Sophies Geheimnis - Gabriele Droste - E-Book
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Sophies Geheimnis E-Book

Gabriele Droste

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Beschreibung

Wird seine Liebe ihr Verderben sein? Der dramatische Roman »Sophies Geheimnis« von Gabriele Droste jetzt als eBook bei dotbooks. Während der herannahende Krieg bereits seinen Schatten über Österreich wirft, genießen die junge Sophie und ihre beste Freundin Lilly im Wien des Jahres 1937 ein sorgenfreies, privilegiertes Leben. Aber diese unbeschwerten Tage sind schon bald gezählt, denn Sophies Cousin glaubt, Anspruch auf Lillys Liebe zu haben. Als diese ihr Herz dem jungen Brasilianer Pawlo schenkt, erwachen dunkle Rachegelüste in Louis. Eine Intrige nimmt ihren Lauf, die das Leben der Freundinnen für immer verändern wird – und sowohl Sophie als auch ihre nach dem Krieg geborene Tochter noch Jahrzehnte später verfolgt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Familiengeheimnisroman »Sophies Geheimnis« von Gabriele Droste, der zwei mutige Frauen durch die Stürme der Zeit miteinander verbindet. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 594

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Über dieses Buch:

Während der herannahende Krieg bereits seinen Schatten über Österreich wirft, genießen die junge Sophie und ihre beste Freundin Lilly im Wien des Jahres 1937 ein sorgenfreies, privilegiertes Leben. Aber diese unbeschwerten Tage sind schon bald gezählt, denn Sophies Cousin glaubt, Anspruch auf Lillys Liebe zu haben. Als diese ihr Herz dem jungen Brasilianer Pawlo schenkt, erwachen dunkle Rachegelüste in Louis. Eine Intrige nimmt ihren Lauf, die das Leben der Freundinnen für immer verändern wird – und sowohl Sophie als auch ihre nach dem Krieg geborene Tochter noch Jahrzehnte später verfolgt …

Über die Autorin:

Gabriele Droste, gebürtige Hamburgerin, studierte Kunst und Germanistik in München sowie französische Literaturgeschichte in Paris an der Sorbonne. Dort arbeitete sie anschließend in der Kulturabteilung der Deutschen Botschaft und wurde dann Journalistin. Privat und beruflich führten – und führen – ihre Wege immer wieder nach Frankreich und Wien. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

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eBook-Neuausgabe November 2022

Dieses Buch erschien bereits unter dem Pseudonym Anna Krüger 2008 bei Diana.

Copyright © der Originalausgabe 2008 by Diana Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-401-2

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Gabriele Droste

Sophies Geheimnis

Roman

dotbooks.

Vorbemerkung der Autorin

Dies ist ein Roman, in dem ich Tatsachenmaterial benutzt habe. Für die Art und Weise, wie ich es in diesem Buch verarbeitet habe, bin ich allein verantwortlich.

Für Verena

Prolog

Mühelos und mit wohl bedachten Schritten bewegte er sich durch die Dunkelheit. Der Raum war ihm so vertraut, als habe er ihn erst gestern und nicht vor fast siebzig Jahren zum letzten Mal betreten. Langsam durchquerte er die Werkstatt, verhielt kurz an einer der alten Pressen, bevor er den an der rückwärtigen Wand angebrachten Lichtschalter betätigte. Er lächelte, als zwei Glühbirnen ihr schwaches Licht verbreiteten. Auch an der Beleuchtung hatte sich seit damals nichts geändert. Ebenso wenig wie an der Einrichtung noch, wie es schien, an der Arbeitsweise. Die Luft voller Staub und das Ambiente lebendige Geschichte, dachte er und trat zu der Werkbank, an der er so viele Stunden verbracht hatte. Er strich über ein paar Löffel, die gerade in Bearbeitung waren. Alle Bestecke wurden also auch heute noch mit der Hand gefertigt. Schwerfällig ließ er sich auf dem Hocker nieder und ließ seinen Blick schweifen. Hatte er wirklich zurückkommen müssen? Er hatte schon früher mit dem Gedanken gespielt, ihn aber immer wieder verworfen. Doch seit er wusste, dass seine Tage gezählt waren, war kein Aufschub mehr möglich gewesen. Er stand auf, betrachtete eingehend nacheinander die Werkbänke und öffnete die Schränke, in denen nebeneinander aufgereiht die alten, eisernen Stanzen mit über tausend Musterformen aufbewahrt wurden.

»Das Herzstück«, murmelte er und stieg dann langsam die Eisentreppe zum ersten Stock hinauf, knipste den oberen Lichtschalter an und betrat den Raum, in dem die Schleifmaschine stand. Die Luft war noch staubiger als im Erdgeschoss, und unwillkürlich nieste er. Er hatte damals immer niesen müssen, wenn er an der Maschine stand. Die anderen, vor allem er, hatten ihn deshalb ausgelacht.

Seinetwegen war er zurückgekommen. Die beschaulichen Erinnerungen wichen nun der tiefen Wut, die sein Leben vergiftet hatte. Die offene Rechnung musste endlich beglichen werden. Darauf hatte er sich jetzt zu konzentrieren. Entschlossen betrat er den benachbarten Raum – die Galvanisierkammer. Die alte Blechwanne war mit einem Tuch abgedeckt. Mit einem Ruck zog er es beiseite und betrachtete die trübe, hochgiftige Flüssigkeit. Er spürte ein Kribbeln im Bauch. Heute Nacht würde hierin kein Besteck hochglanzversilbert werden, kein Pokal, keine Schale – o nein. Er atmete tief durch und prüfte die Maße der Wanne. Sie war nicht groß, bot aber dennoch genug Platz für sein Vorhaben.

Er kicherte in sich hinein und tastete nach dem Seil in seiner Manteltasche. Vorhaben! Was für ein schlichter Ausdruck für einen Mord. Der Blick auf die Uhr versetzte ihn in Unruhe. Eine Viertelstunde vor Mitternacht. Sein Opfer würde bald eintreffen, und er musste noch die Alarmanlage finden und ausschalten. Heutzutage hatte man sicher so eine Anlage installiert. Während er die Eisentreppe wieder hinunterstieg, überlegte er, wo sie sich wohl befinden könnte. Wäre sie im Büro im Nebenhaus, hätte er Schwierigkeiten. Im Grunde war es aber auch nicht so wichtig, sie auszustellen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Durch das Hoftor hatte er problemlos mit seinem alten Schlüssel eintreten können, und der Keller war nicht einmal abgeschlossen gewesen. Wozu auch? Damals war er noch benutzt worden – heute befand sich nur noch Gerümpel in ihm. Offenbar wusste niemand mehr, dass von ihm aus eine geheime Treppe hinauf in die Werkstatt führte. Wahrscheinlich hatte man die Bretter und eine ausrangierte Presse schon vor Jahrzehnten davorgeschoben und nicht mehr bewegt. Er musste wohl nach all der Zeit der Erste sein, der die Geheimtreppe wieder benutzte. Gott sei Dank war er hager und trotz Krankheit und Alter noch erstaunlich gut bei Kräften, denn es hatte ihn einige Mühe gekostet, sich einen Durchschlupf zu schaffen. Der obere Eingang war nur durch eine Tapete verklebt (wie leichtsinnig!), davor stand ein Schrank. Fast hätte er ihn nicht beiseiterücken können. Und danach hatte er erstaunt festgestellt, dass er sich in einem Museum wiederfand. Die Schätze des Traditionsunternehmens Jablonsky & Vermont, dachte er bitter und blieb nun vor einem Bild im Durchgang zum Laden stehen. Das Foto der Belegschaft aus den zwanziger Jahren war ihm wohl vertraut. Fast alle Arbeiter hatte er gekannt. Neben dem Foto hing ein kleiner Spiegel. Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Im trüben Licht wirkten seine Züge noch eingefallener – das Konterfei des Gespenstes, das er bald sein würde. Er wandte sich ab und entdeckte einen kleinen, grauen Kasten an der gegenüberliegenden Wand. Er öffnete ihn und stieß einen leisen Pfiff aus: Die Alarmanlage! Den Typus kannte er. Ein Kinderspiel, sie auszuschalten. Jetzt brauchte er nur noch zu warten.

Er ging den Weg über die Geheimtreppe in den Hof zurück, ließ sich auf einer kleinen Bank nieder und sah zu den dunklen Fenstern des gegenüberliegenden Haustraktes hinauf. Als der Teil des Hauses noch Wohnsitz der Familie Vermont gewesen war, hatte er dort gelebt. Und ein Teil von ihm war in jenen Räumen gestorben. Ob überhaupt noch jemand dort wohnte? Wenn ja, so schliefen diejenigen offensichtlich tief und fest.

Sicherheitshalber zog er sich in die dunkelste Ecke des Hofes zurück. Nur kein Risiko eingehen. Bislang war alles so einfach gewesen. Es hatte genügt, ihm von dem Schatz, von dem für Notzeiten angelegten Reservoir an Silberbarren zu erzählen. Seinerzeit hatten sie heimlich nach ihm gesucht, die Werkstatt auf den Kopf gestellt, ihn jedoch nie gefunden. Er hatte ihn angerufen und behauptet, er hätte eine alte Notiz seines Vaters entdeckt, die den entscheidenden Hinweis enthielt. Er schnaubte verächtlich durch die Nase. Er war so dumm gewesen, vor allem aber gierig, und hatte den Blödsinn geglaubt. Offensichtlich dachte er, dass er tatsächlich bereit wäre, diesen Schatz mit ihm zu teilen! Heimlich, ohne das Wissen der Familie, die sicher seit Langem schon nicht mehr an dessen Vorhandensein glaubte. Er selber auch nicht – und überdies war er ihm gänzlich gleichgültig. Was er verloren hatte, war durch kein Silber oder Gold der Welt aufzuwiegen.

