Cináed - Tanja Höfliger - E-Book

Cináed E-Book

Tanja Höfliger

4,7

Beschreibung

In „Zum Werkzeug der Macht“ kämpft Daniel nun zusammen mit Freundin Lou darum, den Fluch zu durchbrechen, der auf den Stiftträgern, den Auserwählten, liegt. Denn auch Lou ist eine Auserwählte. Ab dem Augenblick, an dem die Stifte sich Lou und Daniel als Träger ausgewählt hatten, hatte ein Wettlauf gegen die Zeit, ihre Lebenszeit, begonnen. Keiner weiß, wieviel Zeit schon verstrichen ist, wie viel noch bleibt - denn die Zeit der Stiftträger vor ihnen war immer viel zu früh abgelaufen. Das bedeutet: Tod. Nun müssen Daniel und Lou den dritten Stift finden und ihn zerstören - an ihm scheint ihr Schicksal zu hängen. Der Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

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Tanja Höfliger

CINÁEDZUM WERKZEUG DER MACHT

Roman

Fabulus-Verlag

Band 3 der Trilogie »Cináed«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.© 2015 by Tanja HöfligerAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Elmar Klupsch, StuttgartUmschlaggestaltung: Anita Dietrich, StuttgartHerstellung: Fabulus-Verlag, FellbachSatz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-944788-14-2Besuchen Sie uns im Internet unter:www.fabulus-verlag.de

Für DICH!

KAPITEL EINS

Um fünf Uhr morgens schreckte ich plötzlich hoch, schweißnass und mit pochendem Herzen. Der wiederkehrende Traum von dem alten, stillgelegten Friedhof in Swansea riss mich an immer der gleichen Stelle aus dem Schlaf: Cassis und alle um mich herum wurden in diesem Horrorszenario von Raketen getroffen. Überall war Blut. Selbst an meinen Händen. Das Gewicht des auf mir liegenden getöteten Cassis schien mich zu erdrücken und mir den Atem zu nehmen. Wie bereits Hunderte Male zuvor erwachte ich an genau derselben Stelle.

So durfte es nicht weitergehen. Ich musste mich endlich der Realität stellen. Cassis hatte sich für mich im Kampf gegen einen Verrückten geopfert. Mr. Green seinerseits hatte sich auf diese Auseinandersetzung sehr gut vorbereitet. Ihm ging es einzig darum, unter allen Umständen meinen Stift Cináed zu besitzen. Und nicht nur das. Mithilfe von Cináed wollte er die absolute Macht an sich reißen. Durch den dritten Stift, von dem keiner wusste, wo er war. Nur soviel war bekannt, dass er überaus gefährlich sein sollte.

Insgeheim wusste ich, dass Mr. Green auf dem Friedhof zwar gegen Lou gekämpft, sie als Trägerin aber nicht enttarnt hatte. Ihr Stift, Gwyrdd, hatte die Fülle seiner Kraft noch nicht im Ansatz ausgeschöpft. Deshalb war er bei seinen Vorstößen eher zurückhaltend vorgegangen. Ein wahres Glück im Unglück! Wir hatten Cassis verloren, aber Lou schwebte nach wie vor nicht in der Gefahr, in der ich mich als weitgehend enttarnter Träger bereits befand.

Ich überlegte, was in der Zeit meiner Abwesenheit an der Akademie alles passiert sein mochte. War Mr. Green gleich zu Sir Edmund gerannt und hatte mich dort verpetzt? Oder hatte er sein Wissen um mich als Stiftträger für sich behalten?

Eine Stimme meldete sich in meinem Kopf: »Daniel, wir sind seit sechs Wochen bei deinen Eltern. Ich denke, es ist an der Zeit, nach Conwy zurückzukehren. Wir haben dort eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen. Schon vergessen?«

»Natürlich nicht, aber Lou wird schon …«

»Stopp, Daniel Frayne!«, unterbrach Cináed unwirsch meine Gedanken. »Hör endlich auf, dich ständig selbst zu bemitleiden. Auch deine Flamme Lou hat mit Cassis einen engen Vertrauten verloren. Im Gegensatz zu dir ist sie aber seit Längerem schon wieder in Conwy, da sie ihre Verantwortung als Stiftträgerin kennt. Und du? Wer bist du? Glaub mir, es macht keinen Spaß, dich dauernd daran erinnern zu müssen. Aber die Zeit drängt!«

O mein Gott, wie recht Cináed hatte. Schon seit sechs Wochen verkroch ich mich zu Hause, in der stillen Hoffnung, alles zu vergessen. Doch nun wurde mir bewusst, dass ich gar nicht vergessen wollte. Ich hatte mich so sehr in meiner Schuld eingeigelt, dass ich keinen Weg mehr aus ihr herausfand.

Lou war bereits vor drei Wochen an die Akademie zurückgekehrt, wohingegen ich mich hier feige versteckt hielt. So ging es nicht weiter! Ich musste die Verantwortung für mein Leben wieder übernehmen und mich der vor mir liegenden Aufgabe stellen.

Dabei ging es um Leben oder Tod von vielen unschuldigen Menschen. Ich musste alles daran setzen, den dritten Stift zu finden, den mein Urahn in fanatischer Absicht geschaffen hatte. Ab dem Augenblick, in dem unsere beiden Stifte sich Lou und mich als Träger ausgewählt hatten, begann der Wettlauf gegen die Zeit. Wie viel davon war schon verstrichen?

