Claras Erbe - Gabriele Droste - E-Book
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Claras Erbe E-Book

Gabriele Droste

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Beschreibung

Auf den Spuren der Vergangenheit: Der berührende Roman »Claras Erbe« von Gabriele Droste jetzt als eBook bei dotbooks. Was verbirgt sich hinter dem trügerischen Glanz der Wiener Bohème? Die schicksalhafte Nacht im Jahr 1938, als Clara hochschwanger vom Balkon stürzte, lastet auch zwei Generationen später noch immer auf der Familie ihrer Enkelin, der jungen Sophie. Um herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist, fährt Sophie nach Wien. Dort trifft sie auf den geheimnisvollen Friedhofssänger Gustav Clementi, der immer wieder an Claras Grab steht und ein todtrauriges Lied über die Liebe singt. Doch obwohl er es sich zu wünschen scheint, kann er nicht über die Vergangenheit sprechen, weil seine Erinnerungen zu schmerzhaft sind. Wie soll es Sophie gelingen, sein Vertrauen zu gewinnen und gemeinsam mit ihm die Schrecken jener Zeit zu überwinden? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Familiengeheimnisroman »Claras Erbe« von Gabriele Droste wird Fans der Bestsellerautorinnen Kate Morton und Bettina Storcks begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 554

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Über dieses Buch:

Was verbirgt sich hinter dem trügerischen Glanz der Wiener Bohème? Die schicksalhafte Nacht im Jahr 1938, als Clara hochschwanger vom Balkon stürzte, lastet auch zwei Generationen später noch immer auf der Familie ihrer Enkelin, der jungen Sophie. Um herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist, fährt Sophie nach Wien. Dort trifft sie auf den geheimnisvollen Friedhofssänger Gustav Clementi, der immer wieder an Claras Grab steht und ein todtrauriges Lied über die Liebe singt. Doch obwohl er es sich zu wünschen scheint, kann er nicht über die Vergangenheit sprechen, weil seine Erinnerungen zu schmerzhaft sind. Wie soll es Sophie gelingen, sein Vertrauen zu gewinnen und gemeinsam mit ihm die Schrecken jener Zeit zu überwinden?

Über die Autorin:

Gabriele Droste, gebürtige Hamburgerin, studierte Kunst und Germanistik in München sowie französische Literaturgeschichte in Paris an der Sorbonne. Dort arbeitete sie anschließend in der

Kulturabteilung der Deutschen Botschaft und wurde dann Journalistin. Privat und beruflich führten – und führen – ihre Wege immer wieder nach Frankreich und Wien. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Gabriele Droste veröffentlichte bei dotbooks bereits »Sophies Geheimnis, »Maries Schicksal« und »Die Frauen von Wredenhagen«.

***

eBook-Neuausgabe September 2023

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel »In einer Nacht« bei Random House.

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Diana Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-814-0

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Gabriele Droste

Claras Erbe

Roman

dotbooks.

Für Heilwig und meine Wiener Freunde

Prolog

Herbst 1938

Mechanisch streicht sie immer wieder aufs Neue über das schmutzigweiße Stück Papier, so als könne sie die Mitteilung fortwischen wie einen hässlichen Fleck. Dann faltet sie es zusammen. Sie hat es gewusst. Die ganze Zeit schon.

Alles ist ihre Schuld. Ihr würde nicht vergeben werden. Weder im Himmel noch auf Erden. Für sie bliebe nichts als die Hölle.

Dort würde sie die Mörder wiedersehen, die Schreiber von Mitteilungen. Sie selbst nicht besser als einer von ihnen. Denn jene glauben noch, im Namen des Rechts zu handeln. Würden sie angesichts der Höllenflammen ihre Verbrechen begreifen, so wie sie selbst es schon heute tut? Sie, die verraten, was sie am Altar vor Gott geschworen hatte zu ehren. Betrogen, wo man ihr vertraute.

Weil sie nicht anders hatte können?

Sie hätte wohl, wäre das Herz nicht übergequollen, hätte die Leidenschaft nicht triumphiert und Verstand und Anstand in kläglichem Schweigen versinken lassen.

Doch wozu hatte Gott dem Menschen Gefühle gegeben? Nur um zu prüfen, ob er sich ihnen würde versagen können? Leben hatte sie doch nur wollen. Fühlen, jauchzen, lieben! Dem Himmel nah sein, und der Erde nicht verbunden bleiben.

Die Lüge wird zur leichtfüßigen Begleiterin, zur Schmeichlerin, die allen falschen Worten und Taten den Sinn von Unvermeidbarkeit verleiht. Und wer mit ihr gelebt hat, wird sie niemals mehr los. Aus dem leeren Kelch, der keinen Tropfen mehr bereithält, grinst sie im Augenblick schmerzhafter Einsicht hämisch empor. Es ist zu spät. Was bleibt, ist allein die Lüge. Und die Schuld.

Kapitel 1

München, Mai 1995

Es war ein warmer, sonniger Tag im Mai. Einer, so hätte die Großtante bemerkt, an dem man den Sommer schon auf der Haut spüre. Sophie parkte vor Großtante Margarethes Haus an der Nördlichen Auffahrtsallee. Sie sah den Wagen ihrer Mutter nicht. Also schien sie noch nicht da zu sein. Zeit für einen kleinen Spaziergang. Sophie schlenderte am Nymphenburger Kanal entlang. Wie oft war sie hier als Kind mit ihrer Mutter und der Großtante spazieren gegangen! Hatte die Schwäne gefüttert, sich am Anblick des Schlosses ergötzt und sich vorgestellt, eine Prinzessin zu sein, die darin wohnen würde. Der Kanal und das Schloss mit seinem angrenzenden Park waren ihr als der schönste Platz der Welt erschienen. In den letzten Jahren war sie allerdings eher selten hier gewesen. Eigentlich immer nur dann, wenn sie Großtante Margarethe besucht hatte. Sie hätte das häufiger tun müssen, sagte sich Sophie voller Selbstvorwürfe. Nun war es zu spät. Sie kehrte um und sah hinauf zu dem vertrauten Haus mit seinen zwei Terrassen in der ersten Etage. Hier hatte die Großtante über ein halbes Jahrhundert gewohnt, hier war Sophies Mutter aufgewachsen. Vor wenigen Tagen hatten sie die alte Dame beerdigt. Fünfundachtzig Jahre alt war sie geworden. Krebs – aber ihr Tod war leicht und schnell gewesen. Die Großtante hatte sich nicht quälen müssen und in der ihr eigenen ironischen Art das nahende Ende sogar noch mit den Worten kommentiert: »Das passt doch gut. Ich sterbe genau fünfzig Jahre nach Kriegsende. Ein würdiges Jahr fürs Ableben.«

Sophie entdeckte ihre Mutter, die auf die Terrasse vor dem Wohnraum trat und ganz offensichtlich nach ihr Ausschau hielt. Es galt, den Haushalt der Großtante aufzulösen, und ihre Mutter wäre dazu allein nicht in der Lage gewesen. Nicht nur, weil es viel Arbeit bedeutete. Gewissermaßen war dies doch auch ein Abschied von ihrer Kindheit, denn sie war nach dem Unfalltod der eigenen Mutter, Großmutter Clara, von Onkel Ferdinand und Tante Margarethe adoptiert und aufgezogen worden. Ihren Ersatzeltern. Die eigenen hatte sie schließlich niemals kennen gelernt.

Sophie winkte und rief: »Mama!«

Die Mutter winkte zurück und verschwand eilig im Inneren der Wohnung.

Sophie blickte sich um und konnte den Wagen ihrer Mutter noch immer nicht entdecken. Vielleicht war sie zu Fuß gegangen. Schließlich wohnte sie nicht weit entfernt.

»Gott sei Dank bist du endlich da!« Die Mutter umarmte sie zärtlich, was nicht ihrer üblichen Zurückhaltung entsprach. Sie hatte geweint, Sophie sah das sofort, bemerkte aber nichts. Ihrer Mutter wäre das peinlich gewesen.

»Wir werden eine Weile brauchen, bis wir hier alles gesichtet haben«, sagte die Mutter in bemüht sachlichem Ton. »Es hat sich in all den Jahren so viel angesammelt.« Sie zuckte etwas hilflos mit den Achseln. »Außer uns beiden gibt es ja schließlich keine Nachkommen oder Verwandte mehr.«

Sophie nickte nur, betrat das Wohnzimmer und sah sich um. Nichts hatte sich in all den Jahren verändert, außer dass die wenigen wuchtigen Möbel des verstorbenen Großonkels verschwunden waren. Margarethe hatte sie niemals leiden können. Sie liebte Biedermeiermobiliar. Sophie strich sacht über die Lehne des eleganten Ohrensessels. Dies war der Lieblingsplatz der Großtante gewesen. Sophie wusste, dass er Margarethes verstorbener Schwester Clara gehört hatte. Ebenso wie das Nähtischchen neben dem Sessel, auf dem ein altmodisches schwarzes Telefon stand, von dem sich Margarethe niemals zugunsten eines modernen hatte trennen wollen.

Die Mutter ließ sich in den Sessel fallen, zog die Beine hoch und umschlang ihre Knie. Zusammengekauert schaukelte sie sacht hin und her. Sophie legte ihren Arm um sie.

»Zum ersten Mal fühle ich mich genauso wie mein ungeliebter Name: Perdita, die Verlorene«, murmelte ihre Mutter unglücklich.

