Liebe und Schatten - Hildegard Liebl - E-Book

Liebe und Schatten E-Book

Hildegard Liebl

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Beschreibung

In Lalimete, einem schön gelegenen Ort am Fuß der immer grünen Alouberge, leben wenige Europäer. Anläßlich eines Besuches bei ihrer Freundin, die hier als Entwicklungshelferin arbeitet, begegnen sich Maggie und Patrick Stern vom Team der fliegenden Ärzte. Die beiden verlieben sich und verbringen leidenschaftliche Stunden miteinander. Obwohl sie sich nicht gut kennen, haben sie das Gefühl, zueinander zu gehören. Monate später zieht Maggie zu Patrick nach Afrika. Dort findet sie eine Aufgabe als Lehrerin auf der nahegelegenen Missionsstation Bethlehem, die von Nonnen geleitet wird. Eine tiefe Freundschaft entwickelt sich zwischen ihr, Schwester Anna und der weltoffenen Mutter Oberin. Als auch Anna von der Liebe überrascht wird, plagen sie mehr und mehr Zweifel an ihrer Berufung. Wird sie den Orden verlassen? Vor der faszinierenden, farbigen Kulisse eines Afrika, das es so kaum noch gibt, entfalten sich zwei bittersüße, miteinander verwobene Liebesgeschichten. Gefühlvoll, dramatisch, sinnlich.

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Seitenzahl: 719

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Hildegard Liebl

Liebe und Schatten

Jene Jahre in Lalimete

Roman

Copyright: © 2016 Hildegard Liebl

Lektorat: Friederike M. Schmitz - http://www.prolitera.de Umschlaggestaltung & Satz: Erik Kinting - www.buchlektorat.netTitelbild: © quickshooting (fotolia.com)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1977

Prolog

Maggie blickt auf das zerknüllte Taschentuch in ihren Händen, wischte sich die Tränen ab. Verzweifelt schaute sie in die Nacht hinaus. Das Firmament leuchtete mit seinen Millionen Sternen. Wie sehr hatten sie es geliebt, in Lalimete auf der Terrasse zu sitzen und diesen Sternenhimmel zu bewundern. Der Nachtflug nach Westafrika war lang gewesen, sie hatte keine Ruhe finden können. Wie gut, dass der Sitz im Flugzeug neben ihr leer geblieben war. Immer und immer wieder sah sie Patricks Gesicht vor sich. Sie konnte ihn sich überhaupt nicht in einem Krankenhausbett vorstellen. Diesmal war der Doktor der Patient. Sie fühlte sich hilflos wie noch selten in ihrem Leben. Nur ein einziges Mal hatte sie sich ähnlich gefühlt, das war, als sie Lilli verloren hatten. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Was würde sie im Hospital erwarten? Nichts war mehr wie zuvor. Vielleicht wäre alles nicht passiert, wenn sie nicht so egoistisch gehandelt hätte. Schuldgefühle plagten sie. Maggie hatte reagiert, wie sie es selber nie für möglich gehalten hatte.

Sie wühlte in ihrer Tasche, zog den Brief von Patrick heraus.

Die Nachbarn tanzen noch immer für deine Rückkehr, für Lilli undLillis Vater, hatte er geschrieben.

Überraschen hatte er sie wollen, zu ihr kommen nach München. Seine Frau zurückholen in ihr gemeinsames Leben. Auch sie hatte ihn überraschen wollen, als sie endlich, endlich gelernt hatte, sich wieder zu vertrauen. Hoffentlich war es nicht zu spät.

Das Schicksal durfte ihn ihr nicht wegnehmen. Sie konnte, nach Lilli, keinen weiteren Verlust ertragen.

Maggie nahm ihren Taschenspiegel, schaute sich an. Sie sah furchtbar aus. Eine müde, erschöpfte Frau. Heute sah man ihr die 34 Jahre an.

Ihre Gedanken wanderten viele Monate zurück, flatterten herum wie aufgescheuchte Fledermäuse. Wann war das gewesen, dass Patrick und sie miteinander glücklich waren und oft die Nacht zum Tag gemacht hatten? Damals trug die Liebe sie durch das Müdesein. Sie steckte den Spiegel weg und kauerte sich in den Sitz. In ihren Schläfen pochte die Angst.

„Meine Damen und Herren, die Landung erfolgt in etwa dreißig Minuten“, ertönte die Stimme des Kapitäns.

Draußen hatte die Morgendämmerung den Himmel mit goldenem Leuchten überzogen, die Sonne ging auf. Plötzlich war der Tag da, aus den Schatten der Nacht geboren. Üppig grün zeigte sich die afrikanische Landschaft beim Landeanflug. Hart setzte die Maschine auf, rollte aus. Als die Türen sich öffneten, wurde Maggie von der feuchten, schwülen Luft der Tropen überflutet. In der Nähe der Landebahn blühten Bougainvilleen und Hibiskus in leuchtenden Farben. Auf einmal war da so etwas wie ein gutes Gefühl spürbar. Tief atmete sie den Duft Afrikas ein. Wie sehr liebte sie es, hier anzukommen.

1974

1

Maggie erwachte früh im Haus ihrer Freundin Lina. Sie stand auf, trat ans fliegenvergitterte Fenster. Das Licht verriet, dass der Tag eben erst geboren wurde. Hinter den sanften Berghügeln, weit entfernt, erhellte sich das Firmament. Sonnenstrahlen näherten sich dem Tal. Die von Tau bedeckten Felder glänzten, als hätte jemand Silberperlen über sie geworfen. Dick und prall ragten die Knollen der Jamswurzeln aus den Erdhügeln. Maggie reckte und streckte sich, sah zu, wie sich der mächtige Sonnenball ganz plötzlich über das Land ausbreitete. Grau, Weiß und zartes Rosa verwandelten sich in leuchtendes Orange. Im palmenumsäumten Garten blühten zwei Pampelmusenbäume. Kolibris, heftig mit den winzigen Flügeln schlagend, steckten ihre langen Schnäbel in die Blütenkelche. Maggie dachte an ihre zerbrochene Beziehung. Ach, Matthias!

Als sie sich entschieden hatte, nach Afrika zu fahren, ging es ihr endlich besser. Wie leicht hatte es sich angefühlt, diesen Mann zu lieben. Und dann: nichts als Lügen und Ausweichen. Wie oft hatte sie geschwankt im Auf und Ab ihrer Gefühle. Maggie atmete tief durch. Sie genoss es, wieder viel vom Himmel wahrnehmen zu können. Die Farben Afrikas taten ihr gut, sie fühlte sich lebendig. Ihr Weg war wieder breiter geworden. Die Verwundung schmerzte nicht mehr.

Maggie wickelte sich ein Tuch um, ging in die Küche, kochte starken Kaffee, setzte sich hinaus auf die Terrasse und nahm einen großen Schluck. Miranda kam angesprungen. Mit ihrer feuchten Hundeschnauze beschnupperte sie Maggie.

„Na meine Süße, du undefinierbare wunderbare Mischung“, sagte Maggie sanft und streichelte sie.

Miranda wedelt mit dem Schwanz und legte sich neben den Stuhl. Die Luft liebkoste Maggies Haut, die Weite des Himmels glich ihrer Vorstellung von Unendlichkeit.

„Dank sei Allah für deine sichere Rückkehr“, rief einer der afrikanischen Nachbarn, als er den kleinen Weg an der Gartenmauer entlangging. „Er schenke dir einen guten Morgen, einen guten Tag und ein langes Leben.“

„Das wünsche ich dir auch, Immanuel“, grüßte Maggie zurück.

Als sie einander zuwinkten, knurrte Miranda, sprang mit einem Satz auf und verzog sich in den Garten unter ihren Lieblingsbaum.

***

Maggie hing ihren Gedanken nach. dachte an die erste Reise zu ihrer Freundin Lina, die in Westafrika als Entwicklungshelferin arbeitete. Wie verzaubert war sie gewesen von ihrem ersten afrikanischen Morgen, als noch die Dunkelheit den Tag verbarg, der plötzlich hervortrat, fast ohne Dämmerung aus den dunklen Schatten der Nacht. Nun bin ich schon das dritte Mal hier, dachte Maggie. Alles war vertraut. Linas Zeit als Entwicklungshelferin war bald vorbei, und ihre, Maggies, lange Sommerferien waren auch bald vorbei. Meinen Kinder in der Schule werde ich viel zu erzählen haben. Maggie trank ihren Kaffee aus, ging zurück ins Haus und stellte sich unter die Dusche. Sie ließ sich benetzen vom kostbaren Wasser. Schon mit dem ersten Morgen hier war etwas von ihr abgefallen, das mit einem ganz anderen Leben zu tun hatte. Allzu lange hatte sie sich selber leid getan, als sie von der anderen Frau erfuhr. Sie schüttelte ihre nassen Haare, trat aus der Dusche. Sie wusste nicht einmal, wie viel Uhr es war, die Armbanduhr hatte sie fortgelegt.

Es gab keinen Ort, wo sie jetzt lieber gewesen wäre als hier in Lalimete. Sie fühlte sich gut. Die Träume vom Leben mit Matthias waren vergangen und schmerzten nicht mehr. Maggie spürte, wie ein Glücksgefühl sie überflutete, während sie draußen Lina mit dem Hund sprechen hörte.

„Liebe Miranda, leider kannst du diesmal nicht mit. Wir werden zum Wochenende weit in den Norden fahren. Meine Freundin Ella hat Geburtstag.“

Lina stand in der Küche mit einem Stückchen Wurst in der Hand. Miranda saß brav vor ihr, blickte ihr Frauchen mit großen Augen an und wartete sehnsüchtig darauf, dass sie die Wurst bekam.