Hatte der alte Narr vergessen, was er ihm angetan hatte? Vergessen sicher nicht, aber verdrängt. Es war schließlich alles so lange her. »Aber den Schatz, den hast du nicht vergessen!«, zischte er in die Dunkelheit. »Seinetwegen kommst du jetzt.« Er lehnte sich zurück und lächelte. Er sollte im wahrsten Sinne des Wortes im und am Silber ersticken. Das war die Strafe, die er sich für ihn ausgedacht hatte. Nur so würde seine Seele den ewigen Frieden finden können.

Er vernahm ein leises Klopfen an der Hoftür und stand auf. Er war gekommen!

Mein ist die Rache, spricht der Herr!, schoss es ihm durch den Kopf, als er den Hof überquerte.

O nein! Er hatte den Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit vor Jahren verloren. Diese Rache stand ihm zu. Nur ihm allein.

Kapitel 1

Wien, Oktober 2006

Um halb acht Uhr früh schloss Hermann Fichtl die schwere Hoftür auf und wunderte sich, dass sie sich nach nur einer Umdrehung des Schlüssels öffnen ließ. Er selbst hatte die Tür am Abend zuvor abgeschlossen und war sich sicher, sie wie immer zweimal zugesperrt zu haben. Nun, vielleicht hatte die Chefin oder ihr Sohn diesen Eingang später noch einmal benutzt. Für gewöhnlich allerdings wählten sie den Weg durch den Laden.

Er überquerte den Hof, schloss die Tür zur Werkstatt auf und schaltete die Alarmanlage aus. Wenigstens die hatte niemand vergessen.

Er zuckte schuldbewusst zusammen. Wie konnte er auch nur einem Menschen in der Manufaktur eine solche Nachlässigkeit zutrauen? Es musste an seinem Albtraum in der vergangenen Nacht liegen. Darin war jemand in die Manufaktur eingebrochen und hatte sämtliche Stanzen gestohlen. Und eine Stimme hatte die Entdeckung mit den heiser geflüsterten Worten kommentiert: »Der Pole war’s. Sie gehören ihm.«

Er kämpfte gegen den erneut aufkommenden Schauder an, stellte die mitgebrachte Papiertüte entschlossen auf seine Werkbank und hob vorsichtig die sorgfältig verpackte Torte heraus. Seine Frau hatte sie zur Kaffeepause für alle Mitarbeiter gebacken. Schließlich war heute sein zwanzigjähriges Firmenjubiläum. Und fast genau auf den Tag vor fünfzehn Jahren hatte er seine Meisterprüfung als Silberschmied abgelegt. Nur Schleifer Zappel war länger im Haus als er, immerhin schon seit vierzig Jahren, und dachte nicht daran, in Rente zu gehen. Ein Leben ohne seine Schleifmaschine und das geliebte Silber gäbe es für ihn nicht, hatte Zappel dem mittlerweile verstorbenen Chef – Gott hab ihn selig – erklärt, und dieser hatte daraufhin gemeint, dass es ein Segen sei, denn es hatte sich bislang kein Nachwuchs gefunden. Meister Hermann war ganz der Ansicht seines Chefs gewesen, hegte allerdings die Vermutung, dass dem guten Zappel daheim einfach seine Frau auf die Nerven ging. Er beschwerte sich schon darüber, dass er nicht jeden Tag an seiner Maschine stehen konnte, da es eben nicht täglich etwas zu schleifen gab. Zappel hatte seine Arbeit für diese Woche bereits erledigt, würde aber sicher dennoch wegen des Jubiläums seines Kollegen am Nachmittag vorbeischauen.

Meister Hermann dachte an die Gegenstände, die heute ins Silberbad wandern würden und beschloss, einen Blick in die Galvanisierkammer zu werfen. Zuvor allerdings wollte er Kaffee aufsetzen. Normalerweise war das die Aufgabe von Lehrling David, aber heute war schließlich ein besonderer Tag. Er würde der Gastgeber sein. Möglicherweise würde auch die Chefin ein paar Leckereien mitbringen. Zu Zappels Jubiläum hatte es Champagner gegeben – nach Werkschluss natürlich –, und Hermann erinnerte sich, wie unglücklich der Schleifer an dem edlen Getränk genippt hatte. Bier wäre ihm sicher lieber gewesen. Aber Bier war nichts Besonderes. Das passte nicht zu einem Ehrentag. Heute nun war es seiner. Wie er sich darauf freute!

Erneut schoss ihm die vergangene Nacht durch den Kopf. Albträume waren ihm fremd. Ein einziges Mal hatte er unter Schlafstörungen und unruhigen Träumen gelitten. Das war vor zwei Jahren gewesen, nachdem der Chef gestorben war und er befürchtet hatte, dass die Firma geschlossen werden würde. Aber Gott sei Dank hatte die Chefin sich, trotz der damals prekären Auftragslage, für die Fortführung entschieden. Und ihr Sohn, obwohl er ja noch studierte, ebenfalls. Seine zwei Brüder interessierten sich leider nicht für den Betrieb. Aber immerhin gab es Pierre, der so traditionsbewusst wie seine Mutter war.

Meister Hermann füllte Kaffeepulver in die Maschine und dachte voller Hochachtung an die beiden. Pierre war erst dreiundzwanzig, aber so besonnen und vernünftig! Und obwohl dem attraktiven Jungen die Mädchen sicher in Scharen nachliefen, hatte er keine Flausen im Kopf. An erster Stelle kam die Firma. Das lag sicher an der Erziehung seiner Mutter Valerie. Sie war mit siebenundvierzig Jahren viel zu jung und hübsch, um Witwe zu bleiben, fand Hermann. Insgeheim schwärmte der Meister für sie und wünschte ihr eine neue Liebe. Zumal der verstorbene Chef sie, seiner Meinung nach, nicht so respektvoll behandelt hatte, wie sie es verdiente. Er war ein Schürzenjäger gewesen. Meister Hermann hatte ihn im Lauf der Jahre ein paar Mal mit anderen Frauen gesehen. Mizzis!, dachte er verächtlich. Vom Silberhandwerk hatte Jean Vermont wirklich etwas verstanden, o ja, das musste man ihm lassen. Aber von Frauen? Auf Knien hätte er täglich dem Himmel danken müssen, eine wie Valerie bekommen zu haben. In dritter Ehe hatte er das große Los gezogen und ...

Doch eigentlich stand es ihm nicht zu, sich über die private Zukunft der verehrten Valerie Vermont Gedanken zu machen. Für ihn hatte nur zu zählen, dass die Zukunft der Firma gesichert war. Und die Tatsache, dass sie mit David einen so begabten Lehrling gefunden hatten, gab ihm zusätzlich Hoffnung. Der Junge würde einmal seinen Posten übernehmen. Wichtiger war es jedoch, sich um die Nachfolge von Zappel zu kümmern. Ewig würde er nicht mehr an der Maschine stehen können.

Er fuhr aus seinen Gedanken auf. Was war nur mit ihm los? Höchste Zeit, sich an seinen allmorgendlichen Rundgang zu machen. Es gehörte seit jeher zu seinen festen Gewohnheiten, vor Arbeitsbeginn und nach Werkschluss alle Räume zu inspizieren. Der Morgengang war ihm allerdings am angenehmsten, da hatte er sein Reich für sich allein. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn überhaupt niemand nach fünf Uhr nachmittags die Werkstatt mehr betreten würde. Aber das war natürlich nicht möglich. Der Laden hatte eine Stunde länger geöffnet, und er konnte weder der Verkäuferin geschweige denn der Chefin oder ihrem Sohn verbieten, in die Werkstatt zu kommen. Am unheimlichsten war ihm dabei immer der Gedanke, dass auch Fremde sein Reich betraten. Aber potenzielle Käufer erlagen nun einmal nicht nur der Schönheit des in so vielen Stunden handgefertigten Tafelsilbers; sie wollten auch nur allzu gern sehen, wie es gemacht wurde und sich zudem an der nostalgischen Atmosphäre der über hundert Jahre alten Werkstatt erfreuen. Außerdem führte der Weg zum hauseigenen Museum (dessen Kustorin die Chefin schließlich war) an ihren Werkbänken vorbei. Und, so gestand er sich ein, die Bewunderung und die interessierten Fragen von Besuchern hatten ihn auch durchaus stolz gemacht. Dass es noch Manufakturen wie Jablonsky & Vermont gab, schien die Leute unendlich zu erstaunen; und die Bereitschaft, das entsprechende Geld für handgefertigtes Silber auszugeben, stieg sicher mit dem Verständnis für die aufwändige Arbeit.

