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Seit 2020 dominieren die Corona-Krise und der Umgang damit das gesellschaftliche Leben, die Erfahrungen der Menschen und vor allem den Diskurs - auch in der Erwachsenenbildung. Die in Österreich gesetzten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie machten rasch bestehende Herrschaftsverhältnisse und soziale Schieflagen sichtbar. Statt derart problematische Verhältnisse aufzulösen oder zumindest einzudämmen, verstärkten die Maßnahmen diese aber weiter, kritisieren die Herausgeber*innen der vorliegenden Ausgabe des "Magazin erwachsenenbildung.at". Vor allem fehle es an Spielraum für Kritik und Diskussion in einem dialektischen Sinn. Die Beiträge zur Ausgabe zeigen das Ausmaß und die Dimensionen der Krise auf und machen Vorschläge, wo politische Erwachsenenbildung ansetzen kann, um Kritikfähigkeit, Mündigkeit und Dialog zu fördern. Dabei machen sie vielfach auch sehr persönliche Überzeugungen von Forscher*innen und Praktiker*innen der Erwachsenenbildung und der politischen Bildung sichtbar. Thematisiert werden die Demokratie als Form des politischen Lebens selbst, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, die Querdenker*innen-Bewegung und Praxis-Angebote zur politischen Erwachsenenbildung.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Aus der Redaktion
01
Editorial
Sonja Luksik und Stefan Vater
Thema
02
Demokratie als Dystopie. Wie politische Bildung dem entgegenwirken kann
Daniela Ingruber
03
Sorg(e)loser Staat, souveränes Subjekt? Ein Interview mit Gundula Ludwig über unerwartete Normalität und das Ausblenden von Verletzbarkeit in der Pandemie
Sonja Luksik
04
Die gefährlichen Anderen. Der Neoliberalismus und das Zeitalter der Pandemien. Eine Gegenüberstellung und Zuspitzung
Stefan Vater
05
Für eine emanzipatorische Perspektive politischer Bildung. Im Gespräch mit Ulrich Brand über die Transformation zur solidarischen Lebensweise
Simone Müller
06
Die Querdenker*innen als Herausforderung. Erwachsenenbildnerische Reflexionen für eine gelingende politische Bildung
Martin Haselwanter und Bernd Lederer
07
Proteste gegen die „Corona-Politik“ und das politische Feld. Die Notwendigkeit ungleichheitssensibler Zugänge in der politischen Erwachsenenbildung
Catrin Opheys und Helmut Bremer
08
Mit Corona „leben lernen“. Über die Bedeutung gemeinsamen Lernens in politischen Öffentlichkeiten
Gesa Heinbach
09
Verständnisse und Missverständnisse des Kritik-Begriffs. Reflexive Kritik als Modus einer mündigkeitsorientierten politischen Bildung
Stefan Müller
10
Politische Erwachsenenbildung in der Krise? Eine Reflexion
Michael Görtler und Charlotte Palatzky
11
Über Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten. Ein Plädoyer für mehr Zeit, mehr Dialog, mehr Kooperation
Erik Weckel
Praxis
12
Öffentliche Konsultationen: Ihre Meinung zählt!? Partizipative Demokratie-Instrumente in der politischen Erwachsenenbildung
Britta Breser
Kurz vorgestellt
13
Der Demokratie MOOC. Potentiale und Problemstellen der digitalen Politischen Erwachsenenbildung in der (COVID-19) Krisenzeit
Christin Reisenhofer
Rezension
14
Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. Yener Bayramoğlu, María do Mar Castro Varela
Georg Ondrak
Englischsprachige bzw. bei englischsprachigen Artikeln deutschsprachige Abstracts finden sich im Anschluss an die Artikel (ausgenommen Rezension).
Zitation
Luksik, Sonja/Vater, Stefan (2022): Editorial. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 46, 2022. Online: https://erwachsenenbildung.at/magazin/ausgabe-46.
Schlagworte: Corona-Pandemie, politische Erwachsenenbildung, Krisenbearbeitung, Bio-Politik, Demokratie, Kritikfähigkeit, Protestbewegung, Mündigkeit, Dialog, imperiale Lebensweise
Seit 2020 dominieren die Corona-Krise und der Umgang damit das gesellschaftliche Leben, die Erfahrungen der Menschen und vor allem den Diskurs – auch in der Erwachsenenbildung. Die in Österreich gesetzten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie machten rasch bestehende Herrschaftsverhältnisse und soziale Schieflagen sichtbar. Statt derart problematische Verhältnisse aufzulösen oder zumindest einzudämmen, verstärkten die Maßnahmen diese aber weiter, kritisieren die Herausgeber*innen der vorliegenden Ausgabe des „Magazin erwachsenenbildung.at“. Vor allem fehle es an Spielraum für Kritik und Diskussion in einem dialektischen Sinn. Die Beiträge zur Ausgabe zeigen das Ausmaß und die Dimensionen der Krise auf und machen Vorschläge, wo politische Erwachsenenbildung ansetzen kann, um Kritikfähigkeit, Mündigkeit und Dialog zu fördern. Dabei machen sie vielfach auch sehr persönliche Überzeugungen von Forscher*innen und Praktiker*innen der Erwachsenenbildung und der politischen Bildung sichtbar. Thematisiert werden die Demokratie als Form des politischen Lebens selbst, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, die Querdenker*innen-Bewegung und Praxis-Angebote zur politischen Erwachsenenbildung. (Red.)