Keiner wusste es oder konnte davon berichten, da die Zeit der vorangehenden Träger immer viel zu früh abgelaufen war. Das durfte nicht noch einmal geschehen. Lou und ich mussten den Fluch endlich durchbrechen. Wir konnten gar nicht anders, als so lange am Leben zu bleiben, bis wir gemeinsam den dritten Stift gefunden und zerstört hatten. Nur das zählte!

Nachdem ich mich mit dem Gedanken innerlich angefreundet hatte, nach Conwy zurückzukehren, tat sich plötzlich ein weiteres Hindernis auf: Wer sollte mich in Swansea abholen und zur Akademie fahren? Bis zu jenem Vorfall auf dem alten Friedhof war es stets Cassis gewesen, der …

Ohne Vorwarnung lief vor meinem geistigen Auge ein Erinnerungsstreifen ab. Ich sah Cassis bei unserer ersten Begegnung – mitten in der Nacht, in einer dunklen Limousine, mit schwarzer Melone auf dem Kopf. Dann die Fahrt zur Akademie. Er hatte immer ein freundliches Wort für mich und ein Lächeln auf den Lippen.

Weitere Erinnerungen stiegen in mir auf und beschäftigten mich. Ich sah Cassis vor der Traum projizierenden Leinwand kauern. In der Nacht hatte ich erfahren, dass er meine Mutter heimlich liebte. Deshalb hatte er all das auf sich genommen. Er hatte sich rührend um mich gekümmert, mich auf allen Fahrten umsichtig chauffiert und mich auf dem Friedhof mit seinem Körper geschützt. Er hatte sein Leben für mich geopfert.

Ich konnte nicht anders und musste bei diesen Gedanken weinen. Es tat gut, dass die Tränen endlich einen Weg aus dem schwarzen, dunklen Innern meines Ichs fanden. Endlich konnte ich wegen des Verlustes eines treuen Freundes trauen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich es ihm schuldig war weiterzukämpfen.

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett. Ich wollte meine wochenlange Lethargie abstreifen und wieder aktiv werden. Ja, ich hatte sogar einen Plan im Kopf, wie meine Rückkehr an die Akademie am besten zu organisieren war. Dabei würde mir mein Freund Levi, Lous Zwillingsbruder, bestimmt helfen.

»Hey, Danny, schön, von dir zu hören. Geht es dir wieder etwas besser?«, fragte er mich ganz aufgeräumt, als ich ihn anrief.

Bei dieser Frage dachte ich spontan an einen hundertjährigen, hinfälligen Greis. Sie war mir so peinlich, dass sie mich umgehend und endgültig wach rüttelte. Schnell kam ich zum Punkt.   

»Meinst du, mich kann jemand von der Akademie abholen? Ich denke, es ist an der Zeit, dass …«

»Klar, Mann! Ich werde sofort jemanden fragen und losschicken. Aber warte mal, ich hab da noch eine bessere Idee. Wo bist du gerade?«

»Zu Hause bei meinen Eltern, warum?«

»Klar doch, hätte ich mir denken können. Nein, ich meine wo oder in welchem Zimmer?«

Da dämmerte es mir, und ich begann Levis Frage zu verstehen. Er wollte über den »speziellen« Weg nach Swansea in mein Elternhaus kommen. Der führte per Fahrstuhl von der Akademie aus direkt in mein Zimmer.

»Warte, ich bin in meinem neuen Dachzimmer, seit … na ja, seit ich erfahren habe, dass mein früheres Zimmer eher einem Bahnhof gleicht als einem privaten Domizil, und seit …« Ich hielt kurz inne. Nach zwei tiefen Atemzügen hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich fortfahren konnte: »Ich werde in mein altes Zimmer schleichen und schauen, ob die Luft dort rein ist. Wenn du das vorhast, was ich vermute.«

Wie hörte sich das denn an? War ich noch ganz bei Trost, solch wirres Zeug von mir zu geben? Einfach nur schrecklich.   

Glücklicherweise ging Levi nicht darauf ein. »Übernachtet jemand in deinem alten Zimmer, oder kann ich es so früh am Morgen riskieren, dort aufzukreuzen?«

Die Luft war mit Sicherheit rein, denn ich hatte meinen Eltern einen Bären aufgebunden, warum ich in dem Zimmer nicht mehr wohnen oder schlafen wollte. Angesichts meines damaligen Zustands waren sie ohne Weiteres damit einverstanden gewesen, dass ich innerhalb des Hauses umgezogen war und das Zimmer nicht mehr benutzte.

Schnell beendeten wir das Gespräch, denn Levi wollte sich beeilen.

Bemüht leise drehte ich den Schlüssel im Schloss, öffnete die Tür zu meinem alten Zimmer und schlich vorsichtig hinein. Gemischte Gefühle ergriffen mich beim Eintreten, und ich war ganz froh darüber, als keine fünf Minuten später Levi auf mich zukam. Wir umarmten uns und begrüßten uns voll Freude.

»Hey, du kannst dir gar nicht vorstellen, was in den letzten Wochen an der Akademie alles los war«, sprudelte es aus Levi heraus. »Sir Edmund hat nach dem Tod von Cassis einen neuen Vertrauten eingestellt, der uns in ein paar Stunden abholen wird.«

Bis dahin wollte mich Levi über die Geschehnisse der letzten Zeit informieren. Doch die Tatsache, dass wir in diesem Haus schon einmal auf übelste Weise abgehört worden waren, hielt uns zurück, an diesem Ort offen miteinander zu reden. Schnell packte ich die nötigsten Sachen in eine Sporttasche, schrieb meinen Eltern eine kurze Nachricht und verließ mit Levi das Haus.