Sophie hockte sich neben sie und streichelte ihr verlegen über die Wange. Seit sie denken konnte, hatte sich die Mutter über ihren Vornamen beschwert: Perdita! Wie Titel und Figur eines Romans, der Großtante Margarethe in jungen Jahren beeindruckt hatte. Und das Baby ihrer Schwester Clara, das wie durch ein Wunder im Bauch der tödlich Verunglückten überlebt hatte, war schließlich ein verlorenes Kind, hatte Margarethe gefunden. Eine Waise, deren Mutter vom Balkon gestürzt und deren Vater im Konzentrationslager umgekommen war. Obwohl sie von ihrer Tante mit aller Liebe aufgezogen wurde, war sie ein Mensch, der stets zu Melancholie und manchmal Depressionen geneigt hatte. War es das Trauma des Unglücks, das das ungeborene Kind von Anbeginn seines Lebens belastet hatte? Psychologen würden das für wahrscheinlich halten. Der Leib vergisst nichts – das hatte Sophie irgendwo gelesen.

Im Gegensatz zu ihr, die schon als Kind großes Interesse am Schicksal ihrer im Jahr 1938 tragisch umgekommenen Großeltern gezeigt hatte, hatte Perdita nichts über ihre Eltern wissen wollen. Es war blanke Verdrängung, fand Sophie, aber die Großtante war daran nicht unschuldig. Sie habe ihrer angenommenen Tochter Leid ersparen wollen, hatte sie Sophie einmal erklärt.

Und ihr dann diesen Namen gegeben? Es war unlogisch. Das hatte auch der Großonkel gefunden, sich aber doch aus der Sache herausgehalten. Perdita hatte das Namensproblem später kurzerhand selbst gelöst, indem sie sich Tita nannte. Nun also, in Gedanken an ihre Ersatzmutter, hatte ihr ungeliebter Name sie wieder eingeholt.

Sophie war es nie recht gelungen, Margarethe nähere Informationen über die Großeltern zu entlocken. Es blieb bei der kargen Mitteilung, dass ihre Schwester Clara mit gerade einmal zwanzig Jahren den doppelt so alten jüdischen Wiener Arzt Max Freund geheiratet und fortan mit ihm in Wien gelebt habe. Die Religion habe kein Problem dargestellt, denn der Doktor sei kein Glaubensjude, sondern ebenso wie Clara katholisch gewesen. Aus einer konvertierten Familie, deren es viele gegeben habe. Den Nazis sei das allerdings egal gewesen. Jüdisches Blut blieb für sie jüdisch. Übrigens habe ihr Vater den Max Freund im Ersten Weltkrieg kennen gelernt, und er sei dann gelegentlich zu Besuch nach München gekommen. Nach dem frühen Tod des Vaters habe Clara wohl einen Ersatz für ihn gebraucht.

»Sie hat ihn vergöttert und war auch sein erklärter Liebling.«

Sophie hatte diesen Satz nicht vergessen. Er hatte so bitter geklungen. Ihre Großtante musste sich sehr zurückgesetzt gefühlt haben.

Ihr, Margarethe, wäre der Doktor zu alt gewesen, betonte sie nachdrücklich. Ein stets ernster, aber gütiger Mensch, der alles andere verdient habe, als einen derart schrecklichen Tod zu erleiden. Clara habe das nicht verkraftet. Sie sei so zart und eher naiv gewesen. Nicht wirklich lebenstüchtig. Und der Schock über die Verhaftung und den Tod ihres Mannes habe ihr wohl das Herz gebrochen. Dabei waren sie doch schon auf dem Weg in die Emigration gewesen!

Wie sie denn aber hochschwanger vom Balkon hätte stürzen können, hatte Sophie immer wissen wollen. Ob es vielleicht Absicht gewesen sei? Die Großtante bestritt das energisch.

»Es war ein Unfall!«, betonte sie wieder und wieder. Das Geländer des Balkons sei leider sehr niedrig gewesen. Vielleicht war Clara übel geworden. Vielleicht hatte sie eine Ohnmacht erlitten. Wer hätte das später denn noch nachprüfen sollen? Zum Glück habe sie ja das arme Waisenkind zu sich nehmen und ihr die Mutter ersetzen können.

Auf Sophies Drängen hin hatte ihr Margarethe jedenfalls eine Fotografie der Großeltern gezeigt. Sie saßen in einer schwarzen, offenen Limousine. Clara lachte und winkte dem Fotografen zu, Max hatte liebevoll den Arm um ihre Schultern gelegt und lächelte sie an. Er besaß tatsächlich ein ernstes und gütiges Gesicht, hatte Sophie befunden, und Clara sah aus wie ein Engel. Mit hellblondem, lockigem Haar, das ihr auf die Schultern herabfiel. Mit großen, strahlenden Augen und einer feinen, geraden Nase.

»Ich sehe ihr ja ähnlich«, hatte Sophie verblüfft festgestellt. »Nur nicht ganz so hübsch.«

»Ach was, du bist genauso schön wie sie. Ich habe Clara um ihr Aussehen immer beneidet«, hatte die Großtante dann zugegeben. »Ich kam mir im Vergleich zu ihr grobschlächtig vor. Vielleicht fand das mein Vater auch und hat sie deswegen so verhätschelt. Ich war ja nur zwei Jahre älter, musste aber immer die Vernünftige sein.«

Arme Großtante! Die Eifersucht musste an ihr genagt haben. Dabei war die stattliche und resolute Frau ganz und gar nicht unattraktiv gewesen. Und lebenstüchtig. Sie hatte sich nach dem Tod des Vaters um die kränkelnde Mutter gekümmert, eine Ausbildung als Lehrerin absolviert, sich gut verheiratet und die verwaiste Perdita großgezogen. Ihr Kinderersatz, denn eigene waren ihr nicht vergönnt gewesen.

Margarethe hatte sich, nachdem das Foto wieder in den Tiefen ihres Sekretärs verschwunden war, in Betrachtungen über Erbanlagen ausgelassen und erklärt, dass sie sich stets gewundert habe, warum Perdita weder ihrer Mutter noch ihrem Vater glich. Dafür aber Sophie ein Abbild von Clara sei. Nun ja, manchmal würde bei der rätselhaften Mendelei ja wohl eine Generation übersprungen.

»Vielleicht solltest du hier einziehen«, platzte Perdita, ganz Tita, plötzlich in Sophies Gedanken. »Was meinst du? Es ist eine schöne, große Wohnung, und wenn du mit deiner neuen Liebe zusammenziehen willst, ist doch deine in Schwabing viel zu klein.«

Sophie war überrascht. Natürlich war die Wohnung schön. Allerdings würde die Hausbesitzerin, Frau Klamm, die Miete nach dem Tod der Großtante sicher kräftig erhöhen.

»Und was ist mit dir«, fragte Sophie anstelle einer Antwort. »Willst du nicht ...?«

Tita machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich bin in dem Punkt nicht wie Margarethe. Allein möchte ich niemals in so einer großen Wohnung leben. Außerdem – zu viele Erinnerungen ...«

»Ich denke darüber nach, Mama«, erwiderte Sophie hastig. »Aber ich hatte eigentlich nicht vor, so bald mit Philipp Tisch und Bett zu teilen. Und ob er das möchte?«

»Du bist dreißig Jahre alt, Kind. Willst du weiterhin einsam und alleine in deiner Bude sitzen und Bücher schreiben? Irgendwann fängst du an, dich mit deinen erfundenen Figuren zu unterhalten.« Tita stöhnte. »Als du noch für das Kulturjournal gearbeitet hast, bist du in der Welt herumgekommen und hast viele Leute kennen gelernt. Und nun hockst du freiwillig den ganzen Tag allein herum und schreibst Bücher über Frauen, deren Beziehungen in die Brüche gehen. Auch wenn die Romane locker und amüsant geschrieben sind – das Thema muss sich ja aufs Gemüt auswirken.«

»Ich verarbeite doch nur bereits Erlebtes. Und mit Beziehungen bin ich bislang leider nicht so gut gefahren. Aber mit Philipp ... Vielleicht wird daraus wirklich etwas Dauerhaftes. Ich hoffe es. Und ich weiß auch, dass du dir Enkelkinder wünschst. Dabei hast du es als Lehrerin doch täglich mit Blagen zu tun.«

Tita seufzte. »Auch Lehrerinnen dürfen ja wohl Großmütter werden wollen, oder? Ich bin jetzt siebenundfünfzig und möchte nicht von meinen Enkeln nur im Lehnstuhl angetroffen werden.«

Passend zu diesen Worten erhob sie sich mit einem Ruck aus dem Sessel.

»Ich bin nach wie vor ein Verfechter der Ehe, auch wenn ich mit deinem Vater Pech gehabt habe. Der Hallodri.«

Sophie lächelte gequält. Dass ihr Vater die Mutter und sie selbst hatte sitzen lassen, war eine unschöne Erinnerung. Er war Titas große Liebe gewesen, und leider war es keinem anderen Mann gelungen, ihn zu ersetzen. Sophie war sechs Jahre alt gewesen, als er sich aus dem Staub gemacht hatte. Sicherlich lag ihre Angst vor festen Bindungen, erst recht vor einer Ehe, in dieser Erfahrung begründet. Was natürlich nicht hieß, dass sie sich nicht danach sehnte. Sie war seit einem Jahr mit Philipp zusammen und noch immer sehr in ihn verliebt. Und weil er Journalist war, teilten sie viele Interessen.

»Ihr passt gut zueinander«, bemerkte ihre Mutter, als habe sie Sophies Gedanken erraten. »Ich will dir aber nicht auf die Nerven gehen. Lass uns die Sachen sichten. Irgendwann müssen wir ja damit anfangen.«

Wieder ganz die beherrschte Tita, dachte Sophie. Sie hatte nicht nur denselben Beruf wie ihre Tante ergriffen, sie ähnelte ihr auch. Erziehung bewirkte wohl mehr als Gene.

