4,99 €
Franzosen und Engländer reichen sich die Hand - so ist es zumindest beim Friedensfest von Auciel Bas geplant. In diesem Stadtteil von Auciel Haute haben viele Briten eine Heimat gefunden. Doch zwischen dem englischen Initiator des Fests und seinem französischen Intimfeind kommt es zum Streit. Und kurze Zeit später werden beide tot aufgefunden. Haben sich die Streithähne gegenseitig getötet? Oder ist doch eine dritte Person verantwortlich? Cluzet und Sandrine Saidi ermitteln in der englischen Gemeinde von Auciel Haute und kommen einem Skandal auf die Spur ...
Über die Serie:
Urbain Cluzet ist Commissaire de Police in Paris. Besser gesagt, er war es. Denn nach dem Tod seiner geliebten Frau und seiner Pensionierung zieht er sich in seinen Geburtsort, das beschauliche Auciel Haute in der Normandie, zurück. Doch das Ermitteln kann er nicht lassen. Zumal Sandrine Saidi, die begabteste Polizistin des Ortes, von ihrem inkompetenten Chef, dem Major de Police Melki, ausgebremst wird.
Dennoch - oder gerade deswegen - genießt Cluzet das gemütliche Leben in Auciel Haute, wo er im kleinen Gartenhäuschen der Pension seiner Wahl-Enkelin Nathalie Bosc wohnt und sich regelmäßig mit seinem besten Freund, dem Apfelbauern und Schwarzbrenner Bruno, auf einen Calvados trifft.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2025
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank, dass du dich für ein Buch von beTHRILLED entschieden hast. Damit du mit jedem unserer Krimis und Thriller spannende Lesestunden genießen kannst, haben wir die Bücher in unserem Programm sorgfältig ausgewählt und lektoriert.
Wir freuen uns, wenn du Teil der beTHRILLED-Community werden und dich mit uns und anderen Krimi-Fans austauschen möchtest. Du findest uns unter be-thrilled.de oder auf Instagram und Facebook.
Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich auf be-thrilled.de/newsletter für unseren kostenlosen Newsletter an.
Spannende Lesestunden und viel Spaß beim Miträtseln!
Dein beTHRILLED-Team
Melde dich hier für unseren Newsletter an:
Franzosen und Engländer reichen sich die Hand - so ist es zumindest beim Friedensfest von Auciel Bas geplant. In diesem Stadtteil von Auciel Haute haben viele Briten eine Heimat gefunden. Doch zwischen dem englischen Initiator des Fests und seinem französischen Intimfeind kommt es zum Streit. Und kurze Zeit später werden beide tot aufgefunden. Haben sich die Streithähne gegenseitig getötet? Oder ist doch eine dritte Person verantwortlich? Cluzet und Sandrine Saidi ermitteln in der englischen Gemeinde von Auciel Haute und kommen einem Skandal auf die Spur …
Urbain Cluzet ist Commissaire de Police in Paris. Besser gesagt, er war es. Denn nach dem Tod seiner geliebten Frau und seiner Pensionierung zieht er sich in seinen Geburtsort, das beschauliche Auciel Haute in der Normandie, zurück. Doch das Ermitteln kann er nicht lassen. Zumal Sandrine Saidi, die begabteste Polizistin des Ortes, von ihrem inkompetenten Chef, dem Major de Police Melki, ausgebremst wird.
Dennoch - oder gerade deswegen - genießt Cluzet das gemütliche Leben in Auciel Haute, wo er im kleinen Gartenhäuschen der Pension seiner Wahl-Enkelin Nathalie Bosc wohnt und sich regelmäßig mit seinem besten Freund, dem Apfelbauern und Schwarzbrenner Bruno, auf einen Calvados trifft.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
ALEXANDRE DUPONT
Commissaire Cluzet
und der Feind von nebenan
Die Erde musste weg. Und er brauchte einen neuen Schacht an die Oberfläche.
Die Luft in den Gängen war furchtbar stickig und, wenn er wirklich ehrlich war, roch es auch ein bisschen.
Ein bisschen sehr sogar.
Und das Dumme war, es miefte ausschließlich nach ihm selbst.
Also rammte er seine Grabschaufeln so tief ins Erdreich, wie er nur konnte, schob die lockere Erde unter seinem Bauch durch und drückte sie mit den Hinterbeinen durch die Wiese.
Mit dem Luftzug, der von draußen hereinkam, drangen auch Geräusche zu ihm vor. Gefährliche Geräusche. Meist bedeuteten sie, dass er gejagt wurde. Auf Leben und Tod.