Wahrscheinlich würde ich immer nur auf ungewöhnliche Weise von meinem Elternhaus an die Akademie gelangen, schoss es mir durch den Kopf. Bislang waren es stets seltsame Nacht- und Nebelaktionen gewesen. Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?

Ein paar Straßen weiter suchten wir einen kleinen Park auf, wo wir ungestört reden konnten. Wir setzten uns unter einen mächtigen Baum, in dem die Vögel zwitscherten und den Morgen begrüßten. Es war herrlich, dort so früh am Tag zu sein und die aufwachende Natur zu erleben.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, neu geboren zu werden.

Es war unbeschreiblich, wieder ein Teil der Erde und der Natur zu sein. In den vergangenen Wochen hatte ich das überhaupt nicht wahrgenommen. Umso intensiver erlebte ich dieses Gefühl nun. Der leichte Wind, der mir durchs Haar fuhr, und das Vogelgezwitscher bescherten mir eine Gänsehaut. Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals zuvor so lebendig gefühlt zu haben.

Für einen Moment schloss ich die Augen. Die Sonne tauchte meine Welt in ein angenehmes Orange. Für einen weiteren Moment hatte ich das Gefühl, an einem anderen Ort zu sein. An einem Ort, an dem absoluter Frieden herrscht.

Ich konnte deutlich spüren, was die Sonnenstrahlen mit meinem Innersten anstellten. Sie waren für alles Gute auf diesem Planeten zuständig. Es war ein Moment, an dem ich mich mit allem verbunden fühlte. Wieder eins mit mir und der Natur.

Levi gönnte mir diesen Augenblick der Ruhe und Zufriedenheit. Nachdem der Zauber verflogen war, öffnete ich die Augen und sah zu ihm hinüber. Ich hatte das Gefühl, als würde auch er einen sehr intensiven Moment erleben, der einem das ganze Leben über in Erinnerung bleibt.

»Bist du jetzt bereit, ein paar wahnsinnige Dinge über die Akademie zu erfahren?«

»So bereit wie schon lange nicht mehr«, antwortete ich Levi aufrichtig.

»Gut, dann beginne ich mal mit der größten Sensation …« Er riss einen Grashalm aus dem Boden und ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger tanzen. Nach einem tiefen Atemzug fuhr er fort: »Mr. Green ist wieder an der Akademie, so, als wäre überhaupt nichts passiert.«

Wie bitte, hatte ich richtig gehört? Das konnte doch nicht Levis Ernst sein. Dieser Schurke hatte einen Menschen auf dem Gewissen. Nein, nicht einfach nur einen Menschen, sondern Cassis! Wie konnte Sir Edmund das nur zulassen?

»Nach dem Kampf auf dem Friedhof war er wohl für einige Zeit im Krankenhaus. Du kannst dir bestimmt den Schock vorstellen, den sein Erscheinen für mich und Lou bedeutete. Alle anderen Akademieschüler haben von den Ereignissen auf dem Friedhof nichts mitbekommen. Ihnen hat man erzählt, Cassis wäre bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

Das war einfach zu viel für mich. Ich konnte keine Sekunde länger still sitzen bleiben, sondern musste aufstehen, um mir diesen verkorksten Blödsinn anzuhören. Als ich auf den Beinen war und mich Levi zuwandte, nahm ich hinter ihm plötzlich jemanden wahr.

»Unmittelbar darauf folgte der zweite Hammer …«

Ich unterbrach Levi, der offensichtlich noch nicht mitbekommen hatte, dass wir nicht mehr allein waren. »Dachte ich mir doch, dass ich bei Sue keine Chancen mehr habe.«

Levi sah von dem Grashalm in seinen Händen zu mir auf. Entsetzen spiegelte sich in seiner Miene, als die Person hinter ihm zu sprechen begann.

»Guten Morgen, meine Herren. Würden Sie mir bitte die Ehre erweisen, Sie nach Conwy begleiten zu dürfen?«

Mittlerweile erkannte ich sie. Wie hieß sie doch noch gleich?

Levi sprang mit einem Satz auf und sagte: »Guten Morgen, Miss Michel. Wie haben Sie uns gefunden?«

Richtig, das war Miss Michel. Offensichtlich war sie in der Zwischenzeit aufgestiegen und von der »Frau an der Kasse« im Castle von Conwy zur Vertrauten von Sir Edmund befördert worden. Krass! Komischerweise hatte ich nie eine Frau als Nachfolgerin von Cassis in Betracht gezogen. Trotzdem blieb die Frage offen, wie sie uns gefunden hatte.

»Können wir starten?«, säuselte sie, ohne auf Levis Frage einzugehen.

»Einen Moment noch, Miss Michel. Daniel hat noch etwas vergessen einzupacken. Wir holen nur schnell die Sachen, und danach kann es auch schon losgehen.«

»Mr. Levi, wahrscheinlich wird Ihr Freund das auch allein regeln können, während Sie mich begleiten. Das hoffe ich jedenfalls.«

Ein übertriebenes Stirnrunzeln verfehlte seine Wirkung nicht. Ohne Zweifel machte sie sich über meine Abwesenheit in den vergangenen Wochen subtil lustig.

»Danke, Levi, aber ich komme tatsächlich gut allein zurecht.«

»Da ich mir meiner Verantwortung sehr wohl bewusst bin, werde ich Sie, Mr. Daniel, sicher …«

Als sie das sagte, zuckte ich leicht zusammen. Hoffentlich hatte Miss Michel davon nichts mitbekommen.