Schnell stellte sich heraus, dass Großtante Margarethe ihre Dinge penibel geordnet hatte. Sie war immer eine Sammlerin gewesen, die sich ungern von irgendetwas trennen mochte. Am Ende ihres Lebens aber musste sie voller Mitgefühl an diejenigen gedacht haben, denen es überlassen bleiben würde, sich mit den gehorteten Dingen auseinander zu setzen. Die Nippessammlung wirkte bei genauerer Betrachtung merklich gelichtet und die Glasvitrinen wirkten leerer. Sie musste sich von etlichen Dingen getrennt, sie vielleicht alten Freundinnen oder ihrer Zugehfrau geschenkt haben. Die Schubladen des Sekretärs waren ebenfalls rasch ausgeräumt, und beide Frauen sichteten die gebündelten Papiere auf dem Fußboden.

»Meine Kinderzeichnungen hat sie aufgehoben«, sagte Tita plötzlich gerührt. »Und halt! Hier ist ein Umschlag, auf dem dein Name steht. Wie seltsam.«

Sophie griff nach dem großen Kuvert und ahnte plötzlich, was er enthalten könnte. Etwas, das vielleicht von ihren Großeltern stammte und offensichtlich allein für sie bestimmt war. Vielleicht endlich doch eine Antwort auf viele ihrer unbeantworteten Fragen?

Sie setzte sich an den Tisch im Esszimmer und öffnete den Umschlag. Es enthielt einen Zeitungssauschnitt, einige Fotografien, gebündelte Briefe und eine Mitteilung an sie selbst.

Liebe Sophie,

du hast mir immer viele Fragen über deine Großeltern Clara und Max gestellt. Das Wenige (außer Möbeln, die du ja kennst), was ich von ihnen habe, überlasse ich dir, denn ich glaube nicht, dass Perdita daran Interesse hat. Viel nützen wird es dir kaum. Dennoch – du magst etwas finden, woraus du Schlüsse ziehen kannst.

In Liebe,

deine alte Großtante Margarethe

Schlüsse? Sophie las den Zeitungsausschnitt. Die Meldung aus einem Boulevardblatt stammte aus dem Oktober 1938 und berichtete vom tragischen Unfall Claras und der wundersamen Rettung des ungeborenen Kindes. Und dass die Mutter dem Kind möglicherweise durch einen Selbstmord Schande hatte ersparen wollen. Nun, der Judenbankert habe dennoch überlebt.

Wie gehässig, dachte Sophie. Und wieso war von Selbstmord die Rede, wenn doch die Großtante nur von einem Unfall gesprochen hatte? Die Zeitung war wohl ganz einfach ein rassistisches Schmierblatt gewesen, und ein tragischer Unfall mit überlebendem Judenkind hatte sicher in die Berichterstattung gepasst. Über verzweifelte, verfolgte Menschen, zumeist Juden, die sich seit dem Anschluss Österreichs im Frühjahr 1938 an Nazi-Deutschland in Wien aus dem Fenster gestürzt hatten, hatte Sophie gelesen. Aber Großmutter Clara war keine Jüdin gewesen. Sie hatte zwar auf schreckliche Weise ihren Mann verloren, hätte doch aber jederzeit mit ihrem Kind zur Schwester nach München reisen können. Aber wenn es ein Unfall gewesen war ...? Das Haus in der Kirchengasse 39 im 7. Wiener Bezirk war abgebildet. Ein Pfeil zeigte auf den Balkon im zweiten Stockwerk des Gründerzeitbaus. Die Großtante hatte Recht gehabt: Sein schmiedeeisernes Geländer war sehr niedrig. Es war immerhin vorstellbar, dass hier jemand stürzen konnte, wenn er das Gleichgewicht verlor. Zumal eine hochschwangere, vielleicht unbeholfene Frau.

Entschieden schob Sophie den Zeitungsartikel in das Kuvert zurück – ihre Mutter sollte ihn auf keinen Fall zu Gesicht bekommen – und betrachtete nun die Fotos. Bilder von Clara und Margarethe als Kinder mit großen Schleifen im Haar. Sie waren auf das Jahr 1920 datiert. Margarethe war also zehn Jahre alt gewesen und Clara acht. Die Fotografie von Clara auf einer Schaukel trug das Datum 1930, eine weitere zeigte sie als elegante junge Frau im Jahr 1932 auf dem Markusplatz in Venedig. Das musste die Hochzeitsreise gewesen sein. Clara hatte ja mit zwanzig Jahren geheiratet. Sie musste wirklich ein großes Bedürfnis nach Schutz gehabt haben, und keine Neigung, einen Beruf zu erlernen. Sie habe sehr schön Klavier spielen können, hatte die Großtante einmal erzählt. Clara war anscheinend ganz das behütete Mädchen aus gutem Münchner Haus gewesen, das sich wohl nur in der Rolle der Ehefrau und Mutter gesehen hatte. Seltsam, dass sie erst nach acht Jahren Ehe schwanger geworden war. Womit mochte sie den ganzen Tag ihre Zeit verbracht haben? Mit Klavierspielen? Sie musste sich doch ein Kind gewünscht haben. Eine Aufgabe. Schließlich hatte sie sich damals nicht einmal sonderlich um ihren Haushalt kümmern müssen. Dafür hatte man schließlich Personal. Vermutlich eine Köchin und ein Dienstmädchen, überlegte Sophie und verzog das Gesicht bei dem Gedanken an ihre ungeliebten Putzaktionen in der eigenen Wohnung. Sie müsste bald einen Bestseller schreiben, dann wäre eine Zugehfrau die erste angenehme Folge.

Sophie nahm sich erneut die Fotos vor. Eines zeigte Clara Arm in Arm mit einer anderen jungen Frau. Beide trugen breitkrempige Sommerhüte und lachten in die Kamera. Auf der Rückseite hatte Clara notiert: Mit meiner Freundin Nicoletta, 1937.

Sophie konnte das Gesicht von Nicoletta nicht sehr gut erkennen. Sie schien aber dunkles Haar zu haben, und ihr Mund war auffällig geschminkt. Vielleicht eine Schauspielerin? Jedenfalls wirkte sie sehr weltgewandt in ihrer lässigen Pose. Kokett. Auf einer anderen Abbildung aus demselben Jahr war eine Picknickgesellschaft zu sehen. Die jungen Leute saßen auf einer Decke, im Hintergrund lehnte sich ein etwas älterer Herr an eine prächtige Limousine. Neben Clara erkannte Sophie Nicoletta. Die anderen jungen Männer hießen Gustav, Robert, Leopold und Baron, wie der Rückseite des Bildes zu entnehmen war. Konnte der Baron der ältere Herr sein, der ohne Namen? Und wieso war Claras Mann Max nicht dabei gewesen? Wahrscheinlich hatte er für Ausflüge solcher Art keine Zeit. Oder keine Lust gehabt.

Hatte die Großtante diese Bilder gefunden, oder Clara sie ihr in den Briefen geschickt? Eng schien der Kontakt zwischen den Schwestern jedoch nicht gewesen zu sein, denn Sophie zählte nur fünf Briefe. Fünf – in all den Jahren? Oder vielleicht hatte Margarethe nur einen Teil der Korrespondenz aufgehoben?

»Was ist denn in dem Umschlag?« Tita beugte sich über die Schultern der Tochter.

Sophie zuckte zusammen. »Fotos von deinen Eltern und ein paar Briefe. Möchtest du sie sehen?« Den Zeitungsausschnitt erwähnte sie nicht.

Tita nahm die Fotos und betrachtete sie schweigend. Mit einer heftigen Geste reichte sie die Bilder dann Sophie zurück.

»Clara war sehr schön«, sagte sie schließlich. »Du siehst ihr ähnlich. Aber du bist klüger als sie. Deswegen heißt du auch Kluge. Der Name ist das Beste, was uns dein Vater hinterlassen hat.«

Erstaunt starrte Sophie ihre Mutter an.

»Clara muss sehr dumm gewesen sein«, fuhr Tita heftig fort.

»Sie und auch ... auch mein Vater. Er hätte doch wissen müssen, was geschehen würde. Die meisten intelligenten Juden mit etwas Geld – und das hatte er ja wohl als Arzt – haben Wien so schnell sie nur konnten verlassen. Wer dies vermochte, sofort nach dem Anschluss im März. Und sie erwarteten schließlich ein Kind. Haben sie geglaubt, dass ihnen nichts passieren würde? Wie naiv! Und dann holen sie ihn ab, und sie verliert den Verstand. Und ich war allen beiden anscheinend gleichgültig! Ohne Margarethe zu nahe zu treten ...«

»Aber Mama! Wie kannst du die beiden so verurteilen?«, brauste Sophie auf. »Wer von uns kann sich denn ein Urteil über ihre damaligen Gründe erlauben? Sicher hat Clara gehofft, dass Max zurückkommt. Viele wurden interniert, aber es kehrten doch auch immer welche zurück. Das weiß ich. Und auch, dass man Sigmund Freud fast mit Gewalt dazu bringen musste, Wien zu verlassen. Und der war alles andere als dumm. Deine Eltern wollten doch emigrieren, als Max plötzlich verhaftet wurde. Alles war vorbereitet. Clara hatte vielleicht Angst, allein und schwanger zu fliehen.«

»Sie hatte anscheinend immer nur Angst! Und schließlich war es zu spät. Am Ende hat sie ein Nazi vom Balkon gestoßen!«

»Mama!« Sophie war über den Ausbruch ihrer Mutter zutiefst erschrocken. Sie, die anscheinend nichts mit der Vergangenheit zu tun haben wollte, hatte sich dennoch damit beschäftigt. Aber, so wurde Sophie schlagartig klar, sie hatte mit ihrem Geburtstrauma nicht anders umgehen können, als es zu verdrängen. Und einen Groll zu bewahren, der ihr Leben verdüstert hatte.

