Corporate Anarchy - Nils Honne - E-Book

Corporate Anarchy E-Book

Nils Honne

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vom Durchschnittsbürger zum TerroristenMarvin ist am Ende. Rücksichtslose Manager, korrupte Politiker, ein sterbender Planet- mehr und mehr erkennt er, dass unsere Gesellschaft auf den Abgrund zusteuert.Mit zahlreichen Aktionen versucht er, gegen die Gier anzukämpfen. Er demonstriert, verfasst Beschwerdemails und überklebt nachts die Werbelügen, die er tags als Werbetexter verfasst. Als er einen Großauftrag seiner Agentur für einen Ölkonzern sabotiert, verliert er seinen Job.Trotz allem Aktionismus muss er feststellen, dass er machtlos ist. Als er eines Tages beieiner Demo einen mysteriösen Mann namens Lennard kennenlernt, ändert sich sein Leben schlagartig. Lennard zeigt ihm einen Weg, das System zu verändern: den Weg der Gewalt.Gemeinsam mit Gleichgesinnten tauchen sie in den Untergrund ab und ziehen alsselbsternannte Richter skrupellose Manager für ihre Taten zur Rechenschaft. Bis Marvinerkennt, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Corporate Anarchy

1

Als ich das Loch in meiner Brust bemerkte, musste ich lachen. Es war ein kümmerliches Lachen, ein kraftloser Seufzer, der sich aus der Ironie der Situation ergab. Mein Hochmut, mein Zorn, meine Schuld, alles komprimierte sich in diesem keuchenden Gelächter. Es war alles da, man musste nur genau hinhören. Die zerplatzten Träume, die enttäuschten Hoffnungen, die falschen Entscheidungen, der Irrglaube an eine gerechte Welt. Alles, woran ich glaubte, reduzierte sich in diesem Moment zu einem Bedauern. Das letzte Jahr hatte ich damit verschwendet, einer Illusion hinterherzujagen. Das wurde mir nun bewusst. Alles was war, alles was blieb, war mein kaputtes Lachen, das in der Nacht verhallte.

Für einen Moment ignorierte ich den glühenden Schmerz, der sich spiralförmig in meiner Brust ausbreitete, und betrachtete die Wunde unterhalb meines Schlüsselbeins. Eine feine Rauchsäule stieg aus ihr auf. Anmutig schwebte sie über meiner Brust und emittierte einen beißenden Geruch nach verbranntem Fleisch und Schwefel. Trotz Regen und Wind stand sie für einige Sekunden aufrecht als Zeuge des größten Fehlers, den ich je begangen hatte. Ein Irrtum mit einem Namen: Lennard.

Mit ausgestrecktem Arm stand er immer noch hinter mir, die Pistole in seiner Hand wie ein Fingerzeig Gottes. Die blinkenden Schilder der Schaustellerbuden spannten sich über ihm und leuchteten einem Heiligenschein gleich über seinem Kopf.

„Bleib stehen“, hatte er gesagt, und ich Idiot gehorchte, so wie ich es immer tat. Dann drückte er ab. Erschossen von meinem besten Freund. Ich hatte geahnt, dass Lennard mein Ende sein würde. Ich hatte nur nicht gedacht, dass seine Hand meinen Tod bedeuten würde. Die Jahrmarktslichter zogen in dichten Schlieren an mir vorbei. Belangloses Orgelgedudel, beißende Sprengstoffrückstände und die schwere Süße von Zuckerwatte erfüllten die Luft. Zehn Gramm Sprengstoff reichten aus, um einen Baum in einen Haufen loser Moleküle zu verwandeln. Lennard hatte die Luft mit der doppelten Menge angereichert.

Mir wurde schlecht. Schmerz erfüllte meine Gliedmaßen. Die Rauchsäule vor meiner Brust löste sich auf und gab ein Loch in der Größe einer Münze frei. Blut quoll hervor und mit jedem lachenden Seufzer verstärkte ich den pulsierenden Strom. Neugierig und fassungslos zugleich studierte ich die Wunde, und je länger ich sie betrachtete, desto mehr zerrte die Schwerkraft an meinen zitternden Beinen. Ich kollabierte, still und leise, und erst der Asphalt vor dem glitzernden Karussell hielt mich auf. Mein Gesicht landete in einer Pfütze. So wollte ich nicht sterben. Mit letzter Kraft drehte ich mich auf den Rücken. Die grellen Lichter flackerten unruhig über mir. Ich spürte, wie das Blut aus mir herausfloss und sich unter mir sammelte. Zwischen all den Kinderkarussellen, Achterbahnen, Jahrmarktsbuden und Geisterhäusern reduzierte sich meine Existenz auf das verzweifelte Warten auf den nächsten Herzschlag. Schlag. Schlag einfach weiter.

Lennard, dieser verdammte Wichser.

Langsam kam er zu mir und kniete sich neben mich. Seine schwarze Windjacke und Skimaske waren scharlachrot gesprenkelt. Hypnotisch starrten mich Lennards kalte blaue Augen an. Zwei Abgründe in mitten einer schwarzen Stoffwand. Dann zog er die Skimaske bis zu seinem Mund hoch und beugte sich zu meinem Ohr, als wollte er mir Mut zusprechen. Brennende Schnipsel prasselten auf ihn nieder. Mit einem Knopfdruck hatte er eine Million Euro in Konfetti verwandelt. Es ging nicht ums Geld. Darum ging es nie. Es ging um etwas anderes, etwas viel Schlimmeres: ums Prinzip.

„Leb wohl, alter Freund“, flüsterte er, obwohl außer uns niemand mehr auf dem Platz war. „Bald hast du es hinter dir.“ Dann strich er über mein Haar und verschwand in der Nacht.

Wenn ich etwas im letzten Jahr gelernt hatte, dann dass es die kleine Dinge waren, die über Leben und Tod entschieden. Ein Zentimeter weiter links oder rechts ergab in der Gleichung des Lebens einen völlig anderen Ausgang. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte die Kugel meinen Deltamuskel und meinen rechten Brustmuskel durchschlagen, was erklärte, warum ich meinen Arm nicht mehr heben konnte. Irgendwo zwischen erstem und drittem Rippenpaar war das Projektil ausgetreten, ungefähr dort, wo die rechte Unterschlüsselbeinarterie oberhalb des Lungenflügels vom Gefäßstamm abzweigt und sich die Lymphknoten zu einer fleischigen Perlenkette auffädeln. Wenn das Geschoss etwas davon getroffen hatte, war mein Ende nah. Dann dauerte es höchstens noch einige Minuten. War es die Lunge, brauchte es etwas länger, bis ich an meinem eigenen Blut erstickte. Vielleicht war die Kugel auch an einem Knochen zersplittert und die Bruchstücke hatten sich durch meinen Torso gebohrt. Hatten Magen, Nieren oder Leber perforiert. In dem Fall stand mir ein langer, schmerzhafter Todeskampf bevor, bei dem sich Magen- und Harnsäuren zu einem Cocktail verbanden und meine Eingeweide zersetzten. Ich bedachte die Fakten, verband die Informationen und versuchte, sinnvolle Szenarien daraus zu bilden. Jeder Faktor drängte mit voller Wucht in mein Bewusstsein und floss in meine Berechnungen ein. Alles war wichtig und konnte über Leben und Tod entscheiden. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren. Ich musste funktionieren. So, wie Lennard es mir beigebracht hatte. Für ihn war das Leben immer nur eine Rechenaufgabe, die es zu lösen galt. Etwas, dem man am besten ohne Emotionen und mit gesteigerter Rationalität begegnete.

„Das Universum strebt stets dem größtmöglichen Chaos entgegen“, hatte er mir einmal erklärt. Akzeptierte man diese Tatsache, wurde das Leben zu einer kalkulierbaren Gleichung. Es wurde zu einer Frage von Formeln und Variablen, die es zu bedenken galt. Zu Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, die man nutzen musste, um die Realität in die gewünschten Bahnen zu lenken. Alles war miteinander verbunden. Ein Umstand bedingte den anderen. Wenn man sich dieser Gewissheit hingab, reduzierte sich die Welt auf ein Labyrinth aus Dominosteinen.

Seit unserer ersten Begegnung infiltrierten Lennards Ideen und Ansichten meine Wahrnehmung, besetzten Gebiete, kappten Verbindungen und schufen neue. Bis ich das Gefühl hatte, alles und zugleich nichts mehr zu wissen. Es dauerte ewig, bis ich begriff, dass ich nur einen weiteren Dominostein in seiner Gleichung darstellte. Doch als es so weit war, war es bereits zu spät.

