Concentr8 - William Sutcliffe - E-Book

Concentr8 E-Book

William Sutcliffe

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im London einer nahen Zukunft wird das Medikament Concentr8 an auffällige Jugendliche verteilt, um jedes unerwünschte Verhalten einzudämmen. Troy, Femi, Lee, Karen und Blaze nehmen es schon, solange sie denken können. Sie sind keine richtige Gang, und sie sind auch nicht auf der Suche nach Ärger, aber als die Verteilung von Concentr8 auf einmal versiegt und als eines heißen Sommertags die Aufstände in der Stadt heftiger ausbrechen als je zuvor, kidnappen sie einen Mann und schleppen ihn in ein Lagerhaus. Im Verlauf der folgenden sechs Tage beginnen sie – beginnen wir – zu verstehen, warum es so kommen musste. Nominiert für den YA Book Prize und die Carnegie Medal 2016

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 328

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



William Sutcliffe

Concentr8

Aus dem Englischen von Moritz Seibert und Katharina Kastner

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Im London einer nahen Zukunft wird das Medikament Concentr8 an auffällige Jugendliche verteilt, um jedes unerwünschte Verhalten einzudämmen. Troy, Femi, Lee, Karen und Blaze nehmen es schon, solange sie denken können. Sie sind keine richtige Gang, und sie sind auch nicht auf der Suche nach Ärger, aber als die Verteilung von Concentr8 auf einmal versiegt und als eines heißen Sommertags die Aufstände in der Stadt heftiger ausbrechen als je zuvor, kidnappen sie einen Mann und schleppen ihn in ein Lagerhaus. Im Verlauf der folgenden sechs Tage beginnen sie – beginnen wir – zu verstehen, warum es so kommen musste.

 

Über William Sutcliffe

Tag 1

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung betrifft angeblich bis zu zehn Prozent der jüngeren Kinder (überwiegend Jungen). Die «Störung» äußert sich durch schlechte Schulleistungen und durch die Unfähigkeit, sich in der Klasse zu konzentrieren oder von den Eltern unter Kontrolle gebracht zu werden, und ist vermeintlich das Ergebnis einer Fehlfunktion des Gehirns. … Die Behandlung besteht aus einem Amphetamin-ähnlichen Medikament namens Ritalin. Der Einsatz von Ritalin breitet sich weltweit epidemisch aus. Kinder, die nicht behandelt werden, werden angeblich mit höherer Wahrscheinlichkeit kriminell.

Steven Rose, The 21st Century Brain

Troy

Wollt ihr wissen, wie ich berühmt wurde? Das kam so.

Ich war nicht so richtig berühmt. Es hielt nur ein paar Tage an. Ich war auch nicht beliebt-berühmt. Ich meine, meistens bedeutet berühmt wir-lieben-dich berühmt oder du-hast-was-Tolles-gemacht berühmt – bei mir war es das Gegenteil. Für ein paar Tage waren ich und Blaze und die anderen die offiziellen Arschlöcher des Universums. Aber ganz ehrlich – das sind wir nicht, und das waren wir auch nicht.

Ich weiß, das hört sich nicht gut an. Einen Typen auf der Straße zu entführen, ihn an eine Heizung zu fesseln und ihn gefangen zu halten, klingt ziemlich gestört. Aber wenn ihr mich kennen würdet, wenn ihr mein ganzes Leben und alles, was bis zu dem Tag passiert ist kennen würdet, dann würdet ihr es verstehen. Ihr würdet mich wahrscheinlich trotzdem nicht mögen – das bedeutet mir sowieso nichts –, aber ihr würdet wissen, dass ich nicht irre bin oder böse oder irgendwas von dem, was sie über mich erzählt haben.

Aber so will es niemand sehen. Noch nicht. Also passt auf: Es fing an, als London komplett durchgedreht ist – ganz ehrlich, die ganze Stadt drehte plötzlich komplett am Rad, total krass. Ich will nicht behaupten, dass ich geahnt hätte, was passieren würde. Aber als es dann passierte, war ich nicht besonders überrascht. Wie sich der Wahnsinn so schnell ausbreitete, wie jeder davon mitgerissen wurde, wie die Polizei scheinbar aufgab und alles geschehen ließ – das war einfach unglaublich. Es war, als wäre auf einmal alles erlaubt – ALLES. Also Dinge, die du dir nicht mal vorstellen kannst, bis sie vor deinen eigenen Augen passieren. Läden ausrauben, Häuser abfackeln, Gebäude zerstören … und das war nur der Anfang. Wenn du diese Krawalle direkt vor dir siehst, ist es schwer zu glauben – es ist der Wahnsinn, so als ob alle Läden geöffnet hätten und alles ist umsonst, und die Leute rasten einfach aus, laufen rein, nehmen mit, was sie tragen können, laufen wieder raus, mit diesem Gesichtsausdruck, das kann doch gerade nicht echt passieren, aber es passiert wirklich!

Als sie uns Concentr8 wegnahmen, müssen sie gewusst haben, dass das so ähnlich ist, als würde man eine Coladose kräftig schütteln und dann den Verschluss aufziehen – sie wussten es, aber es war ihnen egal. Uns die Schuld dafür zu geben, was wir getan haben, ist so, als würde man der Cola die Schuld geben, wenn sie einem ins Gesicht spritzt. Sie haben dafür gesorgt, also haben sie auch keinen Grund, jetzt so überrascht zu tun.

In den letzten normalen Tagen davor spürten wir alle, dass etwas anders war; wie wenn die Luft kurz vor einem Sturm stickig wird. Man konnte es überall spüren. In den Wohnblocks, in den Straßen – wenn man in die Augen der anderen Kids sah, war da ein Blitzen, als wenn jeder wüsste, dass es nur einen Funken braucht, und alles steht in Flammen.