Nur – ohne ihn sollte eigentlich niemand durch diese Räume gehen. Erneut musste er an seinen Traum denken und konnte nicht umhin, die Schränke mit den Stanzen zu öffnen. Natürlich waren sie alle da! Und der Pole – meine Güte. Jablonsky war seit mindestens einem halben Jahrhundert tot. Genug der Ehre für ihn, dass man seinen Namen im Firmenlogo beibehalten hatte, nachdem er 1902, ein knappes Jahr nach der Firmenfusionierung, mit der Kasse auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Die Stanzen waren zuvor seine Firmeneinlage gewesen. Besser Geld als die Stanzen, dachte der Meister befriedigt und schloss die Schränke. Die Musterformen waren der eigentliche Schatz der Firma. Dumm genug vom Jablonsky, dass er das nicht begriffen zu haben schien.

Während er die Eisentreppe hinaufstieg, drehte er sich noch einmal um und ballte die Faust in Richtung der Schränke. »Vermaledeiter Pole!«, bekräftigte er seine Geste und vergaß dabei einen Augenblick lang, dass ein Teil seiner eigenen Familie ebenfalls polnischer Abstammung war.

Im oberen Stockwerk angekommen, warf er zunächst einen Blick in Zappels Reich. Etliche Bestecke lagen geschliffen und poliert bereit, um entfettet und anschließend versilbert zu werden. Auf ihnen thronte der aus Zeitungspapier gefaltete Dreispitz, den Zappel sich als Schutz vor Staub stets auf den Kopf stülpte.

Der Meister lächelte. Er konnte sich nicht entsinnen, den großen und beleibten Schleifer jemals ohne diese Kopfbedeckung gesehen zu haben. Gelegentlich, wenn er in der unteren Werkstatt zur Kaffee- und Zigarettenpause erschien, nahm er sie ab. Und ausgetauscht wurde der Papierhelm nur, wenn es unbedingt notwendig wurde. »Joseph braucht einen neuen«, sagte Zappel bei diesen Gelegenheiten und verstaute anschließend den Vorgänger in seinem Spind. Wie viele von ihnen dort lagerten, wusste niemand, nur dass er sich nicht von ihnen trennen mochte, weshalb die verständnisvolle Valerie Vermont angesichts des überquellenden Schrankes eines Tages vorgeschlagen hatte, seine ›kostbare Sammlung‹ im Keller aufzubewahren. Zu sich nach Hause konnte er sie nämlich nicht mitnehmen, nachdem er die Erfahrung gemacht hatte, dass seine Frau ein Jahrzehnt, – jawohl ein ganzes Jahrzehnt! – gesammelter Dreispitze einfach weggeworfen hatte.

»Armer Joseph«, hatte Valerie Vermont daraufhin gesagt. Sie war die Einzige, die ihn Joseph nennen durfte. Ansonsten gebot der Respekt vor dem Dienstältesten, dass er mit dem Nachnamen angeredet wurde. Arbeiter Bertl hatte sich einmal versprochen – allerdings nur einmal, denn Zappel hatte daraufhin dem kleinen Mann (nun ja, er, Hermann, war auch nicht viel größer) mit seinem Dreispitz einen Hieb verpasst und ihn nachdrücklich auf die Hierarchie im Hause hingewiesen. An erster Stelle rangierten die Chefs, dann er als Ältester, gefolgt vom Meister. Eine Weile lang käme nichts. (Verkäuferinnen nahm Zappel nicht weiter ernst.) Dann erst folgte der Arbeiter und zum Schluss der Lehrling. Der aber zeige immerhin viel Talent und könne weiter aufsteigen. Eine Freude für Meister Hermann. Denn was er, Zappel, bislang als Versuchskaninchen vor die Nase gesetzt bekommen habe, sei nichts als ein trostloser Beweis für den drohenden Untergang des Schleiferhandwerks gewesen. Da würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als auf seinen Ruhestand noch weiterhin zu verzichten. Zappel wurde nicht müde, diesen Umstand immer wieder aufs Neue zu betonen, und Meister Hermann musste ihm recht geben. Allerdings hoffte er inständig, dass es nicht so weit kommen würde. Er wandte sich ab und ging in die Galvanisierkammer.

Was er dort sah, versetzte ihn mit einem Ruck in den Albtraum der letzten Nacht zurück. Er riss die Augen auf, schloss sie aber sofort wieder. Er glaubte, nicht recht gesehen zu haben. Vorsichtig öffnete er die Augen erneut, aber das grausige Bild blieb: Dort, wo versilberte Gegenstände aufgehängt wurden, hing ... ein Mensch! Meister Hermann starrte auf herunterhängende Beine in schwarzen Hosen und auf Füße, die in altmodischen Stiefeln steckten. Ab der Taille aufwärts war die Gestalt versilbert. Die Arme leicht von sich gestreckt, den Kopf in grotesker Haltung verdreht, war das Wesen mit einem um den Bauch geschlungenen Strick an den Deckenhaken befestigt worden. Halb hing und halb saß es auf der Kante des breiten Tisches in der Mitte des Raumes.

Meister Hermann atmete schwer. Er begann gleichzeitig zu schwitzen und zu frieren – dann schoss ihm eine irrwitzige Hoffnung durch den Kopf: Man hatte sich einen Scherz mit ihm erlauben wollen, eine makabre Inszenierung zum Jubiläumstag. Was er hier vor sich hatte, war sicherlich gar kein Mensch, sondern eine Puppe. Doch wer von den Kollegen sollte ihm einen derartigen Schrecken einjagen wollen und hätte zudem wertvolles Silber dafür vergeudet? Der Hoffnungsschimmer erlosch. Er brauchte Gewissheit. Langsam näherte er sich der reglosen Gestalt, überwand seinen Ekel, bückte sich und zog vorsichtig ein Hosenbein hoch.

Nackte weiße Haut. Schwarze Haare. Krampfadern.

Er taumelte rückwärts. Er hatte das Bein eines Menschen berührt, eines toten Mannes, den jemand ins Silberbad mit der hochgiftigen Flüssigkeit gestoßen und anschließend dort aufgehängt hatte.

Aber wie, um Himmels willen, waren Mörder und Opfer hier hineingelangt? Die Alarmanlage war eingeschaltet gewesen ... niemand konnte ohne Schlüssel hinein, nur Valerie und Pierre Vermont, die Verkäuferin Frau Mohr und er hatten einen ... Seine Gedanken überschlugen sich. Die Polizei würde sie alle verdächtigen. Vor allem aber ihn. Er hatte die Leiche gefunden! Und er musste die Beamten benachrichtigen. Sofort.

Hermann hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sein nächtlicher Albtraum war ein Zeichen gewesen. Er hätte ihn ernst nehmen sollen und heute Morgen nicht allein hierherkommen dürfen. Aber wer konnte schon ahnen, dass ausgerechnet hier, in seiner Werkstatt, ein Mord geschah? Wer war der alte Mann, der dort hing? Warum hatte ihn jemand umgebracht und auf so fürchterliche Weise zur Schau gestellt? Jemand, dem der Mord allein nicht genügt hatte, sondern der ihnen allen schaden wollte und der Firma den Untergang wünschte?

Wie gebannt starrte er weiterhin auf die groteske Inszenierung, unfähig, sich von dem Anblick zu lösen.

»Meister, sind Sie oben?« Die Stimme des Lehrlings riss ihn aus seiner Starre. Er stieß einen rauen Schrei aus, machte auf dem Absatz kehrt und hastete die Eisentreppe hinunter.

Kapitel 2

Wien, Oktober 2006

Das schrille Klingeln des Weckers riss Valerie Vermont aus dem Schlaf. »Ich komme«, grummelte sie, denn in ihrem Traum hatten soeben die Möbelpacker Sturm geläutet, um immer noch mehr Umzugsgut in die neue Wohnung zu schleppen, in der dafür schon längst kein Platz mehr war.

Nach einem Augenblick der Benommenheit wurde ihr klar, dass sie geträumt hatte. Sie verpasste dem Wecker einen Hieb und zog sich die Decke über den Kopf. Seit sie nach dem Tod von Jean und dem Auszug ihrer Söhne das große Haus in Hietzing vermietet und in die Wohnung in der Kirchengasse gezogen war, schlief sie häufig schlecht und träumte zudem wirres Zeug. Sie hatte sich immer noch nicht an die Geräusche der belebten Straße gewöhnen können, vermisste ihren Garten und die Ruhe des idyllischen Vororts. Aber es war eindeutig praktischer, mitten in der Stadt und nur einen Steinwurf entfernt von der Manufaktur in der Zieglergasse zu wohnen.

Valerie seufzte. Trotz der vielen Freunde fühlte sie sich häufig einsam. Sie war es über so viele Jahre gewohnt gewesen, ihre Familie um sich zu haben. Immerhin sah sie Pierre, ihren Ältesten, jeden Tag in der Firma, die zwei Jahre jüngeren Zwillinge sehr viel seltener. Aber die, so gestand sie sich ein, hatten schon seit Jahren das Zuhause in Hietzing eher als eine angenehme Pension betrachtet. Ganz wie ihr Vater! Jean hatte sich in den letzten Jahren ebenfalls immer seltener zu Hause blicken lassen. Er war mit seinen ständig wechselnden Freundinnen, deren Alter sich immer mehr dem seiner Söhne näherte, beschäftigt gewesen. Valerie erinnerte sich gut an den heftigen Schmerz, den sie nach der Entdeckung der ersten Affäre verspürt hatte. Und dennoch hatte sie seinen Beteuerungen, es sei ein Ausrutscher gewesen, geglaubt. Glauben wollen. Weil sie ihn liebte. Irgendwann war ihr bewusst geworden, dass er nicht anders konnte, als sich immer wieder aufs Neue Bestätigung bei jungen Frauen zu holen. Dabei war sie schon zwanzig Jahre jünger als er und seine dritte Ehefrau gewesen. Seine Affären, wie er stets betont hatte, hätten nichts mit seiner Liebe zu ihr zu tun. Sie selbst hatte sich mit einer einzigen Liaison gerächt. Aber es war ein ziemliches Fiasko gewesen. Und als Jean es – so, wie von ihr gewollt – herausgefunden hatte, war ein Tobsuchtsanfall die Folge gewesen. Bei einem Mann sei es etwas anderes, wenn er herumschnacksle, hatte er gebrüllt. Eine Frau täte so etwas doch nur, wenn sie mit dem Herzen dabei sei.