Aber diesmal klangen die Stimmen anders. Eher so, als hätten sie sich gegenseitig zum Ziel. Und sie wurden lauter. Und ärgerlicher. Wütender. Hasserfüllt.
Dann schallte plötzlich ein furchtbarer Knall durch die Luft. Vibrationen gingen durch den Boden wie ein Erdbeben. Dann folgten wieder Geschrei und ein weiteres Erdbeben.
Er wartete keine Sekunde länger auf das, was noch passieren würde. Er hatte nicht gesehen, aber gehört, dass es etwas Furchtbares gewesen sein musste. Also nahm der Maulwurf Reißaus und verschwand in seinen Tunneln …
Das helle Gluckern aus der Kristallkaraffe kam zwar nicht gegen das Zirpen der Zikaden an. Aber es war Musik in Urbain Cluzets Ohren, als sein Freund Bruno Rochefort den Calvados in die zwei kleinen Kelche einschenkte.
Wie fast jeden Abend beschloss er mit Bruno den Tag mit einem Gläschen auf dessen Veranda hinterm Haus. Die untergehende Sonne brach sich durch die Bäume. Aber sie hatte noch genug Kraft, damit Cluzets weißes Hemd auf der Haut klebte. Schwalben jagten hoch am Himmel und kündigten gutes Wetter für den nächsten Tag an. Über allem lag der Duft der frisch gemähten Wiese. Am Geländer lehnte noch die Sense, mit der Bruno ihr zu Leibe gerückt war.
Jetzt hielt Bruno die Karaffe mit dem bernsteinfarbenen Inhalt gegen die Sonne. In den hochgekrempelten Ärmeln seines grauen Arbeitshemdes hingen noch einzelne Grashalme. Aber das schien Cluzets Jugendfreund nicht zu stören.
»Gefällt sie dir?«, fragte Cluzet und bemerkte wieder einmal, wie wettergegerbt Brunos Gesicht war, in dem die rundgebogene Nase von seinen verschmitzten Augen ablenkte. Und wie geübt er mit seinen Lippen den erloschenen Zigarrenstumpen von einem Mundwinkel in den anderen beförderte.
In seinen Pranken wirkte das schlanke, gewundene Gefäß sehr zerbrechlich. Cluzet hatte es bei einem ausgedehnten Spaziergang durch die Apfelplantagen rund um Auciel Haute auf einem kleinen Markt im Ortsteil Auciel Bas gefunden. Die Karaffe hatte ihm sofort gefallen, und er hatte eigentlich gedacht, dass sie ihrer kleinen, geselligen Runde gut stünde. Inzwischen aber beschlichen ihn leise Zweifel, dass sie Brunos kräftigen Händen lange standhalten würde.
»Stimmt etwas nicht mit meinen Flaschen?«, grummelte Bruno und stellte die Karaffe auf den wackeligen Tisch zwischen ihnen. Er spielte auf die langgezogenen, dickwandigen Flaschen mit langem Hals an, in die er seinen selbst gebrannten Calvados abfüllte.
»Nein«, antwortete Cluzet, hob seinen Kelch an und hielt ihn Bruno hin.
Bruno kratzte sich an der Wange und zupfte sich an der Nase. Erst dann nahm er seinen Kelch. Die Gläser klangen hell beim Anstoßen. Er nahm einen kleinen Schluck. Eigentlich benetzte er nur seine Zunge, kaute auf den wenigen Tropfen herum und hielt plötzlich inne. Als sich seine Miene aufhellte, probierte auch Cluzet.
Das Umfüllen aus der Glasflasche hatte dem Calvados Schärfe genommen. Der Geschmack von Apfel breitete sich deutlicher als sonst in seinem Mund aus. Es rang ihm ein breites Grinsen ab, das Bruno erwiderte.
»Am Ende geht’s bei mir noch zu wie bei feinen Leuten«, murmelte Bruno.
»Da sehe ich keinerlei Gefahr«, stichelte Cluzet.
»Nicht, solange du dich bei mir rumtreibst, l’Urbain«, schickte Bruno grinsend zurück.
Er nannte ihn bei seinem ungeliebten Spitznamen, mit dem aus Urbain »der Städter« wurde. Eine wenig schmeichelhafte Umschreibung für alle, die sich für etwas Besseres hielten. Dabei stammte Cluzet aus Auciel Haute und war nach seiner Pensionierung als Commissaire de Police in Paris auch wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Aber so ganz wurde er seinen Ruf eben nicht los. Manche Dinge blieben ewig an einem kleben.
