Chucks Welt - Aaron Karo - E-Book

Chucks Welt E-Book

Aaron Karo

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Beschreibung

Chuck hat es nicht leicht: Er ist im letzten Jahr an der Highschool, mit den Mädchen läuft es nicht so gut und dann ist da noch sein geheimes Problem. Er leidet unter Zwangsstörungen - und muss sich beispielsweise ständig die Hände waschen. Dann kommt Amy neu in seine Klasse und Chuck ist begeistert: Sie ist cool und scheint ihn sogar zu mögen! Bei einem Date gerät jedoch sein Waschzwang außer Kontrolle und das Treffen endet in einem wahren Desaster. Damit nicht genug, steht auch noch die Abschlussfahrt der Klasse an - zwei Tage Camping, ein Horrortrip für Chuck. Anfangs geht tatsächlich alles schief. Als Amys Hund verschwindet, ist das jedoch DIE Chance für Chuck, die Sache mit Amy wieder geradezubiegen. Und das schafft er, auch wenn das bedeutet, dass er sich ganz furchtbar dreckig machen muss!

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Seitenzahl: 249

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

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Danksagung

Über den Autor

Aaron Karo wurde in den USA als Stand-up-Comedian bekannt, der bereits Gastauftritte in verschiedenen Late-Night-Shows hatte. Er hat bereits mehrere Bücher für Erwachsene veröffentlicht. Chucks Welt ist sein erster Jugendroman.

Aaron Karo

CHUCKSWELT

Aus dem amerikanischen Englischvon Beate Schäfer

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischsprachigen Originalausgabe:

»Lexapros and Cons«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2012 by Aaron Karo

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2013 by Boje Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-4598-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Caryn

Im letzten Jahr habe ich exakt 487 Mal masturbiert. Durchschnittlich neunmal pro Woche und 1,28 Mal am Tag. Ich weiß nicht, was mich mehr beeindruckt: dass ich so oft wichse oder dass ich ein ganzes Jahr lang mitgezählt habe. Das habe ich nämlich. Der Stapel mit den gelben Klebezetteln in meiner Nachttischschublade wurde immer höher. Wichsen, Strich machen, einschlafen, eine feste Routine.

Das Problem ist, dass ein großer Teil meines Lebens aus solchen festen Routinen besteht. Wobei Routine nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Inzwischen weiß ich, welches Wort passt, aber lange hatte ich keinen Plan. Angefangen hat es jedenfalls letztes Jahr am ersten Januar. Da habe ich mir einen runtergeholt und mich danach, weiß der Teufel, warum, auf einmal gefragt: Wie oft mach ich das wohl in einem Jahr? Ein Vollblut-Teenager hätte da logisch gleich gedacht: Ich brauch dringend eine Freundin, damit ich nicht mehr so viel wichsen muss. Aber mir kam eben ein anderer Gedanke in den Sinn.

Dabei war das Problem gar nicht mal der erste Januar, sondern der zweite. Da hab ich mir nämlich wieder einen runtergeholt und das auch gleich notiert. Wenn ich mit irgendwas anfange, kann ich nicht mehr aufhören, egal wie bescheuert es ist. Ich denke dann an nichts anderes mehr. Irgendwann Mitte März wollte ich das mit der Liste bleiben lassen, aber ohne Strich einschlafen ging einfach nicht. Zwischen Wichsen und Strichliste kam regelmäßig der Gedanke: Wieso machst du nicht weiter, wo du schon so weit bist? Wenn ich meinen Strich erst mal gemacht hatte, ging’s mir gleich besser, und dann bin ich jedes Mal zum Pinkeln aufgestanden. Ich pinkle nämlich auch ziemlich viel.

Dabei weiß ich ja selbst, wie verrückt diese festen Routinen sind, auch wenn das vielleicht manche Leute erstaunt. Vorm Schlafengehen fünfzehn Mal pinkeln müssen ist nicht normal. Ich habe gerade erst gepinkelt und mir ist vollkommen klar, dass in meiner Blase kein Tröpfchen Pisse mehr sein kann. Ich mach schon nicht ins Bett, alles okay. Aber dann komme ich ins Grübeln, bis ich irgendwann keine Wahl mehr habe: Ich muss aufstehen und ins Bad gehen. Das ist so ähnlich, wie wenn du anfängst, ans Schlucken oder Blinzeln zu denken. Auf einmal hast du nichts mehr sonst im Sinn. Aber irgendwann vergisst du’s dann doch wieder. So ist das mit mir und dem Pinkeln. Bloß vergesse ich es eben nie und außerdem geht das bei mir jeden Abend so. Ich pinkle also sehr oft.