Wie altmodisch er doch in manchem gewesen war. Außerdem egoistisch und rücksichtslos. Und doch hatte sie ihn geliebt und immer gehofft, dass er es irgendwann leid sein würde, sich Bestätigung in anderen Betten zu holen. Aber dazu war es nicht mehr gekommen. Sein Herzinfarkt hatte den Schlussstrich unter all ihre Hoffnungen gezogen.

Valerie schob die Decke zurück und atmete tief durch. Es wurde langsam Zeit, sich für neue Begegnungen zu öffnen. Sie war zu jung, um ihr Leben weiterhin als einsame Witwe zu führen. Vor allem, weil Jean sie in gewisser Weise schon vor seinem Tod zu einer gemacht hatte. Sie würde in Zukunft versuchen, ihren Verehrern, an denen es schon während ihrer Ehe und erst recht danach nie gemangelt hatte, toleranter zu begegnen, nicht mehr ständig Jeans einzigartigen Charme zum Maßstab zu machen und zu vergessen, wie viele Tränen sie seinetwegen vergossen hatte.

Das Läuten des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Wer zum Teufel rief um kurz nach acht Uhr morgens an? Hatte einer der Jungen vielleicht ein Problem? Die Zwillinge seien in ein und dasselbe Mädchen verliebt, hatte Pierre erzählt ... Valerie sprang aus dem Bett, hastete in die Diele und griff nach dem Hörer.

»Entschuldigung, dass ich Sie störe, gnädige Frau, es ist ... es ist etwas passiert.«

Meister Hermann! Seine Stimme war voll mühsam unterdrückter Panik.

»Sie hören sich ja an, als hätten Sie den Leibhaftigen gesehen, lieber Hermann. Was ist denn geschehen?«

»Den Leibhaftigen, äh, nicht gerade, Frau Vermont. Aber etwas Ähnliches. In der Galvanisierkammer ... also da hängt, da sitzt ...« Er gab ein würgendes Geräusch von sich. »Da hängt eine Leiche. Genauer gesagt: eine versilberte Leiche und ...«

»Rufen Sie die Polizei, Hermann«, unterbrach Valerie ihn. »Und fassen Sie um Himmels willen nichts an. Ich komme sofort.«

Valerie war kaum imstande gewesen, sich anzuziehen. Ihre Hände zitterten, und das dumpfe Pochen an den Schläfen kündigte eine Migräne an. Als sie eine halbe Stunde nach dem Anruf in der Manufaktur eintraf, war die Polizei schon da. Drei Streifen- und ein Notarztwagen blockierten die Zieglergasse. Ein kleiner Mann mit Adlernase und spitzem Kinn, der sich als Inspektor Fuchs von der Mordkommission vorstellte, empfing Valerie mit ernster Miene.

»Eine böse Sache. Gut, dass Sie so schnell kommen konnten, Frau Vermont. Ein Leichenfund wie dieser ist mir in meiner gesamten Dienstzeit noch nicht untergekommen. Vielleicht haben Sie ja eine Ahnung, wer der Tote sein könnte?«

Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie erstarren. Die bis zur Taille versilberte Leiche saß in grotesker Verrenkung auf dem Tisch, während sie zugleich mit einem Seil an den Haken unter der Decke des Raums befestigt war. Angewidert schlug sie die Hände vors Gesicht und wandte sich ab.

»Und?«, fragte Fuchs nach. »Haben Sie eine Idee, wer der Mann sein könnte?«

Valerie schüttelte den Kopf. »Überhaupt keine. Und die Versilberung – ich müsste den Toten ohne diesen ... diesen geschmacklosen Panzer sehen.«

»Dazu haben Sie bald Gelegenheit«, ertönte hinter ihr eine männliche Stimme. Valerie fuhr herum. Ein schlanker, grauhaariger Hüne lächelte gewinnend auf sie herab und deutete eine leichte Verbeugung an. »Ritter«, stellte er sich vor. »Gerichtsmedizin. Und Sie sind wohl Frau Vermont, die Besitzerin der Manufaktur?«

Valerie nickte und reichte ihm die Hand. Fuchs verzog das Gesicht.

»Oh, der Herr Professor! Der Chef der Pathologie gibt uns höchstpersönlich die Ehre«, sagte Fuchs betont freundlich.

»So einen Fall lass’ ich mir doch nicht entgehen«, erwiderte der Professor gut gelaunt und schlüpfte in einen Overall.

»Wo ist denn Ihr Chef, lieber Fuchs? Ich hatte mit dem Herrn Hofrat gerechnet.«

Fuchs’ Miene nahm nun einen Ausdruck an, als kaue er auf einer Aspirintablette. »Der leitende Kriminaldirektor, Hofrat Dr. Kranz, befindet sich noch im Urlaub. Dies ist mein Fall!«

»So, so.« Der Professor streifte sich Plastikschützer über die Schuhe. »Wie lange?«

»Hä? Bis er gelöst ist, natürlich.«

»Ich meine, wann der Hofrat zurückkommt.

»Er ist nächste Woche wieder da. Warum?«

Ritter grinste nun breit. »Weil dann sicher er die Ermittlungen übernehmen wird, lieber Fuchs. Auch Kranz lässt sich so einen großartigen Fall nicht entgehen.«

»Großartig!«, platzte Valerie heraus. »Das hier ist ein widerlicher Mord! Und einer, der ausgerechnet in unserer Manufaktur begangen wurde. Ich kenne Hofrat Kranz. Er würde niemals so respektlos daherreden und dieses Verbrechen als einen ›großartigen Fall‹ bezeichnen.«

»Sie kennen ihn?« Ritter lächelte, »Natürlich, er hat ja den Dieb der Saliera geschnappt. Und bei Ihnen werden schließlich die Repliken des Cellini-Salzfasses hergestellt. Außerdem ist der Hofrat wirklich ein höflicher und höchst charmanter Mann.«

Der Seitenblick auf Fuchs, zu dessen Stärken Charme sicher nicht zählte, sprach Bände. Sie können einander nicht ausstehen, folgerte Valerie und empfand beinahe Mitleid mit dem Inspektor. Gegen den Gerichtsmediziner hatte er keine Chance; seinem Vorgesetzten würde er vermutlich ebenfalls nie das Wasser reichen können. Und wie Ritter hoffte nun auch sie, dass der Hofrat diesen Fall übernehmen würde.

Der Pathologe beförderte nun seinen Forensikkoffer auf den Tisch und baute sich mit verschränkten Armen vor der Leiche auf. »Alle Achtung«, sagte er. »Da hat sich ein Mörder mal was Originelles ausgedacht. So etwas hatten wir jedenfalls noch nie.«

Valerie starrte den Mediziner entgeistert an. Der Mann benahm sich, als besuchte er eine Ausstellung mit skurrilen Skulpturen.

Ritter beäugte nun die Wanne. »Da hat man ihn also hineingestoßen. Tja, hochgiftige, zyankalische Flüssigkeit. Innerhalb von circa fünfzehn Sekunden war er jedenfalls tot. Da leiden andere länger.«

Valerie war schockiert. Wäre sie dem Professor unter anderen Umständen begegnet, hätte sie ihn durchaus anziehend gefunden. So aber war sie fassungslos über seine Sprüche.

»Wann erfahre ich Genaueres?«, wollte Fuchs wissen. »Wir müssen ihn schleunigst identifizieren.«

»Eine Woche werden Sie schon warten müssen.«

Der Inspektor war aufgebracht. »Eine Woche? So lange brauchen Sie doch nicht, um das Silber abzulösen.«

»O doch, lieber Fuchs. Sie wollen ihn schließlich identifizieren, oder? Wenn ich das Silber mit einer chemischen Lösung entferne, bleibt vom Gesicht nicht mehr viel übrig. Das müssen wir schon anders machen.«

»Wie denn?«

Ritter warf einen Blick auf Valerie. »Klingt nicht schön, gnädige Frau. Wir werden ihn aufs Blech legen und rund eine Woche faulen lassen. Dann lässt sich der hübsche Silberpanzer ganz leicht abheben.«

Valerie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »Das reicht. Ich möchte jetzt bitte gehen.«

Fuchs nickte dem Professor zu. »Sie informieren mich bitte.« Dann zog er Valerie mit sich, damit die Spurensicherung mit der Arbeit fortfahren konnte.

»Wie makaber«, sagte sie, während beide die Eisentreppe hinunterstiegen. »Die Sprüche des Professors sind wirklich schwer zu ertragen.«

»Die sind normalerweise auch nicht für die Ohren von Laien bestimmt. Tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich hinausgeschickt habe. Aber Sie haben es ja doch mit Fassung getragen. Kompliment. Ihr Meister wäre vermutlich in Ohnmacht gefallen.«

»Wo ist Hermann überhaupt?«, fragte sie.