Bruno strich mit dem Daumen über die Karaffe. »Manchmal sind sie tatsächlich für was gut, diese Engländer.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast gesagt, du hast sie aus Auciel Bas.«
»Von dem kleinen Markt dort hinter diesem großen Hotel«, bestätigte Cluzet. »Ich war früh dran. Eigentlich soll er erst morgen zum Friedensfest aufmachen.«
»Und wer stellt da aus?«
Cluzet brauchte einen Moment, bis er verstand, worauf Bruno hinauswollte.
Vor rund fünfundzwanzig Jahren war Auciel Bas nicht mehr als eine lose Ansammlung einiger Obstbauernhöfe in einem kleinen, lauschigen Tal gewesen. Die ihr bescheidenes Einkommen aufbesserten, indem sie Fremdenzimmer vermieteten. Es hatte sich unter den Besuchern von »der Insel« schnell als Geheimtipp herumgesprochen. Es lag nah genug am Meer, dass man in einer halben Stunde dort war. Gleichzeitig lag es weit genug abseits von allen Touristenmagneten, und man hatte seine Ruhe. Einigen hatte es so gut gefallen, dass sie dauerhaft geblieben waren. Über die Jahre waren immer mehr gefolgt und hatten sich nach und nach sogar dort angesiedelt. Sodass manche Auciel Bas inzwischen schon Klein-England nannten.
»Natürlich stellen da nur Engländer aus«, bestätigte Cluzet.
»Ich hätte da auch gern einen Stand gehabt. Mein Calvados ist ihnen aber nicht englisch genug.«
»Das ist er ja auch nicht.«
»Zum Glück!«, grinste Bruno und beugte sich zu Cluzet, als wollte er vermeiden, dass außer ihm noch jemand zuhörte. »Oder kannst du dich an irgendetwas erinnern, das du da gegessen oder getrunken hast, das geschmeckt hat?«
»Fish and Chips«, antwortete Cluzet.
Zusammen mit seiner verstorbenen Frau Bérénice hatte er zwei kurze Reisen auf »die Insel« unternommen und dabei manchmal Erschreckendes in Restaurants erlebt. Den Höhepunkt an kulinarischer Absurdität hatten sie in einer Londoner Pizzeria erlebt, deren Tagesempfehlung Spaghetti mit einer wässrigen Tomatensauce und gekochten Hackfleischbällchen gewesen war. Nicht umsonst hatte es Cluzet beinahe täglich an Imbissstände getrieben.
»Fisch im Backteig ist keine Kunst«, sagte Bruno abfällig. »Und diese Chips … Wenn sie wirklich leckere Pommes machen, nennen sie sie French Fries. Wusstest du das?«
Cluzet musste lachen.
»Wenn etwas lecker ist, behaupten sie, es sei was Französisches!« Bruno untermauerte seine Worte mit dem ausgestreckten Zeigefinger. »Französisches Frittiertes! Eigentlich eine Beleidigung. Als würde uns nichts Besseres einfallen, was wir mit Kartoffeln machen könnten, als sie in heißes Fett zu tauchen.«
Brunos gespielte Entrüstung entlockte Cluzet das nächste Lachen. Auch weil er wusste, was als nächstes folgen würde.
Beinahe zwei Stunden hatte Bruno damit verbracht, über die kleinen, aber feinen, und auch über die nicht so kleinen und weniger feinen Unterschiede zwischen Franzosen und Engländern zu schwadronieren. Mal mehr, mal weniger subtil. Oft mit einer gehörigen Portion Selbstironie und zumeist auch so, dass man es ihm eigentlich nicht übel nehmen konnte.
Deswegen hatte sich das Schmunzeln auch noch auf dem Heimweg in Cluzets Mundwinkeln festgesetzt. Anders als sonst war er nicht mit seinem alten, roten Klapprad zu Bruno gefahren. Daher konnte er nun in der Dunkelheit den Weg zum Vieux Moulin über schmale Trittpfade abkürzen, die er noch aus seiner Kindheit kannte.