Sonja Luksik und Stefan Vater
Seit Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 hat sich die Welt in einem rasanten Tempo und mit ungeheurer Intensität gewandelt. Der Begriff der „Vielfachkrise“ existierte zwar schon davor, bringt das Empfinden einer Unübersichtlichkeit, Überlagerung und Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Krisen aber treffend wie nie auf den Punkt: Ukraine-Krieg, Inflation, Klimakrise, Erosion der Demokratie – eine Krise jagt die nächste. Die Corona-Krise dominierte das gesellschaftliche Leben und die Erfahrungen von großen Teilen der Menschheit: nicht nur in Bezug auf staatliche Maßnahmen, sondern vor allem hinsichtlich der Diskursdominanz. Kaum ein anderes Thema drängte sich so sehr in den Vordergrund wie das Virus und Strategien zu seiner Eindämmung.
Aus einer politischen Perspektive zeigte sich, dass die Pandemie bereits bestehende Herrschaftsverhältnisse sowie ökonomische und soziale Schieflagen einerseits sichtbar machte, andererseits damit zusammenhängende Widersprüche vertiefte. So wurde alles getan, um die kapitalistische Produktionsweise und Profitmaximierung aufrechtzuerhalten. Menschen sollten weiterhin in großen Betrieben, Supermärkten und Krankenhäusern arbeiten, sich in der Freizeit jedoch mit niemandem treffen. Kapitalinteressen aus Tourismus und Gastronomie wurden berücksichtigt, während eine sichere Lernumgebung an Schulen ganz und gar nicht selbstverständlich war. Home-Schooling und Home-Office wurden ohne Rücksicht auf Frauen, Alleinerzieher*innen, aber auch generell Eltern vereinbart. Vulnerable Gruppen wie Geflüchtete an den EU-Außengrenzen, Wohnungslose oder Kinder kamen im Pandemie-Diskurs nicht einmal vor.
Eine zu konstatierende „Politik der Pandemie“ greift seit 2020 in Österreich und Europa auf Instrumente des staatlichen Ausnahmezustandes zurück und regiert vorrangig über Verordnungen. Grundrechtsbeschränkungen und eine Machtverschiebung von der Legislative zur Exekutive in Krisenzeiten drohen sich einzureihen in globale Tendenzen einer „autoritären Wende“. Die Technisierung des Politischen und eine Stärkung der Rolle von „Expert*innen“ sind weitere Tendenzen, die sich während der Pandemie beobachten lassen und einem Autoritarismus Vorschub leisten.
Neben bereits bekannten gesellschaftlichen Widersprüchen führte die Corona-Krise zu neuen Verwerfungen, Erschütterungen und Spaltungslinien, die mit scheinbaren Sicherheiten und Gewissheiten brachen. Es formierten sich neue Allianzen, wie am Beispiel der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen eindrücklich zu sehen ist. Ein (teils obskur anmutendes) Sammelsurium aus Esoteriker*innen, Alt-68ern, Rechtsextremen und Kleinbürgerlichen bildet eine reaktionäre Bewegung, deren größte Schnittmenge einerseits die Ablehnung jeglicher staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist, andererseits der Rekurs auf Verschwörungstheorien, die häufig von Antisemitismus durchzogen sind. Demgegenüber steht das aufgeklärte, stets vernünftige und staatliche Maßnahmen affirmierende Individuum, das frei von jeglichen Emotionen agiert – so zumindest das in Politik und Medien omnipräsente Bild. Es scheint, als wäre die Konfliktlinie eindeutig: Corona-Leugner*innen, Impfgegner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen auf der einen Seite gegen Aufgeklärte und Vernünftige auf der anderen Seite. Diese analytisch und empirisch verkürzte Dichotomie blendet oben beschriebene gesellschaftliche Interessengegensätze und Konflikte, die durch die Pandemie verstärkt wurden, gänzlich aus. „Pandemiebekämpfung“ erscheint als individuelle Kraftanstrengung, bei der man sich nur für die richtige „Seite“ entscheiden und eigenverantwortlich handeln muss. Für eine Kritik an herrschenden Missständen, an strukturellen Ungleichheiten und für das Aufzeigen von emanzipatorischen Handlungsmöglichkeiten bleibt im „nationalen Schulterschluss“ kein Platz.