Und dazu habe ich noch ein paar andere ungute »Angewohnheiten«. Der Herd zum Beispiel – der Herd ist ein verdammter Albtraum. Wenn ich die Herdplatten nicht kontrolliere, bin ich todsicher, das Haus geht in Flammen auf, und ich, meine Schwester und meine Eltern gleich mit. Stimmt, wenn eine Platte an ist, leuchtet ein kleines Warnlicht auf. Aber das Licht kann doch kaputtgehen, oder? Es gibt insgesamt vier Platten und rein theoretisch könntest du am Herd vorbeimarschieren, ohne zu merken, dass bei einer davon der Drehknopf nicht auf null steht. Nur mal angenommen, ein Geschirrtuch fällt vom Kühlschrankgriff auf diese heiße Platte (okay, der Kühlschrank steht gegenüber vom Herd, aber nur mal angenommen) und fängt Feuer, dann wird die gesamte Familie Taylor durch einen grauenhaften Herdunfall ausgelöscht. Die Vorstellung verfolgt mich. Also überprüfe ich die Knöpfe und Platten. Immer und immer wieder. Mehrmals am Tag. Meine Eltern machen den Herd kaum noch an. Ich wichse öfter, als sie kochen.

Aber draufgebracht hat mich die Sache mit dem Händewaschen. Irgendwann habe ich gedacht: Mann, du hast echt ein Problem. Wenn meine Hände schmutzig sind, muss ich sie nämlich unbedingt waschen, auf der Stelle. Und meine Definition von schmutzig weicht enorm von der anderer Leute ab. Ihr wascht euch vielleicht die Hände, wenn ihr Hähnchenschenkel gegessen habt oder zum Kacken auf dem Klo wart. Ich muss mir die Hände waschen, nachdem ich Tiere oder kleine Kinder, Briefkästen oder Fahrstuhlknöpfe angefasst habe, und auch wenn ich Geld (richtig schlimm sind Münzen), Hände oder Essen berühre, wobei auch Pfeffer- und Salzstreuer, Senftuben oder Ketchupbehälter unter Essen fallen. Außerdem gilt die Händewaschregel für alles, was in meinen Augen Natur ist, also für Gras, Erde, Holz und so weiter. Ich wasche mir also ziemlich oft die Hände. Manchmal kann ich an nichts anderes denken.

Wie gesagt, das Händewaschen hat mich draufgebracht. Wenn du in Google den Satz eingibst: »Ich führe eine Liste, wie oft ich masturbiere«, kriegst du nicht besonders viele Treffer. Besser gesagt kriegst du einen Haufen Treffer, aber nichts, was wirklich passt, und schon gar nichts, was du auf dem Bildschirm im Computerraum deiner Schule sehen willst. Aber wenn du eingibst: »Ich wasche mir andauernd die Hände«, ist das vollkommen anders. Fast alle Ergebnisse gehen in die gleiche Richtung: Was ich da so treibe, das sind nicht einfach irgendwelche festen Routinen. Das sind Zwänge. Jeder kennt das von sich, man liest irgendwas und denkt: Scheiße, das bin ich! Tja, und nachdem ich das alles gelesen hatte, wusste ich Bescheid.

Ich heiße Chuck. Ich bin siebzehn. Und laut Wikipedia habe ich eine Zwangsstörung.

Eigentlich heiße ich gar nicht Chuck. Sondern Charles. Wie jemand auf die Idee kommt, ein Baby Charles zu nennen, ist mir schleierhaft. Als hätten meine Eltern vor über hundert Jahren in England gelebt oder so. Der Name kommt vom Opa meiner Mom, der ziemlich hart drauf gewesen sein soll. Als ich geboren wurde, war er schon lange tot, ich habe ihn also nie kennengelernt. Aber mal ehrlich, wie krass kann ein Typ sein, der Charles heißt? Zum Glück spricht mich keiner mit diesem Namen an. Ich laufe unter Chuck. So nennen mich in der Schule alle. Wobei alle ziemlich relativ ist. Ich bin in der Schule nämlich mehr oder weniger unsichtbar. Sagen wir also besser, mein einziger Freund und meine Lehrer nennen mich so. Was soll’s? Ist jedenfalls besser als Charles.

