht ist.»

Fairerweise muss man dazusagen, dass Simon ein Produkt seines Umfelds war. Dass in seiner Welt viel Geld damit verdient wurde, den Menschen und insbesondere den Frauen einzureden, sie müssten sich für ihr Aussehen hassen, war nicht allein seine Schuld. Es war Anfang Januar, die Poster im Eingangsbereich des Studios warben für die «Neues Jahr, neues Ich!»-Kurse. Jeden Tag meldeten sich Interessenten zu Simons persönlichem Trainingsprogramm an, das ihnen eine Verwandlung und ein neues Lebensgefühl versprach. Neben den Toiletten im Foyer hing ein keimverseuchtes Schwarzes Brett, an dem manche Mitglieder ihre Vorher-Nachher-Fotos präsentierten. Vorher waren die Bilder ausnahmslos trüb und verschwommen. Vorher durfte niemand lächeln, denn es kam darauf an, möglichst traurig und niedergeschlagen auszusehen. Die Nachher-Fotos hingegen waren frisch und strahlend. Sie waren mit unnatürlich lebhaften Farbfiltern und aus einem vorteilhaften Winkel aufgenommen, der Wangenknochen betonte und Nasen schmaler wirken ließ. Nachher schaute man in die Kamera wie eins dieser Tiere, deren Ausdruck zufällig an ein menschliches Lächeln erinnert, wie ein Axolotl oder ein Quokka.

Simon hätte wissen müssen, dass es ihr nicht um das Vorher-Nachher-Erlebnis ging. Wäre er so aufmerksam gewesen wie ich, hätte er verstanden, dass sie auf einer besonderen Mission war und höhere Ziele verfolgte. Aber er war seine reguläre Klientel gewohnt – ihr nervöses Lächeln, ihre Ehrfurcht vor seinen Bizeps und seinem Fachwissen. Wahrscheinlich hatte er sich über seine Wortwahl noch nie Gedanken machen müssen. Vielleicht nötigte sie ihm gerade eine völlig neue Erfahrung auf: Sie schlug ihm vor, einem anderen Menschen zuliebe sein Verhalten zu ändern.

Die Musik, ein launiger Techno-Track, verebbte und hob dann erneut an.

«Ich bin nicht hier, um abzunehmen», erklärte sie.

«Klar», sagte Simon. «Natürlich nicht. Niemand hat das behauptet.»

«Du hast das behauptet.»

Simon schwieg.

«Ich hasse mich nicht», sagte sie.

«Natürlich nicht.»

«Du brauchst mich nicht attraktiv zu finden.» Sie sprach so langsam, als hätte sie ein Kleinkind vor sich. «Ich bin hier, um stärker zu werden.»

Simon lachte nervös und wich einen Schritt zurück.

«Kannst du mir dabei helfen?», fragte sie so übertrieben laut wie meine Mutter früher, wenn sie mit meiner Großmutter redete, obwohl das Gehör meiner Großmutter immer vollkommen in Ordnung war.

Simon nickte.

Ganz kurz wirkte sie erschöpft. Ihre Schultern kippten nach vorn, ihre Augen schienen zu schrumpfen. Interessant, wie ausdrucksstark ihr Gesicht damals noch war. Später verlor es an Beweglichkeit und erinnerte an die glatte, leere Oberfläche eines Glaskiesels oder eines Porzellantellers.

«Gewichte zu stemmen, wäre eine gute Möglichkeit, stark zu werden», sagte sie. «Wenn ich mit Gewichten arbeite, nehme ich nicht ab, sondern zu, oder?» Die Musik – traurige Streicher und schwere Bässe – flutete den Raum mit einer neuen Energie. Sie starrte Simon unverhohlen an. Ein paar Leute hatten ihre Kopfhörer abgenommen oder den Ton leiser gestellt. Einige strampelten langsamer, um nichts von dem Drama zu verpassen, das sich live vor ihren Liegerädern abspielte.

Noch nie hatte ich Simon beschämt gesehen. Seine Stirn war gerötet, an seinen Wangen und am Hals breiteten sich grelle Flecken aus. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, schloss die Finger um die Ellenbogen und rang um Fassung.

«Klar, das wäre machbar», sagte er.

«Was weißt du über Krafttraining?», fragte sie.

«Ich kann dir Übungen zeigen.»

«Was für Übungen?»

Er legte ihr eine Hand an den Arm, um sie zu den Gewichten zu dirigieren, aber sie zuckte zurück.

«Sorry», sagte er. «Tut mir leid.» Als er sie durchs Studio führte, sah er kleiner aus als sonst.