„… und es gibt dort ein wunderbares Hotel, wo ich mit Maggie wohnen werde. Das hat sie mir nämlich geschenkt.“

Als Lina Maggie kommen sah und sich ihr zuwandte, schnappte Miranda nach der Wurst und verschwand.

Lina und Maggie luden ihr Gepäck in den Renault und fuhren gegen acht Uhr los. Überall hatte der afrikanische Alltag begonnen. Viele Menschen waren an der nach Norden führenden Straße unterwegs. Die Landschaft im Süden zeigte sich überall grün und blühend. Trotz Trockenzeit hatte es immer wieder heftig geregnet. Die Straße war an machen Stellen ziemlich holprig. Lina musste viele Schlaglöcher umfahren. Wenige Autos kamen den beiden Frauen entgegen.

„Zünde mir mal eine Zigarette an“, bat Lina.

Maggie nahm einen Zug, bevor sie ihrer Freundin die Zigarette reichte.

„Oh wie scheußlich. Wie gut, dass ich dieses Laster nicht mehr habe.“

„Dafür hast du andere“, sagte Lina und lachte.

„Da hat du recht – viele.“

„Sag mal, Maggie, ist es mit Matthias wirklich aus?“ Lina betrachtete ihre Freundin von Seite.

„Ja, das ist es.“ Maggie nickte bestätigend. „Er hat sich ganz schön schäbig verhalten. Verdammt feige und verlogen. Er hatte schon lange diese andere Frau. Als es mit der vorbei war, stand er vor meiner Tür und wollte, dass ich ihm verzeihe. Ich will dich zurückgewinnen, ich habe einen Fehler gemacht. Von sich überzeugt ist er vor mir gestanden. Er hat überhaupt nicht begriffen, dass ich ihm nicht mehr vertraue.“

„Ja, ja, gewinnen war immer schon Matthiasʼ Sache“, stellte Lina fest und inhalierte den Zigarettenrauch tief. „Aber Hauptsache dir geht’s wieder gut und du hast diesen Betrug verkraftet.“

„Sehe ich genauso.“

Die beiden Frauen hingen ihren Gedanken nach. Maggie sprach als Erste wieder.

„Wie geht Lukas damit um, dass du zurück nach Europa gehst?“

Lina schüttelte den Kopf. Mit ernstem Gesicht wandte sie sich kurz Maggie zu, konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.

„Wir vermeiden es, über dieses Thema zu sprechen.“

Lina stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Ich habe mir nie vorstellen können, wie schwer es ist, mit einem anderen Kulturkreis zurechtzukommen. Ein Libanese hat eine völlig andere Sicht der Dinge. Dabei ist Lukas in Frankreich aufgewachsen, hat als angehender Jurist eine ausgezeichnete Bildung bekommen, dennoch ist sein Denken so anders als meins …“ Lina schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Obwohl jeder weiß, dass wir liiert sind, hält er immer eine gewisse Distanz, wenn wir mit anderen Leuten zusammen sind. Du hast das doch viele Male selber erlebt, nicht wahr?“

Maggie nickte. „Vielleicht liegt das an seiner Jugend?“

„Ach was. Durch mein idiotisches Verliebtsein nehme ich Dinge in Kauf, die mich letztlich an mir zweifeln lassen“, fuhr Lina fort. „Kürzlich haben wir über die gescheiterte Ehe seines Bruders mit einer Französin gesprochen. Er findet ganz normal, dass das Kind aus dieser Beziehung hier in Afrika bei seiner Familie aufwächst. Ich habe ihn gefragt, ob die Mutter nicht um ihre Tochter gekämpft hat. Doch, meinte Lukas, aber in Afrika und im Libanon gehören die Kinder stets dem Vater. Ich lebe ja wirklich gern hier und habe auch viele Kontakte – aber die Beziehung mit Lukas ist immer wieder schmerzlich. Ich weiß, dass er mich auf seine Art liebt, aber zu mir stehen, wenn ich ihn brauche, das tut er nicht. Immer wieder wollte ich das Verhältnis beenden, aber dann war es wieder besonders schön mit ihm.“

„Immer ist das, was man nicht haben kann am aufregendsten, was?“

„Du sagst es.“

„Ich denke, wenn ich fort bin, ist es vorbei.“

Lina nahm einen letzten tiefen Zug und reichte Maggie die Zigarette zum Ausdrücken.

Jeder Mensch hat ein inneres Zimmer, in dem seine Dämonen lauern, dachte diese. Erst wenn er es öffnet und sich ihnen stellt, ist er frei.

„Wie lange werden wir noch brauchen?“, wollte Maggie wissen, als sie schon fast drei Stunden unterwegs waren.

„Ich hoffe, wir sind am frühen Nachmittag da“, meinte Lina und legte eine Musikkassette ein. Don McLeans Stimme erklang – American Pie …

Laut sangen die beiden mit.

„Wie ist es überhaupt für dich, dass du nur noch wenige Monate in Lalimete sein wirst?“, wollte Maggie wissen, als sie ausgesungen hatten.

„Frag mich was Leichteres“, meinte Lina. „Wie oft bin ich in den fünf Jahren hier der Verzweiflung nahegewesen, wenn wieder mal so gar nichts bei der Arbeit klappte. Es gab und gibt immer wieder Tage, wo ich alles hinschmeißen will, aber dann …“

„Afrikaner scheinen eine Begabung zu haben, mit jedem neuen Tag Kummer und Sorgen von gestern abzuschütteln, davon kann ich nur lernen.“

Lina schwieg.

„Afrika ist für mich immer noch ein Kontinent voller Magie, voller Schönheit“, fuhr Maggie fort.

„Ich denke, jeder hat an dem Platz wo er arbeitet, seine eigenen Probleme. Lehrerin zu sein, ist auch nicht immer leicht, oder?“

„Das stimmt bedingt. Du weißt, ich liebe meinen Beruf. Wenn mich meine Zweitklässler mit ihren vertrauensvollen Kinderaugen ansehen, wird mein Herz berührt. Sie wollen immer alles von Afrika wissen. Vor allem, was ich mit wilden Tieren erlebt habe. Sie können gar nicht begreifen, dass in Westafrika der Tierbestand ziemlich ausgerottet ist.“

„Übrigens“, Lina sah zu Maggie hinüber. „Kürzlich bin ich einer Frau begegnet, die aussah wie unsere Kindergärtnerin Bärbel. Erinnerst du dich an sie?“

„Und ob. Sie wollte immer, dass du ihr das Lied von Caterina Valente ins Ohr singen solltest: Ganz Paris träumt von der Liebe!“

Maggie begann laut zu singen, und Lina stimmte ein:

Ganz Paris träumt von der Liebe

denn dort ist sie ja zu Haus

Ganz Paris träumt dieses Märchen, wenn es wahr wird

Ganz Paris grüßt dann das Pärchen, das ein Paar wird

Ganz Paris singt immer wieder,

immer wieder nur vom Glück

Wer verliebt ist

wer verliebt ist in die Liebe

kommt nach Paris zurück

Singend fuhren die Frauen durch die Landschaft. Und dann lachten und lachten sie. Maggie legte ihre Hand auf Linas Hand.

„Ich hatte den Text von Tante Ursula, sie liebte dieses Lied auch.“

„Ach, ja, deine Tante Ursula. Das war schon eine Verrückte. Wir mochten sie alle sehr mit ihren langen, rot lackierten Fingernägeln und den Lippenstiften in goldenen Hüllen.“

„Einmal am Heiligen Abend, ich war noch ganz klein, da spielte sie das Christkind, ich erkannte sie an den rot lackierten Nägeln.“

Beide hingen ihren Erinnerungen nach.

„Lina, erinnerst du dich noch, wie wir Kinder waren und ihr bei uns gewohnt habt?“

„Und ob. Wie man uns für Zwillinge gehalten hat.“

„Die gleichen Sommersprossen, die gleichen rötlichen Haare. Die gleichen grünen Augen.“

„Nur warst du viel wilder als ich, Maggie. Ich wurde bestraft für Taten, die du begangen hast.“

„Ich weiß, aber ich habe immer zu dir gehalten.“

„Das stimmt.“

Lina bat erneut um eine Zigarette. Lina nahm einen tiefen Zug, hustete und gab sie Maggie zurück.

„Drück sie aus, die schmeckt mir heute nicht.“

Lina tätschelte Maggies Arm, sah zu ihr hinüber.

„Du hast doch vorhin wissen wollen, was ich empfinde, bei dem Gedanken, von Lalimete wegzugehen?“

„Und?“

„Ich gehe schweren Herzens von hier fort, das stimmt, aber ich freue mich doch wieder sehr auf meine Heimat am Starnberger See. Das hat vielleicht auch mit der Sehnsucht nach der Zeit zu tun, als ich Kind war.“

Sie war sechs Jahre alt und der Mann, der sie hielt, war ihr Vater. Ein lachender Riese, der sie in seinem Armen wiegte und immer wieder in den Starnberger See plumpsen ließ, um sie sofort wieder hochzuziehen und in die Luft zu werfen. Ihr Vater war es, der sie auffing, während sie lachte und aufschrie vor Glückseligkeit. In dem Armen ihres Vaters wusste sie nicht, was Angst bedeutete. Angst fühlte Maggie zum ersten Mal, als er sie und ihre Mutter verließ.