All diese Entwicklungen machen auch vor der Erwachsenenbildung nicht halt und stellen sie vor zahlreiche Herausforderungen. Die Beiträge der vorliegenden Meb-Ausgabe behandeln nachfolgende Themen:
Daniela Ingruber geht in ihrem Beitrag „Demokratie als Dystopie. Wie politische Bildung dem entgegenwirken kann“ von der beschworenen Krise der Demokratie ab den späten 1990ern aus und zeichnet das Bild einer „demokratischen Jukebox“ – Demokratie wird zum Wunschkonzert. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie wird die Demokratie den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung unterworfen. Und dennoch bleibt Demokratie der Sehnsuchtsort enttäuschter Hoffnungen und sie ist zerbrechlich.
Sonja Luksik spricht in einem Interview mit Gundula Ludwig, Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse an der Universität Innsbruck, über die Funktionsweisen von Bio-Macht und geschlechtlicher Arbeitsteilung in Krisenzeiten. Wurde zu Beginn der Pandemie noch über strukturelle Probleme in unserer Gesellschaft gesprochen, war bereits nach kurzer Zeit ein Festhalten an der Normalität beobachtbar, zeigt sich Gundula Ludwig erstaunt. Ein „Souveränitätsphantasma“ in der staatlichen Krisenbearbeitung blende zudem Körper, Emotionen, Verletzbarkeit und Sorge aus.
Stefan Vater versucht in seinem Beitrag „Die gefährlichen Anderen. Der Neoliberalismus und das Zeitalter der Pandemien“ Arbeitsfelder der politischen Erwachsenenbildung in Zeiten der Pandemie zu benennen. Dazu erfolgt eine zugespitzte Charakterisierung der aktuellen Gesellschaftsformation mit ihren Paradoxien und eine Beschreibung jener Regierungsformen, also jener Steuerungsformen, mit denen Maßnahmen gegen die Pandemie eingesetzt wurden. Es waren Maßnahmen, die durch den Schutz »des Lebens« gerechtfertigt und begründet wurden. Nach einer Einleitung zum Konzept der Biopolitik, das eine Politik beschreibt, die »das Leben« ins Zentrum setzt, erfolgt eine Analyse des Zusammenwirkens von Pandemie und Neoliberalismus in Zeiten der Pandemie.
Simone Müller spricht in einem Interview mit Ulrich Brand, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien, über gegenwärtige Gesellschaftsdiagnosen, diese fallen gemeinhin dystopisch aus: Corona, Klima und Krieg verweisen auf Krisen und Katastrophen globalen Ausmaßes. Ulrich Brand argumentiert, dass sie in Zusammenhang stehen mit einer imperialen Lebensweise, die erdumspannende Verhältnisse der Ausbeutung und Ungleichheit beinhaltet. Demgegenüber wäre eine solidarische Lebensweise zu stellen, die es individuell und gesellschaftlich zu erlernen sowie politisch zu fördern und abzusichern gilt.
Martin Haselwanter und Bernd Lederer thematisieren in ihrem Beitrag „Die Querdenker*innen als Herausforderung. Erwachsenenbildnerische Reflexionen für eine gelingende politische Bildung“ jene Protestbewegung, die sich seit dem Frühjahr 2020 gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie formierte. Angesichts ihrer Heterogenität wird diese mitunter als erste postmoderne Protestbewegung skizziert, als politisch nach rechts tendierende Querfront ganz unterschiedlicher Aktivist*innen. Die Autoren beschließen ihre Analyse der Querdenker*innen mit Schlussfolgerungen für die Erwachsenenbildung.
Catrin Opheys und Helmut Bremer befassen sich ebenso mit Protestbewegungen in Zeiten von Corona. Ihr Beitrag „Proteste gegen die ‚Corona-Politik‘ und das politische Feld. Die Notwendigkeit ungleichheitssensibler Zugänge in der politischen Erwachsenenbildung“ fasst die mit der Corona-Pandemie und den politischen Maßnahmen aufkommenden Protestbewegungen als gesellschaftlich und medial in bestimmter Weise sichtbar. Häufig werden diese als defizitär, als „rechts-orientiert“ und wissenschaftsfeindlich wahrgenommen und im Kontext von Verschwörungsmythen verortet. Eine solche Wahrnehmung hat auch Auswirkungen darauf, wie sich die politische Bildung zu den Protesten positioniert und in ihren Angeboten konzeptionell aufgreifen kann.
Gesa Heinbach eröffnet in ihrem Beitrag „Mit Corona ‚leben lernen‘. Über die Bedeutung gemeinsamen Lernens in politischen Öffentlichkeiten“ mit dem Begriff des „öffentlichen Lernens“ eine Perspektive auf die politisch-öffentliche Auseinandersetzung über neue Erkenntnisse, um darauf basierende Entscheidungen demokratisch zu verankern. Dabei wird auch auf die Frage eingegangen, ob sich gesellschaftliche Ordnungssysteme in der Corona-Krise eher verflüssigen oder sich im Gegenteil durch ihre Wirksamkeit bewähren. Schließlich wird diskutiert, wie öffentliches Lernen und der Umgang mit modernen Paradoxien zusammenhängen.
