Claras Vater - Hildegard Liebl - E-Book

Claras Vater E-Book

Hildegard Liebl

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Beschreibung

Der Blick auf unser Leben erscheint plötzlich in einem anderen Licht. Alles verändert sich. Drei Geschichten erzählen von zufälligen Begegnungen, von Verlieren und Finden, von Sehnsucht, Hoffnung und Entscheidungen, von Geheimnissen und der Flüchtigkeit des Glücks. Dominik ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen Ehe nur noch von seiner kleinen Tochter Clara zusammengehalten wird. Sein Leben gerät ins Wanken, als er seine große Liebe wiedertrifft. Sie vertraut ihm nicht mehr. Luisa und Johannes sind beide geschieden. Sie verlieben sich ineinander. Ein dunkles Geheimnis tritt zutage. Antonia ist plötzlich verwitwet, schwanger und voller Ängste. Sie bittet die Äbtissin des Klosters um Hilfe. Ihre Schwägerin, Schwester Charlotte, steht ihr zur Seite. Während dieser Zeit begegnet Charlotte Jonas, Antonias Bruder, der in Indien lebt.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Hildegard Liebl

Claras Vater

Drei Erzählungen

Copyright: © 2023 Hildegard Liebl

Umschlag & Satz: Erik Kinting / buchlektorat.net

Verlag und Druck:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg

Softcover

978-3-384-03122-8

Hardcover

978-3-384-03123-5

E-Book

978-3-384-03124-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Claras Vater

Täuschung

Charlottes Versprechen

Claras Vater

Cover

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Claras Vater

Charlottes Versprechen

Claras Vater

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Claras Vater

1990 – Freitag, 8. Juni

1 Pauline

Auf den Wiesen im Englischen Garten lag Tau. Pauline fuhr am frühen Freitagmorgen gemächlich mit dem Fahrrad durch den Park, tief sog sie die wunderbar reine Luft ein.

An diesem herrlichen Junimorgen waren kaum Leute unterwegs. Pauline liebte es, sich vor der Öffnung ihrer Buchhandlung zu bewegen. Und Fahrrad fahren war nun mal ihr Lieblingssport. Ein Jogger kam ihr entgegen und winkte, sie winkte zurück, man kannte sich vom Sehen.

Ihr ging es wieder richtig gut. Gestern Abend hatte sie Stefan getroffen. Seltsam hatte es sich angefühlt, da war nichts mehr von großen Gefühlen. Als wäre ihre Ehe nie gelebt worden. Sie dachte nur noch selten an die gemeinsam verbrachte Zeit. An all die guten Augenblicke, an das Verstehen und die Leidenschaft, die sie viele Jahre lang miteinander geteilt hatten. Letztendlich hatte zur Trennung geführt, dass beide die jeweils eigenen Anliegen für die wichtigsten der Welt gehalten hatten. Konnten sich Gefühle in Luft auflösen? Selbst wenn sie tiefer in sich hineinhörte, war nicht mehr viel von ihrer Ehe zu finden. Sie war froh, als ein letzter gemeinsamer Abend vorbei gewesen war. Gewiss, Stefan hatte sich sehr bemüht, ihr einen schönen Abend zu bereiten. Sie waren im Guten auseinander gegangen. Im Grunde genommen hatten sie immer gewusst, dass ihre Ehe nicht halten würde. Mit seiner neuen Partnerin klappte es wohl auch nicht besonders, aber das war ihr egal. Sie war froh, dass ihr Herz wieder in einem verlässlichen Rhythmus schlug. Die Wunden mit Stefan waren vernarbt. Niemand war schuld, es war eine lange Reise gewesen, ein Kreis der sich geschlossen hatte. Sie konnten wieder respektvoll miteinander umgehen.

Pauline fuhr Richtung Monopteros. Sie stellte das Rad dort ab, im Vertrauen darauf, dass es um diese Zeit sicherlich nicht gestohlen würde, und lief nach oben auf den Hügel.

Sie liebte diesen Blick auf ihre Stadt. Hier in München war sie geboren, hier lebte sie gerne, hier war ihr Herzensort. Von hier aus konnte sie herrliche Ausflüge zu den Seen machen. Vor allem zu dem Starnberger See, dem Ammersee und dem Chiemsee. Gewiss war das Leben hier teuer, der Verkehr nahm immer weiter zu. Aber es gab sie immer noch, die besonderen stillen Orte und Parks, die zu bestimmten Zeiten fast menschenleer waren.

Sobald Pauline sich in der Natur aufhielt, sortierten sich ihre Gedanken wie von selbst. Es gab nichts Schöneres, als den Tag draußen in der Natur zu beginnen. Sie stieg vom Monopteros hinab, nahm ihr Fahrrad, fuhr zum Schwabinger Bach und setzte sich dort auf eine Bank. Sein Wasser plätscherte sanft über die Kiesel hinweg. Glitzernd schlängelte er sich an sattgrünen Wiesen vorbei, unterbrochen von großen Baumgruppen. Durch die Laubdächer fanden Sonnenstrahlen ihren Weg. In der Nähe des Bachufers blühten gelbe und blaue Wasserlilien, umschwirrt von Libellen. Pauline konnte sich kaum satt sehen an dem Spiel des Sonnenlichts. Sie liebte es, wenn unter der grünlichen Oberfläche manchmal unvermittelt flüchtige Schatten auftauchten und blitzartig wieder verschwanden. Pauline blickte auf ihre Armbanduhr. Wenn sie jetzt losfuhr, könnte sie noch mit Bele Kaffee trinken. Nichts wie heim, duschen und umziehen.

2 Dominik

Dominik stand am Fenster im Wohnzimmer seines Hauses und betrachtete den blühenden Garten. Weiter hinten konnte man ein Stück vom See entdecken. Mit großer Mühe, Freude und Stolz hatte er dieses Haus gebaut. Für Clara und Friederike ein Heim geschaffen. Und was hatte es gebracht? Er war unruhig, ziemlich aufgewühlt, er musste so schnell wie möglich nach München in seine Agentur. Da lag auch einiges im Argen.

In Gedanken versunken dreht er sich um und betrachtete das Chaos. Gebrauchte Handtücher, schmutziges Geschirr, verwelkte Blumen in einer Vase. Dominik versuchte, tief durchzuatmen. Er wusste, dass auch er nicht der ordentlichste war, aber so ein Chaos war selbst ihm zu viel.