Je weiter die Frauen in den Norden kamen, desto flacher- und trockener zeigte sich die Landschaft. Zwischen Flamboyant- und Mangobäumen standen kleine Rundhütten mit konischen Dächern. Gegen Mittag erreichten sie die muselmanische Stadt Solodole. Die Straßenszenerie bot ein noch bunteres Bild als in Lalimete. Majestätisch, würdevoll schritten die Menschen die Straßen entlang. Männer trugen lange Gewänder mit Kopfbedeckung und einen Schirm in der Hand. Die Frauen trugen schwere Lasten auf Schleiern, die bis zur Schulter herabfielen. Ihre Gesichter waren unbedeckt. Sie begrüßten einander, indem sie die Knie beugten. So ehrerbietig begrüßten sie auch die ohne Lasten dahinschreitenden Männer. Viele der kleineren Kinder waren nackt. Überall luden Plätze mit schattigen Bäumen zur Rast ein. Solche Plätze gab es überall dort, wo man anderen Menschen begegnen konnte, wo man sie vorbeigehen sah. Wo es Dinge zu beobachten gab, über die man sich unterhalten konnte. Jede Straße, jeder Weg führte an einem Ruheplatz vorbei. Die Menschen hatten an diesen Plätzen ihre täglichen Begegnungen.

Am frühen Nachmittag endlich erschien am Straßenrand das Schild Lala-Kala. Lina bog von der Hauptstraße ab, überquerte eine wacklige Brücke über den Fluss Kala, der trotz Trockenzeit Wasser führte. Überall am Fluss waren Frauen und Kinder damit beschäftigt, Wäsche zu waschen. Sie taten dies, indem sie die bunten Tücher immer wieder durchs Wasser zogen und anschließend auf die Steine schlugen. Als sie das Auto bemerkten, winkten sie.

„Jovo, Jovo, Weißer, Weißer!“, riefen sie lachend.

Lina und Maggie winkten zurück. Bald schon bogen sie in eine schmale, staubige Piste. Nach wenigen Minuten erreichten sie Ellas Haus.

Von einer weißen Steinmauer umgeben stand der Bungalow allein, zwischen blühenden Bougainvilleen, Hibisken, Jacarandabäumen und Palmen. Das Sonnenlicht malte Schattenspiele an die Hauswand. Eine kleine Treppe führte zum Eingang. Dort saß ein älterer Afrikaner barfuß am Boden und schnitt Stöckchen zurecht. Lina hupte und fuhr mit großem Schwung vors Haus.

„Und jetzt, Maggie, freuen wir uns auf das Geburtstagsfest bei Ella und lassen es uns gut gehen!“, rief sie fröhlich.

Noch während des Aussteigens kam ihnen, übers ganze Gesicht strahlend, der Afrikaner entgegen.

„Guten Tag, Napo“, rief Lina. „Wie geht es dir?“

Die beiden drückten einander fest die Hand.

„Sehr, sehr gut, Madame.“ Dabei schwenkte Napo noch immer lachend Madames Hand hin und her.

Zwei kleine Jungs und ein Mädchen kamen gelaufen, schauten aufmerksam zu. Das Mädchen trug in einem Pagne ein Baby auf dem Rücken. Napo begann mit der langen Begrüßung.

„Wie geht es dir?“

„Wie geht es deiner Familie?“

„Wie geht es deiner Mutter, deinem Vater?“

„Wie geht es den Frauen deines Vaters?“

Schließlich wurde Maggie auf die gleiche Weise begrüßt. Als die Begrüßung zu Ende war, fragte Lina nach Ella.

„Sie holt die Frauen ab, die für das Fest kochen“, erklärte Napo.

Als er das Gepäck aus dem Auto nehmen wollte, wehrte Lina ab.

„Meine Freundin hat mich ins Hotel eingeladen. Es ist ihr Abschiedsgeschenk an mich, sie fährt bald wieder heim.“

Napos Miene drückte Bedauern aus. Lina nahm ein schön verpacktes Geschenk aus dem Auto, pflückte eine Hibiskusblüte, legte sie auf das Päckchen und überreichte es Napo.

„Von uns für dich und deine Familie.“

Sprachlos betrachtete er dieses Geschenk. Was man ihm da wohl überreicht hatte? Es sah kostbar aus.

„Vielen Dank, Madame Lina, vielen Dank Madame Maggie!“

Immer wieder rief er, vor Freude strahlend, dieselben Worte.

„Willst du es nicht aufmachen?“, fragte Lina

Er zögerte, betrachtete das schöne, mit einer großen Schleife verzierte Geschenk. So was hatte er noch nie bekommen, die Familie würde Augen machen. Er schüttelte den Kopf.

„Ich werde es mit meinen Leuten auspacken.“

Die Kinder traten näher, große Bewunderung stand in ihren Augen. Verlegen lachten sie.

„Dann werde ich für Madame Ella eine Nachricht schreiben“, meinte Lina zu Napo.

Zusammen gingen sie ins Haus. Maggie wartete draußen.

Das Hotel, wenige Fahrminuten von Ellas Haus entfernt, lag in einem üppig blühenden tropischen Garten. Es bestand aus einem einstöckigen weißen Haupthaus im maurischen Stil und zehn weit verstreut liegenden Gästebungalows. Über dem Eingang wehte die Landesflagge. Sie fuhren auf den Parkplatz, wo zwei Afrikaner saßen. Diese standen sofort auf, übernahmen das Gepäck.

„Purer Luxus!“, rief Maggie begeistert, als sie zur Rezeption gingen.

„Ja, und ab und zu wichtig“, antwortete Lina vergnügt.

„Das Hotel gehört übrigens dem Staat. Von Zeit zu Zeit verirren sich kleine Touristengruppen hierher. Ansonsten ist nie viel Betrieb. Die wenigen Gäste sind vorwiegend portugiesische und spanische Geschäftsleute.“

„… und Entwicklungshelfer, die sich mal ein schönes Wochenende gönnen wollen“, erwiderte Maggie.

„Genau. Dann noch die Ärzte und Piloten vom Flying Service Doctors Help und … reiche Einheimische.“

Ein distinguiert aussehender Afrikaner mittleren Alters stand hinter dem Tresen und machte Notizen. Als er aufsah, ging ein Strahlen über sein Gesicht.

„Oh, Madame Lina de Lalimete“, rief Monsieur Tsogbe. „Gute Ankunft, gute Ankunft!“ Er kam um den Tresen herum, schüttelte Linas Hände und wollte sie gar nicht mehr loslassen. „Oh, oh“, rief er, „Sie sind wieder hier. Welche Freude, Madame, welche Freude.“

Dann wandte er sich Maggie zu, um sie ebenfalls zu begrüßen.

„Das ist meine Freundin Maggie. Wir sind sozusagen Schwestern. Im gleichen Jahr geboren, im gleichen Ort:“

„Aha!“, rief er, „das ist gut, das ist gut. Schwestern also. Gute Ankunft, Madame Maggie, gute Ankunft.“

Die Gepäckträger hatten sich im Hintergrund gehalten. Monsieur Tsogbe gab ihnen Anweisung, wohin das Gepäck gebracht werden sollte. Anschließend wandte er sich wieder den beiden Frauen zu.

„Gestatten Sie mir“, dabei legte er mit einer leichten Verbeugung die Hand auf sein Herz, „die Damen draußen am Swimmingpool zu einem Willkommensdrink einzuladen?“

„Vielen Dank, Monsieur Tsogbe, das nehmen wir gerne an“, meinte Lina.

„Bitte folgende Sie mir, meine Damen.“

Lina hängte sich bei Maggie ein. Sie folgten Monsieur Tsogbe Richtung Swimmingpool. Er führte sie an einem großen Speisesaal vorbei, der halb drinnen, halb draußen lag. Überall blühte es in verschwenderischer Fülle.

„Ich bin überwältigt“, rief Maggie. „Was haben wir`s doch gut getroffen.“

Mit einladender Geste zeigte Monsieur Tsogbe auf zwei weiße Stühle, die an einem Bistrotisch unter einem Sonnenschirm standen.

„Bitte nehmen Sie Platz, meine Damen.“

Er verbeugte sich und ging zurück zur Rezeption.

An einem der anderen Tische saß ein afrikanisches Paar. Beide sehr dick, bunt gekleidet, sie mit üppigem Kopfputz und viel Goldschmuck. Vor sich auf dem Tisch hatten sie zwei mit Blüten dekorierte Gläser stehen. Genüsslich tranken sie davon. Lina und Maggie grüßten und wurden freundlich zurückgegrüßt.

Um den Swimmingpool herum standen weiße Holzliegen. Drei südländisch aussehende Männer und zwei Frauen saßen dort, unterhielten sich groß gestikulierend in Englisch miteinander. Auf kleinen Beistelltischen standen Gläser und Flaschen. Ihre Unterhaltung wurde immer wieder von lautem Lachen unterbrochen. Einer der Männer stand auf, sprang in den Pool und tauchte wieder auf.

„Hallo, Lina!“, rief er.

„Conzales, was machst du denn hier?“ Überrascht stand Lina auf und ging zu ihm hin.

Conzales hatte seine Arme auf den Rand des Pools gestützt.

„Ausspannen!“, rief er und blickte zu Maggie.

„Meine Freundin Maggie“, stellte Lina ihre Freundin vor.

Maggie stand auf und kam zum Swimmingpool.

Conzales sprang mit einem gekonnten Satz aus dem Pool heraus. Ein nicht sehr großer, dennoch überaus attraktiver Mann mit durchtrainierter Figur und einer stark behaarten Brust. Ich schätze ihn so auf Mitte vierzig, stellte Maggie für sich fest.

Conzales reichte erst Maggie, dann Lina die Hand.

„Herzlich willkommen.“

Dabei betrachteten seine Augen Maggie besonders aufmerksam.