Ich hab den Anfang nicht mitgekriegt, aber alle sagen, dass es die Kids waren, die damit angefangen haben – weil sie wütend waren wegen Concentr8. Aber in der zweiten Nacht machten alle anderen auch mit – weil sie wütend wegen allem anderen waren. Und dann ging es richtig los, es wurde größer und größer, bis es schien, als wären alle Menschen auf der Straße, wie wilde Hunde, die sich losgerissen haben, und alles explodiert, eine Welle aus Wut überflutet alles, und nichts hält sie auf. Ist doch komisch, dass wenn Wut ausbricht – wenn sie sich aufstaut und aufstaut, bis sie explodiert –, dass sich das anfühlt wie etwas Tolles, wie eine Feier, wie eine Party – keine Ahnung warum, aber so fühlt es sich an. Es ist, als hätten die Wut und das Gegenteil von Wut sich da draußen auf den Straßen vermischt, um alles mit sich zu reißen – halb Party, halb Krieg.

Wenn du alle Käfigtüren im Londoner Zoo öffnen würdest, käme exakt dasselbe dabei raus: Party für die Tiere, und alle anderen scheißen sich in die Hose. Und die Zoowärter würden als Erstes gefressen, ist doch so.

Es gab einen Moment – das war etwas später, als das Ganze schon in Gang war –, dieser Moment, als Blaze und ich die Straßen entlangliefen. Es war früh am Abend. Das Ganze ging gerade richtig los, und wir hatten unsere Tücher um den Hals – noch nicht im Gesicht, aber für alle Fälle –, und da saß dieser Typ in einem Restaurant und aß etwas. Er sah uns vorbeilaufen und guckte so, wie alle Leute gucken, wenn sie uns sehen – mit Hohn und Verachtung im Gesicht, als ob uns schon unser Gang und unsere Klamotten zu Abschaum machen würden. Ich verlasse unser Viertel nicht oft – ist zu unsicher –, aber wenn wir unterwegs sind, treffen diese Blicke uns ständig, und wir sind sie gewohnt, und deshalb fand ich es auch nicht ungewöhnlich. Aber Blaze ist anders. Er sah den Blick von diesem Typen, genau wie ich – aber er wusste, dass die Bullen beschäftigt sind, er wusste, dass grad die Hölle ausbrach und es keine Regeln mehr gab – diese ganze Scheiße gab es grad nicht –, und er hob einen Fuß und trat das Fenster ein. Einfach so. Karate-Style, mit seiner Ferse. Das Glas zersprang und fiel überall auf den Boden, auf den Tisch des Typen, auf seinen Teller und auf seinen Schoß. Ihr hättet den Blick dieses Typen sehen sollen. Als könne er nicht glauben, was gerade geschieht – als würde er gleich sterben – als hätte er gerade noch einen Kriegsfilm im Fernsehen geschaut, und plötzlich explodiert der Fernseher, und Soldaten schießen mit echten Knarren auf ihn.

Es war einfach großartig. Er fühlte sich so sicher hinter dem Glas, und dann, ganz plötzlich, realisiert er, dass ihm jederzeit alles passieren kann – dass er nicht in einer anderen Welt lebt, von der er meilenweit zu uns herabschaut. Wir standen direkt vor ihm, am selben Ort, und wenn wir gewollt hätten, wären wir durch das zerbrochene Fenster gestiegen und hätten alles mit ihm machen können. Vor einer Minute war er noch der große Macker im Anzug, der sein teures Essen isst, und eine Sekunde später zittert er wie ein nacktes Baby, völlig hilflos, und hat keine Ahnung, was im nächsten Moment mit ihm passieren wird – ich schwöre, ich hab noch nie jemanden gesehen, der so eine Scheißangst hatte.

Für eine Sekunde starrten wir einander durch das fransige Loch in der Scheibe an – alle wie eingefroren von dem Wahnsinn, der da eben passiert war. Ich stand da und spürte die Energie – eine Brise kühler Restaurantluft strich mir über die heißen Wangen –, dann lachten wir nur und gingen weiter und ließen den Typen zurück, der vor seinem scherbenbedeckten Essen saß und sich vor Angst wahrscheinlich in die Hose gepisst hatte. Der Gesichtsausdruck dieses Typen – das war das Lustigste, was ich je gesehen habe.

Blaze hatte mir gesagt, dass es losgeht. Er hatte mich angesimst, dass ich meinen Arsch bewegen soll, um etwas von dem Zauber mitzubekommen. Ich geh also zu ihm und denke, dass er genauso geladen ist wie ich, aber er ist total ruhig – total gechillt in seinem Zimmer. Drinnen ist es noch heißer als draußen – die Luft ist süßlich und zäh von dem Rauch, als wäre jeder Atemzug schon mehrmals geatmet worden. Er weiht mich ein, sagt mir, dass er die Nacht vorher draußen war, als alles explodiert ist, und dass ganze Gangs von Kids Stellung gegen die Bullen bezogen haben und mit Zeug nach ihnen geworfen haben, und zwar die halbe Nacht lang, und dass er erst dachte, dass es damit vorbei wäre – aber dass es jetzt erst richtig losgeht, noch größer, viel größer, und dass ich das sehen muss. Es ist wild und wunderschön, sagt er. Diese Worte hat er benutzt. Wild und wunderschön.