Vielleicht habt ihr’s euch schon zusammengereimt, vielleicht auch nicht – mit vollem Namen heiße ich jedenfalls Chuck Taylor. Und es gibt einen echten Chuck Taylor, der im Unterschied zu meinem Uropa definitiv krass und auch cool war. Dieser Chuck Taylor war in den Zwanzigerjahren ein Basketballstar. Er hat für die Firma Converse gearbeitet und die haben irgendwann ihren populärsten Schuh nach ihm benannt – den berühmten Chuck Taylor All Star. Die meisten nennen diese Sneaker einfach nur Chucks, und als ich sie zum ersten Mal zu Gesicht gekriegt habe, dachte ich gleich: Hey, wie irre, da steht an der Seite mein Name drauf, einfach so! Nur hat sich das ziemlich bald zu einer echten Obsession ausgewachsen, wie alles in meinem Leben.

Als ich Mom vor ein paar Jahren zum ersten Mal damit kam, dass ich Chucks will, war sie hin und weg. Bevor mein bester Freund Steve eine Chuck-Taylor-Biografie in der Schulbücherei ausgegraben hat, habe ich mir keine großen Gedanken über die Dinger gemacht. Aber beim Lesen war mir schon nach ein paar Seiten klar: Chucks zu tragen ist meine Bestimmung. Chuck Taylor, dieser Typ in Grease, Kurt Cobain und dann wieder Chuck Taylor. Ich liebe Symmetrie. Macht mir ein gutes Gefühl im Gehirn.

Als Mom kapierte, dass die Nachfolger meiner ausgelatschten Turnschuhe für 85 Dollar welche für 50 Dollar sein sollen, fand sie das überzeugend. Sie hat mir sogar gleich mehrere Paare auf einmal gekauft – alle einfarbig, weil, na ja, keine Ahnung … die wirken irgendwie sauberer, finde ich. Meine Mom wusste von meinem Faible für Chucks und war gleich dabei. Sie unterstützt jeden Fimmel, den ich habe, solange es nicht um Drogen geht. (Ein Joint, an dem reihum alle ziehen? Ohne mich!) Allerdings gab’s da nie besonders viel zu unterstützen. Wenn dein einziger Sohn einen Knall hat und öfter am Herd steht als du, würdest du wohl alles tun, um ihn glücklich zu machen. Auf der Basis habe ich jedenfalls eine hübsche kleine Converse-Sammlung zusammengekriegt.

Trotzdem, auch bei Sneakern für 50 Dollar hört der Spaß irgendwann auf und Mom wollte mir keine mehr kaufen, also musste ich mein Sparkonto plündern. Da war Geld drauf von Wertpapieren, die bei meiner Geburt angelegt worden sind, außerdem ein großer Teil von dem, was unter der Bezeichnung Taschengeld einmal in der Woche bei mir landet. Allein davon konnte ich mir jeden Monat ein neues Paar kaufen und bald hatte ich tonnenweise Chucks in meinem Wandschrank – in jeder lieferbaren Variante, solange sie nur einfarbig waren. Und dann wurde das Ganze irgendwann ziemlich schräg.

Das Ding ist, ich bin zwar nicht schüchtern, aber es interessiert sich einfach kein Schwein dafür, was ich sage (abgesehen von Steve und meiner Mutter, aber die zählen nicht). Deshalb bin ich still. Dabei wäre ich lieber schüchtern. Schüchtern und still, das ist nicht das Gleiche. Schüchtern bedeutet, du traust dich nicht, was zu sagen. Still bedeutet, du willst nicht. Vergangenen Sommer war das noch härter als sonst, weil Steve mit seinen Eltern weg war, an die zwei Monate lang. Da war ich allein mit meinen vielen bunten Chucks, habe in Plainville festgesteckt und mich zu Tode gelangweilt. Mom war die Einzige, die mich ab und zu mal gefragt hat, wie’s mir geht, aber wie gesagt, Mom zählt nicht.