Ein warmer Wind trug den salzigen Geschmack des Meeres ins Land. Cluzet gefiel der Gedanke, dass er direkt von »der Insel« zu ihnen hinüberwehte. Neben den Erinnerungen an die Urlaube mit Bérénice weckte er auch welche an Kollegen auf englischer Seite, mit denen er das eine oder andere Mal zusammengearbeitet hatte. Meist waren sie umgänglich gewesen, allerdings ein bisschen steif. Aber auch humorvoll. Einer hatte gern unter seine Nachrichten angehängt: »Royale Grüße vom Empire an die Grande Nation! P.S.: Bei uns geht die Sonne niemals unter.«
Cluzet musste sich eingestehen, dass ihm manchmal solche Augenblicke fehlten, seit er pensioniert worden war. Bei seinen Ermittlungen hatte er es ab und an mit Kollegen aus verschiedenen Ländern zu tun bekommen. Sie hatten sich über unterschiedliche Methoden ausgetauscht. Über Möglichkeiten und gesetzliche Einschränkungen, die der eine hatte und der andere nicht. Aber das Liebste im grenzübergreifenden Austausch war ihm der Blick über den Tellerrand gewesen.
Andere Länder, andere Sitten.
Immerhin zog es Menschen aus aller Welt nach Frankreich und insbesondere Paris. Sie und ihre Hintergründe besser zu verstehen, hatte ihm bei vielen Ermittlungen geholfen.
Cluzet bog in einen ausgetretenen Pfad ab, der an einem verwitterten Holzzaun entlangführte. Im Licht des Vollmonds stellte er fest, dass er nicht mehr auf dem richtigen Weg war. Vor ihm zur Linken lag eine kleine Apfelbaumplantage. Rechter Hand ging der Zaun in Gestrüpp über. Cluzet erkannte das windschiefe Häuschen zwischen zwei knorrigen Eichen dahinter.
Irgendwo musste er einen falschen Abzweig genommen haben. Denn er befand sich auf der Rückseite von Madame Talbots kleinem Grundstück. Eigentlich lag das Kleinod seines früheren Kindermädchens gar nicht auf dem Weg von Bruno zum Vieux Moulin. Er hätte es in einem weiten Bogen umgehen müssen. Wo war er nur wieder mit seinen Gedanken gewesen?
Hinter ihm raschelte es plötzlich. Cluzet sah sich ruckartig um. Gänsehaut lief seinen Rücken hinab.
Im Alter von acht oder neun hatte er hier immer wieder Tage in der Obhut von Madame Talbot verbracht. Im Winter dann hatte er in der Dunkelheit allein nach Hause laufen müssen. Cluzet war kein ängstliches Kind gewesen. Manchmal hatte er mit Freunden bis in die anbrechende Nacht im Wald gespielt. Er war auch unbeschwert allein dort unterwegs gewesen. Aber Madame Talbots Haus hatte manchmal etwas Unheimliches umweht. Im Inneren hatte häufig das Gebälk geknackt, oder es waren Trippelschritte vom Dachboden zu hören gewesen. Von denen Cluzet erst viel später verstanden hatte, dass es sich nur um Mäuse oder Siebenschläfer gehandelt haben konnte. Und darum herum hatte sich immer allerlei Getier durchs Unterholz gewühlt.
Cluzet atmete durch. Er hatte als Kind keine Angst gehabt. Warum sollte er jetzt welche haben?
Langsam setzte er wieder einen Fuß vor den anderen, als etwas nach seinem Knöchel griff. Im Mondschein erkannte er den Zweig eines Brombeerstrauchs, der sich in seinem Hosenbein verfangen hatte.
Cluzet bückte sich und löste den Zweig. Es raschelte wieder hinter ihm. Plumpe Schritte tappten über den Boden. Cluzet sah eine dunkle Gestalt auf sich zugestolpert kommen. Sie trug ein wallendes Gewand und schwang etwas über ihrem Kopf, das an eine Sense erinnerte.
»Hab ich dich!«, schrillte eine Stimme dazu, die Cluzet bekannt vorkam.
»Madame Talbot?«
»Wo finde ich den Tee?«, fragte Cluzet Madame Talbot und durchsuchte das schiefe Regal über der Küchenzeile. Im Laufe ihrer über achtzig Jahre, die Madame Talbot in ihrem Geburtshaus lebte, musste sie unzählige Dosen und Gläser und auch Geschirr in das Regal ein- und wieder ausgeräumt haben. Die Kanten des massiven Holzes waren rund geschliffen. Es trug wie alle Möbel in der kleinen Küche die Spuren von Generationen, die das Häuschen bewohnt hatten. Der emaillierte, weiße Herd wurde noch mit Holz befeuert. An den Wänden und von der dunklen Holzbalkendecke hingen zum Trocknen Bündel von Kräutern und Wildblumen, deren Duft die Küche erfüllte.