Meine Atmung verlangsamte sich. Obwohl der Regen unaufhörlich das Blut fortspülte, füllte sich die Wunde immer wieder von Neuem mit Flüssen aus Hämoglobin. War es ein Zentimeter zu viel oder zu wenig? Ich sah zu den leblosen Körpern von David Larson und seinem Leibwächter. In Larsons Gesicht war die Überraschung über seinen eigenen Tod eingebrannt. Fast hätte er es geschafft, fast hätte er das Leben seiner Tochter gerettet. Zumindest dachte er das. Er konnte nicht wissen, dass ihr Tod kein Unfall war, sondern das eigentliche Ziel der Operation. Selbst ich hatte es nicht gewusst. Nur Lennard hatte den wahren Plan gekannt. Wie immer.

Ich hatte immer gehofft, dass ich den Tod akzeptieren könnte, wenn er an meine Türe klopfte. Ich wollte ihm ruhig und gelassen begegnen. Ihn als das ansehen, was er war. Die ultimative Konsequenz meines Lebens. Auf keinen Fall wollte ich so enden wie die anderen. Um jede Sekunde, jeden Atemzug betteln und mich in sinnlose Gebete und Bekundungen der Besserung flüchten. Ich wollte mich dem Unausweichlichen stellen und in Würde sterben. Nur fiel das schwer, wenn einem aus allen Öffnungen Körperflüssigkeiten schossen. Der Tod hatte nichts Würdevolles zu bieten, nur grausame Ernüchterung und endloses Bedauern. Das war’s. Das war alles, was du aus deinem kümmerlichen Leben gemacht hast. Game over.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Hatte ich bereits zu viel Blut verloren? Oder lag es am Regen? Larson. Meißner. Rumpin. Joster. Immer neue Namen schossen mir durch den Kopf. So viele Täter, so viele Opfer. Der Weg in die Hölle war gepflastert mit guten Vorsätzen. Eine bleierne Müdigkeit erfasste mich und löschte alle Lichter. Fuck. Ich wollte nicht sterben. Achtundzwanzig war kein gutes Alter zum Sterben. Ich schloss meine Augen und begab mich in meinen privaten Kinosaal, wo alles in Zeitlupe vor meinem geistigen Auge ablief. Ich konnte das Ende kommen sehen. Mein gesamtes Leben zog als mehrdimensionale Filmspur an mir vorbei. In bunten Farben zerplatzten meine Erinnerungen und formten ein plastisches Gedächtnis, das alles enthielt, was mich ausmachte. Zum ersten Mal seit Langem war ich wieder Herr über mein eigenes Leben. Ich konnte alles berühren und formen, wie es mir beliebte. Alles fühlte sich richtig an, rein und unbelastet. Ich konnte Geschehenes vorbeiziehen lassen oder an ihm festhalten. Alles löste sich in Fragmente der Zeit auf, wurde geteilt und wieder neu zusammengesetzt, bis die Impressionen zu einem Kaleidoskop der Vergangenheit zerflossen. Ich wurde zum Regisseur meines eigenen Daseins. Jeder Punkt meiner Existenz ließ sich ansteuern. Ich musste nur die richtigen Tasten drücken. Einen Moment lang hielt ich inne. Dann betätigte ich die Rückspultaste.

2

Play.

Da war dieses Mädchen. Ich bemerkte es, als ich auf der Suche nach dem Thunfisch in den endlosen Supermarktgängen die Orientierung verlor und in der Spielwarenabteilung landete. Die Kleine war keine drei Jahre alt. In ihren Händen hielt sie eine Plastikpuppe, die sie kurz zuvor aus dem Regal genommen hatte, und nuckelte an ihren Fingern. Es war eine von diesen Puppen mit Sprachmodul, die jedes Mal, wenn man sie drückte, „Ich hab dich lieb“ sagte und Dolly Blue oder Candyrella hieß. Der Puppenarm glänzte unwirklich von dem Speichelfilm, der sich darauf gebildet hatte und auf den frisch gebohnerten Boden tropfte. Mit funkelnden Augen musterte das Mädchen das Puppenbaby, streichelte ihm über den Kopf und testete die Beweglichkeit seiner Arme. Als sie alles zufriedenstellte, presste sie das Baby fest an ihre Brust, als wolle sie ihre neue Gefährtin nie mehr loslassen. „Ich hab dich lieb“, sagte die Puppe wie zum Dank und das Mädchen strahlte. Dieses Baby war nun ihr Baby. Daran bestand kein Zweifel. Sie wirkte so glücklich. Umso mehr brach es mir das Herz, dass ich ihr Glück zerstören musste.

Bereits seit einigen Minuten quälte mich ein würgender Ekel bei dem Gedanken, wie sich die chemischen Weichmacher aus dem Plastik lösten, sich mit ihrem Speichel vermischten und ihre Kehle hinabflossen, um von dort aus ihren Körper zu vergiften. Obwohl ich zwei Meter entfernt stand, verätzte mir der penetrante Gestank nach Plastik die Nasennebenhöhlen. Es roch nach einer Billigproduktion aus Fernost, aus China oder Vietnam oder wo es sonst gerade wirtschaftlich effizient war, zu produzieren. Dieses „Baby“ konnte dazu führen, dass das Mädchen vielleicht niemals welche bekam. Ich wusste das. Aber wie sollte ich das dem Mädchen begreiflich machen? Wie erklärte man einer Dreijährigen, dass die in der Puppe enthaltenen Phthalate hormonelle Schadstoffe waren, die ihren Östrogenhaushalt ins Chaos stürzten und dafür sorgen konnten, dass sie mit neun in die Pubertät kam, dass die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe ihr Erbgut schädigten, karzinogen wirkten und die bromierten Flammschutzmittel ihr Nervensystem zersetzen konnten? Aber was am schlimmsten war, wie erklärte man ihr, warum sie in einer Welt lebte, in der sie so etwas wissen musste.

Ich sah mich um, in der Hoffnung, ihre Mutter zu finden. Doch da war niemand. Wir waren allein in dem Gang. Ich musste handeln. Langsam näherte ich mich.

„Das ist nicht gut für dich“, sagte ich, als ich neben ihr stehen blieb. Doch die Kleine nahm mich nicht wahr. Behutsam tippte ich ihr auf die Schulter. Mit großen Augen sah sie mich an. Trotz meines drahtigen, gerade mal ein Meter siebzig großen Körpers musste ich wie ein Riese wirken, der in ihre Welt eindrang.

„Tut mir leid.“

Vorsichtig zog ich an dem Puppenarm und versuchte, ihn dem Mädchen aus dem Mund zu ziehen, wie bei einem Hund, der sich in die Fernbedienung verbissen hat. Doch das Mädchen wollte sein Spielzeug nicht hergeben und verstärkte die Umklammerung. Ich rief „Aus“, aber da die Kleine kein Golden Retriever war, reagierte sie nicht. Ich konnte noch nie gut mit Kindern. Oder Menschen. Ich atmete durch, um genug Kraft für das Unausweichliche zu sammeln. Es gab keinen einfachen Weg, um sie von der Chemiebombe zu lösen. Den gab es nie. Ich schluckte mein schlechtes Gewissen hinunter, packte die Puppe an ihrem Kleid und riss sie ihr mit einem kraftvollen Ruck aus den Händen.

Das Mädchen erschrak. Verängstigt sah sie mich an und ihr Blick bohrte sich direkt in mein Herz. Schlagartig wurden ihre Augen glasig und Tränen kullerten ihre Wangen hinab. Ich fühlte mich wie ein Monster.

In dem Moment kam eine Frau um die Ecke. Ihr Smartphone in der einen Hand, einen halb gefüllten Einkaufskorb in der anderen, trippelte sie auf ihren glänzenden Pumps auf uns zu. Sie wirkte angespannt und diktierte ihrem Gesprächspartner gehetzt einige Änderungen für eine Präsentation. Zwischen den Worten „Synergieeffekt“ und „strukturelle Anpassung“ ließ sie ihren Blick genervt durch die Spielwarenabteilung schweifen. Das kleine Mädchen lief zu ihr und suchte Schutz unter dem knielangen Rock ihrer Mutter. Im ersten Moment drängte sie die Kleine aus Angst um die Knitterfreiheit ihres Rockes von sich. Doch als sie bemerkte, wie verängstigt das Kind war, und mich mit der Puppe entdeckte, zog sie das Mädchen an sich und warf mir einen Blick zu, der mich geradewegs zu einem Kinderschänder degradierte.

„Lassen Sie meine Tochter in Ruhe“, schrie die Frau, ohne ihr Handy vom Ohr zu nehmen.