In meinem Wandschrank habe ich eine derart perfekte Ordnung, dass es sich andere Leute wahrscheinlich dreimal überlegen würden, bevor sie sich trauen, irgendwas darin anzufassen – in dem Schrank sieht es aus wie in einem Museum, und genau darum geht es ja. Trotzdem habe ich es ziemlich lange dem Zufall überlassen, welche Schuhe ich anziehen wollte: Ich hab mir das Paar geschnappt, das mir an dem Tag gerade gefallen hat, und bin damit losgerannt. Aber wie sich inzwischen jeder vorstellen kann: Ich komme mit dem Zufall nicht besonders gut klar. Irgendwann habe ich morgens meine Schwester Beth an meinem Laptop erwischt, obwohl sie genau weiß, dass sie da nicht dran darf. Ich hab sie zusammengeschissen, aber sie ist einfach weggegangen und hat getan, als würde sie mich gar nicht hören. Beth hat es echt drauf, mich zu ignorieren, sie ist die schlimmste Schwester aller Zeiten. Ich war wahnsinnig wütend und habe mir meine roten Chucks geschnappt. Als ich schon fast draußen war, hat mich Mom gefragt, wie’s mir geht. »Gut«, hab ich gesagt.

Steve und ich hängen oft bei ihm zu Hause ab, meistens spielen wir unten im Keller Videospiele.

»Hast du gestern Abend Sensual Moon 3 gesehen?«, fragt Steve.

»Davon gibt’s einen dritten Teil? Ich wusste nicht mal was von einem zweiten«, antworte ich.

Steve steht total auf die Softpornos, die mitten in der Nacht auf Skinemax kommen. Er geht abends ins Bett, stellt sich den Wecker für drei Stunden später und macht den Fernseher an.

»Na logisch hat’s einen zweiten Teil gegeben, das war doch der beste!«

Steve liebt Skinemax. Auch wenn sich weltweit so ziemlich jedes männliche Wesen Pornos im Internet anschaut, legt Steve Wert darauf, in Sachen Selbstbefriedigung ein »Traditionalist« zu sein. Er schätzt die »Produktionsqualität« der Fernsehfilme. Steve hat einen kompletten Knall, echt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir zwei so gut miteinander auskommen.

Kennengelernt haben wir uns in der vierten Klasse, seine Familie war gerade erst nach Plainville gezogen. Weil Steve neu war, hatte er keine Freunde. Ich hatte auch keine, obwohl ich mein ganzes Leben hier verbracht habe. Seitdem sind wir beide beste Freunde.

»Nein, hab ich nicht gesehen. Die Kabelsender sind bei mir im Zimmer gesperrt«, sage ich.

»Mann, das war echt super. Online gibt’s natürlich viel härtere Sachen, aber Sensual Moon hat so was Stilvolles. Hat mich erinnert an …«

»Das eine Mal, als es dir dieses Mädel besorgt hat?«

»Ja, das war absolut irre.«

Als Steve letzten Sommer mit seinen Eltern auf Tour durch die großen Nationalparks war, hat ihm angeblich ein Mädchen aus Kalifornien einen runtergeholt. Dieses Ereignis ist der einsame Höhepunkt seines Lebens, er redet pausenlos darüber. Kann ich ihm nicht übel nehmen. Schließlich gibt es sonst kaum was in seinem Leben, das so richtig kickt. Genau wie ich hat Steve einen ausgefallenen Namen – Steve Hushlicker. Aber während mein Name der eines Basketballstars ist, reimt sich Steves Name auf »Arschficker«. Die harten Jungs in der Schule erinnern ihn fast jeden Tag daran. Mit den Fäusten. Darum mache ich kein großes Ding aus der Sache, auch wenn ich die Story dubios finde. Steve hat schon genug am Hals.

Das erste Schulhalbjahr ist vorbei und wir haben ein paar Tage Ferien, bevor die zweite Hälfte des letzten Highschooljahres losgeht. Die Sache mit dem College ist für Steve und mich zum Glück schon gelaufen, wir haben beide im vorzeitigen Aufnahmeverfahren unsere Studienplätze gekriegt. Jetzt sind es nur noch sechs Monate bis zum Abschluss, was bedeutet, dass wir kurz davor sind, aufs College zu kommen und dieses verdammte Plainville endlich hinter uns zu lassen. Allerdings sind wir auch kurz davor, die Highschool zu verlassen, ohne jemals was mit einem Mädchen gehabt zu haben. Wie erbärmlich! Ich hatte noch nie eine Freundin. Und Steve, na ja, der klammert sich an die Story mit dem Mädchen aus Kalifornien.