„Kannst du dich um Clara kümmern und sie dann in den Kindergarten bringen?“ hörte er Friederikes Stimme aus der Küche.

Dominik zuckte zusammen, das durfte doch nicht wahr sein.

„Du weißt doch, dass ich gleich fort muss. Ich kann mich nicht kümmern.“

„Du kümmerst dich nie!“ schrie Friederike, als sie ins Zimmer kam.

Mit wütendem Gesicht begann sie, den Tisch abzuräumen.

„Den ganzen Tag sitze ich hier und weiß vor Arbeit nicht mehr aus noch ein und du, du…“ Ihre Stimme überschlug sich fast.

Ging das schon wieder los. Dominik schüttelte den Kopf.

„Ich brauche mir nur das Chaos hier anzusehen, dann weiß ich genug!“, schrie er zurück.

Friederike nahm eine schmutzige Tasse und warf sie nach Dominik. Sie verfehlt ihn, die Tasse zerschellte am Boden. In diesem Moment kam Clara weinend ins Zimmer gelaufen. Sie flüchtet in die Arme ihres Vaters. Dominik nahm sie hoch, hielt sie ganz fest. Auch das noch. Wieso hatten sie beide so geschrien? Sie konnten nicht mehr normal miteinander reden.

Er drückte Clara ganz fest an sich, versuchte seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. Das Kind sollte nicht mitbekommen, wie aufgewühlt er war.

Clara war ein so schönes, knapp vierjähriges Mädchen. Die rötlichen Haare und die blauen Augen hatte sie von ihm. Er hatte als Kind auch rötliche Haare gehabt. Die zierliche Figur, die hatte sie von ihrer Mutter.

„Clara, wir haben nur ein wenig gezankt. Du zankst doch auch mit deinen Freunden im Kindergarten. Hast du mir erzählt.“

Clara nickte, ihr Weinen ging in ein Schluchzen über.

„Wenn Papa und Mama streiten, dann hat das nichts mit dir zu tun.

Wir lieben dich ganz doll, das weißt du doch.“

Clara Schluchzen verebbte ein wenig. Sie klammerte sich noch fester an ihren Papa. Vorsichtig versuchte Dominik mit seiner Hand ihre Tränen abzuwischen. Clara schluchzte noch ein wenig, beruhigte sich endlich.

Stumm, noch immer zornig hatte Friederike die Szene beobachtet. „Jetzt ist er wieder der Gute, der tolle Papa“, murmelte sie und fuhr fort aufzuräumen.

Dominik ging vor Clara in die Knie, nahm ihre beiden Hände in seine.

„Die Mama wird dich nachher in den Kindergarten bringen, der Papa muss dringend in seine Firma nach München, das verstehst du doch.“

Clara sah ihren Vater mit großen Augen an. „Fahren wir bald mit dem großen Schiff auf dem See?“

„Versprochen Clara, das machen wir.“

Dominik erhob sich und verließ zusammen mit Clara das Wohnzimmer. Mit verkniffenem Gesicht sah Friederike ihnen nach.

3 Bele

Ein großes Badetuch um sich geschlungen trat Pauline in ihr Schlafzimmer. Sie zog ihre cremefarbene, spitzenbesetzte Unterwäsche an, schlüpfte in eine silbergraue Leinenhose und ein korallenfarbiges Oberteil. Bei Unterwäsche machte sie keine Kompromisse, als Kind hatte sie furchtbar hässliche Unterwäsche tragen müssen. In ihrem Schrank suchte sie nach einem passenden Schal, dazu den Farben entsprechende Ohrringe. Sie begutachtete sich vor dem Spiegel. „Naja“, sie schüttelte ein wenig den Kopf, lächelte sich an. „Pauline, für deine sechsunddreißig Jahre bist du ganz in Ordnung“, meinte sie zu ihrem Spiegelbild. „Aber die Ohrringe, die passen nicht!“ Schnell wechselte sie diese.

Die Ampel am Siegestor war ausgefallen und es war nicht einfach, mit dem Fahrrad die Fahrbahn zu überqueren. Pauline passierte das Siegestor, fuhr an der Kunstakademie vorbei und bog nach links ab in die Amalienstraße. Sie hielt an einer kleinen Bäckerei. Vor dem Laden standen zwei kleine, runde Tische mit vier Stühlen. Die waren von den Müllmännern besetzt, die gerade Pause hatten. Ein gewohntes multikulturelles Bild. Pauline fand es jedes Mal schön, dass diese Männer sich immer die Zeit nahmen, um gemeinsam zu frühstücken. Nie erweckten sie den Eindruck, in Eile zu sein. Pauline grüßte, sie grüßten zurück.

Tassos, der griechische Besitzer, war gerade damit beschäftigt, neue Butterbrezen in die Vitrine zu legen, als sie das Geschäft betrat.

„Guten Morgen Tassos, da kannst Du mir gleich drei einpacken!“ „Guten Morgen Pauline, wie hat dir unser kleines Konzert gefallen?“

„Du weißt doch, dass ich griechische Musik liebe.“ „Deinen Freunden, hat es denen auch gefallen?“ „Aber ja!“

„Ihr wart so schnell weg.“

„Es war schon spät, Tassos.“

„Die Deutschen mit ihrer Zeit…“ Tassos bewegte den Kopf hin und her, so als würde er das mit der Zeit nochmal betonen wollen, während er die Brezen in eine Tüte packte.

„Wir wiederholen das Konzert bald“, dabei nickte er begeistert.

Pauline nahm ihren Geldbeutel aus der Tasche.

„Zahlst du ein anderes Mal.“ Huldvoll nickte Tassos dabei mit dem Kopf während er Pauline die Tüte reichte.

„Aber Tassos, du hast mir schon so viel geschenkt…!“

„Wer gibt, der nimmt auch…also, nimm schon!“

„Danke.“

Pauline verließ lächelnd das Geschäft. Tassos sah ihr wohlwollend nach. Er hatte schon eine Frau, eine sehr bestimmende Griechin. Die Mutter seiner beiden Söhne. Aber Pauline, die war was Besonderes. Er freute sich immer, wenn sie in seine Bäckerei kam und ihn mit diesen blau-grünen Augen ansah. Eine attraktive Erscheinung mit vielen Lachfältchen. Selbstbewusst, humorvoll. Und was sie als Frau schon alles auf die Beine gestellt hatte. Sie gefiel ihm, aber lieber war er mit seiner Frau verheiratet. Pauline das erkannte er, die wäre nichts für einen griechischen Mann. Naja, er bewunderte sie, aber als Ehefrau, das wäre schwierig, da hätte er keine Freiräume wie bei seiner Frau. Die fragte ihn nicht aus, wenn er spät nach Hause kam und mit seinen Freunden zusammen war. Sie ahnte garantiert nichts von seinen kleinen Affären.