„Sie verstehen das falsch“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Es ist nur wegen der Puppe ... Ich wollte sie beschützen.“

„Verschwinden Sie, sonst sind Sie es, der Schutz braucht.“

Ich wollte kontern, doch ich ließ davon ab und biss mir auf die Unterlippe. Es hatte keinen Sinn. Sie wollte es nicht verstehen. Keiner wollte es verstehen. Mit gesenktem Haupt suchte ich das Weite. Ich hätte das nicht tun sollen. Aber wegsehen konnte ich auch nicht. Das konnte ich noch nie. Auch wenn sich mein Leben dadurch jedes Mal aufs Neue in ein Drama verwandelte. Die Menschen wollten nicht belehrt werden. Sie wollten nichts von dem Wahnsinn der Konsumwelt hören, von Weichmachern und Pestizidrückständen. Sie wollten nicht wissen, dass der Schinken auf ihrer Fertigpizza aus Fleischabfällen, Wasser und chemischen Geschmacksverstärkern bestand und der Käse darauf bloß ein Imitat war. Sie wollten nichts von Spaltböden in Massentierhaltungen, Klonfleisch, genmanipuliertem Soja, Fungizidbelastungen oder krebserregenden Aromastoffen wissen. Sie sagten es vielleicht, aber wirklich wissen wollten sie es nicht. Sie wollten viel lieber ihr bequemes Leben weiterleben, in dem Fleisch immer billig war, probiotische Joghurts das Immunsystem verbesserten und die Weltmeere niemals leergefischt wurden. Ein Leben, das sie nicht permanent überforderte. Ein Leben, das ich schon lange nicht mehr führte.

Die Krankenhausbeleuchtung des Supermarktes spiegelte sich in dem Wegweiser über meinem Kopf, der an dünnen Seilen von der Decke hing. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich hoch und fuhr mir durch die Haare. Links ging es in die Getränkeabteilung, rechts zu den Konservendosen. Ich bog nach rechts und schob meinen Einkaufswagen den Gang entlang. Das verängstigte Gesicht des Mädchens spukte durch meinen Kopf. Ich hoffte, es würde nicht zu lange dort bleiben. Jemand hatte Orangensaft ausgeschüttet, weshalb meine Füße bei jedem Schritt ein klebriges Geräusch machten, als würde man über alten Kaugummi laufen. Ein belangloser Easy-Listening-Shopping-Musik-Mix erfüllte den Markt, der regelmäßig von unverständlichen Silben unterbrochen wurde.

„Reingunkraft Gang vierundzwanzg“, nuschelte eine Stimme aus den Lautsprechern.

In den endlosen Gängen tummelten sich hauptsächlich Menschen, die gerade von der Arbeit kamen und noch schnell ihren Einkauf erledigten, bevor es in den Feierabend ging. Einsame Seelen, die in einer Art automatisiertem Ablauf immer die gleichen Produkte in ihre Einkaufskörbe legten. Sie taten es stumm und ohne einen Gedanken daran zu verlieren. Mikrowellengerichte, Fertigsalatmischungen, Diätlimos. Die Menschen variierten, ihre Einkäufe blieben dieselben. Manchmal beneidete ich sie um ihre Unwissenheit und die Leichtigkeit, mit der sie ihren Einkauf meisterten. Wie sie es schafften, durchs Leben zu gehen, ohne an dem Wahnsinn um sie herum zu verzweifeln. Doch meistens bedrückte es mich, und in diesen Momenten machte ich sie für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich, das sie mit ihrer Unwissenheit erst ermöglichten. Weil sie sich nur für ihre kleine Existenz interessierten, für Schlussverkäufe, Modetrends und Abnehmkuren, und alles Unbequeme ausblendeten. Die braven Konsumenten, deren einziges Lebensziel das nächste Schnäppchen war.

Obwohl die Klimaanlage für beständige einundzwanzig Grad sorgte, spürte ich eine unangenehme Hitze, die sich unter meiner Sportjacke ausbreitete. Selbst als ich den Reißverschluss öffnete und frische Luft unter mein Shirt beförderte, verschaffte mir das keine Abkühlung. Die Hitze stieg immer weiter auf, beschleunigte meine Atmung und ließ meine Bronchien verkrampfen. Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. Mit zittriger Hand wischte ich mir die Haare aus dem Gesicht und fixierte sie hinter meinem rechten Ohr. Um mich herum wuchsen die Regale zu Steilwänden, Gänge streckten sich in die Unendlichkeit und Verpackungen reduzierten sich zu bunten Pixeln. Neben einem Turm aus Konservendosen blieb ich stehen und lehnte mich an ein Regal, um meine wackligen Beine zu stabilisieren. „Atmen, einfach atmen“, sagte ich mir in Gedanken. Doch es half nichts. Die Panikattacke war stärker.

Ich kannte das Gefühl, wenn ich in die Einsamkeit einer Panikattacke abtauchte und in aller Stille implodierte, während der Rest der Welt sich weiterdrehte. Ich kannte diesen Zustand nur zu gut. Ich hatte Stress, unsagbaren Stress, der in meiner Magengrube zu einem Geschwür anwuchs und meinen Körper mit Hormonen überschüttete. Schuld war diese Leere, die mich seit längerer Zeit begleitete. Eine Leere, die sich nicht füllen lassen wollte. Ich wusste nicht mehr, seit wann sie da war, ich wusste nur, dass sie nicht mehr verschwinden wollte. Es war ein Gefühl der Ohnmacht, als würde man einen Autounfall beobachten, der direkt vor einem ablief, aber keine Möglichkeit bot, etwas am Ausgang zu ändern. Man konnte nur danebenstehen und zusehen, wie das Unheil seinen Lauf nahm. Während des Tages nahm meine Panik immer neue Formen an, mal war es ein Pochen unter der Schädeldecke, mal ein stechender Schmerz in meiner Brust, aber immer löste sie eine tiefe Traurigkeit aus, die mich von einem Moment auf den anderen lähmte. Zu Beginn war ich einfach im Bett liegen geblieben und hatte gehofft, das Gefühl würde von alleine verschwinden. Ich zog die Decke über meinen Kopf, sodass meine Zehen frei lagen, und malte mir aus, die Leere würde die Gestalt eines Luftballons annehmen und einfach gen Himmel schweben. Zeitweise war der Zustand so stark, dass es mir schwerfiel, mich an die Zeit vor der Leere zu erinnern. An die Zeit, wo ich Dinge unbeschwert erledigen konnte. Als es mich keine Überwindung kostete, die Wohnung zu verlassen, und ich mich mit Menschen unterhalten konnte, ohne ihnen Vorwürfe zu machen.

Wissen ist Macht. Aber zu viel Wissen macht machtlos. Nichts hat mich mehr aus der Bahn geworfen als diese einfache Erkenntnis. Am Anfang meiner Misere stand der Wunsch nach einer besseren Welt. Ich wollte keiner dieser Konsumzombies mehr sein, die mit jedem Einkauf den Planeten zerstörten. Ich ertrug die Schuld nicht mehr, die ich mit jeder meiner Handlungen auf mich lud. Ich wollte, dass sich etwas ändert. Damals dachte ich noch, dass ich etwas bewirken konnte, dass der Wandel im Kleinen zu etwas Größerem führte. Ich begann daher, mein Konsumverhalten ethischen und moralischen Ansprüchen zu unterwerfen. Mir war es nicht mehr wichtig, was das billigste oder neueste Produkt war, sondern ob es aus biologischem Anbau stammte, ob dafür der Regenwald abgeholzt oder Kinder ausgebeutet wurden. Mein Ziel war es, nur noch das zu kaufen, was den geringsten Schaden anrichtete. Um sich allerdings richtig entscheiden zu können, musste man wissen, was das Richtige war. Ich verbrachte daher einen Großteil meiner Zeit damit, Testberichte zu lesen, Ratgeber für nachhaltigen Konsum zu studieren und in Onlineforen über die ökologischen Vor- und Nachteile von Palmöl und die Auswirkungen von Glutamat zu diskutieren. Ich sah mir nächtelang Dokumentationen an, über Wasserkonzerne, den Abbau von Diamanten, giftige Färbemittel oder das Platzen der Immobilienblase. Ich las Studien zu Kreditderivaten und demografischen Entwicklungen, kaufte mir Bücher über die Globalisierung und internationale Finanzverflechtungen, über die Entstehung der Weltbank und Lobbyistenverbände, abonnierte Umweltblogs und arbeitete mich durch NGO-Berichte. Ich war schon immer interessiert an den Dingen, doch in diesem Jahr bekam mein Wissensdrang eine spezielle, ideologische Richtung und ich spürte, dass sich etwas in meiner Denkweise zu ändern begann. Mein Bedürfnis nach Information entwickelte sich zu einer Sucht, die mich immer tiefer in die Abgründe unserer Zivilisation vordringen ließ. Ich saugte alles auf, mit dem Ergebnis, dass wirre Gedankenfetzen in Endlosschleife durch meine Synapsen rasten.

