Cosmoclast - Simon A. Führich - E-Book

Cosmoclast E-Book

Simon A. Führich

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Beschreibung

Wie reist man durch das Universum? Mit einem Portal, versteckt in einem der sieben Weltwunder! Cody wünscht sich zu Weihnachten nichts sehnlicher als eine Spielkonsole. Er hält es für einen Scherz, als sein Großvater ihm stattdessen einen seltsamen Stein und eine Sternenurkunde schenkt. Versteckt in seinem Schrank gerät das Geschenk in Vergessenheit. Doch Jahre später bekommt Cody Besuch von einem merkwürdigen Wesen. Der Sternenkobold Wellington bringt wichtige Neuigkeiten: Der Planet Ignotus wird vom dunklen Herrscher Kyros unterdrückt. Nur der verschollene König kann helfen - und damit ist niemand anderes gemeint als Cody. Ist Cody bereit, sich als König zu beweisen? Eine fantastische Reise durch die Milchstraße beginnt...

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für Lisa und Conny

Sie brachten uns die Fantasie.

Inhalt

Prolog

Weihnachtszeit

Die Sternenurkunde

Der Diplomat

Galaktisches Reisen

Castellum Arx

Der General

Die Flucht

Die Wasserstadt

Sternenkrieger

Die Tafelrunde

Vorbereitungen

Verlassene Lande

Dunkle Pläne

Gasthaus Weltenende

Eine eisige Flucht

Menschenjagd

Alte Legenden

Der Große See

Traumjäger

Die Geister, die ich rief

Die letzte Hoffnung

Drei Geschwister

Grendel

Der Norden

Stimmen in der Dunkelheit

Wieder vereint

Omnes populi aequales sunt

Umzingelt

Zusammenkunft

Avalon

Der Philippstein

Der letzte Ritt

Die Ebene von Nim

Der König und der General

Ein Neuanfang

Epilog

Über den Autor und die Idee zu Cosmoclast

Prolog

Die Sterne schienen hell in dieser kalten Winternacht …

… und für Cody Tuttle waren sie das Einzige, was sich in den letzten Jahren nicht verändert hatte. Doch auch die Gestirne des Himmels beugen sich dem Lauf der Zeit, wenn man nur weit genug reist.

Sie waren bereits über einen Tag unterwegs, so wie jedes Jahr zur Weihnachtszeit. Früher hatte Cody die lange Autofahrt nach St. John genossen; die immer gleiche Musik, die aus dem Radio ertönte, den Duft selbstgebackener Zimtschnecken und die weiße Landschaft – all das verband er, so albern es auch war, mit Gemütlichkeit, Familie und Weihnachten. Sein Vater hatte ihm jedes Mal Superheldencomics gekauft, damit er sich auf der Fahrt nicht langweilte, und er durfte sich, wann immer er wollte, Eistee und Sandwichs aus der Kühlbox nehmen. Sie hätten natürlich auch fliegen können, doch es hatte sich längst zu einer Tradition entwickelt, an Weihnachten mit dem Auto zu »Opa England« zu fahren. Cody hatte seinem Großvater diesen Namen gegeben. Seinen anderen Opa, den Vater seiner Mutter, nannte er »Opa Detroit«. Als Cody noch ein kleiner Junge war, erschien ihm das logisch. Denn der eine Opa kam aus Detroit, der andere ursprünglich aus England. Mittlerweile war Cody neun Jahre alt und vieles hatte sich geändert, daran aber hatte er festgehalten.

Das Beste an Opa England waren seine Geschichten. Wenn der Großvater in seinem britischen Akzent von abenteuerlustigen Helden fabulierte, die gegen Bösewichte und Ungeheuer kämpften, konnte Cody nur staunen. Früher hatte er nie genug davon bekommen können. Doch seit sein Vater gestorben war, hatten selbst die alten Legenden von Rittern und Königen ihren Glanz eingebüßt. Trotzdem erzählte Opa England weiterhin seine Geschichten, ganz gleich, ob Cody sie hören wollte oder nicht.