„Und was führt euch hier her?“

„Ellas dreißigster Geburtstag. Wir bleiben bis Montag.“

„Ich bin mit Geschäftsfreunden hier. “

Conzales zeigte mit dem Kopf in Richtung der anderen Gäste. Die beiden Frauen grüßten hinüber, man winkte sich zu.

„Sind Sie das erste Mal hier?“, wandte sich Conzales an Maggie und warf ihr dabei einen glutvollen Blick zu.

„An diesem zauberhaften Ort war ich noch nie. Allerdings bei Lina in Lalimete schon öfter.“

„Du hast sie mir vorenthalten, Lina!“, meinte Conzales gespielt vorwurfsvoll und machte einen Kopfsprung zurück in den Pool.

„Wir sehen uns!“, rief er, als er wieder auftauchte.

Maggie und Lina gingen zurück an den Tisch, nahmen Platz. Ein Kellner brachte frisch gepresstem Papayasaft.

„Ein heißer Blick aus südländischen Augen, was, Lina?“ meinte Maggie, während sie genüsslich an ihrem Strohhalm zog.

„Conzales ist Chef der portugiesischen Ölfabrik in Lalimete. Erinnerst du dich an das schöne Haus auf der Anhöhe oben bei der Moschee? Ich hab’s dir mal gezeigt.“

„Das mit den prächtigen Jacarandabäumen?“

„Genau dort wohnt er. Es ist wunderschön eingerichtet. Conzales verfügt über einen erlesenen Geschmack.“

„Und das entsprechende Geld.“

„Conzales ist schwer in Ordnung“, antwortete Lina. „Ich kenne keinen großzügigeren Menschen als ihn. Er ist immer da, wenn Hilfe gebraucht wird. Der neue Jeep der Nonnen ist auch von ihm und so manche Operation wäre ohne seine Hilfe nicht möglich gewesen. Die Schwestern von Bethlehem lieben ihn, die Oberin ist seine Vertraute. Manchmal bringt er den Nonnen besondere Delikatessen mit, wenn er mal wieder auf Tour im Ausland war.“

„Lebt er allein?“

Lina lachte. „In Portugal hat er eine Ehefrau und zwei große Töchter. In den Ferien kommen alle zu Besuch und zwischendurch besucht er die Familie. Im Übrigen ist er auch berüchtigt für die Saufgelage, die er vor allem mit den Ärzten vom Hospital abhält.“

„Du magst ihn sehr?“

„Ja, sehr, sehr. Solche Männer, wie er einer ist, findest du nur an besonderen Orten.“

„Er hat so was an sich, was die Frauen anzieht, seine Stimme hat einen tollen Klang.“

„Dass er nichts anbrennen lässt, ist bekannt.“

Maggie stellte sich lange unter die Dusche. Statt sich abzutrocknen, band sie sich ein Tuch um und setzte sich vor ihren Bungalow. Am Firmament trieben weiße Federwölkchen. Ein Äffchen huschte vorbei. Sie schloss die Augen. Außer dem Gurren der Tauben war nichts zu hören. Die späte Sonne legte sich zart auf ihr Gesicht. Intensiver Jasminduft lag in der Luft.

Nach einer Weile stand Maggie auf und ging zurück ins Haus, um sich für den Abend zurechtzumachen. Sie legte Lidschatten auf, umrandete ihre Augen mit Kajal, tuschte die Wimpern, benützte Rouge und Lippenstift. Sie streifte ihr aprikotfarbenes Trägerkleid über den Kopf, betrachtete sich im Spiegel. Ihre halblangen Haare zupfte sie mit den Fingern zurecht. Durch die Feuchtigkeit in der Luft lagen sie so gut, wie kein Friseur sie hinbekommen würde. Ihr gefiel, was sie sah.

„Du eitle Person. Aber für deine 34 Jahre siehst du ganz passabel aus.“

Hier in Afrika konnte sie ihren Körper so viel besser annehmen als daheim in München. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl in tropischen Ländern.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass noch Zeit blieb, den Hotelgarten anzusehen. Im Hinausgehen pflückte Maggie eine cremefarbene Hibiskusblüte und steckte sie sich hinters Ohr. Sie freute sich wie ein Kind auf den Geburtstagsabend. Überhaupt konnte sie wieder viel mehr Freude empfinden als noch vor Monaten. Dieses Mal würden die Sommerferien anders enden als im letzten Jahr.

Maggie schlenderte durch den großen Garten, zu einem von Schwertlilien umsäumten Teich. Unter einem violett blühenden Jacarandabaum entdeckte sie, fast versteckt, eine weiße Holzbank. Dort saß ein Mann. Er wirkte ganz in sich versunken, Ob ich ihn wohl störe? In dem Moment drehte er seinen Kopf in ihre Richtung, lächelte, stand auf und forderte sie auf, näher zu kommen. Er hatte einen deutschen Akzent.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte Maggie.

„Ah, eine Deutsche! Bitte, setzen Sie sich.“

Als Erstes fielen Maggie seine türkisfarbenen Augen auf. Seine dunkelblonden Haare waren ziemlich zerzaust. Er war hoch gewachsen, besaß einen kräftigen, dennoch schlanken Körper, trug verwaschene Jeans, ein gestreiftes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und Slipper.

Ich reiche ihm gerade mal bis zur Schulter. Sie setzte sich, dann erst nahm er wieder Platz. So saßen sie ein Weilchen nebeneinander, wussten nicht so recht was sagen. Sie bemerkte, dass er sie verstohlen betrachtete.

Was sie wohl hierher verschlagen hat, diese hübsche Person? Aber das ging ihn nichts an.

„Woher in Deutschland kommen Sie?“, fragte Maggie ihn.

„Vom Ammersee.“

„Ach, ich bin in Possenhofen am Starnberger See aufgewachsen.“

Er ging nicht näher darauf ein. Stattdessen meinte er fast wehmütig:

„Manchmal vermisse ich den Ammersee. Überhaupt – die wundervollen bayerischen Seen.“

Wieder saßen sie stumm nebeneinander, dennoch war es keine unangenehme Stille.

„Sind Sie oft hier?“ Maggie sprach als Erste wieder.

„Oft – nein, ab und zu, ja. Ich bin immer wieder glücklich, dass es mitten in einer trockenen Region so etwas Wunderbares wie diesen Ort hier gibt.“

Unvermittelt streckte er Maggie seine Hand hin „Patrick Stern.“

„Maggie Neumaier.“

Sein Händedruck war ziemlich fest.

Patrick, so hieß ihr Freund im Kindergarten. Von ihm hatte sie ihren ersten Kuss bekommen. Ganz zart auf den Mund. Sie hatten sich im Klostergarten bei strömendem Regen unter großblättrigen Pflanzen versteckt. Dort hockten sie und gaben keine Antwort, als man sie suchte. Wenn wir groß sind, heirate ich dich, hatte er ihr zugeflüstert und sie war begeistert damit einverstanden gewesen. Einmal fanden sie eine Schere und schnitten allen Kindern einen Pony. Als man es bemerkte, war es zu spät. Die Haare waren ab.

Ihre Liebe zu Gärten kam aus dieser Zeit. Besonders zu Klostergärten. Sie hatten so etwas Stilles, Verwunschenes, Geheimnisvolles, waren stets Orte der Freude für sie.

„Für viele mag es wie Verschwendung aussehen, für mich bedeutet es jedes Mal: auftanken, um all die schwierigen Umstände besser meistern zu können.“

Patrick hatte unvermittelt gesprochen und sie damit aus ihren Kindheitserinnerungen gerissen. Sie kamen miteinander ins Gespräch und Maggie erfuhr, dass Patrick Stern für die internationale Ärzteorganisation FSDH Flying Service Doctors Help arbeitete.

„Eine ähnliche Organisation wie die Flying Doctors in Kenia“, erklärte er ihr.

Wieder schwiegen beide, Maggie fühlte sich seltsam berührt von diesem Fremden. Wie alt mochte er sein – 35, 40 vielleicht, oder älter? Er war schwer zu schätzen. Unvermittelt stand Patrick Stern auf, lächelte Maggie an.

„Auf Wiedersehen“, sagte er und ging.

Lange schaute Maggie ihm nach, wie er dahinschlenderte, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Es hatte ihn offenbar gar nicht interessiert, was sie hier tat. Plötzlich drehte er sich um und winkte ihr. Fast fühlte sie sich wie ertappt bei etwas Verbotenem.

Patrick spürte, wie lange unterdrückte Gefühle sich in ihm breit zu machen suchten. Aber das ließ er nicht zu. So einfach war es nicht, war es niemals. Wie idiotisch von ihm, dieser Frau zuzuwinken.

Die Sonne begann schnell zu sinken, färbte den Himmel leuchtend rot. Maggie stand auf, um Lina abzuholen. Auf halbem Weg kam diese ihr entgegen.

„Hab mir gedacht, dass du im Garten herumschlenderst, du ewiges Blumenkind.“

***

Laute afrikanische Musik war von Weitem zu hören. Lina und Maggie betraten Ellas großen Garten, wo bereits eine ausgelassene Stimmung herrschte. Entlang der halbhohen Gartenmauer waren Öllämpchen aufgestellt. Flackernde, bewegliche Schattenbilder. Zwei Afrikanerinnen grillten Fleischspieße am offenen Feuer, eine andere bereitete traditionelle Brotfladen in großen Tongefäßen zu. Einige aus der bunt gemischten Gästeschar saßen überall verstreut schon beim Essen, andere tanzten. Mitten unter ihnen das Geburtstagskind. In ein afrikanisches Gewand mit Kopfputz gehüllt und langen Ohrringen, kam Ella auf die beiden Frauen zu.