Ich folgte ihnen still und unauffällig und ließ mich für ein paar halbherzige Sit-ups auf eine Matte sinken.

«Bereitest du dich auf irgendein Event vor?», fragte er. «Hast du ein bestimmtes Ziel im Kopf?»

«Ich bin mir nicht sicher, ob du es verstehen würdest», antwortete sie, dann fügte sie in etwas freundlicherem Ton hinzu: «Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig erklären kann.»

«Möchtest du was für deine seelische Gesundheit tun?», fragte er, merkte aber sofort, dass auch diese Frage als kränkend empfunden werden könnte. «Nicht dass du es nötig hättest, es ist nur … So ein Training kann ziemlich anstrengend sein, ganz unabhängig davon, ob man seelisch gesund ist oder nicht.»

«Ja», sagte sie. «Man könnte sagen, dass ich genau das möchte.»

Er wirkte erleichtert.

«Du auch?», fragte sie.

Auf einmal sah Simon aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. In ihrer Gegenwart wirkte er seltsam verletzlich. «Wenn ich mich stark fühle, bin ich glücklicher», antwortete er. «Dann habe ich keine komischen Träume mehr.»

Sie erzählte ihm, dass sie gern meditierte; wenn sie stärker wäre, würde sie sich noch besser konzentrieren können. Sie könnte länger still sitzen und die Position länger halten. Im Moment zu leben, sei gar nicht so leicht, sagte sie, aber wenn ihr Körper schwerer und beherrschbarer wäre, würde ihr Denken aufklaren und ihr Wille zu seiner alten Stärke zurückfinden. Zwischen den Sit-ups fragte ich mich, was es wohl bedeutet, einen starken Willen zu haben. Ein starker Wille ohne Ziel erschien mir eher gefährlich. Plötzlich musste ich daran denken, wie befriedigend es ist, einen leeren Handyakku mit der Steckdose zu verbinden. Dieser Moment, wenn das Display erneut aufleuchtet.

«Das ist toll», sagte Simon und klang fast schon wieder normal. «Ich habe selbst vor Kurzem mit dem Meditieren angefangen. Mit einer App.»

Sie nickte anerkennend.

«Hast du das studiert oder so?»

«Ich entwickle gerade meine eigene Methode», antwortete sie, näherte sich den Hanteln und strich mit einer Hand über das dunkle Metall. Dass ich auch noch da war, schien sie nicht zu kümmern. Während ich mich vor und zurück und auf und nieder bewegte – manchmal im Takt der Musik, manchmal etwas langsamer – und dabei gespannt auf ihren nächsten Satz wartete, breitete sich eine wundervolle Ruhe in mir aus. Menschen, die sich beim Sport langweilen, haben einfach noch nicht gelernt, den tröstlichen Effekt der ständigen Wiederholung wertzuschätzen. Sobald man in einen Rhythmus gefunden hat, wird die Welt interessanter und größer und das eigene Ego kleiner.

Sie begannen mit den Kettlebells. Zunächst führte Simon die Übungen vor. Er beugte sich in einem perfekten rechten Winkel vornüber, ergriff die Hantel mit beiden Händen, richtete sich auf und schwang sie in einem langsamen und eindrucksvollen Bogen aufwärts. Seine Bewegungen waren so reibungslos wie die einer Maschine. Über seinen Knien wölbten sich Muskel, an seinen Armen pulsierten winzige Adern. Nur sein Gesicht blieb vollkommen reglos. Nach einigen Durchgängen hatte sich auf seiner Stirn ein Schweißfilm gebildet, doch sein Ausdruck blieb unverändert. Ihre anfängliche Feindseligkeit schien dahinzuschmelzen. Sie ging einmal um ihn herum, als wäre er ein Kunstobjekt in einer Ausstellung und als wollte sie das Licht auf seinem Körper aus allen Winkeln studieren. Simon war anmutig. Bei ihm wirkte es ganz leicht, auch ich schaute ihm gern zu. Einen Menschen zu beobachten, der eine schwierige Aufgabe mühelos meistert, hat etwas Hoffnungsvolles, fast so, als wäre plötzlich alles möglich.

Er zeigte ihr, was man mit einer Kettlebell alles anstellen kann – schwingen, in die Knie gehen, stemmen, reißen –, und sie hörte aufmerksam zu. Dann endlich war sie an der Reihe. Sie war damals schon ziemlich stark, hatte aber nichts von seinem Stil.