Stefan Müller fragt in seinem Beitrag „Verständnisse und Missverständnisse des Kritik-Begriffs“: Gibt es Unterscheidungsmöglichkeiten, um „kritische Ansätze“ in der politischen Bildung von anderen abzugrenzen? Der Beitrag rückt zwei miteinander verbundene Fragen in den Mittelpunkt. Zum einen werden normative Annahmen politischer Bildung diskutiert, die die Differenz zwischen gesinnungsethischen und mündigkeitsorientierten Bezügen sichtbar machen. Zum anderen wird an die dialektische Konzeption der Kritischen Theorie erinnert, die auf dichotome Annahmen zu reflektieren erlaubt und sie in eine Vermittlung überführt.
Michael Görtler und Charlotte Palatzky gehen in ihrem Beitrag „Politische Erwachsenenbildung in der Krise? Eine Reflexion“ von einer Demokratie- und Repräsentationskrise aus, die sie mit Rekurs auf Hartmut Rosa auch als Beschleunigungs- und Resonanzkrise interpretieren. Diese Krisentendenzen hätten sich in der Pandemie verschärft, Desynchronisation und Entfremdung traten als Folgen in Erscheinung. Auf Basis dieser Analyse identifizieren die Autor*innen vier Krisensymptome der politischen Erwachsenenbildung.
Erik Weckel thematisiert in seiner Reflexion „Über Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten“ die Verknappung von Zeit und Raum. Der vorgeblichen Alternativlosigkeit und Technisierung von sozialen Problemen und Konflikten etwas entgegenzusetzen, sei eine zentrale Übung politischer Bildung. Weckel stellt unübersehbar die soziale Frage in Zeiten von Corona – bezogen auf Pandemie-Maßnahmen, die im Grunde wie Ungleichheits-Brandbeschleuniger wirken. Sein assoziativer Essay kann als Plädoyer für Dialog und Kooperation gelesen werden.
Britta Breser gibt in ihrem Beitrag „Öffentliche Konsultationen: Ihre Meinung zählt!? Partizipative Demokratie-Instrumente in der politischen Erwachsenenbildung“ einen Überblick über „Öffentliche Konsultationen“. Sie sind ein Beispiel für Beteiligungsinstrumente auf parlamentarischer Ebene in Österreich und der EU. Die Ausgangsthese der Autorin lautet: „Öffentliche Konsultationen“ haben das Potential, Vertrauen in politische Prozesse aufzubauen – genau hier liegt auch der Einsatzpunkt für politische Bildner*innen. Neben Chancen thematisiert Breser jedoch auch Risiken und Fallstricke des Demokratie-Instruments sowie daraus folgende Aufgaben für die politische Erwachsenenbildung.
Christin Reisenhofer stellt im Beitrag „Der Demokratie-MOOC. Potentiale und Problemstellen der digitalen Politischen Erwachsenenbildung in der (COVID-19) Krisenzeit“ einen Online-Kurs der Politischen Bildung vor. Zuerst diskutiert die Autorin die Frage, wie politische Bildung im Zuge der Umstellung auf digitale Kurse, Lockdowns und Social Distancing weiterbestehen kann. Anschließend geht der Beitrag auf die Rolle des Demokratie-MOOCs angesichts dieser Herausforderungen in Pandemiezeiten ein.
Am Ende der Meb-Ausgabe steht eine Rezension: Georg Ondrak bespricht „Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität“ (2021) von Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela. Mit dem Buch versuchen die Autor*innen eine neue Perspektive auf die Covid-19-Pandemie und ihre sozialen Folgen zu entwickeln.
Ausgabe 47 des Magazin erwachsenenbildung.at widmet sich dem Zusammenhang von Sprache und Erwachsenenbildung. Die Veröffentlichung ist für Oktober 2022 geplant.
Die Ausgabe 48 setzt sich mit Netzwerken und dem Netzwerken in der Erwachsenenbildung auseinander und soll im Februar 2022 erscheinen. Beiträge dazu können bis 5. September 2022 eingereicht werden.
Ein weiteres Thema, dem sich das Magazin mit der Ausgabe 49 widmet, ist Nachhaltigkeit bzw. Klima und Erwachsenenbildung. Der Call for Papers zu dieser Ausgabe wird im Sommer 2022 veröffentlicht werden.
Alle aktuellen Calls sowie weitere Informationen zum Einreichen von Artikeln finden Sie unter: https://erwachsenenbildung.at/magazin/calls.php.
Sonja Luksik, M.A.
[email protected]://www.politischebildung.at +43 (0)1 5046858-16
Sonja Luksik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Trainerin bei der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (ÖGPB). Als Mitarbeiterin im ÖGPB-Geschäftsbereich „Bildungsangebote und Projektberatung“ leitet sie Workshops und Trainings für Multiplikator*innen und Erwachsenenbildner*innen. Sonja Luksik studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und der Centré Européen Universitaire (CEU) in Nancy, Frankreich.