»Scheiße. Schon wieder tot«, sagt Steve. Wir spielen gerade dieses neue Game, bei dem man selbst ein Zombie ist und die Soldaten abknallt statt umgekehrt. Das hat was, aber nur, wenn man nicht dauernd abgeschossen wird wie Steve. »Blödes Spiel«, flucht er und drückt auf Reset. »Gestern Abend war ich mit meinen Eltern im Applebee’s essen. Stacey Simpson war auch da.«

Ich steige auf seine Eröffnung ein und sage: »Ach, echt?«

Stacey ist das heißeste Mädchen in unserm Jahrgang. Und zwar mit Abstand. »Blond mit Kanonenkugeln«, so lautet Steves Beschreibung von Stacey. Wenn ich ehrlich bin, war sie bei gut einem Drittel der Striche auf meiner Liste das Ausgangsmaterial für meine Fantasien. In der Achten waren wir in Hauswirtschaft ein Team (ausgesucht hat sie sich das nicht) und damals hat sie mitgekriegt, wie gründlich ich mir jedes Mal die Hände wasche, sobald auch nur der kleinste Krümel Essen meine Finger berührt. Nicht mal eine Woche später hat sie sich einen andern Partner gesucht und seither tut sie, als wüsste sie nichts von meiner Existenz. Zum Glück habe ich jede Menge Bilder von ihr im Kopf.

»Chuck, ich sag dir, über die Ferien sind Staceys Titten noch größer geworden. Die reinsten Melonen, verdammt.«

»Das gibt’s doch nicht«, sage ich.

»Jedenfalls war irgendwas anders. Stacey ist so wahnsinnig geil!«

»Hast du mit ihr geredet?«

Steve spielt weiter, ohne zu antworten. Braucht er auch nicht. Ist sowieso klar, dass er nicht mit ihr geredet hat. Wir gehören nicht zu den Typen, die mit den heißen Mädchen reden. Wenn man’s genau nimmt, reden wir überhaupt nicht mit Mädchen. Manchmal wünsche ich mir, Steve und ich wären echte Nerds. Von denen gibt es in Plainville jede Menge, dann würden wir wenigstens irgendwo dazugehören. Aber die Nerds hier sind wirklich total schräg. Die fahren voll auf so ein Zeug wie Differentialrechnen ab und spielen dauernd absurde Online-Rollenspiele, fünfzehn Stunden am Stück, ernsthaft. Steve und ich stecken also im Niemandsland zwischen den harten Kerlen und den Nerds fest. Wir sind eben weder Sportstars noch Mathegenies.

»In Kalifornien, da hab ich …«

»Können wir auch mal über was anderes reden?«

Obwohl es draußen saumäßig kalt ist, laufe ich nach Hause, schließlich wohnt Steve nicht weit weg von uns. Unterwegs trete ich immer wieder auf die Ritzen zwischen den Gehwegplatten. Das macht mir gar nichts aus. Das Nicht-auf-die-Ritzen-Treten gehört neben dem Händewaschen zu den klassischen Ticks, die man Figuren mit einer Zwangsneurose im Kino oder im Fernsehen gerne verpasst. Doch mir ist komplett egal, ob ich auf eine Ritze trete oder nicht. Ritzen auf dem Gehweg sind einfach nicht mein Ding. Keine Ahnung, warum das so ist. Manchmal finde ich diese Tatsache sogar fast nervig.

Ich winke den Greulichs zu, unseren senilen alten Nachbarn, die senil und alt in ihrem Wintergarten sitzen, und gehe ins Haus. Mom ist beim Kochen, ein seltenes Ereignis. Ich sage ihr kurz Hallo und merke mir, dass ich heute Abend eine extra Herd-Kontroll-Runde einlegen muss. Ich gehe ein paar Stufen nach unten ins Wohnzimmer, wo Dad gerade eine NBA-Pregame-Show anguckt. Mein Opa Sam, der letztes Jahr gestorben ist, war ein großer Basketballfan. Im Gegensatz zu mir. Seit Opa nicht mehr da ist, hat Dad keinen mehr, mit dem er über Sport reden kann, und er hofft wohl, dass ich die Lücke füllen werde. Doch damit hat er Pech. Meine Beziehung zum Basketball beginnt und endet mit der Tatsache, dass ich die Schuhe eines Typen trage, der diese Sportart vor achtzig Jahren gespielt hat.

»Wichtiges Spiel?«, erkundige ich mich.

»Wichtiger geht’s nicht für diese Zeit im Jahr«, sagt Dad.

Er merkt gleich, dass ich damit nichts anfangen kann.