«Das Atmen nicht vergessen», sagte er. «Es ist leichter, wenn du deinem Atemrhythmus folgst.» Er stellte sich neben sie, holte geräuschvoll Luft und machte bei jedem Ein- und Ausatmen übertriebene Gesten. Ihre Bewegungen wurden natürlicher, ihr Kiefer entspannte sich, ihre Stirn wurde glatt. Er zeigte ihr eine bestimmte Hebetechnik, und sie wiederholte die Übung, so gut sie konnte. Er korrigierte sie hier und da, und beim nächsten Versuch gelang es ihr schon ein bisschen besser. Zwischendurch holte sie immer wieder ihr kleines liniertes Heft heraus, um sich Notizen zu machen oder ein Diagramm zu zeichnen. Manchmal bat sie ihn, eine Pose unangenehm lange zu halten, sodass er keuchte und zittrige Knie bekam.

Gegen Ende der Session machten sie einarmige Pendelschwünge. Sie atmeten synchron, ihre Bewegungen sahen gut aus. Sie waren langsamer als die Musik, was aber die Musik falsch erschienen ließ, nicht ihren Rhythmus. Inzwischen stand die Sonne tief am Himmel. Wenn sie die Arme hoben, reflektierten die funkelnden Hanteln das orangefarbene Sonnenlicht, und dahinter fielen ihre langen Schatten an die Wand. Ich sah zu den bodentiefen Fenstern hinüber. Vor den Wolken zeichneten sich Vogelsilhouetten ab, darunter erstreckte sich die Geometrie der Stadt. Ich hatte das Gefühl, als würde gleich etwas Bedeutendes passieren und als flössen drinnen wie draußen die Energien zusammen. Ich streckte mich auf der Matte aus und machte ein paar Rumpfdrehungen. Ich war zufrieden. Während die beiden zum letzten Mal triumphierend ihre Gewichte in die Höhe schwangen, drehte ich den Kopf nach rechts und links und dehnte meinen Hals. Ich war eine Stunde länger geblieben als geplant, und mein ganzer Körper schmerzte, doch mein Verstand war hellwach. Simon gab ihr Tipps für das Cool-down, aber seine Dehnübungen gefielen ihr nicht, und sie beharrte auf ihrer eigenen Technik. Ich gestattete mir einen langen Blick in ihr offenes, entspanntes Gesicht und prägte mir die Uhrzeit und den Wochentag ein, nur für den Fall, dass sie regelmäßig hier trainierte.

«Sprich mich jederzeit an, wenn du noch Fragen hast», sagte Simon und bewegte sich langsam auf den Ausgang zu. Er streckte die Hand aus, verfehlte den Griff, strauchelte, riss zu heftig an der Tür. Die Angeln quietschten. «Nach dir», sagte er.

«Ich bin noch nicht fertig», sagte sie.

«Nicht?», fragte er enttäuscht. Sein Gesicht wirkte bleich, fast ein bisschen grau. Sie hatte ihn geschafft.

Nach der Einweisung hielt Simon normalerweise seinen Verkaufsvortrag. Er stellte die verschiedenen Abos und Programme vor und bot einen Spezialpreis an, der in Wahrheit dem regulären Preis entsprach. Aber jetzt öffnete er nur den Mund und röchelte leise.

«Okay», murmelte er dann. «Du kannst bleiben, solange du willst.» Ich hörte, wie er zu dem Typen am Empfang sagte, er gehe jetzt in die Pause.

Sie stellte sich vor das Gestell mit den Kurzhanteln und legte ihr aufgeklapptes Notizbuch auf den Boden. Bevor sie zu den Hanteln griff, probte sie den Bewegungsablauf mehrfach und mit geschlossenen Augen.

Ich blieb noch ein bisschen, obwohl auch ich erledigt war. Ich lag auf der Matte und raffte mich sporadisch zu einer Dehnübung auf. Danach bekam ich sie nicht mehr aus dem Kopf. Ich musste an sie denken, während ich duschte und mich anzog, und auf meinem kurzen Heimweg.

Seit jenem ersten Tag hat sich viel verändert. Mittlerweile ist sie zu so etwas wie einer Berühmtheit geworden beziehungsweise hat sie online ziemlich viele Follower. Die Leute bewundern sie für ihre Authentizität, ihren Fokus und ihr Durchhaltevermögen. Alle sagen, aus ihrer Körperhaltung spreche eine Art Wahrheit. Im Nachhinein könnte ich mir leicht einreden, ihre Entwicklung hätte einen schicksalhaften Verlauf genommen; ich habe die vielen kleinen Momente vergessen, in denen sie sich für einen anderen Weg hätte entscheiden können. Aber sie strahlte damals schon etwas Besonderes aus, kraftvoll und schwer zu beschreiben. Ich weiß bis heute, wie es war, in ihrer Nähe zu sein, denn das Gefühl ging mir bis tief unter die Haut.