Madame Talbot saß wie immer sehr aufrecht auf der Bank am wackeligen Küchentisch. Sie trug einen bunt geblümten Morgenmantel, und ihr graues Haar fiel in Wellen über ihre Schultern.
Inzwischen hatte sie sich wieder gefasst, nachdem sie kurz zuvor noch mit der Sense auf Cluzet hatte losgehen wollen. Glücklicherweise hatte sie ihn noch rechtzeitig erkannt.
Sie drehte den Kopf nur ein wenig in seine Richtung und sagte unverhohlen schnippisch: »Dein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es mal war, l’Urbain.«
Cluzet atmete tief ein. Dann erinnerte er sich daran, dass sie schon früher keinen Widerspruch geduldet hatte. Also atmete er nur wieder aus.
Sie war längst wieder in die Rolle von Cluzets Kindermädchen geschlüpft. Sie war eine einfache Frau, und in vielerlei Hinsicht hätte man sie rustikal nennen können. Gleichzeitig aber strahlte sie auch Vornehmheit aus. Überhaupt gab es nur einen einzigen Stilbruch: Die Zahnlücke im Oberkiefer, die sie beim Lächeln offenbarte. Noch hatte Cluzet sie aber nicht zu sehen bekommen. Madame Talbot lachte nur selten.
Cluzet überlegte, wo sie früher den Tee aufbewahrt hatte. Erst als sein Blick die kleine Trittleiter streifte, kam die Erinnerung zurück. Er hatte sie als kleiner Bub vor den Küchenschrank geschoben, um an das oberste Fach zu kommen. Das, neben dem das gruselige Foto eines Grabsteins an der Wand hing.
Über einer viereckigen Säule mit einer verwitterten Inschrift darauf breitete ein trauernder Engel seine Flügel aus. Cluzet hatte es einmal gewagt zu fragen, was es damit auf sich hatte. Woraufhin Madame Talbot ihn mit Schweigen gestraft hatte. Danach hatte er das Thema ruhen lassen.
Inzwischen brauchte er die Leiter nicht mehr. Er öffnete die Schranktür und holte die alte Metalldose heraus, in der Madame Talbot ihren Tee aufbewahrte. Früher war sie rot und mit reichlich goldenen Lilien verziert gewesen. Mittlerweile war fast alle Farbe abgegriffen, und an den Ecken bildete sich ein leichter Rostansatz.
Cluzet füllte einen Löffel Tee in eine weiße, angeschlagene Porzellantasse und wartete, bis das Wasser im Kocher aufhörte zu sprudeln. Dann goss er den Tee auf, brachte ihn Madame Talbot und setzte sich auf die Bank gegenüber.
»Was ist denn vorhin in Sie gefahren?« Er spielte darauf an, wie Madame Talbot ihm mit der Sense hatte zu Leibe rücken wollen.
Madame Talbot blickte ihn von unten herauf an. Dann tippte sie zweimal mit dem Teelöffel gegen die Tasse. Es klingelte hell, und Cluzet verstand sofort. Er ging zum Küchenschrank und kehrte mit dem Zuckerdöschen zurück. Es war ebenfalls aus Porzellan, und Rosen rankten sich darum.
Madame Talbot nahm es ihm vorsichtig mit beiden Händen ab, stellte es auf den Tisch und löffelte dann langsam Zucker in ihren Tee.
»Das war gefährlich«, griff Cluzet seine Frage auf.
»Ich kann mich schon zur Wehr setzen!« Madame Talbots Augen funkelten kurz. Sie hatte doch noch etwas von ihrer Aufgebrachtheit zurückbehalten.
»Auch wenn das zwei, drei oder noch mehr gewesen wären? Die hätten vielleicht nicht viel Federlesens gemacht.«
Bislang hatte Madame Talbot ihm noch nicht erklärt, was sie überhaupt um diese Uhrzeit draußen gewollt hatte. Gerüchteweise war sie in den letzten Jahren zunehmend wunderlich geworden. Sie überquerte die Straße, ohne sich umzusehen, und wurde umgehend laut, wenn ein Autofahrer sie mit der Hupe verscheuchen wollte. An Markttagen in Auciel Haute probierte sie ungeniert Obst an den Ständen und legte es angebissen zurück, wenn es ihr nicht schmeckte. Sie war immer in einer Kittelschürze und ihren Gummistiefeln unterwegs, was Cluzet allerdings für eine praktische Marotte gehalten hatte, die auch andere Bauersleute der alten Generation so an sich hatten.