Pauline legte die Tüte in ihren Fahrradkorb und fuhr die kurze Strecke zu ihrer Buchhandlung. Die befand sich im Erdgeschoss eines fünfstöckigen Hauses. Eine große, schwere Glastüre führte in einen Durchgang, dahinter befand sich ein kleiner Garten und mehrere Fahrradständer. Es war jedes Mal ein Kraftakt, diese Tür aufzudrücken. Pauline stellte das Rad im Hof ab und begab sich wieder nach draußen auf die Straße. Sie bemerkte, dass sich ihr Geschäftspartner Franz Goll schon im Buchladen befand. Sie wechselten sich ab mit den Zeiten, das klappte seit Jahren gut. Pauline hätte sich keinen besseren Partner als Franz wünschen können. Als sie vorbeiging, sah er sie und sie winkten einander zu. Pauline gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie noch nebenan zu Bele in den Blumenladen ging.

Voller Bewunderung betrachtete Pauline eine ganze Weile von außen Beles Laden. Jede Blumensorte hatte diese individuell in Szene gesetzt. Alabasterfiguren, Muscheln und Engel waren überall in dem kleinen Laden verteilt. In verschiedenen Vasen standen aufbrechende Knospen von Klatschmohn neben blassblauen Hortensien. Weiter hinten präsentierte sie Olivenzweige in einer Amphore, daneben fanden sich dicht behangene Zitronenzweige. Große Glasgefäße waren gefüllt mit besonderen Rosensorten. Wenn Bele einen Strauß band, verwendete sie stets nur eine Blumensorte. So kam für sie die Schönheit der jeweiligen Pflanze zur Geltung. Wenn ein Kunde auf einen konventionellen Strauß bestand, schickte sie ihn zur Konkurrenz.

Sie betrat das Geschäft. Bele war gerade mit einem Kunden beschäftigt.

„Grüß Gott zusammen!“

„Grüß Dich Pauline“, lächelte Bele und wandte sich wieder dem Kunden zu. Dieser holte eine bestellte Rose im Topf ab. Bewundernd betrachtete er das Gedicht, welches Bele an die Pflanze gebunden hatte. Handschriftlich, auf feinstem Büttenpapier, hatte sie ein Gedicht von Rainer Maria Rilke abgeschrieben

Wilder Rosenbusch

Wie steht er da vor den Verdunkelungen

Des Regenabends, jung und rein

In seinen Ranken schenkend ausgeschwungen

Und doch versunken in sein Rose-sein

Die flachen Blüten, da und dort schon offen

Jegliche ungewollt und ungepflegt,

so, von sich selbst unendlich übertroffen

und unbeschreiblich aus sich selbst erregt,

ruft er dem Wandrer, der in abendlicher

Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt

Ob sie mich sehn, sieh her, was bin ich sicher

Und unbeschützt und habe was mir frommt

Rainer Maria Rilke 1875-1926

„Ja, liebe Frau Petrakis, da ist ihnen wieder einmal eine großartige Überraschung gelungen“, äußerte sich der Kunde begeistert. „Die Empfängerin wird sich freuen!“ Überschwänglich drückt er Beles Hand.

„Für mich lassen Gedichte die unterschiedlichsten Blüten lebendig werden. Sie haben einfach ein Gespür für das Besondere, Frau Petrakis.“

„So soll es sein“, lächelte Bele ihn an.

Mit erneutem Handschlag verabschiedete sich der Stammkunde.

Pauline hielt dem Kunden die Türe auf und schloss sie hinter ihm.

„Deine Rosen, Bele, die sind mal wieder ganz was Besonderes“, meinte Pauline und zeigte begeistert auf die Rosen. „Und wie die duften!“

„Die sind heute im Morgengrauen aus Südfrankreich angekommen.“

Für einen Augenblick war es ganz still zwischen den beiden Frauen, während sie die Rosen betrachteten.

„Rosen haben für mich einen unglaublichen Zauber“, unterbrach Bele die Stille. „Kostbarkeiten, die mich ruhig und glücklich machen.“

Pauline nickte zustimmend. Dann gestikulierte sie mit der Bäckertüte.

„Ich habe uns was zum Futtern mitgebracht.“

„Und der Kaffee ist schon durchgelaufen“, antwortete Bele.

Die beiden Frauen gingen durch den kleinen Laden nach hinten in einen Extraraum. Dort gab es einen Bistrotisch mit zwei Stühlen, einen großen Arbeitstisch für die Blumen und eine winzige Küchenzeile. Auf dem großen Tisch lag ein weiteres, handgeschriebenes Gedicht, diesmal von Goethe

Blumengruß

Der Strauß den ich gepflückt

Grüße dich vieltausendmal!

Ich habe mich oft gebückt,

ach, wohl eintausendmal

Und ihn ans Herz gedrücket

Wie hunderttausendmal!

„Wieder für einen Stammkunden?“, wollte Pauline wissen.

„Nicht unbedingt. Ich war gestern Abend in Schreiblaune. Wird schon für jemanden passen.“

Pauline betrachtete Bele, während diese Kaffee in große Tassen goss.

Sie war einmal Porzellanmalerin gewesen. Bei einem Unfall hatte sie sich damals beide Hände gebrochen. Obwohl sie gut verheilt waren, waren diese Hände für diese besondere Malerei mit einem hohen Qualitätsanspruch nicht mehr zu gebrauchen, da besonders auf Porzellan viel feiner gemalt werden musste als auf Papier. Schon damals galt ihre Liebe der Blumenmalerei und Gedichten, die mit Blumen zu tun hatten. Ihre Eltern waren Griechen, die einst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren. Bele war vor 65 Jahren hier geboren worden, mitten in Schwabing. Obwohl es ihr an Verehrern nicht gemangelt hatte, so hatte Bele nie geheiratet, nie eine Wohnung mit einem Mann geteilt. In ihrem Herzen war sie schon immer eine Feministin gewesen, die sich bis heute für Frauenrechte einsetzte. Sie sperrte immer im August ihren Laden zu und fuhr nach Griechenland, aber wenn man sie fragte, ob sie später mal ganz dort leben wollte, verneinte sie.