Er ermahnt mich, vorsichtig zu sein, mein Halstuch hochzuziehen, mich von Kameras fernzuhalten und Orte zu meiden, an denen ich eingekesselt werden könnte. Keine Sackgassen, keine Läden ohne Hintertür. Er fragt mich, was ich haben will. Turnschuhe? Handys? Er fragt das mit einem Grinsen, als wolle er mich verarschen, und ich habe das Gefühl, dass jede Antwort dämlich klingen wird, also gebe ich die Frage einfach an ihn zurück. Und dann sagt er mir, dass er einen Plan hat – sagt, dass er etwas Großes vorhat, und fragt mich, ob ich dabei bin.

Wenn Blaze dich so etwas fragt, ist es keine echte Frage. Du kannst nicht nein sagen – niemand sagt nein zu Blaze. Nicht, weil wir Angst vor ihm haben – ich zumindest nicht –, sondern, weil du mit ihm gehen willst, wohin er geht; weil du tun willst, was er tut. Die einzige Alternative wäre, am falschen Ort zu sein und die ganze Action zu verpassen. Du hast keine andere Wahl als die Fahrt mitzumachen. Ich sage überhaupt nichts, doch er weiß, dass ich dabei bin.

Als wir von Blaze’ Wohnung aufbrechen, ist es noch nicht mal dunkel, aber die Leute strömen bereits zurück in die Wohnblocks, voll bepackt mit Kram. Ein Typ trägt einen Stapel «Foot Locker»-Schuhkartons, der ihm bis unters Kinn reicht, und er versucht zu rennen, aber er kann nicht. Ein Karton fällt ihm runter, aber er bleibt nicht mal stehen. Wir rufen ihm nach, aber er ruft zurück, dass wir ihn behalten können.

Wir schauen uns die Schuhe an, aber sie haben die falsche Größe und sind von einer Schrottmarke, also gehen wir weiter. Leute mit Bergen von Klamotten, die noch auf Bügeln hängen. Eine Frau mit drei riesigen Kartons Waschpulver. Andere ziehen Mülltonnen mit Gott weiß was für Kram, aber so schwer, dass sie sie zu zweit ziehen müssen – alle getrieben von dem heißen Wind, der durch die Hochhäuser bläst, fast wie ein Handtrockner. Ein Typ geht an uns vorbei, mit drei Plastiktüten in jeder Hand, die voll mit Kippen sind – mit irrem Blick und einem breiten Grinsen, als könne er sein Glück nicht fassen.

Ich will rennen, damit nicht schon alles weg ist. Ich kann nicht glauben, dass wir vielleicht zu spät sind und all die guten Sachen schon weg. Aber Blaze geht kein bisschen schneller, also gehe ich neben ihm, weil es Blaze ist – und Fakt ist, dass wir immer zusammen sind. Ich möchte ihn nicht aus den Augen verlieren, heute noch weniger als sonst. Nicht, dass ich ihn brauche – ich meine nur, dass wir ein Team sind, zusammen viel stärker, denn an manchen Orten bist du allein nicht sicher, egal wer du bist.

Blaze muss die anderen auch angesimst haben, denn wir sind zu sechst, als wir in das Chaos auf der Hauptstraße kommen – in den aufziehenden Rauch – in das ununterbrochene Geheul zahlloser Sirenen – überall kreischende Alarmanlagen – zersplitterndes Glas – Wellen von Geschrei und Jubel, wenn etwas in Flammen aufgeht oder zerbricht oder ein weiteres Rollgitter hochgeht. In dem Moment, in dem du das riechst und hörst, weißt du, dass du bisher noch nie richtiges Chaos erlebt hast. Es prickelt in dir, während du darauf zugehst – als würde irgendein unglaublicher Film um dich herum in 3-D zum Leben erwachen, und du bist mittendrin – du kannst Sachen aufheben und berühren und werfen und rennen. Es ist, als ob du dein ganzes Leben lang wusstest, was Phantasie und was Realität ist, und dann plötzlich findest du dich an einem Ort wieder, an dem beides völlig miteinander vermischt ist, und du weißt nicht mehr, was was ist – denn wie sehr du auch starrst und wie oft du auch blinzelst, die Scheiße, die du siehst, scheint einfach nicht real zu sein.

Ich hab solche Endzeit-Scheiße hunderte Male auf DVD gesehen. Fast jeder Film endet so. Aber jetzt weiß ich, wie falsch das alles war, denn im Film klingt es nie so wie hier. Ich hab noch nie etwas so Wildes gehört, was dich so in den Magen trifft mit so einer seltsamen Art von Terror, zu dem du hinrennen willst, anstatt davor wegzulaufen. Es ist riesig, es verschluckt dich, dieses Geräusch jeder einzelner Person auf der Straße, und alle wissen, dass es keine Polizei, keine Angst, keine Konsequenzen mehr gibt, und du alles machen kannst.

Man realisiert gar nicht, was alles verboten ist, bis man sieht, wie es ist, wenn plötzlich jeder alles machen kann, was er will. Das muss man gesehen haben, um es zu glauben, und ich schwör dir, zu sterben ohne das erlebt zu haben ist fast genauso schlimm, wie wenn du als Jungfrau stirbst.

Wir sechs laufen also die Straßen entlang – fühlen es, schwimmen darin, mit weit aufgerissenen Augen wegen dem ganzen Wahnsinn um uns herum. Keine Autos, nur Menschen auf den Straßen, mit hochgezogenen Halstüchern, um ihre Gesichter zu verdecken. Und obwohl alles verrückt ist, scheinen alle zu wissen, wohin sie wollen. Menschen rennen. Menschen tragen Zeug aus den Läden – schieben ganze Fernseher in Einkaufswägen – taumeln unter dem Gewicht von Tüten und noch mehr Tüten voll Zeug von irgendwo, mit glasigen, zugedröhnten Blicken, als wäre das Plündern der größte Rausch, den sie je hatten.