»Er sitzt in Ihrem Büro und ist mit den Nerven vollkommen am Ende.«

»Kein Wunder«, erwiderte Valerie heftig. »Er hat die Leiche schließlich gefunden! Heute ist sein zwanzigjähriges Firmenjubiläum. Das wollten wir feiern. Und was passiert stattdessen? Er findet eine Leiche! In unseren Räumen! Und dazu noch eine versilberte!«

»Da muss jemand am Werk gewesen sein, der nicht nur etwas vom Silberhandwerk versteht, sondern auch in der Lage war, sich Zutritt zu Ihren Räumen zu verschaffen«, erwiderte der Inspektor gedehnt. »Fällt Ihnen jemand ein?«

»Außer uns?« Valerie musterte ihn. Seine Augen unter buschigen Brauen schienen sich ins Innerste des Gegenübers bohren zu wollen.

»Nein«, sagte sie. »Niemand außer mir, meinem Sohn, einer Verkäuferin und dem Meister hat einen Schlüssel. Die Alarmanlage war eingeschaltet – wie Sie sicher schon gehört haben –, und einen anderen Eingang als den durch die Tür im Hof oder den durch den Laden gibt es in der Manufaktur nicht. Jedenfalls keinen, der mir bekannt wäre. Darum ist es mir auch gänzlich rätselhaft, wie ein Fremder hier hineinkommen könnte. Aber dass keiner von uns vieren etwas mit dem Verbrechen zu tun hat, ist Ihnen doch hoffentlich klar?«

»Hm«. Der Inspektor hüstelte. »Klar ist gar nichts, Frau Vermont«, sagte er dann in einem amtlichen Ton. »Ich möchte Sie bitten, mich in Ihr Büro zu begleiten.«

Meister Hermann saß zusammengesunken auf einem Stuhl. Als Valerie den Raum betrat, erhellte sich seine Miene, und er verzog das Gesicht zu einem kläglichen Grinsen.

»Frau Vermont, ich habe genau erzählt, wie ich hineingekommen bin und was ich getan habe, bevor ich die Leiche entdeckte. Das Einzige, was mir auffiel, war die Tatsache, dass die Hoftür nur einmal abgeschlossen war. Dabei bin ich mir sicher, sie, wie immer, zweimal zugesperrt zu haben. Ich dachte, dass Sie vielleicht später noch einmal hier waren. Oder Pierre ... Frau Mohr gewiss nicht. Sie ist zu Verwandten nach Grinzing gefahren. Eine Geburtstagsfeier. Das hat sie erzählt.«

»Mir auch«, bestätigte Valerie. »Und Pierre wollte mit seiner Freundin ins Theater gehen. Ich war mit Freunden zum Essen aus und anschließend zu Hause. Ganz gewiss war niemand von uns gestern Abend oder in der Nacht noch einmal in der Manufaktur.«

Inspektor Fuchs hüstelte erneut und wechselte einen Blick mit dem Polizisten, der neben Hermann am Tisch in der Mitte des Raumes saß. »Die Alibis werden wir überprüfen. Waren Sie, Frau Vermont, nach dem Essen allein zu Hause?«

Valerie nickte. »Ja, ich bin Witwe«, sagte sie spitz. »Ab elf Uhr nachts habe ich also kein Alibi.«

Der Inspektor ignorierte ihren Tonfall und ließ seinen Blick zwischen Valerie und Meister Hermann hin und her wandern. »Wir müssen Sie beide, Ihren Sohn, Frau Vermont, und auch die übrigen Mitarbeiter der Firma ins Präsidium bitten. Geben Sie Namen und Adressen meinem Kollegen an.«

»Aber außer denen, die Ihnen genannt wurden, hat niemand einen Schlüssel«, protestierte Valerie.

Fuchs zog die linke Augenbraue hoch. »Trotzdem.«

»Sie können sie selbst fragen. Außer Meister Hermann besteht die Belegschaft nur aus unserem Arbeiter Bertl, Lehrling David und Schleifer Zappel, der heute einen freien Tag hat. Ich werde ihn bitten zu kommen. Die Verkäuferin wird jeden Augenblick eintreffen. Mein Sohn ebenfalls. Wir müssen den Laden öffnen.«

»Daraus wird heute nichts«, sagte Fuchs in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Und morgen?«

Bevor er antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen, und ein Mann von der Spurensicherung stürmte herein. »Inspektor«, rief er. »Kommen Sie bitte mal. Wir haben etwas entdeckt.«

Hinter ihm erschien Ritter. »Interessante Sache, in der Tat. Ich gehe jetzt. Die Leiche wird abgeholt. Todeszeitpunkt, grob geschätzt, gegen Mitternacht, und den Beinen nach zu urteilen haben wir es mit einem alten Mann zu tun. Ziemlich alt, um genau zu sein. Dazu passt seine Hose. Solider schwerer Stoff. Und das altmodische Schuhwerk – nach meinem Eindruck handgenäht – erinnert mich an Modelle, die mein Vater trug. Wenn Sie Glück haben, stammen die aus der Werkstatt vom Kommerzialrat Materna in der Mahlerstraße, früher Nagy in der Singerstraße. Das Geschäft existiert seit hundert Jahren, und natürlich werden Kundenbücher geführt.«

Fuchs warf einen fragenden Blick in Valeries Richtung.

»Mein verstorbener Mann besaß Schuhe von Materna. Schon sein Vater hat dort arbeiten lassen. Sonst fällt mir im Augenblick niemand ein – vor allem kein alter Mann –, der Maßschuhe trägt.«

»Wir werden die Namen der Kunden überprüfen. Vielleicht sagt Ihnen ja doch einer etwas.« Fuchs verließ mit den anderen den Raum, und Valerie fragte sich, was die Leute von der Spurensicherung wohl entdeckt haben mochten.

»Ich mache jetzt für uns alle einen Kaffee«, sagte sie entschieden, woraufhin der Beamte und Meister Hermann dankbar nickten.

»Ich sollte Sie aber in die Küche begleiten.« Der Polizist erhob sich zögernd.

Valerie winkte ab. »Die Mühe können Sie sich sparen. Eine Kaffeemaschine steht hinter dem Regal, keine zwei Meter von hier entfernt. Und übrigens – hören Sie auf, mich wie eine Verdächtige zu behandeln.«

»Das sind wir aber«, flüsterte Hermann. »Jedenfalls so lange, bis unsere Alibis überprüft worden sind und die Polizei weiß, wer der Tote ist.«

»Richtig«, stimmte der Beamte zu. »Aber regen Sie sich darüber bloß nicht auf. Alles reine Routine.«

Erneut wurde die Tür aufgerissen. »Mama, was um Himmels willen ist hier los?«

Der große, schlaksige Pierre, wie stets im dunklen Anzug und mit sorgfältig nach hinten gekämmtem Haar, machte einen aufgelösten Eindruck.

Valerie umarmte ihn und zog ihn auf einen Stuhl. »Meister Hermann hat heute früh eine Leiche in der Galvanisierkammer gefunden.«

Pierre starrte seine Mutter ungläubig an.

»Die Alarmanlage war eingeschaltet, die Türen verschlossen«, fuhr Valerie fort. »Es ist einfach unerklärlich.«

Pierre sprang wieder auf und lief aufgeregt im Raum auf und ab.

»Die Leiche hing aber da«, sagte Hermann kläglich. »Jemand hat den Mann erst ins Silberbad gestoßen und anschließend an den Haken aufgehängt. Der Arzt sagt, es sei ein alter Mann gewesen.«

Pierre schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. »Das bedeutet, dass es eine Möglichkeit gibt, in die Firma zu gelangen, von der wir alle keine Ahnung haben. Welche das sein sollte, ist mir schleierhaft. Vielleicht wusste Vater davon, aber erzählt hat er nie etwas.«

»Ein Geheimgang?« Valerie runzelte die Stirn. »Und wo sollte der sein? Wir kennen doch jeden Winkel in diesem Gebäude.«

»Anscheinend nicht«, bemerkte der Polizist. »Ihr Sohn hat jedenfalls die einzig mögliche Erklärung ins Spiel gebracht. Es sei denn ...«, er unterbrach sich.

»Es sei denn, es wäre einer von uns gewesen«, sagte Pierre. »Das wollten Sie doch damit andeuten.«

Wieder begann er, im Raum auf und ab zu gehen. »Das ist ja einfach furchtbar! Und ich mag gar nicht darüber nachdenken, wie sich die Boulevardpresse auf den Fall stürzen wird. Mord in der Traditionsfirma ... Familie Vermont und ihr Personal unter Verdacht. Das ist eine Katastrophe!«

»Vielleicht klärt sich ja alles ganz schnell auf«, sagte Meister Hermann hoffnungsvoll.

In diesem Moment betrat Fuchs den Raum, musterte die Anwesenden und räusperte sich. »Die Spurensicherung hat gerade eine hoch interessante Entdeckung gemacht. Wussten Sie etwas von der Treppe, die aus dem Keller im Hof hinauf ins Gebäude führt?«

»Eine Treppe?«, wiederholte Valerie.