Dr. Stefan Vater
[email protected]://www.vhs.or.at +43 (0)1 216422-619
Stefan Vater studierte Soziologie in Linz und Berlin und Philosophie in Salzburg und Wien. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Pädagogischen Arbeits- und Forschungsstelle des Verbands Österreichischer Volkshochschulen, Projektleiter der Knowledgebase Erwachsenenbildung sowie Lehrbeauftragter für Bildungssoziologie und Genderstudies an verschiedenen Universitäten.
Abstract
Since 2020, the coronavirus crisis and its handling have dominated social life, human experiences and above all the discourse—in adult education as well. The measures taken in Austria to curb the pandemic quickly made visible existing power relations and social imbalances. The editors of the current issue of The Austrian Open Access Journal on Adult Education (Meb) criticize how instead of eliminating or at least curbing these problematic conditions, the measures reinforced them even more. Above all there was no room to maneuver for criticism and discussion in a dialectic sense. The articles in this issue indicate the extent and dimensions of the crisis and make suggestions about where adult political education can start to promote critical thinking, maturity and dialogue. Frequently they also uncover very personal convictions of researchers and practitioners of adult education and political education. Topics include democracy as a form of political life, social power relations, the Querdenker (pandemic skeptic) movement and practical opportunities for adult political education. (Ed.)
Daniela Ingruber
Zitation
Ingruber, Daniela (2022): Demokratie als Dystopie. Wie politische Bildung dem entgegenwirken kann. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 46, 2022. Online: https://erwachsenenbildung.at/magazin/ausgabe-46/.
Schlagworte: Demokratiekrise, Partizipation, politische Bildung, Resilienz, Nancy, Agamben, Corona, Dystopie, Öffentlichkeit, Ausnahmezustand, Einsamkeit, Homeoffice, Resilienz
Abstract
Aktuell gibt es einige demokratiepolitische Herausforderungen und Widersprüche, die ein dystopisches Bild zeichnen: Von der Demokratie wird viel gefordert, man will aber wenig dafür geben. Sie hat so zu sein, wie sie gefällt – voller Freiheiten und Rechte, aber ohne Pflichten. Funktioniert das nicht, wird sie kurzerhand als Diktatur beschimpft. Die Gesellschaft driftet auseinander. Immer mehr Menschen leiden an den sozialen, ökonomischen und psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie. Selbst wenn die Pandemie vorübergeht, bleibt das Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen sowie gegenüber manchen Mitbürger*innen bestehen – man hat sich an das Abgrenzen von ihnen gewöhnt. Politische Bildung könnte einige der durcheinandergeratenen Begrifflichkeiten zurechtrücken. Sie könnte Rechte und Pflichten der Demokratie aufzeigen und verstehen helfen, dass Demokratie letztlich zerbrechlich ist. Dazu muss sie aber weit über die Schule hinaus gedacht werden, in den Alltag der Bevölkerung hinein. Sie muss Vertrauen in die Demokratie und in ihr Funktionieren vermitteln, Gefühle und Sorgen ernst nehmen und dabei helfen, diese einzuordnen. Dazu muss sie auch unbequeme Themen anfassen und darf keine Angst davor haben, sich mit dem Alltag zu beschäftigen. Denn auch wenn sich die Demokratie in der Krise manchmal gegen eigene Prinzipien kehrt zugunsten von Sicherheit und Schutz, bietet doch unter allen Systemen nur sie die Gelegenheit, täglich zu lernen und sich eigenständig zu entwickeln, sodass sie auch noch in die Zukunft passt. (Red.)
Daniela Ingruber
Es scheint eine Ewigkeit zurückzuliegen, da war die Diskussion, ob sich die Demokratie als politisches System abgenützt habe, vor allem eine akademische. Handlungsbedarf sahen insbesondere Wissenschafter*innen sowie politische Parteien – Letztere vorwiegend als Kritik an jener Form der Demokratie, die die politischen Gegner*innen gerade vertraten. Durch solch konstante Diskussionen, die in den Medien gespiegelt wurden, bewegte sich die Kritik an der Demokratie immer mehr in eine allgemeine öffentliche Debatte.
Eine Krise wurde herbeigeredet ebenso wie herbeiagiert, indem Politiker*innen sowie ihre Berater*innen weniger auf die Bevölkerung hörten als auf wirtschaftliche oder parteipolitische Befindlichkeiten. Post-Demokratie nannte das Colin Crouch (2008) in seinem Buch, mit dem er den Zeitgeist ebenso traf wie selbst begründete.
Mit der medial beförderten Diskussion wuchs der Zweifel an der Demokratie, breitete sich aus – in den Vorstellungen setzte sich fest, dass es etwas Neues brauche, ohne festzulegen, was das sein könne oder solle. Dieser Zweifel schwächte den Glauben an die liberale Demokratie und öffnete das Tor für andere Formen ihrer selbst. Viktor Orbán etwa erkannte darin für sich die Chance, eine sogenannte illiberale Demokratie zu gestalten, ganz nach seinen Vorstellungen. Glücklich ist, wer es sich aussuchen kann, in welchem System das (Zusammen-)Leben demokratiepolitisch wertschätzender abläuft (vgl. de Weck 2021, S. 203), und nicht auf die diesbezügliche Propaganda hören muss.