„Das wäre ja noch schöner, die Verwandtschaft würde mir was Schwarzes anziehen, mich bevormunden und ich wäre die Alte, nein danke.“

„Sie würden es kümmern nennen“, gab Pauline lachend zur Antwort.

Seit über zehn Jahren hatte sie nun diesen wunderbaren Blumenladen, den ihr damaliger langjähriger, verheirateter Geliebter ihr eingerichtet hatte.

Sie war noch immer schön, obwohl sie nicht mehr schön war. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Knoten zusammengefasst, um den Kopf geschlungen trug sie je nach Gefühl des Tages einen farbigen Schal. Noch immer dunkel und feurig strahlten ihre Augen und ihre blutrot geschminkten Lippen. Sie hatte ein gutes Leben, einen wunderbaren Freundeskreis und seit vor drei Jahren der Geliebte starb, eine thailändische Freundin, die ihren Haushalt führte und für die Sauberkeit im Blumenladen sorgte.

Seit Pauline und Franz vor einigen Jahren den Buchladen eröffnet hatten, waren sie gute Nachbarn. Am Anfang, als so manches nicht geklappt hatte, wusste Bele immer Rat und half. Sie waren echte Freundinnen. Sie vertrauten einander. Jeden Freitag nach Geschäftsschluss spazierte Bele in die Schwabinger Ursulakirche, setzte sich dort vor das Bild des Heiligen Judas Thaddäus, ließ die Woche Revue passieren. „Wenn nichts mehr hilft“, erklärte sie stets voller Überzeugung, „DER hilft immer!“

Pauline und Bele nahmen einen großen Schluck von dem Kaffee und bissen genießerisch in ihre dick mit Butter bestrichenen Brezen. „Hast du nicht morgen den zweiten Teil deines Fortbildungsseminars für Buchhändler in diesem Kloster?“, wollte Bele wissen.

„Ja, nur noch dieses Wochenende. Das nächste Seminar findet im Herbst statt, das muss dann Franz übernehmen.“

„Sind die Themen interessant?“

„Sehr. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Neuerungen es im Buchhandel gibt.“

„Übrigens, Pauline, ich kenne das Kloster in der Nähe von Weilheim. Ich war mal dort auf einer Kunstausstellung. Es ist sehr schön gelegen. Soviel ich weiß, unterhält das Kloster auch ein Internat.“

„Das stimmt, aber sie haben auch externe Schüler. Keine Mädchen, nur Jungs.

Seit Jahren vermieten die Mönche Seminarräume und bieten Übernachtungsmöglichkeiten an.“

„Und triffst du auch wieder diesen schnuckligen Pater?“, meinte Bele verschmitzt.

„Wie kommst du darauf?“ Pauline sah Bele erstaunt an.

„So begeistert wie du von diesem Pater Benedikt gesprochen hast…“

„Hast du das so empfunden?“

„Und ob.“ Bele lachte laut. „Tu nicht so überrascht, du hast ihn öfter erwähnt, als deinen Kurs.“ Irritiert sah Pauline Bele an.

„Wer weiß? Vielleicht ist es das Verbotene, was dich so anzieht?“, meinte Bele verschmitzt.

Pauline lachte. „Das sagt ja die Richtige!“

Noch den ganzen Tag musste Pauline an diesen Pater Benedikt denken. Vor Wochen waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Sie war auf dem Weg zum Mittagessen gewesen und hatte sich verlaufen. Da entdeckte sie den Proberaum vom Theatersaal. Neugierig hatte sie die Türe geöffnet. Ein Pater im schwarzen Habit probte mit zwei Jungs ein Stück, alle hielten ein Skript in der Hand.

„…Vater, endlich kann ich es loswerden“, sprach einer der Jungs mit monotoner Stimme.

„Halt!“, rief der Pater, „da muss mehr Schwung rein. Bei so einem Text, Markus, passiert doch was, da kommen die unterdrückten Gefühle ins Spiel, das kannst du doch nicht herunterleiern. Nochmal von vorne.“

In diesem Moment entdeckte er Pauline, die ihrerseits verlegen eine Entschuldigung murmelte.

„Ich habe mich verlaufen“, dabei hielt sie noch immer die Türklinke in der Hand.

„Sie suchen sicher den Speisesaal?“, rief er.

„Einfach geradeaus, dann rechts und dann wieder rechts!“

Pauline bedankte sich, drehte sich um, ging hinaus und schloss die Türe hinter sich.

Da war dann noch dieser Sonntagspätnachmittag nach Beendigung des Seminars gewesen. Das Kloster lag in wunderbarem Licht und sie wollte ein wenig den herrlichen Garten und die frische Luft genießen, bevor sie nach Hause fuhr. Auf dem Weg zum Klostergarten war sie dem Pater erneut begegnet.

Er saß inmitten von Jugendlichen auf einer Wiese und diskutierte laut mit ihnen über ein Fußballspiel. Er trug hellblaue Jeans, ein weißes Hemd und sah ziemlich attraktiv aus. Als sie vorüberging, stand er auf und kam auf sie zu. Er war sehr groß, schlank mit dunklen, dichten, längeren Haaren. Jung, bestimmt noch nicht vierzig.

Er hatte ihr seine Hand hingestreckt

„Pater Benedikt. Wir kennen uns vom Proberaum.“ Dabei lächelte er.

Sie reichte ihm ebenfalls die Hand. „Pauline Günzburg.“

„Haben sie ihr Ziel erreicht?“

Sie verstand nicht ganz.

„Ich meine den Speisesaal?“

„Ja. Es tut mir wirklich leid, dass ich sie gestört habe.“

„Das passiert öfter, besonders an den Wochenenden, wenn Seminare stattfinden. Es gibt ja auch so viele Möglichkeiten in diesem großen Haus.“

Noch auf dem Weg zurück nach München musste sie an seine großen, dunklen Augen denken, da war etwas in ihnen, was sie nicht konkret benennen konnte, was sie aber auf eigene Weise berührt hatte. Und plötzlich wusste sie, diese Augen waren von einer Art tiefem Schmerz umschattet gewesen.