Zwei

Am darauffolgenden Mittwoch kam sie nicht wieder und auch nicht an den anderen Nachmittagen. Ich weiß das so genau, weil ich in der Woche täglich im Studio war und auf sie wartete. Ich spielte mit dem Gedanken, am Empfang nach ihr zu fragen, konnte es mir aber gerade noch verkneifen. Ich wusste, wie das ausgesehen hätte, wenn ein stiller Einzelgänger wie ich sich nach einer Frau erkundigt, die beim Hanteltraining am liebsten tief ausgeschnittene Blusen trägt.

Ein paar Wochen später war ich phänomenal in Form. Weil ich so viel Zeit im Studio verbrachte, sparte ich an meinen Lebenshaltungskosten, was allerdings durch die riesigen Essensmengen, die ich plötzlich brauchte, mehr als ausgeglichen wurde. Vier oder fünf Mahlzeiten am Tag reichten knapp aus, meinen Heißhunger zu dämpfen. Ich vernachlässigte die Arbeit, legte irre viel an Muskelmasse zu und duschte nur noch im Studio. Weil ich nicht mehr ans Telefon ging, schrieb meine Mutter mir eine E-Mail. Lieber Elliot, wurdest du von Aliens entführt? Oder hast du, was noch unwahrscheinlicher wäre, eine Freundin? Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Ich liebe meine Mutter sehr, wir telefonieren fast täglich. Sie möchte immer auf dem Laufenden bleiben, um mir dann zu erklären, was ich alles falsch mache. Ich schrieb ihr zurück, ich hätte gerade viel zu tun, was nach einer platten Ausrede klang, sich aber als geradezu prophetisch erwies. Einige Wochen später nahm ich einen großen Auftrag an und hatte fürs Training keine Zeit mehr.

Für Wochen wie diese, in denen ich unter Zeitdruck stehe und einen Vertrag erfüllen muss, habe ich ein System entwickelt. Als Freiberufler bin ich darauf angewiesen, denn manchmal bricht bei mir nach monatelanger Flaute die Hölle los. Es funktioniert so: Ich bestelle im Internet Lebensmittel von meiner auf dem Computer gespeicherten Liste – Bohnen in der Dose, Mikrowellenreis, Avocados, Tiefkühlpommes, gefüllte Schokoladenkekse, Datteln, Haselnüsse, scharfen Ketchup, Tiefkühlgemüse, Tütensuppen, Ananassaft, Aufputschmittel, zuckerhaltige Cola, Mandelmus, Cracker und verschiedene Obstkonserven. Ich stehe um sechs Uhr auf, arbeite eine Stunde und frühstücke dann. Nach fünf weiteren Arbeitsstunden gibt es Mittagessen. Zwischen Mittag- und Abendessen arbeite ich für fünfeinhalb Stunden und nach dem Abendessen noch einmal drei oder vier. Mit etwas Glück bekomme ich fünf Stunden Schlaf. Wenn ich länger schlafen würde, wäre ich gestresst, was wiederum zu Schlafproblemen führen würde. Jeden Tag bereite ich drei einfache, strategisch geplante Mahlzeiten zu. Mein Frühstück dauert fünfzehn Minuten, das Mittagessen doppelt so lange. Für das Abendessen nehme ich mir eine Dreiviertelstunde inklusive Zubereitung und Abwasch. Vor ein paar Jahren habe ich mir nach einem größeren Auftrag einen schicken Bluetooth-Lautsprecher in Handgranatenoptik gekauft. Falls ich vor dem Abendessen die Zeit dazu finde, höre ich laut Musik. Wahrscheinlich ärgern meine Nachbarn sich darüber, aber ich kann nicht anders. Manchmal braucht man Lärm, um den Kopf frei zu kriegen und sich zu entspannen, und meine Nachbarn sind mir ohnehin egal. Ständig muss ich mir das Geschrei ihrer Gören anhören.