»Nennen Sie mich Mr. Frayne«, reagierte ich brüsk. Aus ihrem Mund wollte ich diese besondere Anrede nicht hören, da sie Cassis mir gegenüber immer benutzt hatte, wenn er mit mir sprach.

»Na ja, ich weiß nicht, ob Sie befugt sind, mir diese Vorschriften …«

Mir reichte das erst einmal, sodass ich die letzten Worte von Miss Michel nicht mehr mitbekam. Ich spürte, welche Kraft es mich kostete, meine Wut im Zaun zu halten.

Natürlich hatte sie nicht annähernd das Feingefühl, das Cassis in besonderem Maße ausgezeichnet hatte. Nein, sie stand kurz darauf mit dem Wagen direkt in der Einfahrt zu meinem Elternhaus und besaß obendrein noch die Frechheit, so früh am Morgen mehrmals zu hupen.

Glücklicherweise waren meine Eltern noch nicht unterwegs, da sie am Samstag immer ausschlafen. Doch die übertriebene Aktion von Miss Michel hätte das schlagartig ändern können. Mit vor Wut pochendem Herz schlich ich aus dem Haus, verriegelte die Tür zweimal und ging auf einen Kleinwagen zu, aus dem mich Miss Michel vom Fahrersitz aus süßlich anlächelte.    

Wie nicht anders zu erwarten, blieb sie ungeduldig im Auto sitzen. Sinnfälliger konnte sich die Veränderung an der Akademie für uns Schüler nicht zeigen. Es gab keine Hilfe und Unterstützung mehr, die uns Cassis immer großzügig gewährt hatte.

Daher ging ich zum Heck, um meine Sporttasche im Kofferraum selbst zu verstauen. Als ich ihn öffnete, war ich kein bisschen überrascht, dass mich die nächste Schikane von Miss Michel erwartete. Er war komplett mit Altpapier vollgestopft. Und zwar derart, dass beim Öffnen der Klappe mehrere Zeitungen auf den Boden segelten. Vor Wut begannen meine Hände zu zittern, sodass ich Mühe hatte, vereinzelte Blätter vom Boden aufzuheben.

Als ich den Kofferraum wieder schloss und dabei nach vorn schaute, bemerkte ich, wie Miss Michel mich im Rückspiegel beobachtete. Komisch.

Plötzlich hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sie mich reizen wollte. Noch schlimmer, sie wollte mich allem Anschein nach bis aufs Blut provozieren.

Mein Kampfgeist kehrte zurück, nachdem ich in den Kleinwagen gestiegen war. Als ich die Sporttasche auf meinen Knien verstaute und mich weiterhin im Rückspiegel beobachtet fühlte, gab ich mir selbst ein Versprechen: Ich würde mich für Cassis und mir zuliebe zusammenreißen. Sollte es mich auch meine letzte Kraft kosten. Miss Michel würde es nie gelingen, mich aus der Reserve zu locken.

Ich werde mich beherrschen, Cassis. Versprochen!

Es wurde eine sehr lange, beschwerliche Fahrt. Meine Beine hatten nicht genügend Platz, und die Tasche auf ihnen sorgte nicht unbedingt für mehr Bequemlichkeit. Zu allem Übel schlich Miss Michel über die Autobahn.

Auf dem Weg von Chester nach Conwy wurden wir unmittelbar nach Chester von jemandem am Straßenrand zum Halten aufgefordert. Außenstehenden musste das wie eine gewöhnliche Verkehrskontrolle erscheinen. Mir war allerdings klar, dass es sich um eine sogenannte Schleusenkontrolle der Akademie handelte. Mit anderen Worten, Sir Edmund ließ stichprobenartig alle Personen kontrollieren, die nach Conwy reisten.

Miss Michel fuhr im Schneckentempo auf den Seitenstreifen und schien nicht sehr erfreut darüber zu sein, von einem Schleusenbeamten angehalten zu werden. Sie ließ ein paar leise Beschimpfungen vom Stapel, bis sie den Wagen vor dem Herrn in gelber Uniform zum Stehen brachte.

Mühevoll kurbelte sie das Fenster auf der Fahrerseite wenige Zentimeter herunter, woraufhin sich der Herr zu ihr hinunterbeugte und durch den Spalt sprach. »Guten Tag, meine Dame. Entschuldigen Sie bitte die Kontrolle, aber so sind die Vorschriften im Königreich. Es handelt sich um eine reine Routinemaßnahme, die wir monatlich durchführen. Wären Sie bitte so freundlich und würden den Kofferraum öffnen?«

»Mr … wie war doch gleich Ihr Name?«, fragte Miss Michel in übertriebenem freundlichen Ton, der jedoch einen sehr bestimmenden Unterton hatte.

»Mein Name tut nichts zur Sache. Wenn Sie bitte so freund …«

Weiter kam der Schleusenbeamte nicht, da Miss Michel plötzlich das Steuer herumriss und mit durchdrehenden Reifen zurück in die Richtung fuhr, aus der wir gekommen waren.

Die Aktion traf Levi und mich völlig unvorbereitet, sodass ich mit dem Kopf an Levis Stirn schlug. Er schaute gerade in meine Richtung, als das passierte. Für eine Weile hielt ich mir mit geschlossenen Augen die schmerzende Stelle.

Als ich zu Levi hinüber linste, schaute er mich durch Augenschlitze an und schüttelte dabei langsam den Kopf. Er wusste offenbar genauso wenig wie ich, was da vor sich ging. Schlimmer noch, auch er konnte sich keinen Reim darauf machen, was das Ganze zu bedeuten hatte.