Das Unbewusste weiß stets alles – stammte der Satz nicht von Sigmund Freud? Na ja, und der Leib sowieso. Was mochte die ungeborene Perdita alles mitbekommen haben?

Sie hätte irgendwann einmal eine Therapie machen müssen, dachte Sophie und nahm ihre Mutter in die Arme. Jetzt war es dafür zu spät. Oder doch nicht? Wie, wenn sie selbst, Claras Enkelin, nach all den Jahren mehr über die Großmutter, Max Freund und ihre Geschichte in Erfahrung bringen könnte? Vielleicht war es ein Fingerzeig der toten Großtante gewesen, ihr den Umschlag mit dem – wenn auch nur kargen – Inhalt zu hinterlassen? Wenn es gelänge, in Wien etwas herauszufinden, das ihre Mutter Clara und Max versöhnlicher würde betrachten lassen können, wäre es vielleicht eine Hilfe? Ein Versuch zum Verständnis.

Gartenlauben-Psychologie, hörte sie ihren Philipp insgeheim lästern. Und dennoch, es war einen Versuch wert. Warum war sie nur in all den Jahren zuvor nicht auf die Idee gekommen, nach Wien zu fahren? Hatte sie sich die Verdrängung von Mutter und Großtante selbst zu Eigen gemacht? Dabei hätte sie sich gerade als Schriftstellerin mit dem Geheimnis, das sich um den Tod der Großmutter wob, längst schon intensiver beschäftigen sollen, Großtante Margarethe einfach mehr zusetzen müssen. Nun hatte ihr Tod den Anstoß gegeben. Es brauchte wohl immer einen ganz bestimmten Zeitpunkt, bevor etwas geschehen konnte, und dann musste es plötzlich sein, tröstete sich Sophie über das Versäumnis hinweg. Ihrer Mutter würde sie allerdings nichts erzählen. Zunächst nicht. Romanrecherchen könnten sie nach Wien führen. Ein Wunsch des Verlegers.

»Wir müssen weitermachen«, unterbrach die Mutter erneut Sophies Gedanken.

»Nein, Mama. Heute nicht. Es wühlt zu sehr auf. Ich werde mich morgen einmal mit Frau Klamm unterhalten. Du hast vielleicht wirklich Recht mit der Wohnung. Großtante Margarethe war hier schließlich lange Jahre Mieterin. Vielleicht gefällt ihr der Gedanke, dass die Wohnung in der Familie bleibt, und lässt den Preis aus diesem Grund nicht explodieren. Wenn das so wäre, müssen wir uns mit der Auflösung nicht mehr beeilen. Außerdem wird uns auch Philipp helfen. Das hat er versprochen.«

»Eine gute Idee. Dann lass uns jetzt in den Schlosspark gehen und einen Kaffee im Palmenhaus trinken.«

Während ihre Mutter die Tür zur Terrasse schloss, ließ Sophie den Umschlag mit den Fotos und Briefen in ihrer Tasche verschwinden. Die Briefe würde sie später zu Hause lesen. Und sie wollte dann auch mit Philipp über ihr Wien-Vorhaben sprechen. Vielleicht kam er mit?

Kapitel 2

München, Mai 1995/Wien, Juni 1995

Bei dem Gedanken an ein Gespräch über die Wienreise kam Sophie die spontane Idee, fürs Abendessen mit Philipp ein Schnitzel zu braten. Angesichts des verlockend aussehenden Spargels auf dem Schwabinger Elisabethmarkt entschied sie sich jedoch um. Spargelsaison war schließlich nur einmal im Jahr. Das musste man ausnutzen. Zufrieden stellte sie fest, dass auch der Preis im Gegensatz zu dem in der vergangenen Woche gesunken war. Ein Grund mehr. Sie erstand ein Kilo und machte sich auf den Heimweg. Philipp hatte sich für acht Uhr angekündigt und dabei überaus geheimnisvoll getan. Er habe eine Überraschung für sie, über die sie sich hoffentlich freuen würde. Nun, sie hatte ja auch eine für ihn – die seinen Plänen hoffentlich nicht widersprach. Philipps Spezialgebiete waren Kultur- und Reiseberichte. Wahrscheinlich ging es bei ihm um einen Auftrag, zu dem er sie mitnehmen wollte. Wie vor ein paar Monaten nach Südfrankreich. Sophie lächelte vor sich hin, während sie den Spargel schälte. Sie hatte ihn bewundert, wie er sich trotz des jeden Abend reichlich genossenen Weins und ihrer anschließenden, mit nur wenig Schlaf verbrachten Nächten eisern zu seinen Interviewpartnern begeben hatte. Dass am Ende eine so gute Geschichte dabei herausgekommen war, verdankte er seiner Begabung, seinem Charme und natürlich seinen alle Franzosen beeindruckenden Sprachkenntnissen. Sophie beneidete ihn um die Leichtigkeit, mit der er zunächst widerborstige Gesprächspartner in willige Erzähler verwandelte, scheinbar schwierigste Themen lässig anpackte, um sie anschließend mit derselben Mühelosigkeit, aber stets auf den Punkt getroffen, zu Papier zu bringen. Er feilte nicht immer aufs Neue an ein- und demselben Satz herum wie sie. Litt weder Qualen bei der Sprachfindung, noch plagten ihn Selbstzweifel. Er habe eben ein durch und durch sonniges Gemüt, pflegte er zu sagen, und er sei kein Literat, zu dessen unglücklichem Dasein Zweifel, nein geradezu Masochismus gehören müssten.

Sophie setzte Wasser für den Spargel auf und stellte bedauernd fest, dass sie keinen Zucker mehr im Haus hatte. Eine Prise gehöre immer ins Wasser, hatte Großtante Margarethe ihr eingeschärft. Nun, heute musste Salz genügen. Sie stellte anschließend die Kartoffeln auf den Herd und beschloss, sich einen Schluck Wein zu gönnen. Ein leichter Rosé aus der Provence – das passte doch zum Essen und dem beginnenden Sommer und erinnerte sie auf angenehmste Weise an die Tage in Südfrankreich. Was würde Philipp von Wien halten? Er fuhr eigentlich nirgendwohin, wenn es dort nicht auch eine Geschichte für ihn gab. Aber die Reise nach Wien war schließlich nicht alles, was sie miteinander zu besprechen hätten. Sollte sie ihn einfach mit dem Vorschlag überfallen, gemeinsam in Großtante Margarethes Wohnung zu ziehen? Schließlich kannten sie einander erst seit einem Jahr. Er könnte sich überrumpelt fühlen, eingeengt bei der Vorstellung. Er war spontan – vielleicht heute von der Idee begeistert und morgen schon voller Abwehr. Ein typischer Zwilling eben, der möglicherweise auch Angst um seine geliebte Freiheit bekäme und am Ende den Vorschlag als einen Wink zum Altar verstünde. Nein – sie würde heute nicht darüber sprechen. Es müsste sich ergeben – und überhaupt die Frage der zukünftigen Miete erst einmal geklärt sein. Und ob sie einen eingefleischten Schwabinger Junggesellen, dem die Kneipe um die Ecke heilig war, überhaupt je an den beschaulichen Kanal würde verpflanzen können? Wollte sie es denn selbst?

An der Tür klingelte es Sturm. Philipp würde wohl niemals wie ein normaler Mensch läuten. Er schien immer irgendwie atemlos und von nicht zu bremsendem Schwung zu sein. Außer – Sophie kicherte vor sich hin – er war mit ihr im Bett. In der Liebe schien er alle Zeit der Welt zu haben. Noch niemals hatte sie eine ähnliche Leidenschaft und Lust bei einem Mann empfunden. Es war ihm gelungen, sie, die doch eher schüchtern war, zu unkontrollierten Schreien zu bringen. Einer Ekstase, die in einem hellhörigen Mietshaus nicht zur Freude aller beitragen konnte. Frau Huber aus der Etage über ihr grüßte jedenfalls seit langem nur noch mit säuerlichem Nicken. Allerdings hatte sie die Witwe erst kürzlich mit Philipp vor der Tür plaudern sehen. Da hatte die verkniffene Frau plötzlich gestrahlt und ihn angehimmelt, als sei er Casanovas Wiedergeburt. Vielleicht war er’s ja. Nur attraktiver als das Original.

Es polterte gegen die Tür. Sophie hatte kaum geöffnet, als er sie schon heftig umarmte.

»Geliebteste aller Literatinnen«, säuselte Philipp. »Gibt es etwas zu essen?«

»Banause. Ja, gibt es. Spargel.«

»Wie schön. Ich habe den passenden Wein dazu.«

Philipp schwenkte eine Flasche und hielt sie Sophie dann unter die Nase. »Welschriesling«, sagte er. »Ein wunderbarer Österreicher aus dem Burgenland.«

»Ich hatte einen Rosé aufgemacht«, entgegnete Sophie.