»Jawohl, eine Treppe. Hinter einer alten Presse im Keller beginnt sie und endet in einem Raum im ersten Stock. Anscheinend das Museum Ihres Hauses. Die Tür zur Treppe hatte keine Klinke und war mit einer Tapete verklebt. Davor steht ein Schrank.«

»Wie haben Ihre Leute sie denn dann entdeckt? Ich habe noch nie etwas von einer Treppe gehört«, sagte Valerie schließlich. »In früherer Zeit wurde auch im Keller gearbeitet. Aber das ist Jahrzehnte her. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich überhaupt je dort unten gewesen bin. Kurz nach der Hochzeit, glaube ich. Weil Jean behauptete, dass irgendwo im Haus ein Schatz versteckt worden sei. Silberbarren. Vor oder auch während des Krieges. Jedenfalls haben wir ihn nie gefunden.«

Inspektor Fuchs fixierte Meister Hermann. »Sie sind von allen am längsten im Haus, nehme ich an. Wussten Sie auch nichts von der Treppe? Oder dem Schatz?«

Hermann schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung. Aber vielleicht kann unser Schleifer weiterhelfen. Er ist noch länger hier als ich. Vierzig Jahre.«

»Rufen Sie ihn bitte sofort an und bestellen ihn hierher«, wandte Fuchs sich an Valerie.

Sie telefonierte, erfuhr jedoch von Zappels Frau, dass er unterwegs sei, aber ohnehin mittags in die Manufaktur kommen wollte. Wegen des Jubiläums.

Wieder verzog Fuchs das Gesicht. Aber schließlich konnte niemand den Schleifer herbeizaubern.

»Meine Spekulation über einen geheimen Eingang waren also tatsächlich richtig«, sagte Pierre nun geschockt. »Und wir alle hatten keine Ahnung davon. Bleibt nur die Frage, wie der Mörder und sein Opfer durch das Hoftor gelangt sind.«

»Das Schloss ist uralt«, bemerkte Valerie. »Wer weiß, ob jemand von der früheren Belegschaft nicht noch einen Schlüssel hatte. Das Opfer jedenfalls war doch ein alter Mann. Der Mörder dann vielleicht auch.«

Der Inspektor nickte nun zufrieden und verlangte eine Liste mit allen Namen früherer Angestellter. Außerdem wollte er wissen, ob es ältere Familienmitglieder gäbe, die sich vielleicht an etwas erinnern könnten.

Valerie und ihr Sohn sahen sich an. »Sophie«, sagten beide gleichzeitig.

»Sie ist siebenundachtzig Jahre alt«, fuhr Valerie fort, »und eine Cousine meines verstorbenen Mannes. Wir nannten sie allerdings immer nur Tante Sophie. Als junges Mädchen war sie häufig in der Manufaktur, weil sie mit dem zwanzig Jahre älteren Bruder meines Mannes befreundet war. Vielleicht erinnert sich Sophie noch an irgendetwas. Allerdings hat sie sich nach dem Krieg von der Familie distanziert. Wir sehen uns höchst selten.«

»Und was ist mit dem Cousin, Ihrem Schwager, wenn ich es recht verstanden habe? Lebt er noch?«

Wieder wechselten Valerie und Pierre einen Blick.

»Ich nehme es an«, sagte Valerie gedehnt. »Wir haben aber keinerlei Kontakt zu ihm. Ich bin Louis nur einmal begegnet, vor ungefähr fünfzehn Jahren. Er hat sich schon vor Jahrzehnten aus dem Geschäft zurückgezogen, und mein Mann und er waren sich, obwohl sie Brüder sind, immer fremd. Darum ist er wohl auch nicht zur Beerdigung meines Mannes gekommen. Louis lebt übrigens in Dürnstein.«

»Versuchen Sie bitte, ihn zu erreichen. Wir müssen ihn und die alte Dame unbedingt um ihre Mithilfe bitten.«

Pierre musste lachen. »Tante Sophie sieht schlecht. Aber im Kopf ist sie so klar wie Sie und ich. Vermutlich steckt sie uns beide noch in die Tasche. Aber sie hat so ihre Eigenheiten. Redet wirklich nicht mit jedem. Ich glaube, es ist das Beste, wenn Mama sich zunächst allein mit ihr unterhält. Sie kann, pardon, Polizisten nämlich nicht besonders gut leiden.«

Mit dem Hofrat würde sich Sophie sehr wohl unterhalten, dachte Valerie. Für ihn schwärmte die alte Dame, denn durch seine Arbeit war der Dieb, der die Saliera aus dem Kunsthistorischen Museum gestohlen hatte, gefasst worden. Außerdem flirtete Sophie immer noch gern mit attraktiven Männern, obwohl sie die doch nur verschwommen sah. Sie war einfach zu eitel, um in deren Gegenwart die dicke Brille aufzusetzen. Außerdem schätzte sie Hofräte. Schließlich, betonte Sophie stets, hätten die ihren Titel für außergewöhnliche Verdienste erhalten.

»Ich werde mit ihr sprechen«, sagte Valerie zu Fuchs. »Vielleicht kann sie den Toten sogar identifizieren. Aber das wird wohl ohnehin erst in einer Woche möglich sein.«

Fuchs lächelte säuerlich. »Sieht ganz so aus. Aber bis dahin können wir schließlich nicht untätig herumsitzen.«

»Natürlich nicht.« Valerie lächelte freundlich und bot dem Inspektor an, für die Vernehmung der Angestellten ihr Büro zu benutzen. Und wenn er damit fertig sei, würde sie die Belegschaft zum Heurigen einladen. Meister Hermanns Dienstjubiläum musste doch gefeiert werden. Zumal sie alle nach dem Schock auf andere Gedanken kommen müssten.

Fuchs rieb sich die Nase. »Wenn alle vernommen worden sind, können Sie für heute gehen«, erklärte er der Runde schließlich.

Hermann lächelte seine Chefin dankbar an. Bestimmt war ihr nach allem anderen zumute, nur nicht einem Ausflug zum Heurigen. Aber sie wollte sein Jubiläum trotz allem würdigen. Und worum würden sich die Gespräche drehen? Um den rätselhaften Mord natürlich. Er selbst hatte das Gefühl, dass der Anblick des Toten ihn auf ewig verfolgen würde. Könnte er jemals wieder so unbelastet und voller Freude an seinem Arbeitsplatz erscheinen, wie es die vergangenen zwanzig Jahre der Fall gewesen war? Und würde die Manufaktur sich von diesem entsetzlichen Ereignis überhaupt erholen? Vielleicht gäbe es seinen Platz schon bald nicht mehr. Sein Magen krampfte sich zusammen. Wenn der Fall nun nicht aufgeklärt würde? Dann blieben die Kunden weg. Ganz sicher. Die Manufaktur müsste schließen. Am Ende wäre der Besuch beim Heurigen nicht nur eine Jubiläums-, sondern eine Abschiedsfeier. Für sie alle. Unwillkürlich bekreuzigte er sich. Nein, das durfte nicht sein. So etwas konnte der Herrgott doch nicht zulassen!

Kapitel 3

Wien, Oktober 2006

Sophie Berlinger war soeben vom täglichen Morgenspaziergang zwischen ihrer Wohnung in der Burggasse und dem nahe gelegenen Café Raimund zurückgekehrt. Schon als Kind hatte sie eine Vorliebe für Kuchen am Vormittag gehabt, war jedoch von ihrer Mutter oder der Wirtschafterin meist daran gehindert worden. Sie verdürbe sich nur den Appetit fürs Mittagessen, war sie ermahnt worden. Dabei hatte sie gar keine Lust gehabt, zu Mittag zu essen. Die Mahlzeit am Abend war ihr immer lieber gewesen. In Kindertagen hatte sie sich durch die Teilnahme daran den Erwachsenen als zugehörig empfunden, hatte gebannt gelauscht, wenn ihr Vater von den Tagesereignissen aus der Spielzeugfabrik in der Westbahnstraße berichtete. Und er hatte es anschließend nie versäumt, auch sie, seinen ›Augenstern‹, nach ihren Erlebnissen zu fragen. Was war in der Schule vorgefallen, wen hatte sie am Nachmittag getroffen, welcher Meinung war sie über dies oder jenes? Der Ansicht, dass man Kinder sehen, aber nicht hören sollte, war er niemals gewesen. Ihre Freundinnen hatten sie darum beneidet, vor allem Lilly.

Sophie legte ihren Schlüsselbund auf die Konsole in der geräumigen Diele, stellte die Handtasche daneben und hing Hut und Mantel in der Garderobe auf. Danach beschloss sie, sich einen weiteren Kaffee zu kochen und schmunzelte bei dem Gedanken an ihren Hausarzt, denn er hatte es ihr streng verboten, zu viel von ihrem Lieblingsgetränk zu sich zu nehmen. Das sei schädlich fürs Herz. Dabei hatte sie jüngst gelesen, dass Kaffee, entgegen der bislang herrschenden Meinung, der Gesundheit durchaus förderlich sei. Wie auch immer – ihr war es einerlei. Der gute Doktor konnte sie in ihren eigenen vier Wänden nicht kontrollieren, und in seiner Ordination belog sie ihn immer nach Herzenslust und verschwieg auch, dass sie gelegentlich gern Zigarillos rauchte.