Mittlerweile fuhren wir so schnell wie die ganze Zeit zuvor nicht. Ich brachte keine klaren Gedanken mehr zustande. Was ging hier vor sich? Verzweifelt versuchte ich, dem Rückspiegel einen Hinweis auf Miss Michels Befinden zu entnehmen. Doch sie hatte keinen Blick mehr für die hinteren Fahrgäste, sondern war vollauf mit dem Lenken des Fahrzeugs beschäftigt.

Plötzlich hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken: Wir mussten so schnell wie möglich aus dem Auto raus.

Langsam rutschte ich von der Bank die wenigen verbleibenden Zentimeter nach unten. Es funktionierte. Ich konnte Miss Michel nicht mehr im Rückspiegel sehen und sie mich auch nicht. Dann schaute ich zu Levi hinüber und deutete ihm auf pantomimische Weise an, was ich vorhatte.

Sobald wir langsamer wurden, mussten wir einen Weg aus dem Minifahrzeug, das in meinen Augen kein Auto war, finden und fliehen.

Unsere Chance kam schneller als erhofft. Als wir uns der Stadtgrenze von Chester wieder näherten, musste Miss Michel die Geschwindigkeit notgedrungen verringern. Die Fahrzeuge vor uns wurden immer langsamer. Als wir für kurze Zeit im Schritttempo fuhren, gab ich Levi einen Hinweis. Gleichzeitig fassten wir nach den Türgriffen, um daran zu ziehen. Doch nichts geschah. Wir konnten die Türen von innen nicht öffnen.

In aufsteigender Panik versuchte ich es mehrere Male, doch ohne den geringsten Erfolg.

Natürlich blieb unser gescheiterter Fluchtversuch nicht unbemerkt. Doch mit der folgenden Reaktion von Miss Michel hatte weder ich noch Levi im Geringsten gerechnet. Ohne Vorwarnung drehte sie und fuhr auf die Gegenfahrbahn, sodass Levis und mein Kopf beinahe erneut zusammenstießen.

Sie drehte sich zu uns um und sagte, als sie das hohe Tempo von vorher wieder aufnahm: »Mein kleiner Schatz ist zwar äußerlich unscheinbar, aber damit hattet ihr nicht gerechnet, was?«

Sie war verrückt geworden, anders konnte ich mir ihr Verhalten nicht erklären. Aber was um Himmels willen hatte sie mit uns vor?

Levi hatte sich schneller wieder unter Kontrolle und antwortete ihr mit lauter, fester Stimme: »Lassen Sie uns sofort aussteigen! Uns ist schlecht … Vorsicht!«

Das letzte Wort schrie Levi, da wir an dem Schleusenwärter, der uns zuvor angehalten hatte, haarscharf vorbeischossen, um uns zu kontrollieren.

Als ich mich nach dem Mann umschaute, um mich zu vergewissern, dass ihm bei dem riskanten Manöver nichts zugestoßen war, sah ich, wie er in ein Fahrzeug einstieg und die Verfolgung aufnahm.

In Kinofilmen hatte ich solche Action-Szenen immer geliebt und mir mit leichtem Gruseln gern angeschaut. Jetzt aber, wo ich als Beteiligter in genau einer solchen Szene selbst steckte, fühlte es sich zweifelsohne ganz anders an. Vor allem hatte ich ein mieses Gefühl, dabei in einer winzigen Blechkiste zu sitzen – mit einer Irren am Steuer.

Miss Michel trat das Gaspedal voll durch. Bei einem vorsichtigen Blick auf den Tachometer wurde mir ganz schlecht. Wir bretterten mit über zweihundert Stundenkilometern in dieser kleinen Sardinenbüchse über eine Fahrbahn voller Schlaglöcher. Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis wir im Straßengraben landeten. In den Kurven streiften wir beinahe die entgegenkommenden Fahrzeuge. Aber wir kamen immer wieder ungeschoren davon.

Wegen der Schlaglöcher und des hohen Tempos hob es Levi und mich mehrmals von den Sitzen.

Auf einmal hörte ich Cináeds Stimme in meinem Kopf: »Danny, die Beförderung von der Kassiererin zu Sir Edmunds Vertrauter ist ihr wohl zu Kopf gestiegen. Sie hält sich plötzlich für unfehlbar und muss gestoppt werden, bevor sie uns alle mit ihrer tollkühnen Fahrweise in den Tod reißt. Von sich aus wird sie erst wieder vom Gaspedal runtergehen, wenn sie die Akademie erreicht hat. Du musst sie deshalb unbedingt stoppen.«

Ich lachte beinahe laut auf. »Tolle Idee, wirklich! Vielleicht kannst du Schlaumeier mir noch einen super James-Bond-Plan dazu liefern, wie ich das machen soll.«

»Wir haben jetzt keine Zeit für Späße, hörst du? Denk zum Beispiel an die Handbremse. Du bist zwar Linkshänder, musst aber von deiner jetzigen linken Position aus mit der rechten Hand so kräftig wie möglich an der Handbremse ziehen. Warte …«

Miss Michel nahm eine scharfe Kurve so schnell, dass ich schon dachte, die Aktion mit der Handbremse hätte sich erübrigt. Das Heck brach infolge dieses Manövers zwar aus, mehr geschah zum Glück jedoch nicht.

»Sag mir wann, Cináed«, rief ich ihm zu.