»Dann trinken wir den zuerst. Diese Flasche muss ja ohnehin noch kalt gestellt werden. Die Verbindung zwischen Österreich und Frankreich war ja schon immer eine gute«, kommentierte Philipp die Reihenfolge. »Tu felix Austria nube ... Denk an Marie Antoinette, an Napoleons Marie Louise!«

»Du glückliches Österreich, heirate! Na ja, viel Glück hatten die Prinzessinnen mit ihren französischen Ehen nicht«, meinte Sophie trocken. »Was ist denn nun mit deiner Überraschung?«

»Gleich.« Philipp fuhr sich mit der Hand durch seine kinnlangen Haare und strich ein paar Strähnen hinter die Ohren. Er sieht verflucht gut aus, dachte Sophie und betrachtete sein schmales Gesicht mit der scharfen, gebogenen Nase und den wachsamen tiefblauen Augen. Als Adlerblick empfand Sophie ihren Ausdruck manchmal und hatte sich oft darüber gewundert, dass dieses ausgeprägte Männergesicht im Schlaf dem eines kleinen Jungen glich, welchem man aus Versehen eine zu große Nase hineingeklebt hatte.

»Wie war es heute mit deiner Mutter?«, fragte Philipp plötzlich sanft. »Wie viel Zeit habt ihr denn, um den Haushalt aufzulösen? Du weißt, dass ich für Hilfe jederzeit zur Verfügung stehe.«

»Also, mal eins nach dem anderen. Mit meiner Mutter war es in Ordnung. Natürlich nimmt sie das alles ziemlich mit. Es ist wichtig, dass sie nicht allein dort ist. Mit der Auflösung haben wir Zeit. Vielleicht behalten wir die Wohnung, mal sehen.«

»Behalten?« Philipp sah sie überrascht an. »Die Bude ist sehr schön, stimmt. Aber demnächst bestimmt sehr teuer. Willst du etwa dahin ziehen ... oder deine Mutter?«

Sophie zog die Schultern hoch. Bloß jetzt nicht weiter darüber reden. »Mal sehen«, wiederholte sie. »Ich rühre mich schon, wenn ich deine Unterstützung brauche. Was ist jetzt mit der Überraschung?«

»Tja, also ...« Philipp lächelte beschwörend. »Könntest du vielleicht für ein paar Tage aus München weg? Ich meine, wenn es mit der Auflösung nicht so eilt. Und mit deinem neuen Buch hast du ja noch nicht angefangen.«

»Spuck’s aus, Philipp. Soll es auf Reisen gehen?«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, mein Herz. Ich würde mich riesig freuen, wenn du mitkämest. Meine Reisezeitschrift möchte einen Szenebericht ...«

»Hör auf, mich auf die Folter zu spannen«, sagte Sophie. »Wohin soll es gehen?«

»Wien«, sagte Philipp vorsichtig und sah sie dabei an, als hätte er von einem Ausflug zu den Friedhöfen Nordsibiriens gesprochen.

»Wien?« Sophie starrte ihn an. Das war Fügung. Zufall konnte es nicht sein.

»Ich kenne ja eure Familiengeschichte, und weiß, dass ihr mit der Stadt immer ein Problem hattet«, sagte Philipp hastig. »Aber du warst doch auch immer neugierig, und ...«

Sophie unterbrach ihn, indem sie ihn mit kleinen, wilden Küssen überschüttete. »Wunderbar«, flüsterte sie.

Philipp schob sie von sich weg und fixierte sie mit seinem forschenden Blick. »Wunderbar? Das meinst du wirklich?«

Sophie erzählte ihm nun ausführlich über den Nachmittag und die Gedanken, die in ihr gereift waren. Und dass sie ihn ihrerseits hatte bitten wollen, mit ihr nach Wien zu fahren.

»Spurensuche, oder?« Philipp wiegte bedächtig den Kopf. »Ich habe mich, offen gestanden, schon lange darüber gewundert, dass du nicht vorher auf die Idee gekommen bist. Aber es muss wohl erst ...«

»... die Zeit dafür reif sein«, ergänzte Sophie. »Ich habe zwar gelegentlich darüber nachgedacht, aber mir doch, wie es scheint, die Verdrängungshaltung von Mutter und Großtante unterschwellig auch zu Eigen gemacht. Doch nun fühle ich mich, als wäre eine Tür in mir aufgesprungen, durch die ich unbedingt gehen muss, um nicht nur zu versuchen, etwas über meine verstorbenen Großeltern herauszufinden Es geht ja auch um mich. Clara und Max sind ein Teil meiner eigenen Geschichte.«

»Spurensuche«, wiederholte Philipp. »Am Ende entsteht daraus dein nächster Roman.«

»Weiß ich’s?« Sophie lächelte. »Dazu müsste der Verleger an der Geschichte interessiert sein. Eigentlich erwartet man von mir als nächstes Buch einen Krimi.«

»Na, hör mal!«, widersprach Philipp. »Wer hat denn schon eine Großmutter zu bieten, die unter mysteriösen Umständen aus dem Fenster stürzt?«

»Komm mir jetzt nicht mit Mord!«, stöhnte Sophie. »Meine Mutter hat heute schon einen Nazi dafür in Betracht gezogen. Nein, wichtig ist mir die – wie du treffend sagst – Spurensuche zunächst einmal für mich selbst.«

Sophie nippte an ihrem Wein. »Während ich also versuche, etwas über die Vergangenheit meiner Großeltern in Erfahrung zu bringen, wirst du die Wiener Szene erobern. Ein ziemlich unterschiedliches Programm.«

»Nicht unbedingt«, konterte Philipp. »Gerade in Wien ist Tradition genauso in wie die neuesten Trends. Wenn die nicht ohnehin die alten sind. Ich mag auf so manches Eck stoßen, wo schon deine Großeltern verkehrt haben. Café Mozart, Demel und Landtmann, die Literatenkaffeehäuser – obwohl ich bezweifle, dass dort noch Literaten anzutreffen sind.«

»Vermutlich nicht«, lachte Sophie. »Wahrscheinlich sitzen sie so einsam wie ich – so sieht es jedenfalls meine Mutter – in ihrer Klause und tippen ihre Seiten, damit das Manuskript rechtzeitig zum Abgabetermin fertig wird.«

»Wenn sie denn einen Termin haben. Wer damit hausieren gehen muss, hat noch keinen. Früher, in den Kaffeehäusern, hatten sie zumindest interessierte Zuhörer. Mit Glück Sponsoren und mit Pech solche, die aus den aufgeschnappten Ideen die eigene Suppe kochten, die dann schneller als das Original einem Verlag vorgesetzt wurde.«

»Du bist gut informiert«, meinte Sophie. »Wann soll es denn losgehen?«

»Anfang Juni. Meinen Geburtstag feiern wir dann im Sacher. Und krönen ihn mit einem Ausflug ins Orient.«

»Orient? Was ist das denn?«

Philipp grinste breit. »Ein legendäres Stundenhotel, mein Schatz. Die Crème de la Crème trifft sich dort seit der Jahrhundertwende zum Rendezvous.«

»Lustspiele im Plüsch und Prunk des Fin de Siècle? Herrlich. Ist mir klar, dass Philipp Janssen dort seinen Geburtstag feiern will. Aber mit mir? Gehört zu dem Spiel nicht eine reizende Kokotte?«

»Fräulein Kluge, Sie werden sich vor Ort im Handumdrehen in eine verwandeln. Die Begabung ist vorhanden. Und außerdem können wir ja ab jetzt schon mal üben ...«

Die Tage bis zur Abfahrt vergingen wie im Flug. Sophie verbrachte viele Stunden mit ihrer Mutter in Großtante Margarethes Wohnung, damit sich Tita nicht durch die Reise von ihr im Stich gelassen fühlte. Frau Klamm schien nach einem Gespräch durchaus nicht abgeneigt, Sophie die Wohnung für eine nur geringe Mieterhöhung zu überlassen, und im Geiste begann sie sich mit dem Gedanken an einen Umzug anzufreunden. Die Vorstellung, ihre Bücher fortan mit Blick auf den beschaulichen Kanal, im Sommer gar auf der Terrasse, schreiben zu können, hatte etwas Verlockendes. Aber würde sie sich auch allein dort wohl fühlen? In Wien ergäbe sich vielleicht die Gelegenheit, mit Philipp über die Möglichkeit einer gemeinsamen Wohnung zu sprechen.

Tita war zwar zunächst bei der Erwähnung des Reiseziels zusammengezuckt, fand es aber dann, zu Sophies Überraschung, eine gute Idee. »Stimmt, du solltest die Stadt wirklich kennen lernen. Wien muss so schön sein. Und meine Probleme sind schließlich nicht deine.«

Ihre Probleme! Sophie hatte inzwischen die Briefe von Großmutter Clara an ihre Schwester Margarethe gelesen. Sie enthielten mehr oder weniger nur belanglose Mitteilungen. Clara hatte sich häufig allein gefühlt unter all den zumeist Älteren aus dem Freundeskreis ihres Mannes. Vor allem aber als Außenseiterin und Ausländerin. Margarethe musste ihr wohl daraufhin den Kopf gewaschen habe. Vielleicht in dem Sinne, dass sie sich ja selbst für den alten Wiener Ehemann entschieden hätte, denn in den folgenden Briefen klagte Clara nicht mehr. Schrieb nur noch, dass sie sich nach wie vor sehnlichst ein Kind wünsche, und erzählte von Opern- und Theaterbesuchen mit Max. Zwei Jahre lang schien sie überhaupt nicht mehr geschrieben zu haben, denn der nächste und letzte Brief stammte aus dem Jahr 1937, und sie erzählte darin begeistert von ihrer neuen Freundin, der Schauspielerin Nicoletta, durch die sie in Künstlerkreise geraten sei. Sie kenne nun Sänger von der Oper und Journalisten und besuche häufig Kaffeehäuser.