Benedikt hatte ihr versonnen nachgesehen. Sie war attraktiv mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen, den schönen Augen. Sie war nicht sehr groß, ging ihm bis zu den Schultern. Sie hatte etwas Bezauberndes an sich. Sie wirkte zerbrechlich und gleichzeitig stark, in sich ruhend und gleichzeitig aufgewühlt. Der kurze Moment, als diese Frau in den Proberaum gekommen war, hatte etwas in ihm ausgelöst. Da waren Gefühle, die mit der Weiblichkeit zu tun hatten, die seit Monaten immer stärker wurden. Seit er sie gesehen hatte, musste er an sie denken.

In letzter Zeit hatte er mehr und mehr versucht, diese Gefühle in einer gepanzerten Kammer seines Bewusstseins wegzusperren, aber das ging nicht, denn mit ihnen verschwanden auch die Engel. Manchmal gewannen die Dämonen den Kampf. Dann versuchte er sich an diesen dumpfen Schmerz zu gewöhnen, reihte ihn unter Alltagsbeschwerden eines Mönchs ein. Suchte Frieden im Gebet. Aber das gelang nicht oft. Erinnerungen machten ihm zu schaffen. Erinnerungen daran, wie er es genossen hatte, Frauen zu verführen, damals, als er sich noch nicht berufen fühlte, ins Kloster einzutreten. Sein Leben war nicht erst seit gestern eine verworrene Geschichte, ein chaotisches Geflecht. Tatsache war, dass er sich im Krisenmodus befand und nicht erst seit heute. Langsam stellte er Vieles infrage. Seine größten Schwierigkeiten waren die der Sexualität und des Gehorsams.

4 Dominik

Dominik parkte seinen Wagen in München-Schwabing auf dem firmeneigenen Parkplatz.

Er hob den Kopf, räusperte sich immer wieder mit großer Anstrengung. Es war, also ob da vorne in seinem Brustkorb etwas festsitzen würde. Das Atmen fiel ihm schwer. Soviel Ärger momentan. Wieder überfiel ihn ein massives Räuspern. Mit der rechten Hand stützte er seinen Kehlkopf, aber er bekam keine Erleichterung.

Das alles machte ihn ziemlich fertig. Er öffnete die Autotür, stieg aus.

Half alles nichts, auf in den täglichen Kampf.

Bevor er die Agentur betrat, betrachtete er das große Schild.

Prepress Agentur Gutenberg und Lehmann.

Dann betrat er das Foyer. Ulf Lehmann, sein Kompagnon, war dabei, sich einen Kaffee aus dem Automaten zu holen. Neben ihm stand ihr Mitarbeiter, Herr Kühle.

„Guten Morgen allerseits!“ Dominik hob die Hand zum Gruß.

„Morgen“ grüßte Ulf Lehmann knapp zurück, während er sich vier Würfel Zucker in den Kaffee rührte und einen großen Schluck davon trank. Es herrschte eine bedrückte Stimmung.

„Sie haben mir gestern erzählt“, meinte Dominik zu Herrn Kühle, „dass die Stoffmuster des Kunden immer noch nicht da sind. Wie sieht es aus? Heute ist schon Freitag und am Montag ist die Korrekturbesprechung bei dem Kunden Oberhauser.“

Herr Kühle zögerte eine Weile. „Voraussichtlich kann das Stoffmuster bis morgen nicht angeliefert werden. Wir haben aber verbindliche Farbwerte von dem Kunden bekommen, die wir für die Retuschen verwenden können.“

Dominik sah Herrn Kühle skeptisch an. Ulf Lehmann stand am Fenster und blickte hinaus, so als würde ihn die ganze Sache nichts angehen. Verärgert verließ Dominik das Foyer und begab sich in einen großen Arbeitsraum, wo alle Computer hochgefahren waren, nicht nur die der zwei Mitarbeiter.

„Guten Morgen zusammen!“, grüßte Dominik und wollte im gleichen Atemzug wissen, ob die Unterlagen von dem Lektor da wären.

„Nein“, antwortete Frau Meinert „und die Retuschen sind auch noch nicht zurück.“

Ihre Stimme klang betroffen, während Herr Wolowsky eifrig am Computer arbeitete, als hätte er nicht gehört, um was es hier ging. „Das kann doch alles nicht wahr sein!“, rief Dominik ziemlich erregt. „Die Präsentation am Montag ist unendlich wichtig für uns. Euer Wochenende könnt ihr euch abschminken!“

Er ging und knallte die Tür hinter sich zu.

Dominik stürmte in das Büro seines Kompagnons. Als er von Ulf Rechenschaft verlangte, meinte dieser nur lapidar:

„Du setzt alle unter Druck, obwohl du weißt, dass sie ihr Bestes geben. Wir haben noch immer alles geschafft. Du machst die Leute verrückt, was ist nur mit dir los?“

„Das frage ich lieber dich!“, schrie Dominik ihn an. „Du bist doch der technische Leiter!“ Wutentbrannt verließ er den Raum.

Gleich darauf tat es ihm leid, dass er so heftig reagiert hatte. Er fühlte sich elend, alles war ihm zu viel.

Samstag, 9. Juni

5 Dominik

In der Nacht saß Dominik auf einer Bank am See. Der Vollmond hatte die Wasseroberfläche in silbriges Licht gehüllt. Er fühlte sich miserabel, sein ganzes Leben schien im Moment ein einziges Chaos zu sein. Nicht einmal heute am Samstag hatte er Zeit für Clara gehabt. Es war einfach nicht machbar, es ging um so Vieles in der Firma. Friederike ließ das nicht gelten. Er fühlte sich so müde, so zerschlagen. Was war nur geschehen, dass sein Leben so komplett aus den Fugen geraten war? Ihm graute vor all den Pflichten und noch immer wütete die Enttäuschung in ihm über all die Dinge, die in der Agentur falsch gelaufen waren. Es half alles nichts. Sie mussten es schaffen, diesen Auftrag zu bekommen. Er würde sich für ein paar Stunden aufs Ohr legen und dann gleich wieder in die Agentur fahren. In diesem Moment bekam er einen solchen Hustenanfall, dass er aufsprang. Panikartig beugte er sich hinunter und schaufelte mit einer Hand Wasser in den Mund. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte.

Wieder zu Hause schlich er leise in das dunkle Haus, legte sich im Wohnzimmer auf die Couch und schlief sofort ein.

Sonntag, 10. Juni

Dominik öffnete die Augen und blinzelte. Er fühlte sich wie gerädert. Im Haus war alles still. Er blickte auf seine Armbanduhr. Sechs Uhr, wenigstens ein bisschen Schlaf hatte er bekommen.