Es scheint, als wäre «Foot Locker» der Laden, zu dem alle als Erstes rennen. Das Rollgitter ist völlig verbogen, zur Seite gedrückt, und drinnen ist alles wie leergefegt – die letzten Leute kommen enttäuscht wieder raus, weil nichts mehr übrig ist.

Nebenan versuchen fünf Typen, einen Geldautomaten zu knacken. Ein paar Türen weiter schlägt ein Haufen Menschen auf ein Türgitter von «Currys» ein. Sie bearbeiten es mit Brechstangen und Hämmern und Ziegelsteinen, und sogar mit einer Holzlatte. Ein Typ brüllt rum und versucht, die Leute zu organisieren, damit sie besser zusammenarbeiten, aber die Hälfte der Leute ignoriert ihn und schlägt einfach weiter drauflos. Drei Kerle lassen einen Pflasterstein wieder und wieder auf das Vorhängeschloss fallen. Ein Jubelschrei, als es abbricht. Das Türgitter geht hoch, und die Türen geben Sekunden später nach. Wie Wasser durch einen Abfluss strömen die Leute hinein, schubsen sich gegenseitig – Ellbogen und Fäuste überall. Es wird ein bisschen hässlich, als die ersten Leute mit Kartons mit Fernsehern und Laptops und Druckern herauskommen, während mehr und mehr Leute versuchen, sich reinzukämpfen. Eine Frau wird umgestoßen, und ein paar Leute, die rauskommen, trampeln einfach über sie drüber – vielleicht, weil sie sie mit den Kartons in den Armen nicht sehen können, vielleicht, weil es ihnen einfach scheißegal ist. Jemand hilft der Frau auf und haut dem Kerl eine runter, der über sie getrampelt ist, und eine Schlägerei bricht aus, aber die meisten Leute ignorieren die Schlägerei und gehen einfach daran vorbei – rein in den Laden und wieder raus.

Blaze bleibt ungerührt. Er schaut ganz ruhig wie immer – keine Aufregung oder Panik, nichts, kalte Augen, die alles aufnehmen, aber sein ganzer Körper total ruhig, noch nicht mal ein Zucken – und weil er nicht reingeht, geht von uns auch keiner rein.

Irgendwann fragt Karen, Worauf zum Teufel warten wir?

So leise, dass man es über den ganzen Lärm kaum hören kann, antwortet Blaze, Geh, wenn du willst.

Niemand rührt sich.

Seht euch den Scheiß doch mal an!, sagt Femi. Da gibt’s alles!

Geh doch, sagt Blaze.

Femi schaut Karen an, und sie schaut ihn an, aber sie gehen nicht.

Wenn wir nur hier rumstehen, ist gleich alles weg. Sollen wir bloß zugucken, wie die anderen alles kriegen?, fragt Jay.

Ich bin kein Dieb, sagt Blaze. Ich weiß nicht, warum er das sagt, denn er ist einer – ich meine nicht oft, aber wir haben das alle schon mal gemacht. Es ist nicht einfach, Blaze zu widersprechen, deshalb weiß ich, dass keiner sagen wird Doch, bist du.

Die bestehlen doch uns!, ruft Jay.

Wer denn?

Es ist ein seltsames Gespräch, weil wir alle nebeneinander in einer Reihe stehen und uns nicht ansehen. Wir starren einfach geradeaus auf den riesigen Laden, der von Horden von Menschen geplündert wird. Der ungläubige Blick der Leute, die voll bepackt mit Kram herauskommen, ist irgendwie urkomisch, und irgendwie auch nicht. Es ist, als ob der Treibsand langsam unter deinen Füßen nachgibt, und ich frage mich zum ersten Mal, wie weit man das Ganze treiben kann, denn ab einem bestimmten Punkt könnte das Chaos nicht mehr so cool sein. Wenn es normal wird, dass jeder jeden ausrauben kann, wird ziemlich bald niemand mehr sicher sein. Wenn alle Läden geleert sind, was kommt dann? Häuser? Unsere Sozialwohnungen? Kids auf der Straße?

Na die alle!, sagt Jay. Die machen das doch alle. Die Bullen, die Politiker, die Banker, das sind alles scheiß Betrüger, und die kommen einfach damit davon, also warum nicht wir?

Dann mach doch, sagt Blaze.

Irgendwie widerwillig, aber doch zu stolz, um einen Rückzieher zu machen, marschiert Jay Richtung Currys. Er muss zwei Typen Platz machen, die eine Waschmaschine schleppen.

Kommt ihr oder was?, fragt er.

Ich spüre, dass Karen und Femi mit ihm gehen wollen. Sie schauen beide zu Blaze, aber Blaze geht einfach weiter die Straße runter. Ich folge ihm. Ich habe so lange an derselben Stelle gestanden, dass ich erst mal meine Sneaker vom heißen Asphalt lösen muss. Kurz darauf sind Karen und Femi und Lee bei uns. Ich drehe mich um und sehe Jay im Strudel der Leute verschwinden, wie er sich durch die Ladentür quetscht.

Der letzte Moment, in dem ich ihn noch sehe, brennt sich mir ein wie der Blitz einer Kamera, und ich hab das Gefühl, dass dies hier eine Weggabelung ist, und ab jetzt geht sein Leben in die eine Richtung, und meins in eine ganz andere. Ich weiß nicht warum, aber so fühlte es sich an. Und ich sollte recht behalten, allerdings nicht so, wie ich dachte, denn es ist nicht er, der auf den Abgrund zusteuert, sondern ich.

Vor uns lodern mehrere Feuer, und alles wird lauter, nervöser, wütender. Wir gehen genau darauf zu, auf dieses Bumm Bumm Bumm aus einer Ecke, wo alles voll mit Bullen ist, die Helme tragen und mit Schlagstöcken auf ihre Schutzschilde hämmern – sie sehen aus wie der letzte Rest einer Armee, die längst weiß, dass sie verloren hat.