Clara war anscheinend durch den Umgang mit jungen Leuten ihres Alters inmitten einer Bohemeszene aufgeblüht. Schien ihre Jugend genossen zu haben, und ihr Mann war offensichtlich verständnisvoll und klug genug gewesen, Clara ihren Spaß zu lassen. Schließlich war sie ja auch plötzlich schwanger geworden. Vermutlich, weil sie es gar nicht mehr darauf angelegt hatte. Und dann das schreckliche Ende! Claras Freundin Nicoletta hatte Großtante Margarethe den Tod ihrer Schwester mitgeteilt und darüber informiert, dass ihr Kind gerettet werden konnte. Außerdem angedeutet, dass Clara auf dem Zentralfriedhof beerdigt werden solle, wenn ihr das recht sei. Das war ihr offensichtlich recht gewesen. Sie hatte die Grabnummer notiert. Seltsam.

Die auf dem Brief angegebene Telefonnummer existierte nicht mehr, das hatte Sophie nachgeprüft, und ein Umschlag mit einer Adresse war nicht vorhanden. Ob wohl Nicoletta oder einer von Claras ehemaligen Freunden noch am Leben waren? Aber auf den Postkarten standen nur Vornamen. Immerhin – einige der jungen Männer schienen Opernsänger gewesen zu sein. Da musste man doch etwas in Erfahrung bringen können.

Philipp hatte über seinen Zeitungsverlag ein Zimmer in einem Hotel im 7. Bezirk buchen lassen. Das Altstadt Vienna in der Kirchengasse 41 gehöre einem Otto Wiesenthal, erklärte er Sophie. Ein weit gereister Mann, der nun Hotelier aus Leidenschaft geworden sei. Soweit er gehört habe, sei das Haus etwas Besonderes, das er dann in seinem Bericht empfehlen könne.

Kirchengasse! »Das ist die Straße, in der meine Großeltern gewohnt haben«, sagte Sophie. »Nummer 39. Und ich werde nur ein paar Schritte von ihrem Haus entfernt sein. Schon seltsam, dass du in der großen Stadt mit einer Vielzahl an Hotels ausgerechnet dort ein Zimmer gebucht hast.«

»Zufall oder Fügung«, meinte Philipp. »Ein Kollege hat es mir empfohlen. Ich hatte schließlich keine Ahnung, wo deine Großeltern gelebt haben. Aber es trifft sich doch gut. Vielleicht entdeckst du noch alte Geschäfte, in denen deine Großmutter früher eingekauft hat. Es lebten übrigens vor dem Krieg viele Juden in dem Bezirk, die bessere Mittelschicht. Zu der konnte man deine Großeltern auch rechnen, nehme ich an.«

»Das denke ich«, meinte Sophie. »Aber was heißt lebten – sie leben doch wieder da. Der Herr Wiesenthal zum Beispiel. Er hat doch einen jüdischen Namen?«

Die Fahrt in Philipps betagtem BMW verlief problemlos. Philipp hatte sich gründlich auf sein Thema vorbereitet, auch für Sophie über die Geschichte der Juden in Wien recherchiert. Tatsächlich war ihr nicht bewusst gewesen, dass unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs, fortan Ostmark genannt, an das Deutsche Reich im Frühjahr 1938 eine wahrhaft gnadenlose Judenhatz begonnen hatte. Rund dreihunderttausend Juden hatten zu dem Zeitpunkt dort gelebt. Ungefähr zehntausend waren es heute. Wer konnte, war so schnell wie möglich emigriert, erzählte er.

»Nun, meine Großeltern haben nicht zu den schnellen Emigranten gehört. Das war ihr Verhängnis. Allerdings weiß ich, dass Sigmund Freud sein Wien ebenfalls nicht verlassen wollte.«

»Na ja, er war sehr alt und auch schwer krank. Das ist verständlich. Wahrscheinlich konnte er sich, so berühmt wie er doch war, nicht vorstellen, dass ihm die Nazis Böses wollten. Trotzdem verließ er Wien nur wenige Monate nach dem Anschluss. Auf Drängen und durch die Hilfe von Freunden allerdings.«

Ob ihr Großvater Freund den alten Freud gekannt hatte? Beide Juden, beide Ärzte und überdies ein so ähnlicher Name.

Wenn ja, so hätte Freud vielleicht Einfluss auf ihren Großvater genommen, überlegte Sophie und gab ihrer Mutter insgeheim Recht. Warum hatten ihre Großeltern so lange gezögert und waren nicht früher emigriert? Hatte Max Angst davor gehabt, im Ausland nicht mehr als Arzt arbeiten zu können? Philipp hielt das für wahrscheinlich.

»Die Engländer erteilten sowieso keine Arbeitsgenehmigungen, und die meisten Emigranten versuchten doch, von dort aus nach Amerika zu kommen. Und seine Ausbildung wäre wohl auch nicht anerkannt worden. Sprach er denn überhaupt Englisch?«

Sophie wusste es nicht. Sie wusste ja eigentlich überhaupt nichts. Deswegen fuhr sie schließlich nach Wien. Ob sie überhaupt etwas herausfinden würde? Vielleicht lebten ja noch Menschen im Viertel, die ihre Großeltern gekannt hatten? Das war im Grunde ihre einzige Hoffnung. Abgesehen von den einstigen Opernsängern.

Mit Ausnahme des Reiseführers, den Sophie sich über Wien besorgt und versucht hatte, sich aus den Informationen ein Bild von der Stadt zu machen, war ihr durch die vielen Stunden, die sie mit ihrer Mutter in Großtante Margarethes Wohnung verbracht hatte, wenig Zeit für weitere Recherchen geblieben. Aber war es wirklich nur das gewesen? Ehrlicherweise nein. Etwas in ihr hatte sich dagegen gesträubt, sich mit zu viel Vorwissen zu belasten. Eigentlich wollte sie in diese Stadt einfach nur eintauchen, gewissermaßen naiv in ihr ankommen, wie es seinerzeit Clara getan haben musste. Ihre Großmutter hatte Max geheiratet, ohne jemals zuvor in Wien gewesen zu sein. Das jedenfalls hatte Margarethe erzählt. Sie musste sich sehr fremd gefühlt und, so war es ihren Briefen ja zu entnehmen, ziemlich gelangweilt haben. Wie konnte man sich in einer Stadt wie Wien langweilen? Sicher war sie, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo sie ihre Künstlerfreunde kennen gelernt hatte, ziemlich einsam gewesen, und Max musste sich zu wenig Zeit für seine junge Frau genommen haben. Oder hatte sie sich nicht nehmen können. Clara war wohl in vielem sehr anders als sie selbst, dachte Sophie. Ihr machte es überhaupt nichts aus, ohne Begleitung in Ausstellungen zu gehen oder stundenlang allein durch eine fremde Stadt zu schlendern, um anschließend in einem Café zu sitzen und die Menschen zu beobachten. Ihr fielen dabei immer Geschichten ein. Aber nun ja, das war schließlich ihr Beruf, und außerdem gehörte sie einer anderen Generation als Clara an. Doch wieso hatte die Großmutter Jahre gebraucht, um gleichaltrige Freunde zu finden? War sie so schüchtern oder gar kontaktarm gewesen?

So viele Fragen und vielleicht niemals eine Antwort darauf!

»Lass mich eine finden, lieber Gott«, sagte sie plötzlich laut.

»Was soll er dich finden lassen? Seit wann bist du gläubig?« Philipp musterte sie erstaunt von der Seite.

»Eine Antwort auf meine Fragen«, sagte Sophie. »Und woher weißt du so genau, ob ich nicht auf meine Weise gläubig bin? Nur weil die katholische Kirche auf meine Mitgliedschaft verzichten muss, darf ich doch an Gott glauben.«

Philipp lachte. »Immer, wenn’s passt, oder? Beim Beten habe ich dich jedenfalls noch nie überrascht.«

»Dann eben jetzt.«

Sie hatten Wien am frühen Nachmittag erreicht.

»Schönbrunn auf der rechten Seite«, dozierte Philipp. »Der Sommersitz der kaiserlichen Familie.« Maria Theresia hielt sich hier übrigens viel lieber auf als in der Hofburg. Die war ihr mit den sechzehn Kindern etwas zu klein geraten. Du wirst es bald sehen, das enge Domizil.

Nach einer Weile fuhren sie am Naschmarkt an der Wienzeile entlang. »Der Viktualienmarkt von Wien«, erklärte er.

»Ich weiß, mein Lieber. Und unterirdisch verläuft der Wienfluss.« Ob ihre Großmutter hier eingekauft hatte, überlegte Sophie. Wahrscheinlich nicht. So etwas erledigte damals die Köchin. Oder das Dienstmädchen.

»Karlsplatz«, ertönte erneut die Stimme ihres Reiseführers. »Man beachte den Einstieg zur Stadtbahn von Otto Wagner. Dieser großartige Architekt ... verdammt!«

Philipp fluchte. Er hatte eine andere Straße nehmen wollen. Nun kam er aus der Spur nicht mehr heraus.

»Willst du etwa mit einem Wiener Taxifahrer wetteifern? Wann warst du eigentlich das letzte Mal hier?«

»Vor fünf Jahren. Aber egal. Wir machen eben eine kleine Rundfahrt. Da bekommst du gleich etwas zu sehen. Voilà, die Oper. Sie ist an einem der letzten Kriegstage ausgebrannt.«

»Wusste ich, mein Herr. Und man würde es nicht ahnen, so originalgetreu ist sie wieder aufgebaut. Wie gut, dass hier nicht ein hässlicher Nachkriegsklotz entstand. Wenn ich an unseren verschandelten Marienplatz in München denke ...«

Sie fuhren weiter am Kunsthistorischen Museum, der Hofburg, dem Rathaus und dem Burgtheater vorbei, und Sophie bewunderte ausgiebig die prächtigen Gebäude entlang der Ringstraße. Dann bog Philipp nach links ab und fuhr die Parallelstraße zurück.