»Sie kommen bei Nacht.« Madame Talbot strich den Tropfen von der Löffelunterseite vorsichtig am Tassenrand ab. Anschließend steckte sie ihn in den Mund und leckte ihn ab. »Jede Nacht!«
»Wer?«, fragte Cluzet.
»Die Höllenteufel!« Madame Talbot sah ihn an, als müsste er wissen, von wem sie sprach.
»Höllenteufel«, wiederholte Cluzet skeptisch. Er musste sich sehr bemühen, seine Ungläubigkeit zu verbergen.
Madame Talbot musterte ihn dennoch. »Da ist etwas in deinen Augen.«
»Hm?«, gab Cluzet zurück.
»Du glaubst mir nicht.«
»Madame Talbot …«, setzte Cluzet an, wurde aber sofort unterbrochen.
»Ich bin keine verwirrte Alte!« Der Ärger in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
Cluzet hätte es niemals so zu formulieren gewagt. Noch immer hatte er immensen Respekt vor seinem ehemaligen Kindermädchen. Aber er wusste auch, dass sie viel und häufig allein war. Als älteste Tochter ihrer Eltern hatte sie das Haus geerbt und niemals woanders gewohnt. Soviel er wusste, war sie auch niemals aus Auciel Haute herausgekommen. Nicht einmal für einige Tage Urlaub. Sie hatte nie geheiratet noch hatte jemals jemand einen Mann an ihrer Seite gesehen.
Als sie ihn als kleinen Jungen in der Küche seiner Eltern bei den Hausaufgaben beaufsichtigt hatte, hatte sie ihm einmal von einem gewissen William vorgeschwärmt. Der kommen und sie heiraten und aus Auciel Haute mit in seine Heimat nehmen würde. Wo die war, hatte sie aber nie erwähnt, und William war auch niemals gekommen.
Bereits damals hatte sie Cluzet in ihren weniger strengen Momenten Geschichten von irgendwelchen Fabelwesen erzählt. Wenn er sich aber recht entsann, hatten sie es niemals in die wirkliche Welt geschafft.
»Wen meinen Sie mit Höllenteufeln?«, fragte Cluzet.
Noch immer fixierte Madame Talbot ihn aus schmalen Augenschlitzen. Sie schürzte die Lippen und schob sie von rechts nach links und wieder zurück. Dann stand sie plötzlich auf und verließ die Küche in den Flur. »Komm mit!«
Cluzet hatte Mühe, an Madame Talbot dranzubleiben. Stramm marschierte sie über den kleinen Hof auf ein windschiefes Nebengebäude aus Bruchstein zu. Das Dach bog sich im Mondschein gefährlich durch.
Madame Talbot löste das Vorhängeschloss an der dicken Kette und zog sie rasselnd aus den Handgriffen der massiven Holztür. Dann schwang sie die Tür beiseite und legte eine weitere frei. Diese war auch nicht mehr ganz neu, dafür aber aus Edelstahl. Sie war stumpf und übersät mit feinen Kratzern, als wäre sie über die Jahre immer wieder kräftig mit Stahlwolle bearbeitet worden. Madame Talbot legte den langen Türhebel um und zog daran. Die Scharniere quietschten, und von innen kam ihnen ein leicht käsiger, fauliger Geruch entgegen.
»Sieh selbst, l’Urbain!« Madame Talbot trat zurück und wies ihn mit einer Handbewegung in das kleine Häuschen.
In der Dunkelheit konnte Cluzet kaum etwas erkennen. Er tastete nach dem Lichtschalter.
»Licht ist über der Tür«, erklärte Madame Talbot.
Cluzet fand den alten Drehschalter, der laut klackte. Nach einigem Flackern erstrahlten Neonröhren an der Decke und offenbarten das Chaos in dem weiß gekachelten Raum, der Madame Talbot offensichtlich als Käserei diente. Holzregale waren von den Wänden gerissen worden. Auf dem Boden verteilt lagen ein verbeulter Pasteurisator aus Edelstahl, Käseformen und Schöpflöffel. Kunststoff- und Edelstahlwannen waren umgeschmissen worden. Ebenso die Käsepresse. Überall war Dreck verschmiert worden.
»Das waren die Höllenteufel«, sagte Madame Talbot.