Sophie ging in die Küche und stolperte dabei über die erhöhte Schwelle. Fast wäre sie gestürzt. Sie hielt sich einen Augenblick zitternd am Türrahmen fest. Wie konnte ihr das passieren? Sie lebte immerhin schon seit über sechzig Jahren in der ehemaligen Wohnung ihrer Schwiegereltern. Ließen etwa nicht nur ihre Augen, sondern auch das Gedächtnis nach? Mit Schaudern dachte sie an ihre Freundin Lore, die an schwerem Alzheimer litt und niemanden mehr erkannte. Und an Susi, die inzwischen auch ziemlich vergesslich – nein, im Grunde gaga – war. Aber immerhin konnte man mit ihr noch über alte Zeiten reden. Dennoch sah sie Susi selten. Die alte Freundin lebte in einem Seniorenheim, und Sophie war der Weg dorthin zu beschwerlich; auch die Gespräche waren ihr zu anstrengend. Sie mochte die Atmosphäre in dem, wie sie es insgeheim nannte, ›Warten-auf-den-Tod-Bunker‹ ganz und gar nicht. Wie gut, dass niemand sie in so ein Etablissement befördern wollte. Ihre einzige Tochter lebte in Kalifornien und besuchte sie nur einmal im Jahr. Seit ihr geliebter Ehemann Ferdinand tot war, hätte sie sich durchaus häufigere Besuche gewünscht. Immerhin aber hatte es den Vorteil, dass die resolute Tochter sich nicht auf unerwünschte Weise in ihr Leben einmischte. Wenn sie allerdings irgendwann Gefahr liefe, auch gaga zu werden und das Augenlicht weiter nachließe ... nicht auszudenken. Sie musste sich umgehend an ihr Gedächtnistraining machen. Der Kaffee wäre dann die Belohnung.

Sophie hatte für ihre Übung einen festen Plan: Sie schloss die Augen und wanderte durch die fünf Zimmer ihrer Wohnung. Es durfte dabei nicht passieren, dass sie an irgendwelche Gegenstände stieß. Keine leichte Aufgabe, denn die Räume waren derart mit Möbeln vollgestopft, dass ihre Tochter sie einmal als Müllhalde bezeichnet hatte.

Müll! Es handelte sich schließlich um Antiquitäten. Die ererbten von ihren Eltern und Schwiegereltern sowie jene, die sie und Ferdinand angeschafft hatten. Den Epochen entsprechend war das Mobiliar in verschiedenen Räumen verteilt: Historismus und Biedermeier beanspruchten den meisten Platz und füllten zwei Salons sowie das Speisezimmer. Art-Deco und die 50er Jahre befanden sich im kleinen Salon, im Schlafzimmer und in der Bibliothek. Hier hielt Sophie sich am liebsten auf. Zum Lesen oder Fernsehen und um im einzig modernen und mit Abstand bequemsten Sofa nach Herzenslust zu ›lümmeln‹, wie sie es heimlich nannte. Denn eine Dame lümmelte natürlich nicht. Und sie konnte sich Ferdinand im großen Ohrensessel ihr gegenüber vorstellen und Zwiegespräche mit ihm führen. So hatten sie es ihr Leben lang gehalten. Niemals war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen.

Sophie mogelte ein wenig bei ihrem Training, indem sie hin und wieder blinzelte, um Minuspunkte in der Wertung zu vermeiden. Außerdem gelangte sie auf diese Weise schneller in die Bibliothek und von dort aus wieder in die Diele und zur Küche. Der Kaffee musste jetzt sein. Mit einem schönen Tässchen würde sie es sich auf dem Sofa bequem machen und ein paar der alten Fotoalben durchblättern. Schon als Kind hatte sie begonnen, welche anzulegen, und ein bis an die Decke reichendes Regal war mit den sorgfältig gekennzeichneten Jahrgängen gefüllt, beginnend mit dem Frühjahr 1933 bis zu Ferdinands Tod vor zehn Jahren. Nun ja – sie war schließlich Fotografin gewesen. Es mussten um die einhundert Bände sein, wobei die ihrer Eltern nicht mitgerechnet waren. Da Sophie in der Beschriftung der Fotos gelegentlich nachlässig gewesen war, gehörte das Studium der Alben ebenfalls zum Gedächtnistraining. Die elterlichen entfielen, denn ihre Mutter hatte nicht nur die Namen der jeweils fotografierten Menschen notiert, sondern auch die entsprechenden Ereignisse kommentiert.

Sophie entschied sich für die Jahre 1937 bis 1939. Die hatte sie länger nicht zur Hand genommen, und warum sie ihr gerade heute in den Sinn kamen, war ihr nicht klar. Sie zog die Alben nacheinander hervor und stapelte sie auf dem Glastisch vor dem Sofa. Nun war erst einmal der Kaffee an der Reihe.

Sie hatte kaum die Küche betreten, als das Telefon klingelte. Der Anruf überraschte sie, denn nur selten meldete sich jemand bei ihr. Gespannt nahm sie den Hörer ab und freute sich, als sie Valeries Stimme vernahm. Sie hatte Jeans dritte Frau – die einzige, die ihm drei Kinder geboren hatte –, vom ersten Augenblick an gemocht und wünschte ihr von Herzen, dass sie bald wieder einen neuen und dann besseren Ehemann bekäme. Jedes Mal, wenn Valerie sich meldete, hoffte sie, etwas in dieser Richtung zu hören. Bislang war sie enttäuscht worden, und was Valerie ihr jetzt berichtete, versetzte ihr einen Schock, der sie eine Weile lang sprachlos machte.

»Bist du noch dran, Sophie?«

»Ja, mein Kind. Aber ich muss die Nachricht erst einmal verkraften.« Sie ließ sich in den Sessel neben dem Telefontischchen fallen und atmete tief durch. Was für eine Schauergeschichte! »Eine versilberte Leiche? Ein alter Mann?«, nahm sie das Gespräch wieder auf. »Wie ist denn das nur möglich?«

»Das fragen wir uns auch. Allerdings ...« Valerie erzählte nun von der Geheimtreppe, die von der Spurensicherung entdeckt worden war und von der sie alle nichts gewusst hatten. Nicht einmal Schleifer Zappel, der doch schon vierzig Jahre im Haus war. Die Polizei vermute, dass Mörder und Opfer über diesen Weg hineingelangt seien. Valerie zögerte kurz, bevor sie Sophie die vorsichtige Frage stellte, ob sie vielleicht von der Treppe gewusst habe?

Das Herz der alten Dame begann heftig zu klopfen. »Ich kann mich nicht so recht erinnern, Valerie«, antwortete sie zögernd. »Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal in der Manufaktur war. Und dann war ich in der ehemaligen Wohnung, im Laden oder habe den Arbeitern in der Werkstatt zugeschaut.«

Ihre leicht zitternde Stimme verriet Valerie, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Aber es hatte keinen Sinn, diese Angelegenheit weiter am Telefon zu besprechen.

»Versuch trotzdem, dich zu erinnern, Sophie. Wir brauchen deine Hilfe. Du bist der einzige Mensch, der etwas über die Vergangenheit weiß. Wenn du nichts dagegen hast, besuche ich dich heute Nachmittag.«

Nein!, wollte Sophie protestieren. Aber sie konnte Valerie nicht im Stich lassen. Und bis heute Nachmittag hätte sie genügend Zeit, sich zu überlegen, was sie erzählen würde – und was nicht. Außerdem, das musste sie sich eingestehen, war sie auch neugierig, wer der Tote sein könnte. Weil er alt war, ging die Polizei anscheinend davon aus, sie könnte ihn gekannt haben. Auch wenn das ziemlich unwahrscheinlich war, denn seit Onkel Victors Tod vor nun auch bald sechzig Jahren hatte sie ihren Fuß nicht mehr in die Manufaktur gesetzt und die Familie Vermont, außer bei Hochzeiten und Begräbnissen, sehr selten gesehen. Mit Ausnahme von Valerie. Eine Tochter wie sie hätte sie sich gewünscht, denn sie war nicht nur klug und voller Witz, sondern auch so warmherzig.

»Gut, Kind. Komm zwischen drei und vier Uhr vorbei und ...«

»Ich bringe Apfelstrudel mit, Sophie. Und ein Fläschchen von meinem selbst gemachten Nussschnaps. Der hilft dir doch immer, wenn du Magenschmerzen hast.«

»Hmmm.« Unwillkürlich leckte Sophie sich die Lippen. »Danke. Bis später.«

Sophie erhob sich aus ihrem Sessel. Valeries Nussschnaps war ein Gedicht. Und das nicht nur in medizinischer Hinsicht. Aber heute würde sie ihn vielleicht tatsächlich als Arznei nötig haben. Bei dem Gedanken an das Gespräch fühlte sie sich unwohl. Und, das musste sie Valerie klarmachen, mit der Polizei würde sie nicht sprechen. Ihre unangenehmen Erfahrungen lagen zwar lange zurück, hatten sich jedoch tief in ihrem Gedächtnis eingegraben. Und um sich an sie zu erinnern, brauchte sie kein Training. Leider.

Missmutig griff sie nach einer Flasche Wasser. Sie müsse, so betonte der Doktor stets, viel mehr davon trinken. Sie hatte nur einfach nie Lust dazu.