»Einen Moment noch, der Schleusenwärter hängt uns zu dicht auf den Fersen. Erst muss genügend Abstand zwischen beiden Autos sein, da er uns sonst in den Kofferraum rast. Versuch Miss Michel anzustacheln, dass sie die Geschwindigkeit wieder erhöht. Sie ist langsamer geworden und fährt nur noch einhundertsechzig Stundenkilometer. Wir sind hier aber auf einer geraden Strecke, die wir für unsere Zwecke unbedingt nutzen sollten. Treib sie an, auf zweihundert zu beschleunigen, und dann zieh die Handbremse. Schnell, es wird bald wieder kurviger.«

»Wow, ich hätte nicht gedacht, dass diese Büchse so schnell fahren kann«, meinte ich in Richtung von Miss Michel. »Aber das war’s wohl für heute. Ich spüre, dass sie immer langsamer wird. Kein Wunder, mehr ist aus dieser Rostlaube auch nicht rauszuholen. Dann können wir bald getrost aussteigen.«

Ein Blick zu Levi genügte, um zu wissen, was er dachte.

Die Geschwindigkeitsanzeige bestätigte mir, dass ich Miss Michel genau an der richtigen Stelle erwischt hatte. Die Nadel bewegte sich wieder auf die zweihundert zu. Mit pochendem Herzen wagte ich einen kurzen Blick nach hinten, bevor ich meine rechte Hand nach vorn schießen ließ. Sie war vor Aufregung feucht. Meine Finger hatten die Handbremse noch nicht richtig erreicht, als ich schon wie wild daran zu ziehen begann. Die nächste Linkskurve kam gefährlich schnell näher.

Urplötzlich stieg Qualm auf, und ein beißender Geruch nach verbranntem Gummi stieg mir in die Nase. Ich durfte aber keinesfalls dem ersten Impuls nachgeben, die Handbremse loszulassen, um das Fenster herunterzukurbeln, damit frische Luft ins Wageninnere strömen konnte. Und ich durfte meinen höllisch brennenden Fingern keine Ruhe gönnen, denn ich hatte noch nicht erreicht, was ich wollte. Wir hatten nach wie vor ein zu hohes Tempo drauf.

Miss Michel drehte das Lenkrad wie wild herum. Glücklicherweise gelang es ihr, die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten.

Beim Blick auf den Tacho stellte ich fest, dass die Nadel sich auf die einhundert Stundenkilometer zubewegte. In diesem Moment verließen mich die Kräfte, die Bremse weiterhin mit einer Hand nach oben zu ziehen.

Ein Blick über die Schulter zu Levi machte meine Hoffnung zunichte, er könne mir in dieser Situation helfen. Levi saß zusammengesunken in seiner Ecke, das Kinn auf der Brust, die Augen geschlossen.

Meine brennenden, feuchten Finger verloren endgültig den Halt. Die Geschwindigkeit des Fahrzeugs war Gott sei Dank nicht mehr so hoch, sodass ich es wagte, für einen Augenblick erschöpft in meinen Sitz zurückzusinken.

Plötzlich nahm ich einen kleinen Stich im Rücken wahr. Danach verschwamm um mich herum alles, und ich glitt immer tiefer in die Schwärze.

KAPITEL ZWEI

Benommen kam ich wieder zu mir. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen, und was war in der Zwischenzeit passiert? Aus weiter Ferne hörte ich eine mir bekannte Stimme, die in freundlichsten Tönen säuselte:

»… mein Gaspedal muss einen Defekt gehabt haben.«

Darauf sagte eine andere, mir unbekannte Stimme etwas, das ich nicht verstand. Anschließend war das Säuseln wieder an der Reihe.

»Nein, das mit meinem Wagen bekomme ich selbst in den Griff. Ich werde deswegen die nächste Werkstatt aufsuchen. Vielleicht sollten Sie sich besser um die beiden jungen Männer im Fond kümmern. Scheinen nicht gerade starke Nerven zu haben. War ihnen allem Anschein nach alles zu aufregend. Na ja, einfach nur schwächlich diese Jugend heutzutage, nicht wahr?«

Ich wollte mich gegen die aufkommende Müdigkeit wehren, doch ich verlor den Kampf und sank erneut in eine schwarze Welt ohne Erinnerung.

Es war deutlich einfacher, dem starken Drang des Abtauchens nachzugeben. Viel schwieriger war es, nach dem nächsten Aufwachen nicht wieder in das herrlich leichte, unschuldige und schwerelose Vergessen zu sinken. Wo war ich, und wie ging es Levi?

In einem Krankenzimmer konnten wir kaum sein, denn um mich herum war alles dunkel.

Allmählich schaffte ich es unter Aufbietung aller Kräfte, meinen Kopf leicht zu drehen. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als ich in einer mir bekannten Umgebung Levi neben mir liegen sah. Wir waren in der Akademie und lagen in einem der Unterrichtsräume. Mehrere Ledersessel waren zusammengeschoben worden und bildeten eine Fläche, auf der wir lagen. Den Mützenträgern und mir war die Örtlichkeit besser bekannt als Hypnoseraum.

»Levi …?«

Vorsichtig versuchte ich ihn zu wecken, als mich jemand aus der anderen Richtung ansprach: »Es geht ihm schon viel besser, aber es könnte noch etwas dauern, bis er wieder zu Bewusstsein kommt.«

Mit einer weiteren enormen Willensanstrengung schaffte ich es, meinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der gesprochen worden war.