Dann kam das Jahr 2020. Mit der Covid-19-Pandemie wurde die Debatte um den Nutzen, aber auch die Gefahr für die Demokratie eine alltägliche. Polemisch formuliert: In der Bevölkerung Österreichs gab es bald ebenso viele Demokratiekenner*innen wie Coronaexpert*innen, etwa 8 Millionen an der Zahl. Hätte man das rege Interesse an politischer Diskussion vor einigen Jahren noch positiv beurteilt und als notwendige Politisierung der Bevölkerung betrachtet, ist inzwischen nicht nur eine gewisse Demokratiemüdigkeit spürbar (siehe Perlot et al. 2021), sondern auch eine Erschöpfung ob der unentwegten und inzwischen auch nahezu unversöhnlich scheinenden Diskussion darüber (siehe Ingruber 2022). Vor allem wenn man danach fragt, was die Demokratie braucht, um für die Bevölkerung funktionieren zu können, findet man oft Ratlosigkeit. Demokratie, so der Tenor, ist für mich/uns da – nicht umgekehrt. Die demokratische Jukebox spielt, wie ihr befohlen. Genau darin liegen einige der aktuellen demokratiepolitischen Probleme. Politische Bildung könnte einige der durcheinandergeratenen Begrifflichkeiten zurechtrücken, dazu muss sie weit über die Schule hinaus gedacht werden, in den Alltag der Bevölkerung hinein.
Demokratie nämlich ist das System, in dem alle nicht nur Recht haben wollen, sondern das Recht innehaben, Recht zu haben und sich ihr Recht zu nehmen. Die österreichische Verfassung zu kennen, scheint dafür nicht wesentlich zu sein. So kann Österreich als Wohlfühldemokratie bezeichnet werden, in der viel gefordert wird, man dafür aber nur wenig geben muss (siehe Ingruber 2021b). Sollte zu viel von einem gefordert werden, wünscht man sich eine andere Form der Demokratie, macht das über TikTok oder Instagram bekannt und hat obendrein noch das Gefühl, dadurch partizipiert zu haben. Sowohl Alexander Bogner (2021, S. 14) als auch Natascha Strobl (2021, S. 125) weisen diesbezüglich auf den Spruch von Pipi Langstrumpf hin, die sich ihre Welt so macht, wie sie ihr gefällt – auch und vor allem in den Sozialen Medien, notfalls mit Fake News.
Diesem Prinzip wird seit Beginn der Covid-19-Pandemie und den Maßnahmen zur Bewältigung derselben zunehmend auch die Demokratie unterworfen, indem sie so zu sein hat, wie sie gefällt; mit anderen Worten: voller Freiheiten und Rechte und ohne Pflichten. Funktioniert das nicht oder stößt dieser Wunsch an Grenzen, wird die Demokratie kurzerhand als Diktatur beschimpft, wobei man bereit ist, autoritär organisierten Gruppierungen zu folgen, weil man sich in der Demokratie ja so schlecht behandelt fühlt (siehe Nocun/Lamberty 2020). Spätestens hier sollte der Hinweis folgen, dass es guttäte, Begriffe zu recherchieren, ehe sie groß hinausgeschrien werden, wie Heidi Kastner (2022) in ihrem berühmten Buch „Dummheit“ unumwunden empfiehlt.
Hinter diesem Paradox steckt nicht zuletzt, dass Demokratie als ein Sehnsuchtsbegriff fungiert. Sie scheint dann am wichtigsten und wünschenswertesten, wenn sie in Gefahr ist oder gar nicht existiert. Dann zeigt sie ihre schönsten Seiten und wirkt voller Versprechen an die Zukunft. Alles würde gut werden, besser sogar, friedlicher, partizipativer…
Die Demokratie hat im Zuge der Sehnsuchtssuche einige Wandlungen durchgemacht, vom Hoffnungsträger zur Selbstverständlichkeit, und dadurch zu etwas, das seine Bedeutung jenseits der Verfassung verloren hat und zurechtgebogen werden kann, wie man es braucht. Die einen sehnen sich nach mehr direkter Demokratie, andere nach Führung, wieder andere wollen ein ganz neues System, der Demokratie ähnlich, doch unverbraucht. In den Demonstrationen gegen die Covid-19-Maßnahmen wurde jede dieser Vorstellungen irgendwann gefordert, auch jene, Demokratie ganz abzuschaffen.
Das mag auch daran liegen, dass Demokratie schlussendlich einen Gewohnheitsbegriff darstellt. Es gibt sie einfach, man ist mit ihr aufgewachsen und weil sie so selbstverständlich ist, muss man nicht darüber nachdenken, was sie bedeutet, sondern kann sich zurücklehnen, sie genießen, sie aber auch nicht (be)achten oder gar ignorieren.