Auf jeden europäischen Parlamentarier kamen zwanzig Lobbyisten. Ein Viertel aller Säugetiere und ein Drittel aller Amphibien waren vom Aussterben bedroht. Das am stärksten belastete Lebensmittel war Muttermilch. Jedes Jahr starben zehn Menschen durch Haie und zweihundert Millionen Haie durch Menschen. Die Menschheit emittierte pro Jahr 30 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre. Richard Fuld, der ehemalige CEO von Lehman Brothers, verdiente in den letzten Jahren vor der Insolvenz knapp 500 Millionen Dollar. 88 Prozent der Fischgründe in den EU-Gewässern waren überfischt. Man benötigte 15.500 Liter Wasser für die Herstellung von einem Kilo Rindfleisch. Ein Drittel aller Schweine aus Massentierhaltung waren noch bei Bewusstsein, wenn sie ins Siedebad kamen. Wie ein Schwamm saugte ich die Informationen auf, verknüpfte und analysierte sie, bis ein Wissensbaum mit endlosen Verzweigungen entstand, der mit jeder weiteren Verästelung meine Sicht auf die Welt verdichtete. Immer mehr Fakten drängten sich in meinem Gehirn, wucherten und mutierten dort zu einem verworrenen Konstrukt. Mit jeder neuen Information kappte ich mögliche Optionen und beschränkte mich auf die wenigen verbliebenen, moralisch vertretbaren Wege, die sich aus meinem neuen Wissensstand ergaben. Zu Beginn war das kein Problem, denn der Informationsvorsprung gab mir ein Gefühl der Rechtschaffenheit, die Sicherheit, das Richtige zu tun. Doch mit fortschreitender Zeit und steigendem Bildungsgrad schränkte mein Wissen mich ein und ich lief immer dieselben ausgetretenen Wege des Labyrinths entlang, bis ich erkannte, dass mein Denken in die Einbahnstraße der Hoffnungslosigkeit mündete. Ich war verloren. Denn bei all meinem Wissensdrang hatte ich eine entscheidende Tatsache übersehen: Ein Mensch konnte nur ein bestimmtes Maß an Informationen dieser Art ertragen, ohne daran zugrunde zu gehen. Den Rest verdrängte er. Doch diese unsichtbare Schwelle hatte ich längst überschritten. Mein Wissensstand hatte die kritische Masse erreicht und begann nun, meine Gedanken zu verstrahlen. Ich hatte das fragile Gleichgewicht aus Wissen und Glück nachhaltig gestört. Irgendwann schwirrten nur noch die Probleme und Abscheulichkeiten der Welt durch meinen Kopf. Wenn es im Herbst über zwanzig Grad warm war und alle das Wetter genossen, machte ich mir Sorgen um die globale Erwärmung, um tauende Methanfelder in Sibirien, darüber, dass die Polkappen schmolzen und der Golfstrom versiegte. War ich zum Sushi eingeladen, brachte ich keinen Bissen herunter, weil ich an die Überfischung der Meere denken musste, an Treibnetzjagden und gestrandete Wale. Betrat ich eine Bank, überkam mich eine unbändige Wut auf das System der Gier und ein Gefühl der Machtlosigkeit erfasste mich. Es war vor allem diese Machtlosigkeit, die mir zu schaffen machte. Denn je mehr ich mir der Probleme unserer Zeit bewusst wurde, desto mehr erkannte ich, dass ich wenig dagegen unternehmen konnte. Wo sollte ich anfangen, wo sollte ich aufhören? Die schiere Übermacht überwältigte mich.

Ich atmete aus und richtete mich wieder auf. Die Panikattacke hatte sich gelegt. Trotzdem war ich noch kreidebleich, wie ich an den besorgten Gesichtern der vorbeiziehenden Menschen erkennen konnte. Mit dem Ärmel wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. „Ein Häufchen Elend in Gang zweiunddreißig“, hallte eine Stimme durch meinen Kopf. Ich klammerte mich an meinen Einkaufswagen und schleppte mich weiter. Nach einigen Metern fand ich den Gang mit dem gesuchten Thunfisch. In den unteren drei Reihen stapelten sich die Dosen der verschiedenen Anbieter. Ich schnappte mir das erstbeste Exemplar und musterte die Packung. Neben dem Tuna-Company-Logo zierte ein alter Kutter die Dose, der Kurs auf den Sonnenuntergang nahm. Es war ein romantisches Bild voller Sehnsucht und Abenteuerlust. Nur mit der Realität der schwimmenden Hi-Tech-Tötungsfabriken, die im Auftrag der Tuna Company die Weltmeere leerfischten, hatte es wenig zu tun. Mit einem Schulterblick sondierte ich die Lage. Nachdem mich letzte Woche beinahe ein Hausdetektiv geschnappt hatte, war ich vorsichtiger geworden. Ich hatte versucht, die Verpackungen von Eiern aus Bodenhaltung mit echten Bildern aus Mastbetrieben zu überkleben. Ich wollte es den Menschen schwer machen, sich für das Billigste zu entscheiden, und sie mit den Konsequenzen ihrer Ignoranz konfrontieren. Den wundgepickten Hühnern, die so schnell heranwuchsen, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen. Diesen wehrlosen Geschöpfen, die mit Hormonen, Turbofutter und Antibiotika vollgestopft wurden, um maximale Erträge zu erzielen. Ich wollte ihnen die gesamte Realität des ökonomischen Grauens um die Ohren fetzen. Für einen kleinen Moment sollten sie das Leid spüren. Das waren sie den Tieren schuldig. Ich sah mich um. Als ich sicher war, dass mich niemand beobachtete, zückte ich meine Aufkleber und platzierte einen davon auf der Dose direkt über dem Kutter.

„Jetzt mit noch mehr Delfin!“, stand auf dem knallroten Störer, der sich harmonisch in das Gesamtbild einfügte. Ich stellte die Dose zurück, nahm die nächste und wiederholte die Prozedur, bis keine Sticker mehr übrig waren. Gewiss, es war nicht viel, aber es war ein Anfang, versuchte ich mich zu überzeugen.

Als ich die Fleischtheke passierte, schrie ein greller Werbeaufsteller nach meiner Aufmerksamkeit. Schweinehack war im Angebot. Das Kilo kostete nun 3,49 Euro, informierte ein beängstigend farbenfroher Aufdruck. Einen Moment lang stellte ich mir vor, was die Produzenten alles tun mussten, um diesen Preis zu ermöglichen. Spaltböden, Turbofutter. Um einer weiteren Panikattacke vorzubeugen, brach ich den Gedankengang ab und begann zu summen. „Heiho, heiho ...“, wie es die sieben Zwerge in dem Disney-Film taten. „Heiho, heiho, wir sind vergnügt und froh ...“ Zur Sicherheit senkte ich den Blick, während ich weiter durch die Gänge irrte auf der Flucht vor mir selber. Apathisch schwebte ich durch das Konsum-Labyrinth. Vorbei an glänzenden Verpackungen, vorbei an Polyethylenen, Polycarbonaten und den schmutzigen Fakten, die von ihrer makellosen Oberfläche abprallten. Jeder Griff ins Regal ein stechender Schmerz. Ein Akt grenzenloser Überwindung. Zehn Minuten später starrte ich in meinen halb vollen Einkaufswagen, und überprüfte den Inhalt. Es befanden sich ausschließlich Bio-Produkte darin, Obst und Gemüse, Teigwaren, Nüsse, Tofu, Mehl und verschiedene Öle. Hauptsächlich unverarbeitete Lebensmittel, die nicht mehr als vier Inhaltsstoffe enthielten, damit ich so wenig wie möglich Industrieschrott zu mir nahm. Ich musterte den Einkauf und stellte erleichtert fest, dass alles da war. Ich konnte endlich gehen.

Es gab insgesamt zehn Kassen, von denen drei geöffnet waren. Die Schlangen waren bei allen ungefähr gleich lang. Ich sah mir die Kassiererinnen an, dann die Menschen und ihre Einkaufswagen und entschied mich für die Kasse rechts außen, wo ich mich hinter einer Frau um die dreißig einreihte, die mir einen erwartungsvollen Blick zuwarf. Sie war schlank, aber ein Blick auf ihren Einkauf verriet mir, dass schlank in ihrer Welt immer noch zu dick bedeutete. Nach und nach legte sie diverse Light-Produkte, vom Joghurt bis zur Cola, auf das Band. Es folgten eine Packung Reiswaffeln, eine Flasche französisches Wasser, Kaugummis und drei Tafeln Nuss-Nougat-Schokolade – die Familienpackung. Ich überlegte kurz, ob ich ihr erklären sollte, dass ihre zuckerfreien Kaugummis Aspartam enthielten. Ein Süßungsmittel, das sich im Körper zu Formaldehyd zersetzte. Doch ich schwieg. Irgendwie tat mir die Frau leid. Vielleicht hätte ich doch ihren Blick erwidern sollen, als nette Geste. Mehr hätte es nicht gebraucht, um ihren Tag zu retten. Stattdessen malte ich mir aus, wie sie zu Hause vor dem Fernseher saß, sich eine Schnulze über unerfüllte Liebe ansah und abwechselnd Magermilch-Joghurt und Nuss-Nougat-Stücke in sich hineinstopfte. Dann wurde mir bewusst, dass sie letztlich nicht viel anders war als ich. Wir befanden uns lediglich an verschiedenen Enden des Spektrums. Ihr Schmerz war mein Schmerz. Wir waren Leidtragende desselben Systems.