Ein Gebäude verschwindet fast in den Flammen, die aus seinen Fenstern schlagen und sich hoch bis übers Dach winden und die Gesichter der Menschen orange beleuchten. Ich kann die Hitze schon auf halber Strecke spüren. Der Lärm ist ein Grollen, das man in der Brust spüren kann, und es klingt wie eine Schießerei, weil im Inneren des Gebäudes Dinge zerplatzen und zerschmettern und fallen. Die Feuerwehrwagen stehen hinter der Polizei bereit, aber sie kommen nicht an das Gebäude heran. Es sieht so aus, als würde es nicht mehr lange dauern, bis das ganze Ding zusammenbricht.

Ich sehe zu Blaze, er lächelt nicht, er verzieht keine Miene. Das Feuer ist großartig, wirklich großartig. Es ist hundertmal größer als jedes Feuer, das ich bisher gesehen hab. Riesige orangefarbene Wirbel schlagen aus jedem Fenster, und der Rauch sieht aus wie eine dunkle Flut, die sich in Richtung Himmel wälzt. Ich dachte immer, dass Rauch schwebt und wabert, aber dieses Zeug ist anders, es ist dicht und schwer, und man kann sehen, dass eine Lunge voll davon einen umbringen würde. Niemand, der jetzt noch drin ist, kommt da lebend raus.

Jeder weiß, dass vor Hunderten von Jahren mal die ganze Stadt London abgebrannt ist, aber bis jetzt hörte sich das immer wie ein Märchen an. Jetzt kann ich es mir vorstellen. Dieses ganze Gebäude ist einfach weg, und was sollte es davon abhalten, das nächste und übernächste Gebäude einfach mitzureißen.

Leute schmeißen Ziegelsteine und Leitkegel und Glasstücke und alles, was sie finden können, in Richtung der Bullen. Ein Müllcontainer steht an der Seite der Straße. Zwei Typen sind reingeklettert und verteilen den Müll, und es wird alles über den leeren Streifen Straße vor dem Feuer in Richtung Bullen geworfen. Keiner wirkt wütend. Es fühlt sich eher wie ein großer Spaß an, wie die wildeste Party, die es je gab.

Ein Teil von mir will losrennen und Zeug werfen. Wir sind alle so oft angehalten und durchsucht worden, sind von den Bullen wie Abschaum behandelt worden, weil sie nur nach einer Gelegenheit suchten, uns eins reinzuwürgen – und der Gedanke, einen Ziegelstein zu werfen und einen von denen damit zu erwischen, ist phantastisch. Die holen sich einen darauf runter, wenn sie uns dran erinnern können, dass wir Nichts sind. Das ist so klar zu sehen, so wie die uns ansehen und wie die mit uns reden und uns schikanieren, selbst wenn sie wissen, dass wir nichts Schlimmes gemacht haben. Also warum sollten wir uns nicht einen darauf runterholen, wenn wir ihnen zeigen, dass sie falschliegen – sie wissen lassen, dass wir hier sind und dass wir nicht Nichts sind, und dass wir zurückschlagen können? Wenn dich jemand tyrannisiert und du nichts dagegen tun kannst, dann träumst du davon, es ihm heimzuzahlen und ihm all die Dinge anzutun, die du in der Realität nicht tun kannst. Du tust es einfach. Und jetzt wird dieser Traum wahr, und da sind ganz viele von ihnen, die sich da verschanzen, aber hier sind Hunderte von uns, und wir werden gewinnen – Mann, das ist echt einer der geilsten Momente, die ich je erlebt hab. Concentr8 war nur der Anfang. Der Damm ist gebrochen, und jetzt ist jeder wegen allem wütend – ich mein, die Wut ist nicht neu, aber dass wir sie rauslassen, das ist neu. Ich finde nicht die Worte, um es zu beschreiben, denn es ist böse und brutal und zugleich unschuldig, wie ein Kind, das jedes Gefühl einfach rauslässt, ohne sich etwas dabei zu denken.

Das Ganze ist wie Himmel und Hölle zugleich, und ich steh einfach auf einem Fleck und seh mich immer wieder um, um das alles in mir aufzunehmen – und hab keine Ahnung, was ich denken oder sagen oder machen soll. Wir alle haben den gleichen Gesichtsausdruck, außer Blaze. Blaze hat einen Plan.

Ich sauge das alles noch eine Weile lang auf, bis Blaze sagt, Folgt mir, und wir folgen ihm, weil du das einfach tust, wenn Blaze es sagt.

Wir biegen in eine Seitenstraße ab, und fünf Minuten weiter ist alles wieder normal. Du kannst das Chaos noch hören – man müsste schon taub sein um es nicht zu hören –, und du kannst den nach Plastik stinkenden Rauch riechen, der hinten in der Nase zwickt, aber da, wo wir jetzt sind, ist alles ruhig und leer und normal. Das einzig Seltsame ist, dass es hier zu leer ist – dass keine Autos oder Menschen zu sehen sind. Hier scheint es fast so, als hätte sich die Stadt schlafen gelegt, obwohl die Sonne noch scheint. Es ist irgendwie unheimlich – ich und Blaze und Karen und Femi und Lee laufen mitten auf der Straße, als hätten wir die ganze Stadt für uns.

Lee hat eine Eisenstange in der Hand – aus diesem Müllcontainer. Er läuft zu einem parkenden Auto, einem Mercedes, und zerschmettert die Fenster. Er versucht, dabei nicht zu lächeln, aber man kann sehen, dass es ihm Spaß macht. Niemand sagt irgendwas, und wir gehen einfach weiter. Ich will auch mitmachen, aber ich trau mich nicht zu fragen.