Ich sah in das schönste Gesicht auf Erden. Nur Engel konnten vielleicht noch schöner sein. Aber auch nur vielleicht.

Lou lächelte mich müde an und meinte, wir hätten großes Glück gehabt. Miss Michels Kleinwagen hätte aufgrund eines Defekts am Gaspedal nicht mehr zum Stehen gebracht werden können. Einzig und allein durch ihren Einsatz und Nervenstärke sei es ihr gelungen, mit aller Kraft die Handbremse zu ziehen, um den Wagen zu stoppen. Man wolle sich gar nicht vorstellen, was sonst noch alles hätte passieren können. Durch ihr entschlossenes Handeln hätte sie Levi und mich gerettet.

Lou war über den vorbildlichen Einsatz von Miss Michel so erfreut, dass sie ihr Glück gar nicht in Worte fassen konnte.

»Ruh dich noch ein wenig aus. Der Schwächeanfall, den ihr erlitten habt, war bestimmt sehr anstrengend und kräftezehrend.«

Ich fühlte mich unglaublich müde und zutiefst gekränkt. Wie konnte Lou nur annehmen, dass wir beiden Jungs tatsächlich einem Schwächeanfall zum Opfer gefallen waren?

»Nein, ich halte dich nicht für einen Schwächling«, sagte Lou, »und meinen Bruder auch nicht, aber … Danny, was geht hier vor sich?!«

Sie hatte recht, und es war in der Tat unglaublich: Lou konnte einfach so in meinen Kopf eindringen, wie es Cináed sonst immer bei mir tat. Zu meiner Verblüffung war es mir aber auch möglich, mit meinen Gedanken in die ihren einzudringen.

Plötzlich sah ich Dinge in ihrem Kopf, die eher nicht für mich bestimmt waren. Ich sah Lou ein Bad nehmen und wie sie dabei an mich dachte. Dann schaute sie in einen Spiegel, wobei ihr folgende Worte nicht aus dem Kopf gehen wollten: »Ich bin nicht hübsch genug für einen Jungen wie Danny …«

Abrupt war da nichts mehr, nur noch ein schwarzes Loch, das immer größer zu werden drohte.

Als ich mich aus Lous Kopf zurückzog, sah ich in ein Gesicht mit glühenden Wagen. Sie warf mir noch einen merkwürdig vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie sich wortlos umdrehte und den Raum verließ.

Was, bitte schön, sollte das nun wieder? Wir hatten zusammen gerade eine unglaubliche Entdeckung gemacht, wonach wir gegenseitig in unsere Gedanken eindringen konnten, ohne uns dabei zu berühren. Und Lou hatte nichts Besseres zu tun, als aus einem mir unerklärlichen Grund beleidigt zu sein und sich zu verdrücken.

Freute sie sich denn gar nicht, mich lebend zu sehen?

Mit ihren Stimmungsschwankungen konnte ich irgendwie nicht gut umgehen.

Genervt drehte ich mich langsam auf die andere Seite. Dabei spürte ich plötzlich einen Stich im Rücken. An derselben Stelle hatte es auch im Auto von Miss Michel wehgetan. Neugierig tastete ich mit der linken Hand danach und war ziemlich überrascht, als meine Finger eine Schwellung spürten.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Bei dem kleinen Fahrzeug von Miss Michel hatte es sich nicht um ein harmloses Fortbewegungsmittel gehandelt, sondern um eine präparierte Falle. Levi hatte es eher erwischt. Ich war nur deshalb ein wenig länger verschont geblieben, weil ich vornübergebeugt mit aller Kraft die Handbremse festhielt und mit dem Rücken der Lehne fernblieb. Beim Zurücklehnen hatte ich dann einen Stich im Rücken wahrgenommen.

All das war doch blanker Wahnsinn!

Wem an der Akademie konnte ich noch trauen? Cassis war nicht mehr am Leben, und Lou war einfach zu sprunghaft, als dass ich ihr von meinem Verdacht hätte erzählen können. Ich musste mit jemandem sprechen, der einen kühlen Kopf behielt und mir in dieser Lage helfen konnte.

Ich dachte an Lucy, die Kämpferin.

Ja, ich musste so schnell wie möglich mit ihr reden. Doch wie sollte ich das bewerkstelligen? Trotz aller Anstrengung fehlte mir die nötige Kraft, um aufzustehen und auch nur einen einzigen Schritt zu machen. O nein, ich würde es nicht schaffen. Es war sinnlos. In meiner Verfassung würde ich keine zwei Meter weit kommen.

Dann schoss mir ein winzig-kleiner Hoffnungsschimmer durch den Kopf. Cináed! Er hatte mich schon einmal mit Energie versorgt. Im Silo, dem kleinsten Haus von Großbritannien, hatte Cináed damals eine ganze Nacht dafür gesorgt, dass ich genügend Sauerstoff in die Lungen bekam. Vielleicht würde es ihm dieses Mal wieder gelingen?

Schnell glitt meine linke Hand unter den Ärmel des T-Shirts, um den Stift aus dem iPhone-Halter herauszuholen. Es funktionierte damals nur, wenn ich Cináed berührte. Dazu setzte ich mich auf den Rand des Ledersessels.

Ein unerwartet warmes Gefühl glitt von Cináed zu mir und durchströmte meinen Körper. Was auch immer ich mir erwartet hatte, es übertraf alles. Nie zuvor hatte ich einen solch unglaublichen Wandel bei mir feststellen können. Cináed schien das unbekannte Gift aus meinem Körper förmlich herauszusaugen, um die entstandenen Hohlräume anschließend mit Energie zu füllen. Es war faszinierend zu erleben, wie ich mit jeder Sekunde stark und stärker wurde.