Jemand rief meinen Namen. Ein Pseudohipster in engen schwarzen Jeans und rotem T-Shirt winkte mir vom Ende der Schlange zu. Da mir sein Gesicht nicht vertraut vorkam, war ich nicht sicher, ob er mich meinte oder einen anderen Marvin, der in meiner Nähe stand. Doch als er sich mit den Worten, er müsse einen alten Freund begrüßen, an den Wartenden vorbeidrängte, überkam mich ein unangenehmes Gefühl der Vertrautheit.

„Marvin, altes Haus! Das ist ja ewig her“, begrüßte er mich. Um ein wenig Bedenkzeit zu gewinnen, lächelte ich und durchforstete währenddessen fieberhaft meinen Kopf nach einem passenden Namen zu dem Gesicht.

„Du hast keine Ahnung, oder? Ich bin’s, Tom!“, sagte er und deutete dabei auf sich, als ob sein Anblick die Lösung aller Fragen wäre.

„Tom, Tom …“

„Von der Uni. Weißt du nicht mehr? Wir waren im gleichen Leistungskurs von Professor Grübner. Ich hatte die Haare damals länger.“

Tom. Da war er. Ich hatte ihn nun deutlich vor Augen, wie er zwei Reihen vor mir neben Klara Winter saß und ihr auf die Titten glotzte, während er mit ihr über modernen Feminismus debattierte. Wie er in den Pausen auf den Stufen lungerte und für jedermann sichtbar Das Kapital von Marx las. Wie er lautstark den Imperialismus amerikanischer Unternehmen kritisierte und trotzdem jedem Trend hinterherhechelte.

„Ach Tom, hey, schön dich zu sehen“, sagte ich. „Was treibst du denn so?“

„Ich arbeite bei GreenNext, der Umweltschutzorganisation. Vollzeit und so. Ist echt klasse, Welt verändern und das alles. Solltest du auch machen.“

Ich sollte dir in deine verlogene Fresse schlagen.

„Wir sollten uns mal treffen“, sagte er und zückte seine aus biologischem Hanf gefertigte Brieftasche, die nicht im Geringsten zu seiner restlichen Erscheinung passen wollte.

„Wir machen nächste Woche eine Demo gegen die neuen Umweltgesetze. Komm doch mit, wir können jede Stimme brauchen.“

„Mal sehen, hab grad viel um die Ohren.“

„Kein Ding. Hier hast du meine Nummer, falls du es dir anders überlegst.“ Er gab mir eine Visitenkarte, auf der unter dem GreenNext-Logo Tom Hurtz, Projektmanager und seine Telefonnummer standen, und ließ seine Hand erwartungsvoll in der Luft verharren. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es nun an mir war, eine schmucke Visitenkarte hervorzuzaubern. Die Business-Kultur machte offenbar auch vor Umweltschutzorganisationen nicht halt. Widerwillig zückte ich meine Brieftasche. Zwischen Mitgliedsausweisen diverser Videotheken und einer Liste aller gängigen Lebensmittelzusätze samt E-Nummern, zog ich eine zerknitterte Karte hervor und überreichte sie ihm. Tom las die Karte und formte dabei mit seinen Lippen stumm die Worte BBWA Berlin, Werbeagentur, Marvin Ruf, Werbetexter. „Werber, sieh an.“ Obwohl er es völlig wertfrei sagte, kam es bei mir nicht wertfrei an.

„Ich muss jetzt“, sagte ich. Nachdem ich bezahlt und meinen Einkauf in einer Tüte verstaut hatte, streckte ich meine Hand zum Abschied aus. Doch Tom ignorierte sie und umarmte mich. Ich erstarrte. Ich konnte fühlen, wie sein Herz gegen meine Brust pochte und sich sein Altherrenrasierwasser in meinen Haaren verfing. Es würde mich den ganzen Abend verfolgen, da war ich mir sicher. Als er mich eine gefühlte Ewigkeit später wieder losließ, nutzte ich die Gelegenheit und verließ den Markt.

„Wir sehen uns auf Facebook“, rief er mir hinterher. Aus seinem Mund klang es wie eine Drohung.

Auf dem Heimweg musterte ich Toms Visitenkarte. Ob sie aus Recyclingpapier bestand? GreenNext also. Ich hatte immer gedacht, dass Tom einer von denen war, die voller naiver Träume von der Uni abgingen und nach dem ersten Tag im echten Berufsleben ihre Ideologie an den Nagel hängten, um sich für eine gut bezahlte Bürokarriere zu entscheiden. So wie es alle taten. Wie ich es getan hatte. Aber ich hatte mich getäuscht. Tom hatte seinen blinden Optimismus behalten. Ich ließ die Karte durch meine Finger gleiten. Das Papier war rau und schwer und ich konnte die Tinte spüren, als ich mit den Fingerkuppen über die Buchstaben strich. Wie unscheinbar sie doch war, fast unschuldig. Ich weiß noch genau, dass es diese Unschuld war, die mich damals davon abhielt, sie in der nächsten Mülltonne zu entsorgen. Welches Unheil konnte schon von einer Visitenkarte ausgehen? Wie konnte ich ahnen, dass sie nicht weniger als die Eintrittskarte zu meinem Untergang war? Ich warf sie nicht weg, sondern machte den ersten in einer endlosen Reihe von Fehlern: Ich behielt sie.

3

Die schlimmsten Lügen der Menschheitsgeschichte:

1) Es ist nur ein Job.

2) Das macht doch jeder.

3) So ist die Welt nun mal.

Ich hätte meinen Mund halten sollen. Einfach auf stumm schalten, so wie in den letzten Wochen. Ich hätte nur weitermachen müssen mit meiner stillen Arbeitsverweigerung, meiner aktiven Passivität, und meinen Zorn hinunterschlucken, damit ihn meine Magensäure zersetzen konnte, dann wäre alles gut gewesen. Aber nein, ich musste ja unbedingt etwas sagen. Einen bissigen Kommentar liefern. Ich konnte ihren verlogenen Quatsch nicht unreflektiert stehen lassen. Ich wollte ihn einreißen mit meinem Zynismus und die Bruchstücke in Hausers selbstgefälliges Gesicht schleudern. Tanzen wollte ich auf dem Schutthaufen ihrer Überheblichkeit. Das hatte ich nun davon. Jetzt feierte nicht ich, sondern sie.

Es war Dienstag oder Donnerstag, vielleicht aber auch Sonntag oder mein Geburtstag. Aber eigentlich war es ohne Bedeutung. In meiner Welt gab es keine Wochentage mehr, gesetzlich geregelte Arbeitszeiten oder Urlaubsansprüche, es gab nur noch Präsentationstermine und Abgabefristen. Ein endloser Sprint ohne Ziel und Sinn, mit dem Herzinfarkt, der auf der Ziellinie wartete.

„Morgen müssen wir damit in Druck“, stresste Mario, mein Art Director.

Ich machte gerade eine Zweiminutenpause und klickte mich durchs Internet, als er auf meinem Tisch Platz nahm, um mich über Korrekturen für unseren Kunden Beaulook zu informieren. In Indien gab es die schwersten Überschwemmungen seit Jahrzehnten, las ich. Die Marketingabteilung von Beaulook wollte ein neues Key-Visual für ihre Mascara-Promotion, außerdem sollte der Text mehr Glamour ausstrahlen und die Einzigartigkeit des fulminanten Farbfinishs untermalen, informierte er mich, während ich mir Bilder von ertrinkenden Kindern ansah. Mario massierte seine Nase, um die Druckstellen seiner Brille zu lindern. Er trug eine von diesen schwarzen Hornbrillen, allerdings nicht aus medizinischen, sondern modischen Gründen. Sie passte hervorragend zu seinen sonstigen Outfits, bei denen man nie wusste, ob sie drei oder dreitausend Euro kosteten.

„Aha“, sagte ich und klickte auf Facebook, wo ich mit einer Freundschaftsanfrage begrüßt wurde. Es war Tom. Er hatte seine Drohung wahr gemacht. Erst wollte ich ablehnen, aber dann packte mich die Neugier. Wie es sich wohl so lebte auf der moralisch sicheren Seite? Ich wollte es herausfinden und bestätigte. Ein Facebook-Freund mehr oder weniger machte ohnehin keinen Unterschied.