»Die Play-offs sind erst ab April.«

»Aha«, sage ich, »verstehe.«

Dad beäugt meine Chucks. Sie sind rosa. Bevor ich zu Steve gegangen bin, war mir langweilig. Rosa bedeutet in meinem System Langeweile, also trage ich meine rosa Chucks ziemlich oft. Das kommt bei Dad nicht gut an. Er hat sich zwar noch nie dazu geäußert, aber wahrscheinlich hält er mich für schwul. Wen wundert’s, wo ich bisher nicht mal ein Mädchen als Kumpel gehabt habe, von einer Freundin ganz zu schweigen. Und dann trage ich auch noch rosa Turnschuhe. Kann man ihm also fast nicht vorwerfen, wenn er so was denkt. Aber ich bin definitiv nicht schwul. Nur ein Volltrottel, was Mädchen angeht. Und wirklich wahnsinnig oft gelangweilt.

»Bald wird der Transfermarkt geschlossen, die Jungs kämpfen um die besten Jobs«, sagt Dad.

Ich nicke zustimmend, als ob ich verstehe, wovon er redet.

»Übrigens wollen Mom und ich vorm Essen noch was mit dir bereden.«

»Worum geht’s denn?«, frage ich.

»Das sagt sie dir dann. Nichts Großartiges. Wann fängt die Schule wieder an?«

Dad wirkt immer irgendwie entnervt, wenn ich schulfrei habe, was ich ziemlich komisch finde. Manchmal würde ich am liebsten sagen: »Hör mal, Dad, ich bin siebzehn und du siebenundvierzig. Was erwartest du?«

»Am Montag. Weißt du doch.«

»Kommen mir lang vor, diese Ferien. Ich muss jedenfalls die ganze Zeit arbeiten.«

Dad ist Steuerberater. Mir will nicht in den Kopf, dass er in seinem Job den ganzen Tag Mathe macht. Auch noch für andere Leute. Das klingt nicht nur nach einer öden Arbeit, sondern ist noch eine Gemeinsamkeit weniger zwischen uns. Damit es keine Missverständnisse gibt, ich bin gut in Mathe. Ich habe den Fortgeschrittenenkurs in Analysis belegt, viel höher geht’s nicht. Wenn ich bei den Prüfungen im Mai gut abschneide, kann ich mir den Kurs sogar fürs Studium anrechnen lassen. Trotzdem finde ich Analysis furchtbar. Die Firma von Steves Vater stellt Kunststoffhüllen für Videospiele her. Das ist immerhin halbwegs cool.

»Du musst diese Woche arbeiten, weil du alt bist, Dad!«, sage ich im Spaß. Trotz der gewaltigen Unterschiede blödeln Dad und ich ziemlich viel miteinander herum und das finde ich gut. Er grinst.

»Aber nicht zu alt, um rüberzukommen und dir eine zu scheuern«, sagt er, auch im Spaß.

Gerade als das Basketballspiel anfängt, schreit Mom von der Küche her in voller Lautstärke: »Chuck! Ray!« Dabei ist die Küche gar nicht weit weg vom Wohnzimmer.

»Gleich!«, rufen wir einstimmig und genauso laut wie Mom. Aber wir kommen nicht gleich, sondern lassen sie ein paar Minuten warten. Dad hat die Hoffnung, noch den ersten Sprungball mitzukriegen. Mir fällt ein, dass ich auf dem Heimweg einen Zweig angefasst habe, also gehe ich mir die Hände waschen.

Als ich endlich in die Küche trotte, hockt Dad immer noch vorm Fernseher. Mom hat gefüllte Muschelnudeln gemacht, eins von meinen Lieblingsgerichten (auch deshalb, weil ich da nichts mit den Fingern anfassen muss). Trotzdem ist das ungewöhnlich und so langsam werde ich misstrauisch.

»Wo ist Dad?«, will Mom wissen.

»Guckt noch Basketball. Und was ist mit Beth?«

Meine Schwester ist im zweiten Highschooljahr, was bedeutet, dass wir seit eineinhalb Jahren auf die gleiche Schule gehen. Ich wette, bei einer Umfrage unter allen 1600 Schülern würden 99 Prozent Beth kennen und nur ein Prozent mich. Das mit den 99 Prozent ist eine eher konservative Schätzung, die unterstellt, dass man die circa sechzehn Mathegenies weglassen muss, die nur miteinander reden. Mein eines Prozent ist dagegen eher großzügig gerechnet und beruht darauf, dass mich ein paar Leute kennen, weil ich Beths großer Bruder bin. Für diesen deutlichen Unterschied gibt es einen Grund. Genau genommen zwei Gründe. Ich sage das nur ein einziges Mal und werde danach garantiert nie mehr darüber reden. Beth hat große Titten. Themenwechsel.