„Wie wunderschön, euch zu sehen!“, rief sie und breitete ihre Arme weit aus.

Maggie und Lina glitten hinein, fielen in den Rhythmus mit ein, zusammen tanzten sie.

„Du wirst ja immer jünger statt älter“, rief Maggie bewundernd.

Maggie kannte Ella seit ihrem ersten Besuch vor einigen Jahren. Lina und Ella waren zusammen ausgereist.

„Das macht das freie Leben“, rief Ella, „und …!“

Die drei lachten, umarmten und küssten einander immer wieder.

Als die ersten Sterne und ein großer, runder Mond am Himmel erschienen, spannte ein Gast ein dünnes Seil kreuz und quer durch den Garten. Daran wurden Hunderte von Wunderkerzen gehängt.

Die Musik hatte für eine Weile pausiert. Maggie war gerade mit Ella in ein Gespräch vertieft, als drei Männer und eine Frau in den Garten kamen.

„Großartig, dass ihr kommen konntet!“, rief Ella und ging auf die Neuankömmlinge zu.

Ein leichtes Prickeln überfiel Maggie, als sie erkannte, dass Patrick Stern dabei war.

„Alle mal herhören!“, rief Ella laut in die Runde. „Ich stelle vor: Guidetta Marrozzi, Italien, Adame Loma, Ghana, Mark Seeberger, Amerika, Patrick Stern, Deutschland. Allesamt vom Team der fliegenden Ärzte. Da kann uns ja nichts mehr passieren.“

Die Gäste lachten, winkten den Neuankömmlingen zu. Maggie betrachtete die Italienerin. Die Frau sah unglaublich gut aus. Eine rassige, schlanke Person um die vierzig mit bis zur Schulter reichenden, schwarzen, glänzenden Haaren. Sie trug ein korallenfarbenes schickes Seidenkleid, dazu kostbare goldene Ohrringe. Sie hatte Stil.

„Guidetta Marrozzi ist die neue Gynäkologin und Chirurgin im Team.“

Lina stand jetzt neben Maggie.

„Seit letzten September ist sie in Lalimete. Ich glaube, die anderen kennst du.“

Maggie hörte gar nicht zu. Sie war mehr damit beschäftigt, eine Erklärung dafür zu finden, warum Patrick Stern sie offenbar nicht wahrgenommen hatte. War das Absicht?

Wenig später stand er allein an die Wand gelehnt und trank aus einer Bierflasche, während seine Kollegen sich unter die Tanzenden gemischt hatten. Maggie betrachtete ihn verstohlen. Attraktiv war er, stellte sie erneut fest.

In diesem Moment fiel sein Blick auf sie. Ihre Augen begegneten sich. Patrick bemerkte ein Flattern in Maggies Blick. Sie gefällt mir, dachte er wieder, aber das würde er nicht zulassen. Keine Weibergeschichten, das konnte er nicht gebrauchen. Er hatte schon Ärger genug in seinem Leben. Aufgeregt spürte Maggie, dass er sie erkannt hatte, und war sicher, dass er auf sie zukommen würde. Doch das tat er nicht. Er nickte ihr nur grüßend zu. Die Frau vom Schwertlilienteich hat was, dachte Patrick und wandte den Blick von ihr ab. Lass nicht zu, sie besser kennenzulernen, sonst bist du verloren, ermahnte er sich. Noch während Maggie die Enttäuschung in sich spürte, dass er sie ignorierte, waren die Wunderkerzen angezündet worden und hatten alles in einen illuminierten Wundergarten verwandelt.Auf der Steinmauer ringsherum saßen die staunenden Kinder aus dem Dorf.

Auf einmal fühlte Maggie Patricks Blick ganz stark auf sich. Sie sah zu ihm hinüber. Er kam direkt auf sie zu, stellte sich neben sie, ohne ein Wort zu sagen. Schweigend betrachteten sie den erleuchteten Garten.

Als er sich schließlich zu ihr umdrehte, starrte er wie hypnotisiert auf ihre Halskette.

Diese Kette, sie erinnerte ihn an eine andere Frau, ein anderes Leben.

Britta steht aufgebracht vor dem zerwühlten Bett. Sie trägt eine Halskette aus kleinen, in Gold gefassten Perlen und Muscheln. Ich hatte sie ihr als Geschenk mitgebracht. Fast wie diese Kette …

Ich mag deine Perlen nicht mehr, schreit sie. Hau doch ab, hau endlich ab, du mit deinem Afrika-Wahn! Selbstverwirklichung nennst du das. Ich nenne das Flucht. Ich glaube, ich lasse mich von dir scheiden. Ihr herzzerreißendes Weinen, ich kann es noch immer hören.

„Ist was mit meiner Kette?“ Irritiert griff Maggie an ihre Kette.

„Nein, nein.“ Patricks Stimme klang seltsam. „Nur … eine ähnliche Kette habe ich mal verschenkt.“

„Alle mal die Augen schließen und sich bei diesem Mond was wünschen“, ertönte die Stimme von Mark Seeberger. „Geht garantiert in Erfüllung.“

Lachend folgten die Gäste der Aufforderung.

„Ich wünsche mir ab und zu Eishockey zu spielen und ich wünsche mir eine neue Frau“, ertönte Marks Stimme. „Jetzt die Augen wieder öffnen. Zum Wohl!“

Mark prostete den Gästen mit seiner Bierflasche zu.

„Mit der neuen Frau meinst du wohl deine Schwester Anna, die du anschmachtest wie ein Primaner.“

Erschrocken schaute Mark Seeberger Guidetta an. Er legte den Finger auf seinen Mund und schüttelte verärgert den Kopf.

„Ist doch wahr, du idiotischer Träumer“, rief sie und ließ ihn stehen. Dieser Mistkerl. Manchmal ging er ihr gehörig auf die Nerven mit seiner Schwärmerei für diese Nonne. Trotzdem, sie mochte diesen 37-jährigen Jungen mit seinen goldgrün gesprenkelten Augen und dem unbändigen Lockenkopf. Sie war immer wieder fasziniert, wie sicher seine Hand operierte, wie liebevoll er sein konnte – und wie gemein. Aber so waren alle Männer, sie kannte sie zur Genüge. Trotzdem. Die Nonne würde sie ihm schon austreiben! Besser, sie würde mit ihm im Bett liegen.

Kopfschüttelnd sah Mark ihr nach. Verdammt noch mal, dieses Biest.

„Was haben Sie sich gewünscht?“, fragte Maggie Patrick, der noch immer neben ihr stand.

„Das sage ich nicht.“

Die Musik wurde noch lauter gestellt. Ella lud die Dorfkinder ein, mitzufeiern. Das ließen die sich nicht zweimal sagen. Rhythmisch fielen ihre kleinen Körper in den Tanz ein. Sie hatten die Musik im Blut, lachten und freuten sich, dass sie heute was besonders Gutes zum Essen bekamen. Der Tisch mit Ellas Geburtstagsgeschenken war im Laufe des Abends immer voller geworden. Neue Gäste kamen, andere gingen.

Irgendwann mischte Maggie sich unter die Tanzenden. Als sie zu Patrick hinsah, bemerkte sie, dass er sie beobachtete. Wieder spüre sie dieses seltsame Prickeln. Er hatte etwas an sich … Doch da winkte er ihr zu und verließ die Geburtstagsfeier.

***

Maggie ließ sich im Pool auf dem Rücken treiben, die Augen geschlossen. Wie wunderbar, einen solch trägen Sonntagnachmittag in einem so schönen Hotel genießen zu können. Das einzig Störende war die laute Diskussion, die Conzales und seine vielen Gäste führten. Sie versuchte, sich Patrick Stern vorzustellen. Warum nur musste sie ständig an ihn denken? Etwas zog sie zu ihm hin. Du dumme Nuss, schalt sie sich. Was hatte sie denn erwartet? Dass er sich auf wunderbare Weise in sie verlieben würde? Dass sie sich wieder einlassen könnte – nach der schmerzhaften Erfahrung mit Matthias?

Jemand sprang in den Pool und spritze sie nass. Sie rieb sich die Augen. Es war Patrick, der neben ihr auftauchte

„So, da bin ich wieder“, lachte er die überraschte Maggie an.

Irritiert schwamm Maggie an den Rand, lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie breitete ihre Hände aus und hielt sich fest. Patrick schwamm zu ihr hin und lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken an die Poolwand. Seine Hand lag neben ihrer Hand, ganz nah, berührte sie aber nicht. Maggie gefiel ihm wie seit Langem keine Frau mehr. Wie gerne würde er sie berühren. Ihr Haar, ihren Mund … Wie soll ich mich nur verhalten. Er hatte einfach Angst, was falsch zu machen. Maggie betrachtete seine Hand. Wie gerne würde sie sie berühren.

Da war es wieder, dieses Kribben in ihrem Bauch. Aber ich mache mich doch nicht lächerlich!

„Sie hatten einen Noteinsatz?“, hörte sie sich fragen. Das war ihr so rausgerutscht.

„Zum Glück ganz in der Nähe“, antwortete er.

Er konnte diese Frau nicht einschätzen. Ihm war bei der Geburtstagsfeier aufgefallen, wie sehr auch sie ihn verstohlen beobachtet hatte. Ob sie ein gebranntes Kind war wie er?

Was für einen Quatsch er da dachte. Jeder Mensch hatte eine Vergangenheit. Laut sagte er. „Waren wir nicht schon beim Du angekommen?“

Dabei sah er sie so intensiv an, dass sie den Blick senkte.