Sophie ließ sich auf dem Sofa in der Bibliothek nieder und betrachtete den Stapel Fotoalben. Welch seltsamer Zufall, dass sie gerade die Jahrgänge ausgewählt hatte. Als habe sie gewusst, dass man sie nach der Treppe fragen würde.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie brauchte die Alben gar nicht aufzuschlagen. Die Bilder zogen an ihrem inneren Augen vorbei. Cousin Louis und sie hatten einander häufig fotografiert, als sie noch für Hitler geschwärmt hatte und beide heimlich zum Nürnberger Parteitag gefahren waren. Wie töricht sie doch gewesen waren. Nein – mehr als das: verblendet. Vor allem Louis. Und das in jeder Beziehung. 1945 hatte sie ihm die Freundschaft auf ewig gekündigt, und seit er sich kurz darauf nach Dürnstein in die ehemalige Ferienvilla der Familie zurückgezogen hatte, tauchte er nur noch selten in Wien auf. Vor einem Jahr war sie ihm dann zufällig begegnet. Mitten auf dem Graben. Sie hätte ihn nicht erkannt, aber er ganz offensichtlich sie, denn er hatte sie angesprochen. Seinen Vorschlag, gemeinsam einen Kaffee zu trinken und sich auf die alten Tage zu versöhnen, hatte Sophie brüsk abgelehnt. Sie hielt von solchen Sentimentalitäten nichts. In Erinnerung an sein todtrauriges Gesicht und den gemurmelten Abschied waren ihr anschließend jedoch Zweifel gekommen. Nach all den Jahren hätte sie ihm verzeihen können – oder wenigstens so tun, als ob.

Sophie seufzte und streckte sich auf dem Sofa aus. Sie fühlte sich auf einmal erschöpft und müde. Es lag wohl an der Nachricht über den hässlichen Mordfall in der Manufaktur, welche die Erinnerung an ebenfalls hässliche Ereignisse geweckt hatte. Und nun zählte man auf ihre Mithilfe bei der Klärung des Falles, und sie wäre gezwungen, sich weiterhin mit den unguten Jahren aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Sophie schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf. Plötzlich saß sie wieder im Café Domeyer in Hietzing, zusammen mit Louis, Ferdinand, Lilly und Pawlo. Sie waren jung. Sie lachten und tanzten, und nur Louis’ immer schlechter werdende Laune verdarb ihnen schließlich den Ausflug. Dann veränderte sich Louis’ grimmige Miene, und sie tanzte auf einmal mit ihm auf dem Opernball, bis Ferdinand vor ihr stand, sie an der Hand nahm und sagte: »Wir müssen Pawlo zum Bahnhof bringen.«

Sophie schreckte aus dem Traum auf, als es an der Haustür läutete und die alte Standuhr gleichzeitig ihren Gong ertönen ließ. Drei Uhr! Wie lange hatte sie geschlafen? Eine oder zwei Stunden? Ächzend erhob sie sich vom Sofa, ging zur Haustür, öffnete sie und drückte auf den Summer. Valerie war überpünktlich. Aber immerhin war sie durch ihre Ankunft aus der wirren Bilderflut gerissen worden.

Der altersschwache Lift hielt mit einem ärgerlichen Seufzer, und die schmiedeeisernen Gittertüren knarzten, als Valerie sie öffnete.

»Die sollten mal geölt werden.« Valerie umarmte Sophie und lief dann mit ihrem Kuchenpaket und der Flasche Nussschnaps schnurstracks in die Küche. Sophie folgte ihr und holte die Kaffeedose aus dem Buffet.

»Die Türen müssten seit Langem geölt werden, Kind. Und der Lift streikt immer häufiger. Gott sei Dank wohne ich im zweiten Stock und kann auch zu Fuß gehen. Der Concierge ist einfach überlastet. Er muss sich um mehrere Häuser kümmern. Und in diesen alten Gemäuern geht dauernd etwas kaputt.«

Valerie nickte. »Das Problem kenne ich.« Sie legte spontan den Arm um Sophie. »Es tut mir so leid, dass deine Tochter dich nicht häufiger besuchen kann. Warum fährst du denn nicht öfter zu ihr? Es muss doch herrlich sein, den Winter im warmen Kalifornien zu verbringen.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Ich habe sie zweimal besucht und hatte das Gefühl, dass sie mich gern ein, zwei Tage um sich hat. Aber auch nicht länger. Sie hat immer ein volles Programm. Familie, Beruf und dauernd Wohltätigkeitsveranstaltungen.« Sie verzog das Gesicht. »Außerdem, um ehrlich zu sein: Ich kann die Amerikaner und ihre Lebensart nicht besonders gut leiden. Ich bin einfach eine hoffnungslose alte Europäerin. Und vor allem Wienerin.

Aber jetzt lass uns Kaffee zubereiten. Ich freue mich schon seit Stunden darauf. Und wenn ich an den Anlass für deinen heutigen Besuch denke, brauche ich dringend eine Stärkung.«

Eine Weile später war die Kaffeekanne leer, und Sophie hatte alle Einzelheiten über den grausigen Fund erfahren. Sie war voller Mitgefühl für Valerie, Pierre und den Rest der Belegschaft. Was für eine äußerst unangenehme Situation!

»Und«, fragte Valerie schließlich, »ist dir etwas zu der Treppe eingefallen?«

Sophie nickte bedächtig. Sie musste Valerie beistehen.

»Nun ja. Es war wohl seinerzeit praktisch, Dinge aus dem Keller auf direktem Wege nach oben zu befördern. Damals wurde in dem erbärmlichen Loch noch gearbeitet. Die armen Leute dort unten kamen mir vor wie Kellerasseln. Aber sie waren es nicht anders gewohnt. Das ist sehr lange her, und die Stiege wurde später eben nicht mehr gebraucht.

»Das ist uns allen klar«, bestätigte Valerie. »Aber jemand muss von der Treppe gewusst haben. Und das kann nur einer sein, der sich in der Manufaktur auskannte. Und der Pathologe sagte, dass der Tote ein sehr alter Mann sein müsse. Darum unser aller Hoffnung, dass du ihn vielleicht erkennen könntest. Die Versilberung wird in ungefähr einer Woche abgelöst sein.«

»Wie denn?«

Valerie zögerte einen Augenblick und wiederholte dann die Worte des Gerichtsmediziners.

»Ekelhafte Methode!« Sophie schüttelte sich. »Und dann soll ich mir die halb verfaulte Leiche ansehen und versuchen, mich zu erinnern?«

»Ganz so schlimm wird es nicht werden«, sagte Valerie schnell. »Man wird dir Fotos zeigen. Der Inspektor hat mir erklärt, dass es immer so gemacht wird.«

Sophie sagte nichts. Schließlich stand sie auf, ging in die Küche und kehrte mit der Flasche Nussschnaps und zwei Gläsern zurück. »Den brauche ich jetzt dringend«, erklärte sie. »Mir ist übel. Auch wenn Fotos sicher besser zu verkraften sind. Warum komme übrigens nur ich für eine Identifizierung infrage? Ihr müsstet euch doch auch an Louis wenden. Vielmehr die Polizei.«

Valerie seufzte. »Das haben wir mehrmals versucht, aber wir konnten ihn nicht erreichen. Der Inspektor wird wohl zwei Beamte nach Dürnstein schicken müssen.«

»Na dann.« Sophie schenkte ein und nippte an dem Getränk. »Du hättest Schnapsbrauerin werden sollen«, sagte sie anerkennend. »Der hier ist besser als alle anderen. Aber zurück zur Silberleiche. Sie ist ja nicht nur angefault – der Mann, wenn ich ihn denn überhaupt je gekannt haben sollte – ist um Jahrzehnte älter als zu der Zeit, als ich die Manufaktur besucht habe. Wer mich als junges Mädchen sah und heute als Leiche wiedererkennen sollte, dem würde das bestimmt nicht gelingen.«

»Unsinn!«, widersprach Valerie. »Du hast noch immer das schöne, volle Haar. Auch wenn es jetzt weiß und nicht mehr blond und kurz geschnitten ist. Besonders viele Falten hast du für dein Alter auch nicht.«

»Schmeichlerin!«, protestierte Sophie und genoss das Kompliment natürlich dennoch. »Also gut, Valerie. Ich will mir Mühe geben und setze dafür meine stärkste und hässlichste Brille auf. Aber selbst, wenn ich den Toten erkennen sollte, weiß die Polizei dann noch längst nicht, wer der Mörder ist. Übrigens, aber das sagte ich schon, will ich mit den Beamten möglichst nicht reden. Die sollen sich an Louis halten.«

»Das musst du auch nicht«, versicherte ihr Valerie. »Allerdings wirst du die Entscheidung vielleicht bedauern. Es ist wahrscheinlich, dass Hofrat Kranz in der nächsten Woche den Fall übernimmt.«

»Oh, wirklich?« Sophie lächelte entzückt. »Der Hofrat – das ist natürlich etwas anderes. Mit ihm werde ich selbstverständlich sprechen. So ein fescher Mann! Und klug! Nein, das lasse ich mir nicht entgehen. Du kannst auf mich zählen.«

Kapitel 4

Wien, Oktober 2006

Louis Vermont schien verreist zu sein. Das hatte jedenfalls seine Haushälterin den Beamten erklärt. Er habe beiläufig darüber gesprochen, und ein Koffer (er besäße nur zwei) sei auch verschwunden. Sie war darüber nicht verwundert gewesen, denn, so hatte sie den Beamten versichert, er habe durchaus die Angewohnheit, kurzfristig Reisen anzutreten, ohne sie darüber genau zu informieren. Weder wann er aufbrach noch wann er gedachte zurückzukehren. Und wohin er gefahren sein könnte, könne sie ebenfalls nicht sagen. So hatte man dann in seiner Wohnung eine Nachricht mit der Bitte um sofortige Meldung zurückgelassen. Aber er rief nicht an.