Dominik sah an sich hinunter. Er war doch tatsächlich in voller Montur eingeschlafen. Er musste dringend duschen und frische Sachen anziehen. Aber da hätte er ins Schlafzimmer gemusst. In diesem Moment kam Friederike ins Wohnzimmer.

„Schleichst du dich jetzt schon am Sonntag davon?“, fuhr sie ihn an.

„Lass mich zufrieden“, konterte Dominik, „fang nicht schon wieder an. Du weißt doch, dass die Vorbereitungen für die wichtige Präsentation morgen noch immer nicht ganz stehen.“

Er betrachtete seine Frau, wie sie da stand in ihrem schicken Bademantel. Er sah die kleinen Linien um die Augen, den Mund. Die bitteren Enttäuschungen der letzten Monate spiegelten sich in ihrem Gesicht wider. Noch immer war sie eine Frau, die mit ihrer Weiblichkeit wirkte. Geschmack hatte sie und sie verstand sich zu kleiden. Was Dominik jedoch sah, war eine unglückliche Frau.

Abrupt stand er auf, ging auf Friederike zu, wollte sie bei der Hand nehmen. Sie schubste ihn weg.

„Bitte“, sagte Dominik mit versöhnlicher Stimme, „müssen wir so miteinander umgehen? Meinst du, an mir geht alles spurlos vorbei? Ich kann auch nicht mehr.“

„Du kannst nicht mehr? Du? Wenn mein Kind einen Schaden davonträgt, bist du schuld!“, schrie sie.

Alles wurde ihr zu eng, Friederike konnte nicht länger gegen ihre Verzweiflung ankämpfen. Tränen setzten sich in ihrer Kehle fest, stiegen ihr in die Augen. Alles schien dunkel und schwer vor Gram und Ungewissheit. Dominiks Nähe ertrug sie nicht mehr.

Sie drehte sich um und verließ den Raum. Sie würde Ulf bitten, sie zu treffen. Er war doch immer für sie da, egal wieviel es zu tun gab in der Firma, er nahm sich Zeit für sie.

Dominik sah ihr nach. Die Frau, die ihn mit ihrem Charme und ihrer gewaltigen Energie verzaubert hatte, die gab es nicht mehr. Ihre gemeinsame Zukunft schien hinter dunklen Vorhängen verborgen zu sein. Die Zeit schritt mit riesigen Schritten voran und die Frage nach der Zukunft wurde immer drängender. Gab es denn überhaupt noch eine gemeinsame Zukunft für sie beide und Clara?

6 Pauline

Der zweite Teil der Wochenendfortbildung für Buchhändler war am Sonntagnachmittag zu Ende gegangen. Die Teilnehmer zog es nach Hause. Pauline hingegen wollte noch nicht nach Hause fahren. Die Natur war hier so schön. Wer weiß, wann sie wieder so eine Gelegenheit hatte. Sie entschloss sich, einen Spaziergang zu machen und nahm den Weg durch den Klostergarten zum Wald.

Auf einmal hörte sie Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie Pater Benedikt auf sich zukommen. Sie blieb stehen und wartete auf ihn.

„Pauline Günzburg, da haben wir wohl den gleichen Gedanken“, sagte er. „Sie wollen auch die schöne Natur genießen.“

„Ja, bevor ich zurück nach München fahre“, antwortete Pauline und wunderte sich, dass er noch ihren Namen wusste.

Sie fanden gleich in ein gutes Gespräch. Er ließ sich über die Neuerungen im Buchhandel informieren. So ganz nebenbei fragte er, ob er Pauline zu ihr sagen dürfte.

„Aber ja.“

„Und ich bin der Benedikt.“

Sie durchquerten den Klostergarten. Die Blätter der Birken glichen in der Sonne einem wogenden, silbernen Meer. Die rötlichen Lilien muteten im sanften Nachmittagslicht fast golden an. Schließich kamen sie auf seine Arbeit mit den Jugendlichen zu sprechen. Sie hatte ihn gestern Abend am Lagerfeuer mit ihnen sitzen sehen. „Das fordert sicherlich sehr viel von einem“, stellte Pauline fest. „Offen zu sein, den Jugendlichen nichts überstülpen zu wollen. Das ist ziemlich schwierig. Möglichst Vieles sehen, das Meiste übersehen. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge versteht sich.“

Pauline verlangsamte ihre Schritte, blieb vor Benedikt stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah ihn an. Er hielt ihrem Blick mit einer Intensität stand, die ein Kribbeln in ihrem Inneren verursachte. Für die Dauer eines Wimpernschlags flammte Sehnsucht in ihr auf und der Wunsch sich in seine Arme zu flüchten. Schnell schob sie das Gefühl von sich. Benedikt fühlte sich ganz seltsam, so wenig vertraut war ihm dieses warme Gefühl von Glück in letzter Zeit. Verlegen wandte Pauline sich von ihm ab.

„Weshalb sind sie Priester geworden, oder Mönch, oder wie man das nennt?“, fragte sie ihn.

Er fühlte sich ausgeliefert, völlig irritiert.

„Sie stellen mir da eine Frage, die ich nicht beantworten kann.“ Seine Stimme klang ganz anders als zuvor, als wäre er auf der Hut vor ihr.

Sie waren an der niedrigen Tür angelangt, die von dem ummauerten Klostergarten in den Wald führte. Benedikt öffnete sie und ließ Pauline vorgehen. Das Moos federte ihre Schritte ab, machte das Gehen leicht. Die Schatten der Bäume waren wie kleine Inseln in einem Meer aus Licht. Vielstimmiges Zwitschern und Pfeifen, Flöten und Tirilieren erfüllte die Luft. Eine Weile gingen sie so, ohne zu sprechen.

„Ich hätte sie so etwas nicht fragen dürfen“, meinte jetzt Pauline. „Entschuldigen Sie bitte.“

Benedikt nickte. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er diese Frage nicht beantworten können.

„Wissen Sie“, fuhr Pauline fort, „ich bin eine christliche Frau, aber ich glaube Vieles nicht, was diese vor allem männlich geprägte Kirche so von sich gibt.“

„Ich auch nicht!“, lachte Benedikt. Der Bann zwischen ihnen war gebrochen.

Stattdessen wollte er wissen, was denn in ihren Augen eine christliche Frau wäre.