Wir gehen immer weiter, bis wir am Fluss sind, an dieser wie immer matschig-braunen Flut aus kaltem Tee, die vor sich hin fließt, als wäre es ihr egal, dass alles um sie herum im Chaos versinkt. All das Wasser, Tonnen über Tonnen, bewegt sich wie immer. Es ist phantastisch, wenn man genau hinschaut. Auch wenn es das ekelhafteste Wasser ist, das du jemals gesehen hast, ist es trotzdem wunderschön, allein die Kraft, die es hat.

Wir kommen fast nie so weit rein in die Stadt – ist hier nicht sicher. Ich frage mich, wieso Blaze uns hergebracht hat, bis ich merke, dass er nicht wie alle anderen auf das Wasser schaut. Er schaut in die andere Richtung, auf dieses große gläserne Gebäude, aus dem sie die Stadt regieren – ich weiß nicht, wie sie es nennen, aber der Bürgermeister arbeitet da.

Die Straßen hier sind nicht ganz so leer. Es gibt ein paar Leute, die wie wir schauen, was passiert, und ein paar andere, die aussehen, als würden sie von der Arbeit nach Hause gehen, und es gibt ein paar wenige, die spazieren gehen, als wäre das ein normaler Abend, als wären sie auf dem Weg ins Kino oder ins Restaurant, oder wohin auch immer solche Menschen gehen. Es ist eine merkwürdige Mischung, und nur das gedämpfte Heulen Hunderter Sirenen aus der Richtung, in der unser Viertel liegt, verrät, was wirklich vor sich geht.

Blaze starrt zu dem Gebäude hinauf. Er hat den Blick eines Raubtiers, das seine Beute entdeckt hat.

Was ist los?, fragt Femi irgendwann.

Seid ihr dabei oder nicht?, fragt Blaze.

Ja, sagt Femi achselzuckend, als wäre er nicht sicher, ob Blaze ihn verarschen will.

Bis zum Schluss?

Bis zum Schluss. Nicht gerade überzeugend, wie er das sagt, aber Blaze scheint das nicht zu stören.

Er dreht sich zu mir. Fixiert mich mit seinen eiskalten Augen. Bis zum Schluss, Troy?

Ich habe keine Ahnung wovon Blaze redet, aber meine Gedanken zucken noch nicht mal in eine andere Richtung. Bis zum Schluss, Mann.

Bis zum Schluss?, fragt er Karen.

Sie zögert nicht, aber sie sagt auch nichts, sie tritt vor und küsst ihn auf den Mund, so lang und heiß, dass ich allein vom Zuschauen etwas hart werde. Karen ist seine Freundin, und sie ist das schönste Mädchen in den Wohnblocks, das schönste Mädchen in allen Wohnblocks. Sie hat blaue Augen und dunkle Haut und trägt einen kleinen Diamanten so groß wie ein Stecknadelkopf in der Nase, und ihr Mund ist irgendwie wütend und sexy und unnahbar und cool zugleich. Sie lächelt nie, aber komischerweise sieht sie trotzdem so aus, als würde sie lächeln. So ein kleiner Bogen in den Mundwinkeln, als wüsste sie etwas, was du nicht weißt. Keiner weiß, wie sie für den Diamanten bezahlt hat und ob es wirklich ein echter Diamant ist, aber mir ist das egal. Wenn ich diesen Mund nur ein einziges Mal küssen dürfte, wäre ich bereit, dafür zu sterben.

Sie mag mich nicht. Also, sie mag mich nicht nur nicht, sie hasst mich sogar. Aber das ist eine andere Geschichte. Blaze beendet den Kuss und wendet sich von ihr ab. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er macht es und dreht sich zu Lee.

Bis zum Schluss?

Bis zum Schluss, Alter!, sagt Lee.

Er fordert uns nicht auf, ihm zu folgen, aber als er sich umdreht und losgeht, gehen wir alle mit. Er schlendert auf den Eingang des Glasgebäudes zu, und als ein Mann rauskommt – so ein Loser-Typ mit Halbglatze, in einem Anzug, der nicht richtig passt, und mit einer hässlichen Aktentasche –, dreht Blaze um und ändert den Kurs. Wir folgen ihm, und es scheint, als würden wir alle dem Typen folgen.

Als wir um die Ecke biegen – in eine schmale Straße, die zur Hauptstraße führt –, ruft Blaze ihm hinterher, WO WILLST DU HIN?

Der Typ bleibt stehen und dreht sich um. Man kann ihm dabei zusehen, wie er denkt, soll ich wegrennen oder mich aus der Situation rausquatschen? Einen auf cool machen oder abhauen, bevor es noch schlimmer wird? Er weiß, dass wir Ärger bedeuten, und er hat recht. Es dauert weniger als eine halbe Sekunde, bis er kapiert, dass er vor dem, was auch immer wir mit ihm vorhaben, nicht wegrennen kann. Nicht dieser fette alte Typ – er würde kaum ein paar Schritte weit kommen.

Nach Hause, sagt er fast lässig, aber mit gebrochener Stimme, die verrät, dass er sich gerade die Hosen vollscheißt.

Arbeitest du für den Bürgermeister?, fragt Blaze.

Eine weitere verräterische Pause. In seinem Kopf arbeitet es. Nein.

Wir haben dich aber da rauskommen sehen. Du trägst einen Mitarbeiterausweis.

Wie ein Idiot zieht der Typ den Ausweis ab und versteckt ihn in seiner Tasche. Ich bin in der Abteilung für Wohnungsbau. Ich hab nichts mit dem Bürgermeister zu tun. Hab ihn noch nicht mal kennengelernt.

Hab ich ja auch nicht behauptet, sagt Blaze.