Kurz stieg in mir die Versuchung auf, diesen besonderen Moment noch etwas länger auskosten. Dann besann ich mich und wollte die Hilfsbereitschaft von Cináed nicht überstrapazieren. Schließlich hatte er mir schon uneigennützig geholfen, und es ging mir sichtlich besser als zuvor. Ohne weitere Zeit zu verlieren, steckte ich ihn zurück in die iPhone-Tasche. Dann stieg ich in den Paternoster Richtung Kantine. Zuvor schaute ich noch einmal zurück zu Levi. Er war noch vollgepumpt mit dem Gift, und ich beneidete ihn in keinster Weise um seinen kläglichen Zustand. Das Gift fühlte sich schrecklich an. Wahrscheinlich würde er in den nächsten vierundzwanzig Stunden überhaupt nicht zu sich kommen.

Die Kantine war gefüllt, als ich sie betrat. Kilian bemerkte mich als Erster. Bei meinem Anblick sprang er so abrupt auf, dass der Stuhl umkippte, auf dem er zuvor gesessen hatte. Ganz konsterniert schaute er mich an. Und dann reagierte er in einer Weise, mit der ich nicht gerechnet hatte: Als er stand, fing er an, in meine Richtung laut zu applaudieren.

Was, bitte schön, sollte das denn?

Die Blicke aller waren auf Kilian gerichtet. Als sich von den Anwesenden immer mehr erhoben, um es ihm gleichzutun, wurde mir endgültig mulmig zumute. Alle waren auf den Beinen und schienen einen Popstar oder sonst eine prominente Person zu bejubeln. Hätte ein anderer diese Aktion veranlasst, hätte ich mich bestimmt darüber gefreut, und wäre stolz gewesen, in dieser Weise empfangen zu werden. Aber bei Kilian war das anders. Unentwegt fragte ich mich, was zum Kuckuck er damit bezweckte?

Einer inneren Stimme folgend, hielt ich es für das Beste, meiner herausgehobenen Position gerecht zu werden. Mit einem Siegerlächeln, erhobenen Armen und zu Fäusten geballten Händen ging ich auf die jubelnde Menge zu, ohne mir meine Unsicherheit und die Zweifel anmerken zu lassen.

So schritt ich einem Triumphator gleich durch die Masse von Schülern, wobei ich nur ein einziges Ziel vor Augen hatte: Ich wollte Lucy am Tisch der Kämpfer treffen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich ihr anzuvertrauen. Außerdem wollte ich noch ein weiteres Thema ihr gegenüber ansprechen.

Endlich bekamen wir nach dem Essen die Möglichkeit, in meinem Zimmer zu reden.

Mir war es inzwischen völlig egal, dass wir von Sir Edmund abgehört werden konnten. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden, fragte ich Lucy geradeheraus: »Kannst du mir mal sagen, was das eben mit Kilian sollte und warum alle in den allgemeinen Jubel mit eingestimmt haben?«

»Wenn du nichts dagegen hast, sollten wir darüber vielleicht ein andermal reden. Auf jeden Fall bin ich sehr froh, dass du wieder hier in Conwy bist und ich dich wiedersehe. Sei mir nicht böse, aber ich habe es jetzt eilig, da ich dringend zu einem Treffen der Kämpfer muss. Also, auf bald mal wieder.«

Lucy ging in Richtung Lift, stieg aber nicht ein. Stattdessen drehte sie sich zu mir um und versuchte mit Gesten, mir etwas klarzumachen. Dazu benutzte sie die linke Hand als Papier, über das sie mit der Rechten hinwegzufliegen schien. Ich begriff sofort, dass sie etwas zum Schreiben haben wollte.

Gut und schön, aber wo fand ich in meinem neuen Zimmer die gewünschten Schreibutensilien? Sir Edmund war konsequent, das musste man ihm lassen. Jedes Zimmer an der Akademie glich bis ins kleinste Detail dem Zimmer eines Schülers im Elternhaus. In den Wochen meiner Abwesenheit musste Sir Edmund mitbekommen haben, dass ich nach dem Unglück das Dachzimmer in Swansea bezogen hatte. Sir Edmund verfügte als Wissenschaftler ohne Zweifel über viel Können. Doch wie schaffte er es, alle Zimmer gleich nachzubauen? Mit dem Grübeln über das Wie und Warum hatte ich aber meist aufgehört, nachdem Cináed mit mir verschmolzen war.

Das ließ sich am wenigsten erklären.

Der Schreibtisch war mit den Schränken fest verbunden. Leider konnte ich auch keinen Container entdecken, in dem Papier und Stifte zu finden gewesen wären. Beides hatte ich im Dachzimmer in der Queensroad bislang nicht benötigt.

Einen Schrank nach dem anderen suchte ich ab. Ich öffnete alle Türen in der Nähe des Schreibtischs. Doch alle, in die ich hineinschaute, waren leer. Bis ich in einem der oberen Fächer etwas fand, das mich in meiner Suche für kurze Zeit unterbrach. Doch über diese Entdeckung wollte ich erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Lucy reden.

Im Fach daneben fand ich endlich das Gesuchte. Ich nahm es heraus, schloss die Tür wieder und gab Lucy ein Blatt Papier. Schnell überprüfte ich den Stift in meiner Hand. Es handelte sich um einen ganz normalen Kugelschreiber, sodass ich ihn Lucy ohne Bedenken geben konnte.