„Ich wurde gläubig erzogen, auf strenge, katholische Art. Viele Verbote, viele Vorschriften. Ich habe mich gegen die Fesseln gewehrt, habe alles abgelehnt, was nur annähernd damit zu tun hatte. Viele, viele Jahre später, ohne Druck, freilebend… da konnte ich anders damit umgehen. Jetzt liebe ich die opulenten Rituale der katholischen Kirche, bin aber keine Katholikin mit Beichte. Mehr eine universelle, heidnische Christin, die alle anderen Religionen genauso akzeptiert. Ich liebe es, in einem Kirchraum zu versinken, guter Musik zu lauschen. Wenn eine mächtige Orgel ertönt, ja dann, werde ich davongetragen… Und wenn ich noch mitsingen kann… umso besser. Ähnliche Empfindungen habe ich in der Natur. Spiritualität ist niemals konfessionsgebunden.“

„Da stimme ich Ihnen zu“, erwiderte Benedikt. „Glaube ist ein großer Mythos, weder beschreibbar, noch erzählbar. Der christliche Glaube hat für mich eine klare, menschenfreundliche Botschaft, Glaube, Liebe, Hoffnung.“

„Wissen Sie, ich verehrte zum Beispiel auch die Mutter Gottes. Sie ist für mich meine Ansprechpartnerin als Frau. Ihr sage ich alles, was mich bewegt, ihr vertraue ich bedingungslos.“

„Sie meinen also Maria als Symbol?“

„Genau, das meine ich.“

„Sie ist die beschützende universelle Weiblichkeit, an die ich mich wenden kann.

Die Amtskirche mit ihrer noch immer männlich arroganten Präsenz kann mir gestohlen bleiben.“

„Harte Worte, aber in Vielem durchaus wahr“, warf Benedikt ein. Es gefiel ihm außerordentlich, wie sie da ihre Meinung vertrat.

„Können wir uns darauf einigen, dass letztendlich eine Welt ohne einen transzendenten Horizont trostlos ist?“

Pauline nickte zustimmend.

Pauline fühlte sich befreit, als Pater Benedikt sie zu ihrem Auto begleitete. Das Gespräch mit ihm hatte ihr viel gegeben. Sie hatte gleich gewusst, dass er nicht einer dieser dogmatischen Menschen war. Ein interessanter Mann dieser Pater, und wie attraktiv er aussah. Noch jetzt spürte sie ein leichtes Prickeln.

„So schnell werden sie wohl nicht mehr hierher kommen?“, wollte er wissen.

Pauline griff in ihre Handtasche. „Ich gebe ihnen meine Karte. Wenn Sie mal nach München kommen, schauen Sie doch mal in meiner Buchhandlung vorbei.“

Sie reichte ihm die Karte, er betrachtete sie und las laut.

„Buchhandlung Goll+Günzburg.“

„Vielleicht komme ich ja wirklich mal bei Ihnen vorbei. Sind sie denn täglich dort?“

„Nein, ich teile mir die Zeiten mit meinem Partner. Rufen sie vorher an.“

„Mache ich!“

Er ließ sie einsteigen, sie fuhr los.

Im Rückspiegel sah sie ihn dastehen, wie festgewachsen. Ein faszinierender Mann, dieser 38-jährige Pater, den eine seltsame Aura von Stärke und Trauer zugleich umgab.

Benedikt sah ihr nach, wie sie davonfuhr. Liebevoll hatte sie einmal während dieses Spaziergangs ihre Hand über seine gelegt. Worte konnten nicht zum Ausdruck bringen, was sie damit bei ihm angerichtet hatte. Benedikt fühlte einen kleinen, zaghaften Schmerz und mit ihm kam die Scham. Hatte er sich in Pauline verliebt? Unbemerkt von Pauline und Benedikt hatte der Abt von einem der oberen Fenster die Verabschiedung der beiden beobachtet.

Pauline saß spät am Sonntagabend noch mit Bele zusammen. Begeistert berichtete sie von dem Spaziergang mit Pater Benedikt. Bele hörte ihr mit einem leicht skeptischen Blick zu. Sie trug heute ihre ganz besonderen Lieblingsohrringe. Rosafarbene, riesengroße Regentropfen aus Muranoglas. Ihr Geliebter hatte sie seinerzeit von einem Glasbläser anfertigen lassen.

„Ja, ja, die Männer!“, meinte Bele sarkastisch. „Gibs zu, es reizt dich, dass er sozusagen nicht zu haben ist, dieser Mann Gottes.“ Dabei blickte sie Pauline so schelmisch an, dass beide lachen mussten.

„Vielleicht, vielleicht, vielleicht!“

„Sag ich doch, meine Liebe.“

Montag, 11. Juni

7 Dominik

Dreizehn Uhr. Die überaus wichtige, gefürchtete Präsentation war soeben erfolgreich zu Ende gegangen. Die Kunden waren schon wieder weg, die Agentur hatte den Auftrag erhalten. Nun saßen die beiden Chefs mit ihren Mitarbeitern im Präsentationsraum zusammen. Allseits war Entspannung spürbar. Gerade brachte Frau Meinert eine Flasche Champagner samt Gläsern und stellte das Tablett auf dem Tisch ab.

Ulf Lehmann stand auf, öffnete die Flasche mit einem lauten Knall und goss den Champagner in die Kelche. In einer liebevollen Geste reichte Dominik jedem der Mitarbeiter ein Glas.

„Auf meinen Kompagnon!“, rief Ulf und erhob als erster sein Glas. „Ich muss immer wieder sagen, Dominik, du bist ein echter Profi. Nach dem Mist, der in den letzten Tagen von uns allen verzapft worden ist, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass das so laufen würde, wie es heute gelaufen ist.“

„Ich habe auch schon fast nicht mehr daran geglaubt“, sagte Dominik. „Ein Toast auf die großartigen Mitarbeiter.“

Es war enorm, was sie zu leisten imstande waren. Alle prosteten einander zu, tranken genüsslich von dem Champagner, redeten wild und laut durcheinander. Große Erleichterung stand in den Gesichtern. Nach einer Weile ergriff Dominik erneut das Wort.

„Nun steht die nächste große Sache an und ihr wisst, der Kunde Petzold hat den höchsten Anspruch.“

Aufmerksam betrachtete er die Gesichter seiner Mitarbeiter.

„Jeder Einzelne von euch ist ein Profi. Wir können das schaffen, das weiß ich.“

„Aber nachher“, rief Ulf dazwischen, „laden wir euch zum Mittagessen bei unserem Italiener ein. Der hat den ganzen Tag auf, wie wäre es? So gegen sechzehn Uhr.“

Begeistert stimmten alle zu.