Lee schlägt mit der Eisenstange in seine Handfläche.

Was wollt ihr?, fragt er. Wollt ihr mein Handy? Hier. Nehmt es.

Er gibt Blaze sein Handy. Blaze nimmt es, wirft einen Blick darauf, lässt es auf den Boden fallen und tritt drauf. Es gibt ein leises Kratzen und Knacken, als es unter seinem drehenden Absatz zerbricht. Ich will dein scheiß Handy nicht.

Karen und Lee lachen sich kaputt. Die Augen des Typen zucken hin und her: Er weiß, dass er in der Falle sitzt.

Was wollt ihr?

Blaze starrt ihn an und sagt kein Wort. Es zieht Luft durch seine Zähne und macht damit ein fieses, feuchtes Quietschen, wie eine Maus, die man erwürgt. Das überlege ich mir grade, sagt Blaze, aber man merkt, dass er dem Typen nur Angst machen will.

Tja, ich wünschte, ich könnte bleiben und helfen, aber ich muss wirklich nach Hause.

Der Typ dreht sich um und will weggehen, aber er schafft nur einen Schritt, bis Blaze ihm von hinten den Arm um den Hals legt. Die Muskeln an Blaze’ Arm treten hervor wie die Stränge eines Seils. Er ist nicht viel älter als ich, aber er hat jetzt schon den Körper eines richtigen Mannes, mit dichtem Flaum auf der Oberlippe, und er ist mindestens einen Kopf größer als der Typ.

Ich glaube, ich will, dass du zuhörst. Du und alle anderen. Blaze’ Stimme ist ruhig und tief und langsam, wie immer. Er wird nie laut, aber jetzt ist seine Stimme hart wie Stahl.

Das Gesicht des Typen ist rot wie Ketchup. Es sieht nicht so aus, als könne er atmen. Wenn das ein Cartoon wäre, würde jetzt Rauch aus seinen Ohren kommen. Nach einer Weile lockert Blaze seinen Griff, und der Typ holt keuchend Atem.

Ich höre zu!, sagt der Typ. Ich höre zu!

Das meine ich nicht, sagt Blaze.

Der Typ lässt seine Aktentasche fallen. Es sieht nicht so aus, als hätte er das mit Absicht getan. Irgendwas in ihm hat aufgegeben, und seine Muskeln sind erschlafft.

Spürst du das?, fragt Blaze.

Ja!, sagt der Mann, kreischt es fast. Seine Augen verdrehen sich in ihren Höhlen, und rote Adern treten hervor, als wäre er bekifft, aber das ist es nicht, es ist etwas ganz anderes. Ich weiß nicht, wovon die beiden reden.

Spürst du DAS?

Der Typ schreit auf, und sein Körper zuckt – verdreht sich, taumelt, ohne damit Blaze’ Griff zu entkommen. Jetzt, da er sich gedreht hat, sehe ich, dass Blaze ihm ein Messer gegen den Rücken drückt.

Ich schaue hoch. Lee leckt sich die Lippen, nervös, ängstlich, genau wie ich, als hätte er keine Ahnung gehabt, dass das passieren würde. Karens Augen sind auch weit aufgerissen, und sie lächelt so halb, aber ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll. Femi guckt, als hätte er sich grad in die Hose gemacht. Ich schätze, dass niemand von uns mit so was gerechnet hatte.

Vorsicht, sage ich. Da sind Kameras.

Blaze guckt hoch und sucht nach Überwachungskameras, und für einen Moment fühlt es sich an, als würden wir träumen und schweben, weil die Zeit stehengeblieben ist – ich schwöre, es fühlt sich an als würde die ganze Stadt die Luft anhalten und darauf warten, was Blaze als Nächstes tun wird.

Dann blafft Karen, Mach ihn fertig! Mach ihn einfach fertig! Sie hat den seltsamsten Blick, als hätte sie alles um sich herum vergessen, als würde sie jetzt komplett durchdrehen, wie ein wildes Tier. Es scheint, als wäre alles von ihr abgefallen, und für einen Moment sieht man ihr wahres Ich – die pure, nackte Karen, und ich schwör euch, die ist echt psycho.

Aber all das, alles, was bisher passiert ist, war nichts – war nicht mal einen halben Schritt vom normalen Leben entfernt, im Vergleich zu dem, was als Nächstes passiert. Wir brauchen alle eine Minute, bis wir überhaupt kapieren, was Blaze meint, als er endlich spricht. Denn was er sagt, hebt alles auf ein neues Level. Er sagt es nicht laut, als sei es gar nichts Besonderes – aber alle hören es, und es ist so verrückt, dass niemand was dagegen sagt oder versucht ihn zu stoppen. Wir machen einfach alle mit.

Du kommst mit uns, sagt er.

Hyperaktivität … wurde erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts von dem deutschen Mediziner Heinrich Hoffmann erkannt, der im Jahr 1844 eine berühmte Sammlung von Kinderreimen unter dem Titel Der Struwwelpeter schrieb … Eine seiner Figuren war der Zappelphilipp, der am Esstisch für Unruhe sorgt.

Matthew Smith, Hyperactive: The Controversial History of ADHD

Femi

Im einen Moment ist es nur ein Scherz, um dem Typen ein bisschen Angst zu machen, nichts Schlimmes, nichts wirklich Verrücktes, und im nächsten Moment zieht er ein Messer, und wir schleppen den Typen weg, und ich denke, MICH HAT KEINER GEFRAGT! Ich denke, ICH WILL DAS NICHT, WAS MACHST DU DA? DAS IST SCHEISSE, MANN, aber ich mein, da war es eh schon zu spät, okay?