„Wir wurden wieder geschändet“, sagte Mario, während er auf seinem Smartphone herumtippte, und spielte damit auf die Tatsache an, dass unsere Kampagnen seit knapp einem halben Jahr regelmäßig manipuliert wurden. Meistens wurden die Headlines auf unseren Plakaten überklebt, manchmal auch ganze Bilder, um ihnen einen neuen Sinn zu verleihen. Bei einer Reklame für ein neues Haarshampoo von Beaulook hatten die Täter zum Beispiel „Für Spannkraft bis in die letzten Spitzen“ durch „Für Metastasen bis in die letzten Spitzen“ ersetzt. Die Marketingabteilung von Beaulook kochte, als sie es sah. Der Hinweis auf karzinogene Tenside in dem Shampoo störte ihre bequeme Wohlfühllüge. Ihre Kunden sollten sich schließlich um brillante Farbfinishs Gedanken machen und nicht um zukünftige Arzttermine. Das Besondere an den Manipulationen war ihre Genauigkeit. Normalerweise fielen Adbustings eher plump aus und waren dadurch schnell als solche zu erkennen. Doch diese waren anders, raffinierter in ihrer Machart. Egal ob Schriftart, Größe, Layout, Zeichenabstand, Farben, Hintergründe, Schattierungseffekte, alles passte perfekt zusammen, wodurch man der Illusion erlag, es handle sich um echte Werbung. Als würden die Konzerne zur Abwechslung keine Unwahrheiten über ihre Produkte verbreiten. Meine Klienten waren allerdings nicht die einzigen Adbusting-Opfer. Die ganze Stadt war inzwischen voller unbequemer Wahrheiten, die von den Werbeflächen grinsten. Mario zeigte mir ein Foto auf seinem Handy von der neuesten Tat der Werbeterroristen. Diesmal hatte es den Süßwarenhersteller Mikol erwischt. Wir hatten gerade eine neue Kampagne für das Unternehmen am Laufen. Das Plakat war nichts Besonderes, bloß die übliche Werbe-Dampfhammermethode. Die Marketingabteilung wünschte es sich so und ihr Wunsch war uns Befehl. Das Plakat bestand daher aus den guten alten Standardzutaten. Ein süßes Kind, das genüsslich von der Schokolade abbiss, eine glückliche Mutter, die sich über ihre gelungene Kaufentscheidung freute, ein möglichst großes Produkt, damit es auch ja niemand übersehen konnte, und eine nichtssagende Wohlfühl-Botschaft, um das Ganze abzurunden.

„Der Schokogenuss mit dem Besten aus der Milch!“, hätte eigentlich über dem debil grinsenden Jungen und der Prozac-Mama stehen sollen. Aber jetzt stand dort etwas anderes. Etwas, das angesichts der dubiosen Kakao-Quellen von Mikol viel passender war: „Der Schokogenuss mit dem Besten aus der Kinderarbeit!“

„Wer auch immer das war, den Typen muss echt langweilig sein“, sagte Mario und verdrehte die Augen. Nein, Langeweile brachte einen nicht dazu, Nacht für Nacht in den Krieg gegen die Verlogenheit zu ziehen. Dafür brauchte es mehr. Etwas, das Menschen wie er nicht begreifen konnten.

„War bestimmt so ein Punk.“

„Bestimmt“, bestärkte ich ihn in seiner Vermutung, um seine kleine Welt nicht unnötig kompliziert zu machen. Mein Handy läutete. Es war meine Mutter. Sie war angetrunken. Das konnte ich an der Art erkennen, wie sie mich begrüßte – nett und liebevoll. Sie brauchte Geld. Oder besser gesagt, ihr neuer Freund brauchte es. Da ich einen persönlichen Kontakt vermeiden wollte, versprach ich ihr, etwas zu überweisen. Wir erkundigten uns nach dem gegenseitigen Befinden, gut und gut, und wechselten einige Worte, die mehr an die Abwicklung eines Protokolls als an ein Gespräch erinnerten. Zum Abschied sagte sie, dass sie mich lieb hatte. Doch das war eine Lüge. Ich antwortete, dass ich sie ebenfalls lieb hatte, und auch das war gelogen. Um sie wieder aus meinen Gedanken verbannen zu können, beschloss ich, die Überweisung gleich zu tätigen. Sie brauchte zweitausend Euro. Ich tippte dreitausend ein, in der Hoffnung, unseren nächsten Kontakt damit in eine fernere Zukunft zu verschieben. Bei der Gelegenheit checkte ich den Stand meines Exit-Fonds. Seit einigen Jahren sparte ich fast mein gesamtes Geld. Zu Beginn wollte ich es noch gewinnbringend anlegen und suchte nach einer moralisch vertretbaren Möglichkeit des Investments, Staatsanleihen oder Fonds, die erneuerbare Energie förderten, aber da ich weder zum einen noch zum anderen echtes Vertrauen entwickelte, ließ ich es einfach da, wo es war. Ich brauchte nicht viel zum Leben, meine Fünfzigquadratmeterwohnung in Berlin-Friedrichshain hatte ich günstig gemietet, ich hatte keine Freundin, kein Auto, und Urlaub machte ich höchstens im Umland. Als Werbetexter verdiente ich nicht übermäßig, aber bei meinem spartanischen Lebensstil reichte es aus, um jeden Monat einige hundert Euro auf die Seite zu legen. Ich sparte das Geld, damit ich irgendwann aussteigen konnte. Ich wollte einfach nur weg. Weit, weit weg. Ein Haus auf dem Land in den Bergen Kanadas oder an der Küste Portugals, auf jeden Fall in der Einöde, fernab von allem, das war mein Traum. Wobei der Ort nie wirklich entscheidend war, sondern vielmehr der Vorgang des Verschwindens. Jeden Tag malte ich mir aus, wie ich von meinem Arbeitsplatz aufstand, zur Tür hinausging und nie mehr zurückkehrte. Von einem Moment auf den anderen wäre ich verschwunden. Da ich noch nie viel besaß, würde ich auch nicht viel zurücklassen. Mario meinte einmal, meine Wohnung sehe aus, als hätte jemand eine Checkliste abgearbeitet. Bett. Check. Schrank. Check. Tisch. Check. Meine Wohnung enthielt alles, was nötig war, mehr aber auch nicht. Die Optik war mir nie wichtig. Meine Möbel mussten nur ihren Zweck erfüllen. Sie waren schlicht und auf ihre Funktionalität reduziert. Nichts davon drückte etwas aus oder definierte mich als Person. Mein Tisch war eine Platte mit vier Beinen, mein Bett ein Gestell mit Matratze. Es gab auch keine Bilder oder besondere Gegenstände, eine originelle Lampe oder einen Bieröffner in Flaschenform, die einen Hauch von Individualität versprühten. Alles in meiner Wohnung war darauf ausgerichtet, dass ich sie in weniger als fünf Minuten verlassen konnte und in spätestens zehn vergessen hatte. Es wäre ganz einfach, ich müsste mich nur dafür entscheiden. Am Anfang würden sich die Leute noch nach meinem Verbleib erkundigen, womöglich würde man sogar nach mir suchen. Doch irgendwann würde die Erinnerung an mich verblassen und mit ihr meine Existenz. Ich würde mich einfach auflösen, als hätte es mich nie gegeben.

„Lasst uns doch noch mal das Briefing durchgehen“, sagte Monika Borlau, die Etatdirektorin. Sie saß links von uns, neben Mario, und ihre frisch manikürten Fingernägel tippten dabei unruhig auf die Tischplatte aus Kirschholz in Hausers Büro. Uns gegenüber, am anderen Ende des drei Meter langen Tisches, thronte Hauser, unser Creative Director, vor einer Wand aus glitzernden Werbepreisen, die sich in seiner gepflegten Glatze spiegelten. Sein Büro lag am Ende des Stockwerkes und war durch eine überdimensionale Scheibe Spezialglas von den restlichen Arbeitsplätzen getrennt, wodurch man bei jedem Besuch das Gefühl hatte, man würde in einem Schaufenster Platz nehmen. Eine Atmosphäre des grenzenlosen Gedankenaustausches nannten die Architekten das Konzept. Im Endeffekt war es lediglich eine Bühne für Hausers Selbstherrlichkeit. Wie ein Feldherr im ewigen Krieg gegen den launischen Konsumenten stolzierte er darin herum, Espresso schlürfend, und genoss es, wenn er wieder einmal einen Mitarbeiter in der privaten Öffentlichkeit seines Reiches verbal zu einem Nichts degradieren konnte.

Wir hatten uns bei ihm getroffen, um unsere neuesten Konzepte vorzustellen. In einer Woche war die Präsentation der neuen Imagekampagne von Chotal Oil, Europas führendem Mineralölkonzern, und bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nichts außer heißer Luft vorzuweisen. Chotal Oil wollte einen Imagewechsel, ein grüneres Auftreten, so wie alle Konzerne, weil sich das so wunderbar in ihren Marketingbroschüren machte. Wir denken an die Zukunft. Im Einklang mit der Natur. Corporate Responsibility. Der ganze Quatsch. Ein paar Ideen hatten wir schon, allerdings keine brauchbaren, was vor allem mein Verdienst war. Von Beginn an hatte ich das Projekt sabotiert und meine Mitarbeit verweigert. Auf keinen Fall wollte ich dafür verantwortlich sein, dass die Menschen bei dem Gedanken an Chotal Oil etwas anderes als Hass und Verachtung empfanden. Irgendwo musste Schluss sein. Jeder Mensch ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad verbiegen, überschritt er ihn, drohte er, daran zu zerbrechen. Chotal Oil war meine Grenze. Um nicht gefeuert zu werden, tarnte ich meinen passiven Widerstand mit stumpfsinnigen Ideen. Solange ich etwas einbrachte, konnte man mir nichts vorwerfen, lautete meine Taktik. Denkblockaden gab es immer wieder. Gleichzeitig redete ich alle Ideen von Mario kaputt, um unsere Ergebnisse auf ein Minimum zu senken. Auf diese Weise hatte ich bis jetzt verhindert, dass wir eine präsentierbare Kampagne für Chotal Oil vorzuweisen hatten. Auch heute war nichts dabei. Was Borlau auf die glorreiche Idee brachte, das Briefing zu wiederholen.