Vor dem Schlafengehen sehe ich eine Stunde lang fern, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Das lindert die Nervosität vor dem nächsten Arbeitstag und hilft manchmal sogar bei der Problemlösung. Wenn es mir gelingt, das bewusste Denken für eine Weile abzustellen, arbeitet mein Verstand von selbst weiter. Ich sitze da und vegetiere vor mich hin, und wie aus dem Nichts fällt mir etwas ein. In dem Fall mache ich mir eine Notiz und wende mich wieder dem Fernseher zu, und am nächsten Morgen starte ich mit einem Vorsprung. Als das mit den großen Aufträgen losging, hatte ich noch keine Strategien. Ich aß während der Arbeit und schlief kaum. Mein Schreibtischstuhl war zu klein; wenn ich längere Zeit saß, fühlte es sich an, als hätte mein Körper versucht, sich zu verformen und in die zu schmale Lücke einzupassen. Nach ein paar Tagen hatte ich alle möglichen Schmerzen. Ich war unproduktiv, bekam kaum etwas auf die Reihe und wurde sehr traurig. Man muss lernen, sich selbst zu managen, körperlich wie mental. Man muss feste Strukturen schaffen, die verhindern, dass man sich selbst im Weg steht.

Am Anfang dieser Rückzugsphasen blühe ich auf. Ich genieße meine eigene Gesellschaft und die Eintönigkeit der sich vor mir auftürmenden Arbeit. Das ist sehr entspannend, fast wie im Urlaub, wenn man vorübergehend irgendwo festsitzt und genauso gut das Beste daraus machen kann. Aber nach einer Weile kippt die Stimmung, und die Arbeit belastet mich. Oft bemerke ich diese schleichende Veränderung erst beim Blick in den Spiegel. Auf meiner Stirn erscheinen Falten, meine Haut wird fahl, das Augenweiß trüb und gelbfleckig. Der rigorose Verzicht auf soziale Interaktionen hat eine ausdruckslose Mimik zur Folge, als wäre die Person dahinter gar nicht wirklich anwesend. Dass ich ein Eigenbrötler bin – ein Einsiedler, sagt meine Mutter, ein Creep, findet meine Schwester –, bedeutet noch lange nicht, dass ich allein überleben könnte. Ich komme vielleicht ohne Freunde oder Partnerin aus, aber auch ich brauche Anregungen, Menschen, die ich anlächeln kann oder die mich dazu bringen, die Stirn zu runzeln, die Augen zu verdrehen und so weiter, denn beim Arbeiten erstarrt mein Gesicht. Wenn niemand da ist, für den sie sich anspannen müssen, erschlaffen die Muskeln und hängen kläglich herunter, bis ich mich wieder in die Welt hinausschleppe. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich rede mit meinem Spiegelbild und mache am Schreibtisch Karaoke. Fremdsprachen-Podcasts sind ebenfalls sehr hilfreich, weil man dabei Vokabeln wiederholen und den Mund auf ungewohnte Weise bewegen muss. Italienisch eignet sich wegen der langen betonten Silben (buon pomeriggio!), Mandarin wegen seiner Musikalität (wǒ xiǎng yào mápó dòufu). Die ungarischen Konsonanten sind sehr viel raffinierter als die meiner Muttersprache (a számlát, kérem), Thai besteht aus vierundvierzig Konsonanten und zweiunddreißig Vokalen. In der Schule war ich in Fremdsprachen immer gut, hatte aber nie eine Verwendung dafür. Heute helfen sie mir, mein Gesicht funktionsfähig zu halten.

Wenn ein großer Auftrag sich dem Ende neigt, wird meine Zufriedenheit schnell von einer nagenden Angst überschattet. Nach dem erzwungenen Rückzug fällt es mir manchmal schwer, wieder mit der Welt in Kontakt zu treten. Ich bin schreckhaft und muss mich regelrecht dazu überwinden, was viel Willenskraft kostet. Ich stelle mir das helle Sonnenlicht vor, den kühlen Wind auf meiner Haut, den schweren metallischen Geruch der Fitnessgeräte. Ich beschwöre nostalgische Erinnerungen an das Rascheln von Zeitungspapier und den Anblick der niedlichen vor dem Eckladen festgebundenen Hunde herauf. Ich nehme meinen Mut zusammen und übe, indem ich nach der Arbeit mein Spiegelbild im schwarzen Monitor anbrülle. Meistens greife ich auf Sätze zurück, die mein Vater früher zu mir gesagt hat – Was bist du bloß für ein Mensch? Mach nur so weiter, dann bist du tot, noch bevor du richtig gelebt hast! –, anschließend schleppe ich mich ins Fitnessstudio und denke an die Belohnung, die ich mir hinterher gönnen werde, einen Spielfilm mit Kirsten Dunst beispielsweise oder etwas Koks, das ich bei den Studenten im Erdgeschoss kaufe.