Aber so ist Blaze nun mal. Ich schwöre, es ist gefährlich, mit ihm abzuhängen, weil du einfach nicht weißt, in was du reingezogen wirst, und Mum sagt immer, Halt dich fern, halt dich fern von diesem Blaze, und ich weiß, dass sie recht hat, aber so einfach ist das nicht, okay? Er ist wie ein magnetisches Kraftfeld, du wirst reingezogen, du weißt nicht wie, aber du wirst reingezogen.

Ich hätte abhauen können. Genau in diesem Moment. Aber niemand hat gesagt: Das ist deine letzte Chance. Niemand hat gesagt, dies hier ist die letzte Sekunde, in der du dich entscheiden kannst, normal zu sein – zur Schule zu gehen und deinen Kram zu machen und einfach eine ganz normale Person zu sein.

Er hätte es uns sagen sollen. Uns fragen sollen. Ich meine, das war echt keine kleine Sache mehr, das war richtig groß. Aber so was macht Blaze nicht. Er lässt dir keine Wahl. Ganz ehrlich, er hat mich gefragt, ob ich dabei bin, und vielleicht habe ich ja gesagt, aber er hat nicht gesagt, wobei dabei, denn hätte ich das gewusst, hätte ich AUF KEINEN FALL! gesagt. AUF GAR KEINEN FALL, DU IRRER! Und das wäre es gewesen. Ich wär aus der Nummer raus gewesen.

Wir gehen also mit dem Typen zur Bushaltestelle, im Ernst, zur BUSHALTESTELLE! Du kannst doch nicht jemand kidnappen und dann mit dem Bus fahren, das ist doch einfach bescheuert. Aber das Messer ist immer noch da, und das weiß er, also kann er nichts machen. Man sieht ihm an, dass er glaubt, er ist nur zwei Sekunden vom Tod entfernt. Ein falscher Schritt, und Blaze sticht ihn ab, aber ich glaube nicht, dass er das tun würde. Ich meine, Blaze ist schon krass drauf, aber nicht so krass. Er ist zu clever. Würde niemanden so in der Öffentlichkeit abstechen, das wäre ja quasi Selbstmord, okay? Aber das weiß der Typ halt nicht.

Das Messer ist in Blaze’ Tasche, und wir laufen mit dem Typen in unserer Mitte zur Haltestelle. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wenn das der Plan ist, dann ist das ein Scheiß-Plan. Aber der Typ ist wie gelähmt, und er weiß, dass er nicht wegrennen kann, was soll er also tun?

Er fleht mit seinen Augen, starrt die Leute an, die an uns vorbeilaufen, fleht sie mit Blicken an, ihm zu helfen. Aber niemand schaut hin, und selbst wenn sie hinschauen würden, wäre es ihnen egal oder sie würden nicht eingreifen, weil sich niemand mit Leuten wie uns anlegen will. Das ist es nicht wert. Jeder weiß das, selbst wenn du erst seit fünf Minuten in der Stadt bist.

Der Bus kommt, und wir steigen ein. Wir alle. Ich schwöre, das ist so verrückt.

Ich hätte noch abhauen können. Ganz einfach. Ich hätte einfach nicht in den Bus steigen können, abhauen können, was auch immer. Ich mein, das hätte ich tun sollen, ich bin ja nicht blöd. Aber es ist schwer, dieses Gefühl zu beschreiben, als würdest du auf Schienen fahren oder so, denn das ging uns allen so, nicht nur mir. Wir waren eine Einheit, ich hatte keine Kontrolle, war nur ein Passagier. Blaze hatte sich den ganzen Plan vorher ausgedacht, so schien es zumindest, und wenn er entschieden hat, was passieren soll, dann passiert es auch. Du kannst nichts machen, um es zu stoppen. Ich hatte nicht die Macht, irgendetwas zu verändern. Ich schwöre, er bringt dich dazu, Dinge zu tun, die du dir nie hättest vorstellen können, die du alleine auch in einer Million Jahren nicht getan hättest.

Manchmal glaube ich, dass ihn gar nicht so sehr interessiert, was wir machen – was auch immer es ist –, sondern ihn nur interessiert, wie weit er uns mitziehen kann. Er möchte spüren, wozu er andere Leute bringen kann. Und je mehr wir machen, was wir eigentlich gar nicht machen wollen, desto stärker spürt er seine Macht, badet in ihr, aalt sich darin, wie er uns so weit gebracht hat, wie er es wollte.

Mum hatte recht mit ihrem Halt dich fern von Blaze, sie hatte mehr recht, als sie je ahnen konnte.

Blaze und Troy haben irgendetwas Totes in sich, etwas Kaltes, das durch nichts auf der Welt gewärmt werden kann. Ich kann mir nicht mal vorstellen, dass die je in einer normalen Wohnung leben, einen normalen Job machen und einfach normal sind. Ich bin anders, ich bin nicht so. Ich hätte mich nicht mit ihnen einlassen sollen, denn ich bin nicht gemacht für so ein Leben, hab nicht die Eier. Und ich bin nicht mal schlau genug abzuhauen, wenn ich abhauen sollte.

Ich wusste nicht mal, wo der Bus hinfährt. Ich hätte fragen sollen. Hätte einfach aussteigen und nach Hause gehen sollen. Ich hätte noch nicht mal was sagen müssen, kein einziges Wort. Hätte einfach gehen können. Ich bin das Hunderte Male in meinem Kopf durchgegangen, und das ist das Verrückte – all diese Minuten ticken langsam an mir vorbei und ich sitze einfach in diesem Bus und lasse mich von Blaze in seinen Wahnsinn mitreißen – lasse mich von ihm aus dem Leben reißen, das ich bis dahin hatte, an einen ganz anderen Ort, der für einen Jungen wie mich nie gedacht war.