Kernbotschaft: Chotal Oil setzt sich für die Umwelt ein.

Beweisführung: Chotal Oil fördert den Ausbau erneuerbarer

Energien.

Tonalität: Ehrlich, warm, hoffnungsvoll.

„Ehrlich“, bei dem Wort musste ich schmunzeln. Was genau meinten sie damit? Ihre lecken Pipelines in Alaska? Die giftigen Seen im Niger-Delta? Die Millionen, die sie PR-Firmen für die Leugnung des Klimawandels bezahlten? Die Tatsache, dass sie ein einziges Windparkprojekt förderten und sich dadurch schon als grünen Konzern betrachteten? Ehrlichkeit. In der Werbewelt war das ein äußerst dehnbarer Begriff. Borlau las weiter, während Hauser stumm in seinem Espresso rührte. Er tat es auf diese ganz bestimmte Art, präzise und bestimmt, als würde in jeder seiner Regungen eine besondere Bedeutung liegen, einfach weil er sie ausführte. Doch hinter der Fassade der Erhabenheit brodelte es.

„Drei Wochen“, unterbrach er Borlau.

Er sagte es in einem beängstigend ruhigen Ton. Die Ouvertüre. Dann stand er auf und betrat seine Bühne.

Auftritt Hauser.

Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte ich damit, auf Hausers Wutader auf seiner Stirn zu starren, die mit jedem weiteren Satz, der unsere Unfähigkeit zum Thema hatte, konsequent anschwoll. Er wollte diesen Etat, er brauchte ihn. Ohne ihn würde die Agentur ihre Gewinnerwartungen nicht erfüllen und das wiederum würde bedeuten, dass er keinen Bonus bekam. Eine völlig unannehmbare Situation für jemanden, der seine Geliebte mit Champagner und Botox durchfüttern musste. Seine Wutader pochte immer bedrohlicher. Gleich würde sie platzen, dachte ich mir, und eine rote Fontäne würde sich in den Raum ergießen. Gleich passierte es. Jetzt. Jetzt. Jetzt.

„In einer Woche ist Präsentation“, schrie er Mario an, der sich am liebsten in eine Schildkröte verwandelt hätte. Dann lenkte sich seine Wut auf mich. Ich wartete auf die Blutfontäne, aber stattdessen trafen mich seine Spuckekügelchen. Ob ich mir überhaupt bewusst war, was das für eine Chance wäre, fragte er mich. Was für ein Renommee damit einherging, eine Marke von dieser Größe zu betreuen, ganz zu schweigen von dem Budget. Ob ihm überhaupt klar war, was wir damit anrichteten, hätte ich ihn gerne gefragt.

Die Hauser Business Edition – Skrupellosigkeit in Vollendung.

Eine weitere Dezibelsalve traf mich. Heiho, heiho. Normalerweise fing Hauser sich nach einer gewissen Zeit wieder, meistens wenn seine Stimmbänder versagten, aber nicht heute. Er wollte eine Idee. Er wollte sie um jeden Preis. Zur Not würde er sie aus uns herausprügeln. Er holte Luft für eine weitere Schreirunde, bevor er allerdings loslegen konnte, unterbrach ich ihn.

„Wir sollten sie preisen“, sagte ich auf einmal laut. „Was für ein glorreiches Unternehmen. Für die möchte doch jeder arbeiten. Selbst Mutter Natur.“

Ich hatte die Schnauze voll.

„Wir sollten ihnen ein Denkmal errichten. Gut, sie haben vielleicht ein paar Umweltkatastrophen verursacht, aber hey, kann passieren. Wir wollten doch alle das Öl. Was soll’s. Jetzt sind sie ja grün, haben eine Windkraftanlage und arbeiten im Einklang mit der Natur.“

Stille. Raumfüllende, bedrückende Stille. Sechs aufgerissene Augen fokussierten mich. Gleich würde Hauser über mich herfallen. Aber das war okay. Das war es wert. Einen Moment lang sah er mich verdutzt an. Gleich war es so weit. Innerlich machte ich mich bereit. Doch nichts geschah. Stattdessen kräuselten sich seine Lippen zu einem schmalen Lächeln und formten die einzigen Worte, mit denen ich nicht gerechnet hatte.

„Gut, so machen wir es.“

Ich Idiot.

„Aber das Denkmal lassen wir weg.“

4

„Interessant“, sagte der Polizist, der praktisch aus dem Nichts aufgetaucht war und nun neben mir in der schlecht beleuchteten Seitenstraße stand und zusah, wie ich mit Hilfe einer Schablone „Made in Photoshop“ auf den makellosen Körper des Unterwäschemodels sprayte. Er sagte es entspannt und frei von jeglicher emotionaler Färbung, wodurch es mir unmöglich war, festzustellen, welche Art von interessant er meinte. Die anerkennende oder die, bei der ich gleich in Handschellen mit dem Gesicht im Dreck lag. Obwohl der Polizist nicht viel älter war als ich, strahlte er eine unangenehme Entschlossenheit aus. Er hatte einen dichten Vollbart und seine Schirmmütze reduzierte sein Gesicht auf vage Umrisse. Er blickte zu dem Plakat hoch und begutachtete die Worte. Ich hatte sie untereinander angeordnet und mit einem Kreis versehen, wodurch sie wie ein Siegel wirkten. Bereits seit mehreren Stunden wandelte ich mit einer Spraydose bewaffnet durch die Nacht und brandmarkte jedes künstliche Werbegebilde, das ich zu Gesicht bekam, in dem sinnlosen Versuch, meine wachsende Unruhe zu besänftigen. Bis zu dem Zeitpunkt, als mich der Polizist stellte, waren es bestimmt an die hundert Plakate, die mein „Made in Photoshop“-Siegel trugen.

Suchen Sie sich einen Ausgleich, hatte mir mein Arzt vor einiger Zeit geraten, als ich ständig das Gefühl hatte zu ersticken. Anfangs probierte ich es mit Meditation, Entspannungs-CDs und Walgesängen, als das nicht half, begann ich zu laufen, zehn Kilometer jeden Tag, aber egal wie weit ich lief, meine Panikattacken holten mich immer ein. Was ich auch versuchte, nichts lockerte das bleierne Korsett, das sich täglich enger schnürte und mir die Luft zum Atmen raubte. Auf die rettende Idee mit dem Adbusting kam ich zufällig, als ich zum hundertsten Mal einen Plakattext für Beaulook korrigieren musste. Aus Langeweile fügte ich damals zu dem eigentlichen Text noch einen weiteren hinzu. Allerdings in Schriftgröße zwei Punkt, wodurch jeder Buchstabe nur wenige Millimeter groß war. Das ist alles nur eine Lüge, schrieb ich. Der Text war so klein, dass man ihn lediglich als schwarzen Strich wahrnahm. Trotzdem war er da. Niemand bemerkte ihn, nur ich wusste, dass er da war. Das Plakat wurde landesweit dreißigtausendmal affichiert und jedes Mal, wenn ich es sah, fühlte ich mich für einen Moment frei. Da wusste ich, dass ich mein Ventil gefunden hatte: das Ventil der Tat.

Mit seltsamem Interesse musterte der Polizist mein Werk, während sich meine Gedanken auf die Suche nach einem Ausweg machten. Meine Kollision mit der Polizei war das passende Ende für eine endlose Woche, die ich damit verbracht hatte, meine Dummheit in Präsentationsform zu gießen.