»Volkstheater, und jetzt rechts in die Burggasse. Gleich sind wir da.«

»Dass diese breiten Straßen alle Gassen heißen«, wunderte Sophie sich. »Unter einer Gasse stelle ich mir doch etwas anderes vor.«

Hinter einer schönen, barocken Kirche, der die angrenzende Kirchengasse wahrscheinlich ihren Namen verdankte, bog Philipp ab.

»Hier muss das Hotel sein.«

Sophie deutete auf eines der Patrizierhäuser, über dessen Eingang eine rote Markise angebracht war: »Offensichtlich das da. Es ist eher eine Hotel-Pension.«

Das Altstadt Vienna verfügte über mehrere Etagen, und von ihrem Zimmer im Mezzanin konnte Sophie auf die Kirche blicken. Sie fühlte sich in dem behaglichen und geschmackvoll eingerichteten Raum auf der Stelle wohl. Hier würde sie es gut zwei Wochen lang aushalten können.

Hotelier Otto Wiesenthal, ein sympathischer Mann, der ständig in Bewegung zu sein schien, nahm sich dennoch die Zeit, um mit seinen neuen Gästen im Roten Salon einen Kaffee zu trinken.

Sophie gefiel auch diese Räumlichkeit ausnehmend gut, und sie teilte ihren positiven Eindruck ohne Umschweife Herrn Wiesenthal mit. Der lächelte erfreut und erwiderte, dass es all seinen Gästen so ginge und er ein treues Stammpublikum habe.

Ob er Menschen aus der Umgebung näher kenne, fragte Sophie dann vorsichtig, aber er schüttelte bedauernd den Kopf. Warum sie das denn interessiere, wollte er wissen. Sophie erzählte ihm von der geplanten Spurensuche und dass sie, fände sie nicht Menschen, die schon seit fast einem Jahrhundert hier gelebt hätten, kaum etwas über die Großeltern herausbringen würde.

»Ich habe zwar eine Tante, die Ihnen mit ihren achtzig Jahren etwas über das alte Wien erzählen könnte. Aber sie wohnt in einem ganz anderen Bezirk. Meine Großtante Grete, die die halbe Stadt kannte, ist leider schon vor fünfundzwanzig Jahren gestorben.«

Ob er mit Simon Wiesenthal verwandt sei, wollte Philipp nun wissen, doch der Hotelier winkte ab.

»Der entstammt der jüdischen Linie der Wiesenthals. Die meiner Tante Grete ist die nichtjüdische. Das gab ihr nach dem Anschluss die Möglichkeit, jüdischen Freunden zu helfen. Die Nazis ließen sie, obwohl sie es sicher wussten, trotzdem in Ruhe. Sie war als Tänzerin zu berühmt und ihr Salon eine Wiener Institution. Das war hilfreich.«

Sophie bedankte sich. Immerhin war die noch lebende Tante eine Möglichkeit.

Ihr Gastgeber verabschiedete sich, und Sophie und Philipp beschlossen, zu Fuß ins Zentrum zu gehen.

»Es ist nicht weit bis zur Oper, und von dort aus bummeln wir über die Kärntnerstraße zum Stephansdom und dann durch den Graben.«

»Ist es nicht seltsam«, meinte Sophie, »Juden und Nichtjuden tragen denselben Namen? Hatten nicht auch Bertha Zuckerkandl und Alma Mahler-Werfel berühmte Salons?«

»Stimmt. Aber beide mussten emigrieren. Da war keine Salonhilfe mehr möglich.«

Philipp bog in die Burggasse ein, aber Sophie hielt ihn fest. Sie wollte einen Blick auf das Haus werfen, in dem die Großeltern gelebt hatten. Der Gründerzeitbau an der Ecke Burggasse/Kirchenstraße war tatsächlich die Nummer 39. Sophie entdeckte den einzigen Balkon des Gebäudes mit seinem wahrlich sehr niedrigen Geländer. Von dort aus also war Clara in den Tod gestürzt! Ihr war mit einem Mal sehr beklommen zumute.

Sie ging zur Haustür und studierte die Namen. »N. Woll« stand auf dem Schild, das zur Wohnung mit dem Balkon gehören musste. Ob Herr oder Frau Woll etwas wussten? Sie konnte ja nicht einfach bei ihnen läuten.

Philipp dachte mal wieder praktisch. »Du fragst ganz einfach im nächsten Laden nach den Bewohnern des Hauses hier.«

Sophie sah sich um. »Da drüben ist ein Café. Vielleicht erfahre ich dort etwas.«

Eine junge Frau empfing sie und rieb sich auf Sophies Frage hin nachdenklich die Nase. Dann beriet sie sich mit ihrer Kollegin. »Also«, meinte sie schließlich, »es kommt gelegentlich eine alte Dame, von der wir glauben, dass sie in dem Haus gegenüber wohnt. Sie war einmal mit einer Bekannten hier, und ich hörte, wie die sie Nina nannte. Einen Nachnamen weiß ich allerdings nicht.«

Nina konnte kaum Nicoletta sein.

»Wie sieht sie denn ungefähr aus?«, wollte Sophie wissen.

Die Serviererinnen berieten sich erneut. »Tja«, folgte dann die etwas ratlose Antwort, »zierlich, eher klein. Aber alte Leute schrumpfen ja meist. Weißhaarig, und sie trägt immer einen Hut.«

Die junge Frau sah auf ihre Uhr. »Wenn wir sie gesehen haben, dann meist um diese Zeit. Zwischen vier und fünf. Am besten, Sie schauen einfach immer mal wieder vorbei.«

Sophie bedankte sich, und sie und Philipp verließen das Café.

»Vielleicht heißt diese alte Dame ja mit Nachnamen Woll«, überlegte Sophie. »Ich werde einfach morgen Vormittag einmal dort klingeln. Man kann mich schlimmstenfalls nur wieder hinauswerfen.«

»Warum sollte das jemand tun?« Philipp schüttelte den Kopf. »Du hast ja kein unanständiges Anliegen, sondern bittest lediglich um eine Auskunft. Schließlich kannst du ja nicht tagelang hier im Café herumlungern und darauf warten, dass diese Dame zufällig auftaucht.«

Sie schlenderten die Burggasse hinunter, und Sophie stellte fest, dass die hübsche Kirche St. Ulrich hieß. Ob ihre Großmutter hier seinerzeit zur Messe gegangen war? Sie war schließlich katholisch gewesen.

Philipps Aufmerksamkeit galt weniger der Kirche, sondern dem gegenüberliegenden Gasthaus Zum Spatzennest. So gehöre sich das, meinte er. Aus der Kirche heraus und in die Wirtschaft hinein. Vielmehr ins Beisl.

Als sie die Oper erreicht hatten, taten Sophie die Füße weh.

»Du hättest Turnschuhe anziehen sollen statt diese Stöckeldinger«, meinte Philipp ungerührt. »Aber ich gönne der Lady selbstverständlich eine Pause. Wir nehmen einen Drink in der Reiss-Bar. Ist nur noch wenige Schritte entfernt. Oder möchtest du lieber ins Sacher?«

»Nicht unbedingt jetzt. Ist diese Bar etwas für deinen Szenebericht?«

»In gewisser Weise schon. Der Champagner- und Austerntreff. Vor ein paar Jahren wurde er neu eröffnet. Aber es gibt die Bar eigentlich schon seit 1937. Damals war es eine Künstlerkneipe.«

»Dann war Clara vermutlich mit ihren Bohemefreunden hier. Ich habe dir doch von den Opernsängern erzählt.«

»Das ist anzunehmen. Der Gründer Arnold Reiss war übrigens ein Jude mit einer arischen Frau. So wie deine Großeltern. Sie hat sich 1938 flugs von ihm scheiden lassen und das nun arisierte Café allein weitergeführt.«

»Vielleicht hatten sie es abgesprochen und hofften auf bessere Zeiten«, wandte Sophie ein. »Woher weißt du das überhaupt schon wieder?«

»Von einem Kollegen, der darüber recherchiert hat. Alle Geschäfte, darunter viele Cafés, die in Wien seinerzeit von Juden geführt wurden, gingen in arische Hände über.«

»Wer wohl damals die Arztpraxis meines Großvaters übernommen hat?« Sophie wich einer drängelnden Touristengruppe aus. »Schrecklich, diese Leute. Das war hier doch mal eine elegante Einkaufsmeile, oder? Spürt man nicht mehr unbedingt viel davon. Es kommt mir hier vor wie auf der Kaufingerstraße in München. Aua – passen Sie doch auf!«

»Komm, wir sagen dem gemeinen Volk jetzt ade.« Philipp bog nach links in die Marco-d’Aviano-Gasse ein, und sie standen direkt vor der Reiss-Bar.

Auf der Terrasse und im Wintergarten saßen gepflegt gekleidete Menschen und schlürften Drinks. Die meisten von ihnen Champagner, stellte Sophie fest.