»In ihrem Zimmer«, antwortet Mom.

Mir ist klar, was Beth dort tut. Das, was alle beliebten Mädchen tun. Alle fünfzehn Sekunden schreibt jemand irgendwas auf ihre Facebook-Pinnwand. Auf meine Freundschaftsanfrage hat sie bis jetzt nicht mal geantwortet.

»Rufst du deinen Vater noch mal?«, bittet Mom.

»DAD!«, brülle ich.

Dad behauptet immer, dass er nur in der Theorie das Familienoberhaupt ist und in Wirklichkeit Mom bestimmt, wo’s langgeht. Und da hat er recht. Mom ist Lehrerin – zum Glück Grundschullehrerin, und als ich jünger war, hat sie noch nicht gearbeitet. Ich glaube, ich wäre vor lauter Peinlichkeit gestorben, wenn ich sie als Lehrerin gehabt hätte. Ich finde ja, sie hätte besser zur Kripo gehen sollen. Sie stellt nämlich andauernd Fragen.

»Wie war’s bei Steve?«

»Ganz okay.«

»Was habt ihr gemacht?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Videospiele und so.«

»Was für ein Spiel denn?«

»Ist doch egal, Mom.«

Mit Mom ist es manchmal wie in diesem Film Tron: Immer wenn sie nicht mehr weiterkommt, springt sie einfach woandershin.

»Ist es okay für dich, dass die Schule wieder anfängt?«

»Nein.«

»Bist du nicht aufgeregt, dass du bald deinen Abschluss machst?«

»Bisschen.«

»Du solltest dir mal überlegen, was du noch fürs Studentenwohnheim brauchst.«

»Okay.«

»Ich dachte, wir könnten eine Party machen, um deinen Abschluss zu feiern, hinten im Garten. Was hältst du davon?«

»Weiß nicht, vielleicht.«

Ich setze mich und nehme mir was zu trinken. Vor ein paar Monaten habe ich Mom erzählt, dass ich den Wikipedia-Artikel über Zwangsstörungen gelesen habe. Im Nachhinein betrachtet war das ein Fehler. Mom und Dad wissen zwar Bescheid über ein paar von meinen Ritualen und Ticks, aber ich glaube, bisher haben sie das unter den seltsamen Angewohnheiten verbucht, die für Teenager nun mal typisch sind, oder sie haben den Ernst der Lage schlichtweg verdrängt. Aber kaum hatte ich die Sprache darauf gebracht, erzählte mir Mom, in ihrer Familie hätte es schon öfter Zwangsstörungen gegeben, auch ihr Vater hätte welche gehabt und sie hätte an sich selbst auch ein paar Symptome in die Richtung entdeckt, als sie in meinem Alter war, blablabla. Deshalb hat sich Mom in den letzten Monaten nonstop Sorgen um mich gemacht. Das ist mir nicht nur unangenehm, es provoziert auch immer neue Fragen. Mom weiß genau, dass bei einer Highschool-Abschlussparty keiner käme außer mir, Steve, Mom und Dad und deren Freunden. Wenn Mom sagt: Ich dachte, wir könnten eine Party machen, um deinen Abschluss zu feiern, bedeutet das in Klartext: Wärst du nicht so gestört, hättest du mehr Freunde und wir könnten alle zu einer wahnsinnstollen Party einladen. Aber so, wie die Dinge liegen, gibt es keine Party. Sie macht sich Sorgen. Die ganze Zeit. Und sie kennt kein Erbarmen.

»Sind die Turnschuhe neu?«, fragt sie.

»Nein, die hast du schon tausendmal gesehen.«

»Na ja, sie wirken irgendwie anders.«

»Das sind genau die gleichen Schuhe wie alle andern, die ich habe. Herrgott noch mal, Mom.«

Schon wieder steht sie vor einer Wand und kommt nicht weiter. Mom macht einen Schritt auf mich zu und küsst mich auf die Stirn. Krise entschärft! Dann brüllt sie mir ins Ohr: »Ray! Komm endlich essen!«

Auf gar keinen Fall«, sage ich. »Kommt nicht infrage!« Mein Gesicht wird rot und heiß, ich habe Angst, gleich loszuheulen, was totaler Mist ist, denn wenn ich die Vorstellung erst mal im Kopf habe, wird es noch schwieriger, nicht zu heulen.