»Für mich sieht das nach blinder Zerstörungswut aus.«
»Wie die von Höllenteufeln?«
Cluzet deutete durch den Raum. »Ich glaube nicht, dass das hier das Werk übernatürlicher Kräfte ist.«
»Natürlich nicht!«, entrüstete sich Madame Talbot und verdrehte die Augen. »Hältst du mich für schwachsinnig?«
»Das wollte ich damit nicht …«
»Aber du hast es angedeutet!«, unterbrach Madame Talbot ihn umgehend. »Ich weiß sehr wohl, dass das hier menschengemacht ist. Ich hab sie schließlich selbst gesehen.« Sie atmete durch und ließ den Kopf hängen. »Ich brauch die Käserei zum Leben. So was macht doch kein Mensch, der noch einigermaßen bei Sinnen ist.«
Die Zerstörung des Inventars ihrer kleinen Käserei erschien Madame Talbot derart bösartig, dass sie es keinem moralbegabten Wesen zuschreiben konnte. Daher die Bezeichnung »Höllenteufel«.
»Verstehe.« Cluzet legte ihr mitfühlend die Hand an den Oberarm.
In all dem Chaos bemerkte Cluzet allerdings auch, dass etwas Entscheidendes im Raum fehlte: »Wo ist der Käse?«
»Nicht hier«, antwortete Madame Talbot knapp.
»Gestohlen?«
Madame Talbot hob wieder stolz den Kopf. »Nein!«
Cluzet forschte nicht weiter nach, wo sie die Laibe ihres hervorragenden Pont-l’Évêque lagerte. Sie waren noch in ihrem Besitz. Das allein zählte für den Moment.
Cluzet deutete unbestimmt durch den Raum. »Wann ist das passiert?«
»Vorgestern Nacht. Ich habe es erst am Morgen gesehen. Diese Höllenteufel haben das da aufgebrochen.« Madame Talbot zeigte ihm das Schloss an der Kette, die sie noch immer in der Hand hielt.
Cluzet nahm sie ihr ab und betrachtete das Schloss. Es wies keinerlei Spuren oder Kratzer auf, die darauf hindeuteten, dass es geknackt worden war. »Das hier? Ganz sicher?«
Madame Talbot funkelte ihn aus schmalen Augenschlitzen an. »Natürlich!«
Cluzet ahnte, dass sie ihn gerade belog. Wahrscheinlich hatte sie es gar nicht abgeschlossen. Sondern wie alle anderen in Auciel Haute den Schlossbügel einfach nur eingehakt. Aber welchen Unterschied machte das schon?
»Haben Sie die Polizei gerufen?«
»Wen denn? Diesen Melki?« Madame Talbot verdrehte die Augen. »Der findet einen Einbrecher doch nicht mal, wenn man ihn ihm auf den Bauch bindet.«
»Dann Sandrine Saidi«, erwiderte Cluzet.
Madame Talbot hob die Augenbrauen.
»Sie ist eine sehr fähige Polizistin.«
»Aber sie war nicht Kommissar in Paris!«
Cluzet schmunzelte. Er fühlte sich fast ein wenig geschmeichelt. Dann verstand er plötzlich, worauf Madame Talbot hinauswollte.
»Ich?«, fragte er überrascht.
»Natürlich du! Wer sonst?« Madame Talbot schüttelte den Kopf, als verstünde sie nicht, wie Cluzet überhaupt denken konnte, dass jemand anderes als er nach den Einbrechern suchen sollte.
»Madame Talbot, zuerst einmal muss hier jemand Spuren sichern. DNA. Fingerabdrücke. Und das sollte jemand sein, der Zugang zu den entsprechenden Datenbanken hat.«
»Dann kommst du morgen wieder und bringst die kleine Saidi mit.«
»Aber vor einer Minute war sie Ihnen nicht gut genug.«
»Ich habe nur gesagt, dass sie kein Kommissar in Paris war!«, korrigierte ihn Madame Talbot. Anschließend winkte sie ihn aus der Käserei. »Und jetzt husch, husch, nach Hause und ins Bett. Du hast morgen viel zu tun!«
»Urbain?«, meldete sich Sandrine verschlafen am Telefon, als Cluzet bereits wieder auflegen wollte.
Den ganzen Weg, von Madame Talbot bis auf die Veranda vor seinem kleinen Haus hinterm Vieux Moulin, hatte Cluzet darüber nachgedacht, ob sie seinen Rat befolgen und schlafen gehen würde. Am Ende hatte er darüber die Zeit vergessen und Sandrine angerufen, um sie für den nächsten Tag um ihre Unterstützung zu bitten. Aber offenbar hatte er sie damit aus dem Schlaf gerissen.
»Ich wusste nicht, wie spät es ist. Schlaf weiter.«
»In Ordnung.« Sandrine legte postwendend wieder auf.