»Wir gehen an den Tresen«, schlug Philipp vor und half Sophie aus der Jacke. Er bestellte ebenfalls für sie beide ein Glas Champagner, anschließend drückte er ihr einen zärtlichen Kuss aufs linke Ohr. »Auf eine erfolgreiche Zeit in Wien.« Er streichelte ihre Oberschenkel und fügte hinzu: »Hübscher Rock.«

»Und zu dem sollte ich Turnschuhe tragen?«

»Du hast ja Recht. Nachher nehmen wir uns ein Taxi, und morgen ziehst du Jeans an.«

Sophie ließ den Blick durch die elegante Bar schweifen. Es gefiel ihr hier. Bei Damen schien der Treff sehr beliebt zu sein. Sie waren solo und in der Überzahl. Wann wohl die passenden Herren dazu erschienen? Oder schloss man hier Bekanntschaften?

Philipp musste lachen. »Gehört auch zu den Umständen, die ich herausfinden muss. Die Zeiten, in denen sich die Kärntnerstraße abends in einen Straßenstrich verwandelte, sind jedenfalls lange vorbei.«

»Lieber Strich als Touristen«, murmelte Sophie und fühlte sich plötzlich beobachtet. Ein einzelner alter Herr saß in der Ecke und hielt eine Zeitung in der Hand. Doch las er nicht darin, sondern betrachtete sie vielmehr ganz unverhohlen.

»Clara«, sagte er plötzlich vernehmlich. »Clara!«

Sophie zuckte zusammen. Er meinte sie. Das war ganz eindeutig. Sie versuchte, sich ihren Schreck nicht anmerken zu lassen, und lächelte ihn schüchtern an, worauf der Mann sich langsam erhob und auf sie zukam. Er war klein, hatte blitzende Augen unter dichten, buschigen Brauen, ein hageres Gesicht und schütteres weißes Haar.

»Verzeihen Sie, meine Dame. Sie haben mich an jemanden erinnert. Jemanden, den ich vor langer Zeit einmal gekannt habe. Ich wollte nicht aufdringlich sein.«

Er verbeugte sich und machte Anstalten, wieder an seinen Tisch zurückzukehren.

»Bitte, einen Augenblick noch.« Sophie hielt ihn am Arm fest. »Wie hieß die Clara, die sie gekannt haben, mit Nachnamen? Vielleicht Freund?«

Er zuckte zusammen, nicht sehr, aber doch merklich. »Kann sein«, murmelte er und wich ihrem Blick aus. »Ich muss nachdenken. Geben Sie mir eine Telefonnummer, wo ich Sie erreichen kann.«

Sophie kramte nach einer Visitenkarte und notierte darauf den Namen des Hotels.

»Renner, mein Name«, stellte er sich vor, steckte die Karte ein und sah ihr nun wieder direkt in die Augen. »Ich melde mich.«

Er lächelte und verbeugte sich leicht. Winkte dann dem Ober, zahlte und verließ die Bar.

Kapitel 3

Wien, Juni 1995

Sophie und Philipp verließen die Bar und schlenderten über den Neuen Markt zum Stephansdom. Er plauderte über Lokale, doch Sophie hörte gar nicht zu. Sie dachte über die vorangegangene Begegnung nach. Was mochte es mit dem älteren Herrn in der Reiss-Bar auf sich haben? Ihr zumindest kam sein Verhalten sehr merkwürdig vor.

»Warum hat mir der Herr Renner eigentlich nicht auch seine Telefonnummer gegeben?«, unterbrach sie Philipps Redefluss.

Er stutzte. »Nun, es schien mir, dass er sich nicht so recht darüber schlüssig war, ob er etwas erzählen möchte«, erwiderte er nach einer Weile.

»Den Eindruck hatte ich auch«, stimmte Sophie ihm zu.

»Aber warum nur? Ältere Menschen reden doch eigentlich gern über Vergangenes. Abgesehen von meiner Mutter und der Großtante.«

»Es gibt anscheinend auch noch andere, die sich nicht gern erinnern wollen. Oder ausführlich darüber nachdenken müssen, ob sie es wollen. Lass ihm doch die Zeit! Er wird sich schon melden.«

Für Philipp schien das Thema beendet zu sein, denn kaum hatten sie den Dom erreicht, sprach er schon wieder übers Essen. »Gleich dahinter ist die Wollzeile. Und in einer kleinen Passage ein Lokal, wo es wohl die besten Schnitzel Wiens gibt«, meinte Philipp. »Ist zwar leider bei Touristen sehr beliebt, aber für den ersten Abend hab ich noch keine Geheimadresse parat.«

Sophie verdrehte die Augen. »Der Szenereporter auf Touristenpfaden! Ich glaub es nicht!«

Aber sie liebte Schnitzel. Da musste sie eben eine touristische Gesellschaft in Kauf nehmen. Zunächst aber wollte sie einen Blick in den prachtvollen Dom werfen. Trauben junger Menschen mit Kerzen in den Händen verharrten dort auf den Knien und lauschten der Musik eines Streichquartetts. Was mochte das für eine Veranstaltung sein? Sophie hätte gern ein wenig länger verweilt, aber Philipp drängte.

»Beim Figlmüller stehen die Leute manchmal draußen Schlange.«

In der Tat warteten etliche Menschen geduldig vor dem rustikalen Lokal in der engen Passage.

»Also Philipp, bitte ...«

Flugs schob er sie in einen kleinen Weinausschank direkt gegenüber. Dort standen fröhliche Zecher, bei denen es sich um Wiener Stammgäste zu handeln schien.

»Das Vis-a-vis«, meinte Philipp beiläufig. »Wir trinken noch etwas – der Wein ist sehr gut – und warten ein wenig. Morgen beginnt meine Arbeit, die genaue Zusammenstellung von Adressen, und ich werde für die Abende reservieren.«

»Ich habe Hunger«, sagte Sophie, ließ sich aber dann doch amüsiert auf einem Hocker nieder, der am geöffneten Fenster zur Passage hin stand. »Fehlt nur noch das Kissen, und nichts unterscheidet mich mehr von unserer Hausmeisterin. Die macht sich’s auf diese Weise an ihrem Beobachtungsposten am Fenster bequem.«

Philipp drückte Sophie ein Glas Wein in die Hand. »Damit unterscheidest du dich jetzt eindeutig von der Hausmeisterin. Kein Kissen – dafür Rebensaft.«

Sophie probierte den Wein. Er schmeckte vorzüglich.

»Wenn wir noch lange auf einen Tisch gegenüber warten müssen, trinke ich mich hier fest«, meinte sie. »Und aus der Spurensucherin wird langsam eine Trinkerin.«

Spurensuche! Das war es schließlich, warum sie hier war. Und ihre Begegnung mit Herrn Renner war der Auftakt gewesen. Hoffentlich behielt Philipp Recht, und er würde sich melden!

»Komm!«, unterbrach er ihre Gedanken. »Es scheint da drüben gerade einen größeren Platzwechsel zu geben. Gehen wir schnell, ehe du mir verhungerst.«

Sie setzten sich an einen der frei gewordenen dunklen Holztische. Sophie sah sich um. Angesichts der überdimensionalen Schnitzel auf den Nachbartischen – wenngleich auch hauchdünn geklopft und an eine zerknüllte Stoffserviette erinnernd – verging ihr fast schon wieder der Appetit. Dass schwergewichtige Amerikanerinnen solche Portionen problemlos in Angriff nehmen konnten, wunderte sie nicht. Aber die zierlichen Japaner? Doch auch die arbeiteten sich mit derselben konzentrierten Akribie und Beflissenheit durch die Fleischfladen, mit der sie sonst in kürzester Zeit ausufernde Besichtigungsprogramme quer durch Europa zu absolvieren pflegten.

Auf ihre zögernde Bestellung hin versicherte ihr der Ober beruhigend, dass sie auch ein halbes Schnitzel haben könne. Zum halben Preis. Und Philipp hatte Recht gehabt: Es schmeckte hervorragend, und der von ihm zusätzlich bestellte Kartoffelsalat – nein, Erdäpfelsalat hieß es hier – war, angemacht mit Kürbiskernöl, schlicht ein Gedicht.

»Ich werde in dieser Stadt wohl nicht nur zur Trinkerin mutieren, sondern ebenfalls zum Vielfraß«, stellte Sophie, fest, als sie das Lokal verließen.

»Du wirst zur Genießerin österreichischer Küche und Weine«, belehrte Philipp sie. »Das ist etwas ganz anderes. Übrigens« – er stoppte erneut vor einem Lokal und lächelte, so fand sie, irgendwie hinterhältig-unschuldig – »das ist die Weinorgel. Wir könnten doch noch einen Absacker zu uns nehmen. Einen roten vielleicht. Blaufränkisch oder Zweigelt.«

»Nein, es reicht. Ich möchte jetzt ins Hotel zurück.«

Philipp gab nach. »Kannst du noch ein wenig laufen? Irgendwo gabeln wir sicher ein Taxi auf.«

Sie fanden keines, und beim Kunsthistorischen Museum konnte Sophie kaum noch einen Schritt gehen.

»Setzen wir uns doch ein wenig auf die Bank dort«, schlug Philipp vor. »Es ist schließlich ein milder Abend. Ich massiere dir die Füße.«

Wie reizend von ihm.

Er begann, ihre Füße leicht zu kneten, dann allerdings wanderten seine Hände ihre Beine hinauf.

»Bist du verrückt. Doch nicht hier!«

»Warum nicht? Kunst hinter den Mauern, und im Park etwas, was man auch so nennen könnte. Wir gäben doch eine wunderbare Performance ab.«

Philipp zerrte an ihrem Slip, und Sophie spürte, wie ihr Widerstand schmolz. Der Wein! Sie hatte zu viel getrunken. Dann spürte sie nur noch seine Hände, seine Küsse und, als er in sie eindrang, nichts anderes als Lust.