So wie wir uns eben angesehen haben, dachte Patrick, war dies ein Blick zwischen Mann und Frau, die etwas suchten. Er hatte Brücken hinter sich abgebrochen, war nach Afrika gegangen. Nichts war wirklich gut in seinem Leben. Na ja, außer vielleicht helfen zu können …

„Mir fällt es immer schwer, irgendwelche Fremden zu duzen“, antwortete sie.

Hörte er da eine gewisse Ironie heraus. Irgendwelche Fremde?Vergiss sie einfach, sie wird sowieso bald wieder abhauen. Doch tief in seinem Herzen spürte er, dass er Maggie nicht vergessen wollte.

„Na, ihr zwei“, rief Conzales ihnen zu. „Ich spendiere eine Runde!“

Er hatte am Poolrand gestanden und alles genau beobachtet. Endlich, endlich zeigte der Kerl wieder Interesse für ein weibliches Wesen. War ja auch nicht zu verachten, diese Maggie.

Sein Freund schien fast immun gewesen zu sein in dem halben Jahr, seit sie sich kannten. Kaputte Ehe hin oder her. Frauen waren das Elixier des Lebens. Ohne sie war alles trostlos. Sie brachten die notwendige Farbe ins Dasein. Und wofür schließlich malochte ein Mann? Es gab doch nichts Schöneres, als sich in einer Frau zu verlieren. Na ja, die Skatrunden und Saufgelage mit seinen Kumpels waren auch nicht zu verachten.

„Maggie, die machen hier tolle Cocktails“, rief Conzales. „Nach zwei Gläsern fällt du um, also raus aus dem Wasser.“

Maggie lachte und schwamm an die kleine Leiter, ohne Patrick weiter zu beachten. Doch dieser kam zu ihr und half ihr fürsorglich aus dem Pool.

***

Conzales hatte zum Abendessen geladen. Eine große Tafel war im Garten gedeckt, der Tisch geschmückt mit weißen Gardenien. Kerzen in Glasgefäßen verbreiteten mildes Licht. Überall an den Wegen brannten Fackeln. Es wurde ein heiterer, ausgelassener, langer Abend mit gutem Essen und viel zu viel Wein. Conzales und die meisten Gäste hatten sich bald nach dem Essen zurückgezogen, nachdem schon ihr Nachmittag ziemlich alkoholreich abgelaufen war. Schließlich bestand die Runde nur noch aus Maggie, Patrick, Guidetta, Mark und Lina.

Maggie bemerkte Patricks Blick. Er flirtet mit mir, dachte sie und spürte, wie unendlich gut ihr das tat. Sie fühlte sich wieder als Frau, als begehrenswertes Wesen, was so lange nicht der Fall gewesen war.

„… und das war Patricks erster Einsatz und er ist fast verzweifelt dabei.“

Guidettas laute Stimme riss die Beiden aus ihren Träumereien.

„Stimmtʼs, Patrick?“ Sie stupste ihn dabei an.

„Stimmt“, meinte dieser. „Wenn man plötzlich unter primitiven Umständen operieren muss, geht einem ganz schön die Muffe …“

Alle lachten zustimmend.

„Und jetzt kann er gar nicht mehr genug davon bekommen“, warf Mark ein.

„Spinner“, antwortete Patrick liebevoll und legte ihm den Arm um die Schulter.

Mark sah auf seine Armbanduhr.

„Schon so spät“, murmelte er und stand auf. „Meine Lieben, ich verschwinde jetzt, viel Zeit zum Schlafen bleibt sowieso nicht mehr. War schön mit euch.“ Er klopfte mit der Faust auf den Tisch und verschwand.

„Warte, ich komme mit.“ Guidetta stand ebenfalls auf.

„Ich gehe auch schlafen“, meinte Lina. „Gute Nacht allerseits.“

Plötzlich saßen nur noch Maggie und Patrick am Tisch. Für einen Moment wussten beide nicht so recht, was sagen, bis Patrick vorschlug, einen Spaziergang zu machen. Maggie nickte. Patrick stand auf, nahm Maggies Hand und zog sie zu sich hoch. Mein Gott, fühlt sich das aufregend an, dachte sie. Schon lange nicht mehr habe ich so empfunden.

Sie schlenderten durch die afrikanische Nacht. Über ihnen leuchtete ein unsagbar schöner Sternenhimmel. Patrick hielt noch immer ihre Hand, als sie am Schwertlilienteich ankamen und sich hinsetzen. Aufgeschreckte Enten flatterten davon, verschwanden im Gebüsch. Von irgendwoher hörte man dumpfe Trommelschläge. Eine ganze Weile saßen sie stumm nebeneinander. Es ist schön hier mit dieser Frau, dachte Patrick. Er fühlte sich aufgehoben in der ewigen Sommernacht wie seit Langem nicht mehr. Auch Maggie fühlte sich großartig. Ihr war, als würde sie sich selber dabei beobachten, glücklich zu sein.

„Was hat dich eigentlich bewogen, nach Afrika zu gehen?“ wollte Maggie wissen und Patrick begann zu erzählen.

„Nach dem Abitur hatte ich von zwei Schweizer Nonnen gehört, die im Massai-Land eine Krankenstation führten und die jemanden brauchten, der ein Auto fahren und reparieren kann. Ich verbrachte acht Monate bei ihnen, bevor ich mit dem Medizinstudium begann. Nach dem Examen habe ich, wie üblich, in verschiedenen Kliniken gearbeitet. Aber die Sehnsucht nach Afrika war immer in mir.“ Dabei wandte er ihr sein Gesicht zu.

„Ich habe hier das Gefühl, Sinnvolles zu leisten.“

„Und in Deutschland hattest du das nicht?“

„Doch, schon, anders halt.“

Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort. „Afrika ist gewiss kein Paradies, aber ich lebe gerne hier.“

Dass er auch fort wollte von seiner gescheiterten Ehe mit Britta, behielt er für sich. Hier und jetzt wollte er gar nicht daran denken, es würde den Zauber dieser Begegnung stören.

„Nie werde ich meinen ersten afrikanischen Morgen vergessen, er hat mich tief berührt“, hörte er Maggie erzählen.

Ihre tiefe, weiche Stimme war ihm von Anfang an aufgefallen. Wie ein Mensch sprach, das war für ihn der erste prägende Eindruck.

„Als ich zum ersten Mal frühmorgens in der Dunkelheit ankam und sich die Türen des Flugzeugs öffneten, da atmete ich einen ganz bestimmten Geruch ein. Es war der betörende Atem Afrikas.“ Sie lachte. „… und Lina stand direkt am Flugzeug und holte mich ab.“

Sie unterhielten sich über Patricks Einsätze überall im Land, seine Operationen für die Missionsstation Bethlehem, Maggies Tätigkeit als Lehrerin in München. Den Ammersee und den Starnberger See, wo sie gelebt hatten, streiften sie kurz. Beiden war, als führten sie zwar ein Gespräch, aber tief innen wollten sie was anderes.

Wie gerne möchte ich sie in meine Arme nehmen und küssen, wünschte sich Patrick, aber was wäre damit gewonnen? Er würde sich Vorwürfe machen. Andererseits, was ist schon ein Kuss?

Dieser Mann da neben ihr war ihr nah und fern zugleich. Ich komme mir vor wie eine Vierzehnjährige, die zum ersten Mal verliebt ist, dachte Maggie. Sie wünschte sich, dass diese Stunde hier am Teich nie enden würde.

Patrick schaute auf seine Armbanduhr.

„Schon so spät!“, rief er, sprang auf und blieb vor Maggie stehen.

„Ich muss noch etwas Schlaf bekommen, sonst bin ich erledigt. Wir haben einen harten Arbeitstag vor uns.“

Er reichte Maggie die Hand, zog sie hoch. „Ich bringe dich zu deinem Bungalow“, sagte er.

Schweigend, Hand in Hand, liefen sie den schwach beleuchteten Weg zurück.

„Kann ich dir was zu trinken anbieten?“, fragte Maggie, als sie an ihrem Bungalow ankamen. Es war ein letzter Versuch, den schönen Abend nicht so abrupt enden zu lassen. Patrick schüttelte den Kopf, sie standen einander gegenüber und schauten sich an. In diesem Moment wünschte Maggie sich, mehr über diesen Mann zu wissen. Er hatte nicht viel von sich preisgegeben, und doch spürte sie seine Präsenz. Könnte sie doch die verschwiegenen Dinge erfahren, die sich hinter seinen Augen abspielten!

Wenn sie nur ahnen könnte, wie sehr ich mich von ihr angezogen fühle, dachte Patrick.

Er nahm Maggie sanft in seine Arme, küsste sie zart auf den Mund. Sie schmiegte sich fest an ihn, legte ihren Kopf an seine Schulter. Wie gut es tat, sie im Arm zu halten. Er hob ihr Gesicht zu sich hoch.

„Sieh mich an, Maggie. Glaub mir, ich würde nichts lieber tun, als jetzt bei dir zu bleiben. Aber …“ er zögerte, … ich bin verheiratet.“

Das war es also, was sie gespürte hatte. Das Trennende, was zwischen ihnen stand. Zart strich er ihr über die Augenbraue. Dann küssten sie sich heftig. Schließlich war es Maggie, die sich von ihm löste.

„Ich wünsche dir alles Gute“, sagte Patrick und ging.

Maggie schaute ihm nach und fühlte einen tiefen Schmerz. Aber auch Patrick litt. Wie gerne hätte er seine Qualen zurückgelassen und sich auf ihren Körper eingelassen. Doch er hatte das Lieben, zusammen mit dem, was ihm fehlte, tief in sich verschlossen und spürte jetzt mit aller Macht diesen Pfropf aus verklumpter Angst. Was hatte er denn erwartet? Dass er nach Afrika gehen würde und damit sich seine verkorkste Ehe auf wundersame Weise auflösen würde? Er war ein Idiot.