Cluzet schob das Handy in die rechte Hosentasche, kramte die Schlüssel aus der linken und schloss auf. Der Duft frischer Blumen kam ihm entgegen, als er die Tür öffnete und das Haus betrat.
Neuerdings brachte Sandrine immer einen Strauß mit, wenn sie gemeinsam kochten. Was zwei-, manchmal dreimal in der Woche geschah. Sie fand, dass die Blumen das karge Innere des ehemaligen Gästehauses wohnlicher machten. Dabei empfand Cluzet die Kargheit gar nicht als solche. Das Häuschen war klein und bestand nur aus einem einzigen Zimmer. Aber es hatte alles, was Cluzet brauchte. Die schmale Küchenzeile mit dem offenen Regal darüber reichte aus, um ein vorzügliches Mahl für zwei Personen zuzubereiten. Wenn Sandrine plante, etwas Aufwändiges aus der algerischen Küche ihres Vaters zu kochen, trafen sie sich sowieso bei Sandrine. Der kleine Esstisch mit den zwei Stühlen sorgte von ganz allein für eine intime Atmosphäre. Ebenso das Bett am Ende des Raums, das von einer blauen Holzverkleidung eingerahmt wurde.
Zugegebenermaßen war der einzige Schmuck in dem kleinen Haus der Messingtisch mit dem eingeprägten Staatswappen Frankreichs und dem Foto seiner viel zu früh verstorbenen Frau Bérénice darauf. Er stand gleich neben dem grünledernen Ohrensessel bei der Tür.
Cluzet zog die leichte Jacke aus und ließ sie in den Sessel fallen. Dann öffnete er alle Fenster. Draußen war es merklich abgekühlt, während im Raum noch die drückende Wärme des sonnigen Tages hing.
Ein wenig Durchzug würde es ihm leichter machen einzuschlafen, dachte Cluzet, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Hosentasche. Das Display zeigte Sandrines Foto. Cluzet hatte es an einem gemeinsamen Abend an der Strandpromenade von Asnelles aufgenommen. Sie trug darauf ein schwarzes Sommerkleid. Lachend kämpfte sie gegen den Wind, der sich in ihren dunklen Locken verfing, während sich hinter ihr eine Welle an der Kaimauer brach und die Gischt weit über Sandrine hinaus spritzte.
»Du solltest doch wieder schlafen«, meldete sich Cluzet mit einem Anflug von schlechtem Gewissen in der Stimme.
»Du würdest mich aber nicht um die Zeit anrufen, wenn es nicht wichtig wäre«, antwortete Sandrine und gähnte. »Also sprich!« Ärger schwang in Sandrines Stimme mit. Aber es war wohl nicht ganz ernst gemeint, denn es folgte ein leises Kichern.
»Es geht um Madame Talbot. Könntest du mich morgen mit deinem Beweismittelkoffer zu ihr begleiten?«
»Zu deinem Kindermädchen?« Sandrine klang schlagartig hellwach. »Was ist passiert?«
»Jemand ist in ihre Käserei eingebrochen und hat alles verwüstet. Aber ihr geht es gut«, beschwichtigte Cluzet, bevor Sandrine fragen konnte.
Er berichtete ihr, was er vorgefunden hatte und was Madame Talbot ihm noch erzählt hatte, nachdem sie ihn wieder ins Freie gebeten hatte. Demnach war es nicht der erste Besuch ihrer »Höllenteufel« gewesen. In den Nächten zuvor hatten sie bereits ihren Zaun eingetreten und den kleinen Vorgarten verwüstet. Cluzet hatte die Beete kurz in Augenschein genommen und selbst in der Dunkelheit erkannt, dass sie regelrecht umgegraben worden waren. Madame Talbot hatte behauptet, dass sie eine Gruppe von Mopeds gehört hatte, die überfallartig gekommen und wieder abgerauscht waren, bevor sie sie hatte sehen können.
»Und so was in Auciel Haute?«, kommentierte Sandrine fassungslos. »Wieso ist sie denn nicht zu mir gekommen?«
Cluzet wollte ihr nicht direkt auf die Nase binden, dass Madame Talbot kein Vertrauen in die Polizei und ganz besonders nicht in Sandrines Vorgesetzten, Major de Police Vincent Melki, hatte. Also sagte er schlicht: »Du weißt, wie sie ist.«
»Ja«, seufzte Sandrine. »Sie wird langsam … alt.«
Wahrscheinlich meinte sie eher wunderlich.
»Was hast du jetzt vor?«