In keine Staatsform werden so viele Erwartungen gesetzt wie in die Demokratie. Was sie vielfältig macht, macht sie auch verletzlich, denn sie kann nie allen Erwartungen, allen Wünschen gerecht werden. Es wird immer auch enttäuschte Bürger*innen geben. Und: Trotz aller Biegsamkeit kann sie doch brechen. Dies zu begreifen, könnte bald existentiell werden, und nicht zuletzt hier wird politische Bildung benötigt, denn so schwer es auch sein mag, sich ein anderes Regime in Europa vorzustellen, Demokratie ist – so lehrt der erneute Angriff Russlands auf die Ukraine seit Februar 2022 – weit zerbrechlicher, als man in Erinnerung hatte, und sie kommt für viele noch immer einem Feindbild gleich.
Zerbrechen kann sie ebenso an interner Kritik. Martin Hecht schrieb kurz vor Ausbruch der Pandemie, dass die Unzufriedenheit von Bürger*innen mit der Demokratie vor allem an einer Desillusionierung der unbegrenzten Möglichkeiten liege (Hecht 2021, S. 153). Er bezieht das auf die euphorischen Versprechen des World Wide Web, die nicht gehalten haben. In der Einsamkeit des Homeoffice und der Überforderung durch Neuaufstellung des Alltags wurde dies besonders deutlich. Man war in der Sorge um Covid-19 plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen. Weder Wirtschaft noch Staat schienen die Antworten auf die Fragen des neuen Alltags zu haben.
Auf den Punkt brachte es die Wiener Band „Ja, Panik“, die den Zustand in ihrem 2020 veröffentlichten Album als „Apocalypse or Revolution“ besang. Der Song wurde zwar vor Ausbruch der Pandemie geschrieben, fing die Befindlichkeit der Bevölkerung aber wie eine Vorsehung ein. Ein musikalischer Sci-Fi-Eindruck, der die Bilder von verlassenen Plätzen und den offenen Fragen im Rückzug ins Private vorwegnahm.
So sehr die Leere des vernachlässigten öffentlichen Raums ab März 2020 an dystopische Filme erinnerte (siehe Ingruber 2021a), liegt die eigentliche Dystopie im Auseinanderdriften der Gesellschaft. Die Gegenwart zeigt sich hoffnungslos wie in Science-Fiction-Filmen, in denen die Zukunft meist undemokratisch, einsam, gewalttätig und perspektivenlos porträtiert wird. Für einen Film sind die dadurch entstehenden Bilder mindestens ebenso interessant wie die Herausforderungen für die Held*innen. In der Realität wirkt diese Ästhetik weit weniger glanzvoll und führt selten zum Hollywood-Happy End. Dieser gefühlte Zustand wird erst jetzt, zu Ende der Pandemie, deutlich sichtbar: Immer mehr Menschen leiden an den sozialen, ökonomischen wie psychischen Folgen. Und: Selbst wenn diese Pandemie vorübergeht und nicht von einer anderen abgelöst wird, bleibt das Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen sowie gegenüber manchen Mitbürger*innen, weil man sich an das Abgrenzen von ihnen gewöhnt hat (siehe Ingruber 2021b).
Dystopie ist nichts anderes als der Ort, an den man den Glauben verloren hat, der Ort, an dem man nicht sein will. Sie ist die Kehrseite der Utopie, der Ort ohne Hoffnung, ohne Vertrauen. Mit der Verunsicherung in der Zeit der Pandemie verliert sich auch der Glaube an die Zukunft. Das Gefühl von ununterbrochenem Verlust steht im Raum: der Verlust von mehr als zwei Jahren freien Lebens, der Verlust des Jobs und der Kontrolle. Dieses Gefühl hinterlässt langfristig Narben (vgl. Amlinger/Nachtwey 2021, S. 15; Nocun/Lamberty 2020, S. 265). Da auch Freundschaften zu den Verlusten der Pandemie gehören und manchen die Geduld verlorenging (vgl. Maurer 2017, S. 57), haben viele verlernt, sich miteinander und untereinander auseinanderzusetzen. Das digitale Zeitalter bietet den perfekten Ausweg: Es ist einfach, sich jederzeit digital mit Menschen zu umgeben, sobald es allerdings unbequem zu werden droht, klickt man diese weg. So umgeht man jeden Konflikt, jede Diskussion, jeden Widerspruch – und gewöhnt sich daran. Das Bild der betreffenden Person ist mit einem Klick ebenso schnell weg wie die Erinnerung an den Moment. Fern-Nähe nennt das Alexander Kluge recht treffend (vgl. Schirach/Kluge 2020, S. 39).