Maggie war zu aufgewühlt und verwirrt, um zu schlafen. Sie setzte sich an den kleinen Tisch vor der Türe, schrieb in ihr Tagebuch und wartete auf den Morgen. Als die kurze Dämmerung sich auszubreiten begann, sah sie Mark und Patrick des Weges kommen. Mark winkte ihr und ging weiter. Er sah mitgenommen aus. Patrick kam zu ihrem Tisch, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Wortlos schaute sie ihn an.

Oh Gott, was tue ich denn da, dachte Patrick, genau das wollte ich doch nicht. Ich muss wahrhaftig verrückt sein. Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass meine Ehe zu Ende ist. Warum sage ich das nicht, sie gefällt mir doch. – Hör auf alter Junge, wenn du das zulässt, bist du erst recht verloren.

„Bist wohl nicht im Bett gewesen?“, stellte er mit müder Stimme fest.

Maggie nickte. Was hätte sie sagen sollen. Ihre Verwirrung war jetzt komplett. Sie wurde nicht schlau aus ihm.

„Wir sehen uns in Lalimete“, damit drehte Patrick sich um und verschwand aus ihrem Leben.

Maggie sah ihm nach. Er war also verheiratet. Sie fühlte sich todmüde, aufgewühlt und durcheinander. Alles war richtig, alles war falsch.

Ach Schicksal, lass ihn ziehen. Vielleicht sah sie ihn nie wieder.

„Du meidest seit Langem alles, was mit Frauen zu tun hat“, konstatierte Mark, als Patrick am Parkplatz ankam. „Nur weil deine Ehe zu Ende ist. Menschenskind, jeder hat das Recht auf Vergnügen“, redete er auf ihn ein.

„Ich sage dir, alter Kumpel, eine aufregende Affäre hat auch was. Bei dem, was wir leisten müssen, haben wir uns das doch verdient.“

Er stupste ihn an.

„Trau dich. Sie gefällt dir doch.“

„Vielleicht hast du ja recht“, meinte Patrick nachdenklich.

„Und ob ich das habe“, lachte Mark.

„So, und jetzt vergessen wir die Frauen und eilen zu unserer Pflicht.“

Patrick sah sich um, sog tief die Luft ein, bevor er ins Auto stieg. In seinem Herzen spürte er, dass er Maggie weder vergessen wollte noch vergessen konnte.

„Patrick hat dir also erzählt, dass er verheiratet ist“, stellte Lina fest.

Die beiden Frauen waren früh losgefahren. Bis Mittag würden sie zurück in Lalimete sein.

„Erzählt hat er gar nichts, nur erwähnt.“

„Ich kann verstehen, dass er dir gefällt“, fuhr Lina fort. „Er hat so was Feinfühliges, Sensibles an sich und auch etwas männlich Beschützendes. Allerdings wenn da eine Ehefrau ist, lass die Finger davon. Es wird übrigens gemunkelt, dass Patrick ein Verhältnis mit seiner italienischen Kollegin hat.“

„Sah aber gar nicht danach aus.“ Spürte sie eine gewisse Eifersucht?

„Aber Maggie, du kennst doch die Männer, immer auf der Suche nach einem Abenteuer.“

„Vielleicht hast du ja recht und ich sollte ihn vergessen. Diese Guidetta Marrozzi ist schließlich eine wunderschöne Frau, ich könnte ihn verstehen.“

„So, so, könntest du. Eine heißblütige Italienerin, eine attraktive Frau. Schon zwei Gründe für einen Mann, sich verführen zu lassen“, lachte Lina und fasste hinüber zu Maggies Arm.

„Ich bin jedenfalls froh, dass du wieder Gefühle entwickelst und den Idioten Matthias vergisst. Genieße deine Gefühle, die waren dir doch ziemlich abhanden gekommen. – Im Übrigen, ich würde Patrick nicht von meiner Bettkante stoßen.“

„Ich auch nicht.“

Jetzt konnten die Freundinnen wieder herzlich miteinander lachen. Singend und erzählend fuhren sie heim nach Lalimete.

***

Die Cessna hüpfte und wackelte. Der Pilot musste auf Sicht fliegen. Mark döste neben ihm vor sich hin. Unter ihnen lag trockenes Buschland, das überging in ein großes Waldgebiet. In Spiralen stieg der Rauch von Holzfeuern aus dem Frühnebel nach oben. Guidetta saß mit zurückgelehntem Kopf und geschlossenen Augen hinter dem Piloten, neben Patrick, der aus dem Fenster blickte.

„Ich gehe jetzt runter“, kündigte Ronny an.

Erste Rundhütten waren zu erkennen. Das Flugzeug setzte auf der holprigen Buschpiste zur Landung an. Die Cessna rollte aus und kam zum Stehen. Am Rande der Piste warteten ein alter weißer Mann, Pater Meinhard, und vier jüngere, bunt gekleidete Afrikaner mit einem Schwerverletzten. Sie hatten geholfen, ihn auf einer provisorisch zusammengebundenen Tragbahre herzubringen. Der Patient war übel zugerichtet und nicht ansprechbar.

„Was ist passiert, Pater?“ fragte Patrick, während sie den Patienten vorsichtig umlagerten.

„Er ist von einem Waldelefanten angegriffen und niedergetrampelt worden.“

Sofort begann Patrick mit der Untersuchung, Guidetta assistierte.

Sie diagnostizierten starke innere Verletzungen und massive Knochenbrüche. Das Ärzteteam versorgte den Schwerverletzten notdürftig, Mark legte eine Infusion. Die Afrikaner brachten den Kranken ins Flugzeug. Alles lief routiniert ab. In diesem Moment erschien eine junge Frau, die auf ihrem Rücken ein Baby trug. Mit sorgenvollem Blick beobachtete sie das Geschehen. Pater Meinhard erkannte die Frau des Verletzten und winkte sie zu sich. Doch sie schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen mit ihrem Pagne aus dem Gesicht, drehte sich um und verschwand wieder.

„Wir werden das Missionskrankenhaus in Lalimete anfliegen“, meinte Guidetta zu Pater Meinhard, während schon der Motor lief.

„In etwa einer Stunde sind wir dort. Die Schwestern werden Ihnen über Funk Bescheid geben.“

Patrick schob die Türe zu, schon setzte sich die Cessna in Bewegung und hob bald ab. Die Zurückgebliebenen winkten ihnen lange nach.

„Warst du überhaupt im Bett?“ Guidetta warf Patrick einen prüfenden Blick zu. Es hörte sich an wie ein Vorwurf.

Patrick ging nicht darauf ein. Stattdessen sprach Ronny.

„Patrick, ich habe gehört, du hast jemand kennengelernt? Es soll ganz schön geknistert haben.“

„Wer sagt das?“

„Guidetta hat’s mir gesteckt.“

„Spricht aus dir die Eifersucht, Guidetta?“, rief Mark, der hinten beim Patienten saß.

„Halt’s Maul“, wies sie ihn schroff zurecht.

„Und, wer ist sie?“, wollte Ronny wissen.

„Sie ist zu Besuch in Lalimete bei ihrer Freundin Lina. Die vom Entwicklungsdienst.“

Patrick schloss die Augen. Guidetta ging ihm ganz schön auf die Nerven. Sie erinnerte ihn an seine Frau.

Du mit deinem Afrikawahn. Er konnte Brittas Stimme noch immer hören. Du fliehst vor unserer Ehe.

Schon bei der Unterschrift am Tag der Hochzeit hatten ihn Zweifel geplagt.

Aber sie trug unser Kind, war glücklich in dieser neuen Rolle. Auch ich freute mich darauf. Doch seit ihrer Schwangerschaft war alles wie verwandelt. Ich fand keinen Platz mehr in ihrem Leben. Und dann, als das Kind zu früh kam und nicht lebensfähig war, machte sie mir Vorwürfe, weil ich nicht an ihrer Seite war. Die endgültige Talfahrt unserer Beziehung begann. Gewiss, es hat auch gute Zeiten gegeben. Beide liebten wir das Land, die Natur, den herrlichen Ammersee, wo wir lebten. Wir fuhren Rad, erlebten die Jahreszeiten miteinander. Jeder interessierte sich für den anderen. Gemeinsame Pläne, Gespräche über die Zukunft, über den Sinn des Lebens. Mit dem Tod des Kindes war alles zerbrochen, was uns verbunden hatte, und wir fanden keinen Weg mehr zueinander.

Und doch will sie noch immer festhalten an dieser Ehe, die keine ist. Ich bin vor allem über mich selbst enttäuscht, dass nicht wenigstens ich einen Schlussstrich ziehe.

Maggie. Er sah sie vor sich. Diese hübsche, rothaarige Person mit den vielen Sommersprossen. Er hatte sich wohlgefühlt mit ihr. Sie hatte etwas in ihm ausgelöst, was lange verschüttet war. Es war aufregend gewesen, sie zu küssen. Nur allzu gerne wäre er mit ihr ins Bett gegangen, so wie sie ihn angesehen hatte … Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten hatte er wieder fühlen können, sich fühlen können und doch war er zerrissen, wenn er an Britta dachte. Wir sollten einen Weg finden, diese Ehe zu beenden. Er wollte wieder ein freier Mann sein. Frei von den Fesseln einer nicht gelebten Ehe. Und doch war er sich nicht klar darüber, ob er Maggie wirklich wiedersehen wollte. Noch mehr Komplikationen konnte er momentan nicht gebrauchen.