„Frau Meinert, bestellen sie uns einen Tisch. Nach dem Essen kann, wer will, für heute Schluss machen. Denn ab morgen, da geht’s wieder ran an die große Aufgabe.“

Mit gemischten Gefühlen betrat Dominik die Arztpraxis. Er hasste es, zu Ärzten zu gehen. Aber dieses Räuspern, dieser Druck im Halsbereich, es hörte einfach nicht auf. Er hatte sogar im Internet recherchiert. Was er da las, beunruhigte ihn.

Schluckbeschwerden, Knotengefühl im Hals, ständiges Zwangsräuspern – kann auch ausgelöst werden durch psychische Belastungen…

Wenn die Ursachen abgeklärt sind, der Befund negativ ist, sollte man unbedingt einen Psychiater aufsuchen, denn dann…

War er dabei, verrückt zu werden? Sein chaotisches Familienleben, das nahm ihn am meisten mit. Was würde aus Clara werden, wenn sie sich trennen sollten? Er durfte gar nicht daran denken.

Das Wartezimmer war leer. Er setzte sich, schloss die Augen.

Half alles nichts, er musste da durch.

Dominik war dankbar, dass er überhaupt einen Termin bekommen hatte. Eine Tür ging auf, der Arzt kam heraus.

„Herr Gutenberg?“

Dominik nickte, stand auf, der Arzt reichte ihm die Hand, ließ ihn vorausgehen in sein Behandlungszimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

„Bitte nehmen Sie Platz!“

Dominik setzte sich.

„Was führt Sie zu mir?“

Dominik sah dem Arzt in die Augen, er fühlte Vertrauen zu dem älteren Mann und schilderte ihm seine Symptome. Dieser hörte aufmerksam zu. Fragte auch nach seinen Lebensumständen. Er untersuchte ihn gründlich, nahm Blut ab. Als dies alles erledigt war, sah er Dominik eindringlich an.

„Ich kann nichts wirklich Krankhaftes in ihrem Kehlkopf feststellen, außer einer leichten Entzündung. Ich weiß natürlich, dass man die Situationen, die sie mir geschildert haben, nicht einfach abstellen kann, aber wenn möglich sollten sie versuchen, ruhiger zu werden. Ich werde Ihnen ein Medikament verordnen, das nehmen sie zehn Tage lang. Unabhängig davon und um wirklich alles auszuschließen gebe ich ihnen eine Überweisung für eine Computertomografie.“

Nicht mehr ganz so aufgewühlt verließ Dominik kurz vor sechzehn Uhr die Praxis und machte sich auf den Weg zum Mittagessen mit seinen Mitarbeitern.

Gegen achtzehn Uhr verließ Dominik das Restaurant. Das Essen war heiter und laut zu Ende gegangen. Sie hatten wie immer vorzüglich gespeist. Alle waren zufrieden. Ihre Agentur hatte großartige Mitarbeiter, die immer da waren, wenn man sie brauchte. Nur Ulf, der war in letzter Zeit etwas komisch, oder bildete er sich das ein? Vielleicht hatte er wieder einmal Ärger mit irgendeiner Freundin. Seit er geschieden war, ließ er es krachen… Seine Tochter Clara, deren Pate er war, die vergötterte er. Wir sollten mal wieder einen Abend zusammen verbringen, nahm sich Dominik fest vor, schließlich waren sie Freunde und hatten die Firma zusammen gegründet.

Es war ein schöner Frühsommerabend. Dominik beschloss, einen Spaziergang zu machen. Überall in Schwabing hatten die Gastwirte Tische und Stühle nach draußen gestellt. Die meisten von ihnen waren besetzt. Als er an der Ursulakirche in der Kaiserstraße vorbeikam, setzte er sich draußen auf eine Bank und bewunderte die schön angelegten Blumenbeete. Junge Leute saßen auf den Stufen, die zu der Kirche hinaufführten, unterhielten sich, aßen, lachten und tranken. Die heitere Szenerie erinnerte Dominik an Italien. Es fühlte sich gut an, dem bunten Treiben zuzusehen.

Nach einer Weile stand er auf und ging in die Kirche. Es war ihm danach, eine Kerze anzuzünden. Trotz der Schwierigkeiten gab es auch viel Dankenswertes in seinem Leben. Als er die schwere Kirchentüre öffnen wollte, wurde sie von innen einen kleinen Spalt geöffnet. Eine alte Dame mit Rollator hatte große Mühe mit der Tür. Dominik half ihr. Was ihm auffiel, waren ihre mit Spitzenhandschuhen bedeckten Hände. Sie bedankte sich, sah ihn mit großen intensiv geschminkten Augen an. Ihr Gesicht zeigte eine ganz eigene Schönheit. Er sah ihr nach, wie sie hocherhobenen Hauptes hinter ihrem Rollator dahinschritt wie eine Ballerina.

Er betrat die leere Kirche. Obwohl in einem katholischen Internat erzogen, war er kein Kirchgänger. Er glaubte an eine höhere Instanz. Daran, dass das Gewissen eines jeden Menschen etwas Wesentliches war und dass man sicherlich über sein Leben Rechenschaft ablegen musste vor eben dieser höheren Instanz, die die Menschen Gott nannten. Er ging zu dem seitlich gelegenen Marienaltar. Drei Kerzen stellte er in die dafür vorgesehene Halterung und zündete sie an. Anschließend setzte er sich auf eine der kleinen Bänke und betrachtete die brennenden Kerzen. Ihm gefiel nach wie vor so manch christliche Tradition. Die Muttergottesverehrung seiner Großmutter, die herrlichen Marienlieder, die sie gemeinsam gesungen hatten. Und er liebte die stillen, oft wunderbar gestalteten Kirchenräume, um sich zu sammeln. Auf einmal musste er an Benedikt denken. An ihre gemeinsame Internatszeit in der Klosterschule. Er hatte sich schon so lange vorgenommen, ihn zu besuchen. Seinen Freund aus Jugendtagen. Nie hätte er gedacht, dass Benedikt Mönch werden würde.

Dominik hatte anfangs gelitten und sich abgeschoben gefühlt. Als seine Eltern sich trennten und er seinem Vater zugesprochen worden war, da war die Zeit im Internat furchtbar für ihn gewesen, hätte sich da nicht die Freundschaft zu Benedikt entwickelt.