Hauser gefiel meine Idee, obwohl sie eigentlich gar keine war. Er hatte meinen Ausbruch nicht einmal als Angriff aufgefasst. In der Seifenblase, in der er lebte, gab es keinen Zynismus mehr, bloß Wege zum Erfolg. Für seinen Triumph war jedes Mittel recht. So hatte er meine Ansprache als ein Rohkonzept verstanden, als kreative Knetmasse, die er nur noch in die gewünschte Form bringen musste. Mit dem Genie eines Bond-Bösewichts verwandelte er es im Handumdrehen in ein Monument der Ironie. Er hatte alles verwendet, was ich gesagt hatte, nur nicht so, wie es gedacht war, und daraus eine Kampagne für Chotal Oil geformt. Sein Konzept basierte darauf, dass Chotal Oil eine neue Mitarbeiterin hatte, und zwar niemand Geringeren als Mutter Natur höchstpersönlich, dargestellt von einer Frau um die zwanzig, die durch ihre natürliche Schönheit überzeugen sollte. Ihre Aufgabe bestand darin, den Menschen in Form eines Presenters zu erklären, dass die Natur auf Evolution basierte, auf Anpassung und Weiterentwicklung, und dass sich Chotal Oil in einem solchen natürlichen Prozess des Wandels befand. In sentimentalen Spots würde sie durch malerische Naturlandschaften schweben, von der Zukunft reden, von unseren Kindern, dem wichtigsten Rohstoff überhaupt, davon, dass Öl auch nur ein Naturprodukt sei und es Zeit war, sich den Problemen der Welt zu stellen. Man würde alles mit einfühlsamer Musik unterlegen und Mutter Natur würde uns mit ihrer Reinheit und Schönheit einlullen. Wir würden uns in Hochglanzträumereien verlieren und alles vergessen. Dank des millionenschweren Mediabudgets würden wir es immer und immer wieder sehen, bis wir bei dem Gedanken an Chotal Oil ein warmes und angenehmes Kribbeln verspürten.

„Selbstverständlich brauchen wir eine Schauspielerin mit natürlichen Brüsten“, hatte Hauser bei der Vorstellung des Konzepts gesagt, und bei „natürlich“ funkelten seine Augen wie die eines Pädophilen auf einem Kindergeburtstag. Die nächsten Tage verbrachten wir mit der Ausarbeitung der Kampagne. In tranceartigem Zustand schrieb ich Spots und dachte mir Anzeigen aus. Wie eine brave Arbeitsbiene tat ich, was man mir auftrug. Es ist nur ein Job. Das macht doch jeder. So ist die Welt nun mal. Mario gestaltete die Werbemittel und entwickelte eine modernere Version des Logos. Um den Wandel des Unternehmens greifbar zu machen, hatte er das „Oil“ aus dem Logo gestrichen und es in Grüntönen eingefärbt. Auch Hauser half mit. Er suchte eine Mutter Natur mit den passenden Titten. Am Ende der Woche war die Präsentation fertig. Und ich mit ihr.

Der Polizist kratzte sich am Bart, dann sah er zu mir. Sein Blick wanderte von der Spraydose in der einen Hand zur Schablone in der anderen und von dort wieder nach oben. „Interessant“, wiederholte er, noch immer neutraler als die Schweiz.

Ich ging meine Optionen durch. An erster Stelle stand weglaufen. Eine zweite gab es nicht.

„Papiere.“

Er streckte seine Hand aus, in der Erwartung, dass ich meinen Personalausweis hineinlegte. Wenn er meine Daten hatte, gab es kein Zurück mehr. Dann würde es nicht mehr lange dauern, bis das gesamte Kartenhaus zusammenbrach. Ich sondierte die Lage. Der einzige Ausweg war ein Laufduell zu dem Park am Ende der Straße. Obwohl ich alles andere als siegessicher war, fand ich, dass es zumindest einen Versuch wert wäre.

„Nicht“, sagte der Polizist und schüttelte den Kopf.

Einige Herzschläge lang standen wir uns schweigend gegenüber. Dann legte er seine Hand auf den Pistolenhalfter an seinem Gürtel und meine Fluchtträume platzten. Schachmatt. Ich starrte in den dunklen Schatten, der über seine Augen fiel, in der Hoffnung, dort Gnade zu finden. Doch da war nur kalte Gleichgültigkeit. Ich fügte mich in mein Schicksal und händigte ihm meinen Personalausweis aus. Obwohl die Datenerfassung nicht mehr als eine Minute dauerte, kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Vorstrafe. Kündigung. Schadensersatzklagen. Ein Sturm aus Konsequenzen fegte durch meinen Kopf.

Auf der anderen Straßenseite hielt ein Polizeiwagen und gedanklich nahm ich bereits auf seiner Rückbank Platz. Der Fahrer ließ das Fenster hinunter.

„Vergiss ihn, wir müssen los“, rief er und weckte ungeahnte Hoffnung in mir. Doch der Polizist ließ sich keine Sekunde beirren und schrieb stumm weiter.

„Sie hören von uns“, sagte er zum Abschied, marschierte auf die andere Straßenseite und stieg in den Wagen.

Das ganze Wochenende verkroch ich mich in meiner Wohnung. Immer wieder flackerten die Bilder der Nacht vor meinem geistigen Auge auf und kratzten an meinen Nerven. Auf der Suche nach Ablenkung schaltete ich den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Ich sah Trickfilme und Gameshows, danach alte Heimatfilme und Kochsendungen, anschließend die Nachrichten. Eine gefasste Blondine informierte in sachlichem Ton über die täglichen Dramen. Gekonnt wechselte sie von einer Krise zur nächsten, ohne auch nur die geringste Emotion in ihre Worte einfließen zu lassen. Wie ein Roboter berichtete sie mit einem festgefrorenen Lächeln über Staatsbankrotte, Dürren, die Lage in Nahost und die Explosion einer chinesischen Chemiefabrik. Die Polizei bat um die Mithilfe der Bevölkerung. Ein Banker war verschwunden. Wahrscheinlich war er auf der Flucht vor der Steuerfahndung oder mit seiner Geliebten durchgebrannt, trotzdem sorgte sich die Staatsmacht. Fast klang es, als ob es schade um ihn wäre, als könnte die Welt den Verlust eines weiteren Finanzhais nicht verkraften. Zum Schluss folgte ein Beitrag über die laufende Chotal Oil-Verhandlung. In Amerika hatten einige Menschen den Konzern verklagt, weil sie ihm vorwarfen, ihr Grundwasser mit Chemikalien verseucht zu haben. In einem kurzen Filmausschnitt sah man einen Mann, der ein Glas mit Wasser aus seiner Leitung füllte und es mit einem Feuerzeug entzündete. Es brannte wie Benzin. Eine nüchterne Stimme aus dem OFF informierte: „... bei der umstrittenen Fracking-Methode wird mit Hilfe von Chemikalien das Gestein aufgebrochen, um das darin gebundene Gas zu fördern.“ Eine Infografik erklärte die Methode und fuhr mit dem Betrachter sechstausend Meter unter Tage, wo sich ein Bohrkopf waagerecht in eine Schieferschicht vorkämpfte. Anschließend flossen Millionen Liter Wasser und Chemikalien in das Loch, um das Gestein aufzubrechen und das darin gebundene Erdgas freizusetzen. „... das Unternehmen bestritt allerdings, dass es im Zuge des Verfahrens zu etwaigen Kontaminationen kam.“

Schnitt. Der CEO von Chotal Oil, der Deutsche Thomas Joster, kam ins Bild, wie er bei einer Aktionärsversammlung Hände schüttelte. Anzug, Krawatte, Haare, Auftreten – von unzähligen Beratern, Stylisten und NLP- und Managerseminaren perfekt in Form gebracht. In Blitzlichtgewitter gehüllt, mit der Sicherheit eines Teflon-Gewissens zuversichtlich in die Zukunft blickend.

„... das Urteil wird für nächste Woche erwartet.“

Sagte der Sprecher, aber ich wusste es besser. Das Urteil war längst gefallen, und es würde genauso aussehen, wie es in solchen Fällen immer aussah. Joster grinste in die Kamera. Aber es fühlte sich an, als würde er mich angrinsen. Als würde er über mich lachen, über meine Ansichten, meine Wut, meine Ohnmacht, über mich, das lächerliche Individuum, das wegen ein paar ölverschmierten Vögeln fast zu heulen anfing und unruhig wurde, wenn Menschen bei laufendem Motor auf jemanden warteten. Ein dunkles Gefühl stieg in mir auf und fachte meinen Zorn auf Joster und all die anderen an, die unseren Planeten in einen Spielplatz für Egoisten verwandelten. Einen Ort, in dem die Gier einiger über das Schicksal aller entschied. Wo jeder Chef einen Chef hatte, bis niemand mehr für irgendetwas verantwortlich war. Eine Welt, die ihrem Untergang entgegensteuerte. Die ganze Nacht musste ich an sie denken, an Joster und die anderen Schreibtischtäter, und träumte von einem fernen Paralleluniversum, in dem ein Marvin lebte, der die Courage besaß, ihnen entgegenzutreten. Ein anderes Ich, das nicht an der Welt zerbrach, sondern sie nach seinen Vorstellungen formte. Jemand, der sich nicht hinter seiner Angst versteckte, der aufstand und für seine Prinzipien kämpfte, selbst wenn es seinen Untergang bedeutete. Ein Marvin, der sich nicht vor den Vorstand von Ölkonzernen stellte, um ihrer Skrupellosigkeit ein buntes Schleifchen zu verpassen. Jemand, der sich nicht nur wünschte, diese Person zu sein, sondern sie auch tatsächlich war.