„Wir landen in wenigen Minuten.“

Die Stimme des Piloten brachte Patrick in die Realität zurück. Er öffnete die Augen, setzte sich auf. Erstaunt stellte er fest, dass Guidetta ihn unverhohlen betrachtete.

2

Anna schlug die Augen auf. Draußen war alles dunkel. Gewohnt, immer sehr früh aufzustehen, hatte sie gelernt, die Zeit einzuschätzen. Vier Uhr. Sie schaltete die Nachttischlampe an. Ein Blick auf ihre Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag, bestätigte dies. Bald würde sie, wie jeden Morgen, zusammen mit den anderen Nonnen in der Kirche das Morgenlob beten. Dieses Ritual gab ihr Kraft und Halt, bereitete sie vor auf den oft schwierigen Tag. Die Nacht war sowieso kurz gewesen, um Mitternacht war sie zu einer Geburt gerufen worden. Gott sei Dank hatte es keine größeren Komplikationen gegeben; für den Fall der Fälle gab es meist einen Arzt, der ihr zur Seite stand. Diesmal hatte Guidetta Marrozzi Bereitschaft gehabt.

Anna knipste das Licht wieder aus, schloss die Augen, hörte auf die lebendigen Geräusche der afrikanischen Nacht. Die Gebärende heute Nacht hieß Hannah. So wie sie. Anna leitete sich von dem hebräischen Vornamen Hannah ab und bedeutete Liebreiz, Anmut, Gnade. Sie konnte die Worte immer noch hören, als sie ihren neuen Namen bekam, damals, als sie endgültig ins Kloster eintrat. Zwei Monate arbeitete sie jetzt schon in Lalimete im Missionshospital Bethlehem. Seit sie als angehende Hebamme und OP-Assistentin drei Monate in einem tansanischen Hospital lernen durfte, hatte sie sich danach gesehnt in Afrika leben zu dürfen. Doch wollte man sie zunächst nicht gehen lassen.

Der Weckruf der Glocke ertönte. Anna knipste das Licht an, stand auf, tauchte ihre Hände in die große Schale mit Wasser und wusch sich das Gesicht. Schnell zog sie sich an. Sie brauchte keinen Spiegel, jeder Handgriff saß. In letzter Zeit ertappte sie sich dabei, dass sie sich wünschte, was Hübsches, Weibliches zu tragen. Lippenstifte und persönliche Kleidung hatte sie abgeben müssen, als sie Nonne wurde. Gewiss, diese Dinge zählten nicht wirklich, hatten keine Bedeutung – und doch war die Frau in ihr immer noch da. Manchmal meldete sie sich mit aller Macht. Dann versuchte Anna, das zu ignorieren, aber so ganz gelang es nicht und … sie war auch nicht geschlechtslos. Manchmal, wenn Dr. Seeberger sie auf eine bestimmte Weise ansah, fühlte sie tief innen eine Resonanz. Sie wollte dies nicht zulassen. Sie durfte nicht. Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr, sondern eine Frau von 36 Jahren, die Verantwortung trug. Ihr Entschluss, ins Kloster einzutreten, war ehrlichen Herzens getroffen worden.

Unter einem riesigen Schatten spendenden Baum im Dorf Azamo warteten die Kranken geduldig, bis sie an die Reihe kamen. Auf einem großen Holztisch hatte Lina ihre Behandlungsutensilien ausgebreitet. Die Untersuchung fand nach strengen Regeln statt: Ganz vorne saßen die älteren Männer, in ihrer Mitte der Dorfchef, sie wurden zuerst behandelt. Es folgten die jüngeren Männer, dann die älteren Frauen, zuletzt die jüngeren Frauen mit ihren Kindern.

Maggie und Komla, Linas afrikanischer Mitarbeiter, saßen seitlich auf zwei Stühlen. Komla übersetzte während der Behandlung in die Einheimischensprache. Aufmerksame Augen verfolgten das Geschehen, viel wurde gelacht. Hier oben, in den Bergen von Alou, zeigte sich auch während der Trockenzeit im August eine üppige Vegetation. Überall wuchsen Kaffeesträucher und Kakaopflanzen. Traditionelle Rundhütten durchzogen die weitläufige Landschaft. Es ging bereits auf elf Uhr zu und wurde unerträglich heiß. Lina war mit der letzten Patientin fertig und wollte einpacken. Der Dorfchef, ein würdiger alter Mann, der in ein traditionelles, kostbares Gewand gekleidet war, stand auf und bat Komla, zu übersetzen.

„Madame, es gibt eine Frau in unserem Dorf, die ist sehr krank, ich möchte dich bitten, sie jetzt anzusehen.“

„Lass sie kommen“, antwortete Lina.

Ein Raunen ging durch die Menge, sie teilte sich. Eine junge Frau humpelte nach vorne an den Tisch. Hände und Füße waren notdürftig mit Lappen verbunden. Auf dem Rücken trug sie einen Säugling. Das Gesicht der Frau zeigte Angst.

„Monsieur Komla, kann ich bitte Ihren Stuhl haben?“

Komla stand auf, winkte einen der jüngeren Afrikaner zu sich und gab ihm Anweisung, den Stuhl zu der kranken Frau zu tragen. Eine alte Afrikanerin trat nach vorne und nahm der Kranken den Säugling ab. Das Kind begann zu weinen. Die alte Frau beruhigte es. Lina half der Patientin vorsichtig sich zu setzen..

„Wie heißt du?“

„Aisha.“ Ihre Stimme war sehr leise.

Lina wickelte den Verband an einem der Füße auf und hielt erschrocken inne. Alles war vereitert. Ein penetranter Geruch breitete sich aus. Auch der andere Fuß sowie die Hände der Frau sahen nicht besser aus. Lina wickelte alles sofort wieder ein.

„Wie alt bist du, Aisha?“, dabei hielt Lina ihre Hand.

„Die Patienten ist achtzehn Jahre alt“, übersetzte Komla.

Lina überlegte eine Weile.

„Aisha, ich möchte dich gerne mitnehmen in das Hospital nach Lalimete. Dort können wir dir besser helfen.“

Die Patientin nickte ergeben

„Wo ist deine Familie?“

Die junge Frau schaute zu Boden und gab keine Antwort. Fast sah es so aus, als würde sie sich schämen.

Der Dorfchef sprach: „Ihr Mann hat sie hergebracht und ist fortgegangen. Sie hat kein Geld. Das Dorf hilft ihr.“

Lina nickte. „Ich werde mit dem Doktor und den Schwestern vom Missionshospital sprechen.“

„Nimm die Frau mit und lass sie wiederkommen, wenn sie gesund ist“, antwortete der Dorfchef. „Das Dorf sorgt für das Kind.“

Ergeben saß die Frau da, als würde die Entscheidung sie nicht betreffen. Ihr Blick war immer noch auf den Boden gerichtet.

Lina ging in die Hocke, nahm die beiden verbundenen Hände in ihre. „Aisha, hat du alles verstanden, was wir gesprochen haben?“

Aisha nickte.

„Hab keine Angst. Wir wollen dir helfen. Du kannst wieder ins Dorf zurück, wenn alles gut ist, das verspreche ich dir.“

Die Kranke begann leise zu weinen. Maggie und Lina wechselten einen vielsagenden Blick. Auch Maggie hatte Tränen in den Augen, während die anderen Afrikaner still beobachteten, was vor sich ging.

Lina ließ die Frau los, erhob sich.

„Geh und hole deine Sachen“, forderte der Dorfchef die Frau auf.

Diese nickte, wischte sich die Tränen ab, stand auf, nahm ihr Kind und ging.

Als Linas Arbeit beendet war, lud der Dorfchef in seine Hütte ein. Im Halbdunkel standen geschnitzte Hocker und ein Tisch. Er bat alle, Platz zu nehmen. Wie auf Kommando erschienen drei Frauen; zwei brachten Gläser, die dritte traditionell gebrautes Hirsebier in einer Kalebasse. Zuerst füllte sie Linas Glas, dann das des Dorfchefs, das von Maggie und zuletzt das von Komla. Der Dorfchef erhob sein Glas, schüttete dreimal etwas von dem Inhalt auf den Boden.

„Für meine Ahnen, für mich und für die Erde, die mich aufnimmt.“

Dann trank er alles in einem Zug auf. Lächelnd ermunterte er die Anwesenden, nun auch zu trinken. Nach angemessener Pause erhob er sich.

„Madame“, sagte er zu Lina gewandt, „ich brauche etwas für meine Manneskraft und bitte dich, mir diese Stärkung zu geben.“

Lina stand auf, nahm ein Päckchen Vitamintabletten aus ihrer Handtasche.

„Ich habe dir etwas Gutes mitgebracht, was dir hilft, viel Kraft zu empfinden.“

„Ich danke dir.“

Der Dorfchef verneigte sich und nahm das Geschenk in Empfang.

Der Dorfchef, die Kinder und Erwachsenen geleiteten Lina, Maggie und Komla zum Auto. Ein junger Mann trug Linas Behandlungstasche. In der Nähe des Wagens wartete die junge Frau mit gesenktem Kopf und einem Stoffbündel in der Hand.

„Komm, Aisha.“

Lina nahm ihre Hand und ließ sie, zusammen mit Maggie, hinten einsteigen.

Der Dorfchef ergriff Linas Hände.

„Auf Wiedersehen, Madame. Guten Weg, und komm schnell zurück.“

Lange noch liefen die Kinder neben dem Auto her und winkten. Die junge Frau begann leise vor sich hin zu weinen. Maggie legte ganz zart einen Arm um die zerlumpte Gestalt.

***