Giorgio Agamben (2021, S. 27) bezeichnete es als den Ausnahmezustand, der zum Normalzustand geworden ist. Die Omnipräsenz der sogenannten Coronakrise war mehr als zwei Jahre lang übermächtig. Der Krisenbegriff ist inzwischen so vertraut, dass man ihn nicht mehr in Frage stellt. Jean-Luc Nancy antwortet auf Agamben so: „Das Virus bringt die Widersprüche in unserem modernen Leben zum Vorschein“ (Nancy 2022, 12; Übers. D.I.). Um mit diesen zurechtzukommen, fordert Nancy die Beschäftigung mit wesentlichen Begriffen, darunter jenem der Freiheit, weil er je nach (politischen) Interessen umgedeutet und sinnentleert, neu definiert wird (vgl. ebd., S. 38), ausgerichtet auf das Ich statt auf ein Wir. Nancy formuliert als Gegenentwurf dazu: „Diese Freiheit muss mit den Freiheiten anderer koexistieren, und muss sich mit den gemeinsamen Interessen und Ideen von Solidarität arrangieren“ (ebd., S. 47; Übers. D.I.).
Freiheit stellt vor allem einen Mythos dar, der ebenso häufig missverstanden wird wie Demokratie. Denn auch für die Freiheit braucht es die Gemeinschaft. Der Mensch, der sich allein auf einer Insel befindet, ist nicht frei, sondern einsam. Frei ist ein Mensch immer nur in Zusammenhang mit anderen. Freiheit kann man nur teilen, um sie zu erhalten.
Es wird in Zukunft mehr denn je die Aufgabe der politischen Bildung sein, die Bedeutung von Begriffen verständlich zu machen und sie so in den Alltag zu integrieren. Damit wird politische Bildung deutlich greifbarer. Wer das umsetzen soll, liegt auf der Hand. Politische Bildung geht immer mehr aus den Institutionen raus und braucht die Involvierung aller. Medien leisten ihren Beitrag, doch wird Aufklärung immer mehr zur Aufgabe der Zivilgesellschaft werden. Hannah Arendt erklärte warum. Sie argumentierte, dass jeder Mensch, „indem er handelt, in ein Gewebe von sozialen Prozessen eingebunden“ (Arendt 2018, S. 63) ist und letztlich „manchmal in ihm gefangen“ (ebd.). Das entspricht genau dem Gegenteil dessen, was in der dystopischen Abgeschiedenheit der letzten Jahre erlebt wurde. Freiheit war das Konzentrieren auf das Individuum nicht, konnte es auch gar nicht sein, wie Nancy argumentiert, weil Freiheit nie zuvor so verstanden worden war, dass es nur um einen selbst ginge (vgl. Nancy 2022, S. 38). Arendt zieht diesbezüglich die Karte der gesellschaftlichen Verantwortung (vgl. Arendt 2018, S. 32). Partizipation und politische Bildung kommen einander hier sehr nahe.
Die Demokratie sollte, so wird gefordert, in der Krise die Quadratur des Kreises schaffen. In ihrem Namen und im Namen der ihr zugeschriebenen (Menschen-)Rechte, der Verfassung und der bürgerlichen Freiheiten. Bei Nichtgefallen wird gedroht, sich ihrer zu entledigen, so wie die Wegwerfgesellschaft alles ganz einfach loswerden kann. Der Markt, irgendein Markt, wird schon etwas Passendes zur Nachfolge senden. Auch das ist Teil der aktuellen Dystopie, dass man eher bereit ist, auf die Vorteile der Demokratie zu verzichten, als den aktuellen Zustand zu ertragen. Dann ist jede Nachricht glaubwürdig, solange sie die eigene Emotion spiegelt (siehe Nocun/Lamberty 2020).
Man hat genug von Politiker*innen, will eine Expert*innenregierung, aber letztlich keine Expert*innen, die das Gegenteil von dem sagen, was man selbst ersehnt. Die eigene Meinung wird dementsprechend höher gehalten als die Meinung anderer und durch die eigenen Gefühle verstärkt. Wie in zahllosen Artikeln erklärt, beweist der Umstand, dass man demonstrieren und den Staat, seine Politiker*innen sowie die anderen Bürger*innen nahezu straflos beschimpfen kann, dass man eben nicht in einer Diktatur lebt (siehe u.a. Kastner 2022). Dieses Wissen jedoch wird ebenso ignoriert wie vieles andere rund um das demokratische Miteinander. Bogner (2021, S. 31) spricht in einem solchen Zusammenhang auch von einem „Streit zwischen Weltbildern“. Man kann einen Schritt weiter gehen und anerkennen, dass es in den letzten zwei Jahren zu einer Demokratisierung verschiedener Weltbilder gekommen ist, die nicht mehr dasselbe wollen, einander teilweise ausschließen, sich sogar intern selbst ausschließen oder widersprechen. Die Dystopie, das Nicht-dasein-Wollen, ist somit wenig anderes als die Wortlosigkeit, als der selbstverständliche Austausch von Wissen gegen Glauben und Emotion. Die „heilsame Kraft des Wissens“ (ebd., S. 16) prallt zunehmend an Gleichgültigkeit und selbstgewählter Ignoranz ab. Warum auch etwas glauben wollen, das unbequem ist?