Thema des Gesprächs mit meinen Eltern, in dem es laut Dad angeblich um »nichts Großartiges« gehen sollte, ist die Tatsache, dass sie mich zu einem Irrenarzt schicken wollen.

»Wir machen uns eben Sorgen um dich«, erklärt mir Mom, obwohl ich das längst weiß. »Wir haben den Eindruck, deine Symptome werden schlimmer. Wir möchten, dass du mit jemandem redest. Wer weiß, vielleicht bist du ja depressiv?«

»Mir geht’s gut, Mom.«

»Tut es nicht. Wir möchten dir doch nur helfen«, sagt sie.

»Dad!«, flehe ich.

Auch in den Fällen, wo die beiden sich zusammentun und einer Meinung sind, kann man Dad leichter knacken. Doch im Moment geht er auf Nummer sicher.

»Hör deiner Mutter zu.«

Nun ist es leider so, dass meine Mom meistens recht hat. Wenn ich mir überlege, was sie in den letzten Jahren gesagt und welche Ratschläge sie mir gegeben hat, fällt mir keine einzige Gelegenheit ein, bei der sie falschgelegen hätte. Als ich neulich mit Steve ins Kino gegangen bin und ihr gesagt habe, wir wollten um halb acht aufbrechen, meinte sie, viertel nach sieben wäre besser, damit wir noch Karten kriegen. Und am Ende war direkt nach uns alles ausverkauft. Bei welcher Uni ich mich bewerben soll, welcher Laptop sich am besten eignet oder ob die Milch noch gut ist – Mom liegt immer richtig. Und irgendwo tief drinnen weiß ich, dass das jetzt auch der Fall ist.

Auf der einen Seite bin ich ziemlich normal. Ich schneide mich nicht und kotze das Essen nicht wieder aus, ich höre auch nicht mit einem Strick um den Hals Marilyn Manson. Andererseits muss ich das Schloss an meinem Schulschrank immer exakt vierzehn Mal schließen, bevor ich weggehen kann, ich suche mich nach Zecken ab, wenn ich auch nur einen Grashalm berührt habe, und außerdem führe ich seit einem Jahr Buch darüber, wie oft ich wichse, verdammt noch mal.

»Ein Kollege in der Schule hat mir jemanden empfohlen, eine Frau, sie soll sehr gut sein«, erklärt Mom. »Geh wenigstens ein Mal hin. Mehr wollen wir doch gar nicht.«

Manchmal male ich mir aus, ich wäre alle meine Zwänge los. Ich müsste in der Schule nicht mehr jeden Tag exakt die gleichen Wege nehmen. Und könnte das Essen in der Cafeteria mit den Händen anfassen. Trotzdem, ich bin einfach nicht so weit, mit irgendwem über diese Sachen zu reden.

»Falls du sie mögen solltest«, fährt Mom fort, »müsstest du nur einmal in der Woche hingehen, für eine Stunde. Eigentlich nur fünfzig Minuten.«

»Langsam, Molly«, wirft Dad ein. »Wir wissen ja noch gar nicht, ob die Versicherung das übernimmt.«

In mir laufen drei Sachen gleichzeitig ab. Zum einen raste ich komplett aus bei der Vorstellung, mit jemandem über meine Macken reden zu müssen, von denen meine Eltern größtenteils nicht mal was ahnen. Daneben schwingt eine geheime Hoffnung mit: Vielleicht wäre es doch gut, über diese Macken reden zu können. Und drittens könnte ich mich über Dad kaputtlachen, der mehr an die Kosten denkt als an seinen geisteskranken Sohn.

»Ray!« Meine Mom schießt einen eisigen Blick auf Dad ab. Da hält er den Mund und betrachtet seine Füße. Mom wendet sich wieder mir zu.

»Liebling, weißt du noch, als du mir diesen Flickipedia-Eintrag über Zwangsstörungen gezeigt hast und ich dir …«

»Wikipedia.«

»Was?«

»Mom, das heißt Wikipedia. Nicht Flickipedia.«

»Na dann eben Wikipedia. Weißt du noch, wie du mir diesen Artikel gezeigt hast?«

»Ja.« Das hätte ich nie tun dürfen.

»Chuck, ich glaube, das war eine Art Hilferuf.«

Wie bitte? Also echt, Mom!

»Ich habe mich seitdem schlaugemacht und denke, du hast recht. Wahrscheinlich leidest du wirklich an einer Zwangsstörung. Und das ist letztlich auch gut.«

»Was soll daran gut sein, verdammt?«