Auch die alljährliche Autofahrt nach St. John hatte ihren Zauber verloren. Seine Mutter wollte die Tradition unbedingt aufrechterhalten, obwohl sie die meiste Zeit schweigend nebeneinander saßen.

Liane Tuttle, einst voller Lebensfreude und stets mit einem Lächeln im Gesicht, war seit dem Tod ihres Mannes zu einer traurigen und sehr nachdenklichen Frau geworden. Sie kam Cody alt vor, viel älter, als sie tatsächlich war. Es war schwierig zu sagen, woran es lag, denn sie sah noch genauso aus wie früher. Es war eher ihre Art, die sie gealtert erscheinen ließ, und die Traurigkeit in ihren braunen Augen.

Sie war eine Künstlerin und zeichnete meistens Landschaften. In ihrem kleinen Atelier verbrachte sie oft Stunden, manchmal sogar Tage, und ging nie aus. Noch vor wenigen Jahren war sie sehr gefragt gewesen und Menschen kamen von weither, um ihre Gemälde zu kaufen. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Ihre neuen Werke waren farblos und traurig und es fanden sich nur selten Käufer.

Es war still im Auto, das Radio schien keinen Empfang zu haben, und die Jazzmusik, die bisher aus den Lautsprechern geklungen war, wich einem leisen Rauschen. Der alte Toyota Corolla seiner Mutter fuhr allein auf der weißbedeckten Straße und nur gelegentlich kam ihnen ein Fahrzeug entgegen. Dann reflektierte der Schnee das Scheinwerferlicht so stark, dass Cody meilenweit in die Ferne schauen konnte. Zu sehen gab es jedoch wenig. Lediglich die Stämme schneebedeckter Bäume durchbrachen an wenigen Stellen die weiße Decke, die wie ein Mantel über der Landschaft lag, und zugefrorene Seen glitzerten im Mondlicht. Einmal konnte Cody sogar die Augen eines Fuchses schimmern sehen.

So weit im Norden, nur wenige Meilen entfernt von der kana dischen Grenze, schien die Zeit fast still zu stehen. Der Himmel war mittlerweile klar und seit einigen Stunden hatte das Schneegestöber aufgehört. Nun konnte man die Sterne deutlich sehen. Hier in der Wildnis erschienen sie Cody viel heller als daheim in Chicago. Er versuchte, sie zu zählen, doch es waren einfach zu viele. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, zog eine Sternschnuppe über den Himmel. Cody hatte noch nie zuvor eine gesehen, nur davon gehört. Diese erschien ihm unglaublich hell und groß. Ihr Licht war glänzend weiß, doch flackerte ihr Schweif fast blutrot, und für einen kurzen Moment schien sie alles in ein sanftes Licht zu tauchen.

»Mum, hast du das gesehen? Eine Sternschnuppe.«

Die Stille im Auto war gebrochen und seine Mutter schaute zu ihm.

»Das heißt, du darfst dir etwas wünschen und es geht in Erfüllung«, sagte Liane und lächelte ihn an.

»Ich wünsche mir, dass Dad wieder bei uns ist«, sagte er, nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte.

Seine Mutter atmete tief ein und drückte seine Hand. »Ich weiß, du vermisst ihn. Wir beide vermissen ihn.«

Cody fiel es immer noch schwer, nicht jeden Tag an den Tod seines Vaters zu denken, und er wusste, dass es seiner Mutter genauso erging. Wäre sein Vater bei einem Autounfall gestorben, oder an einer Krankheit, wäre es vielleicht einfacher für ihn gewesen.

Sein Vater, Carl Tuttle, war ein bekannter Archäologe. Vor etwa drei Jahren war er bei der Expedition in den peruanischen Anden spurlos verschwunden. Zusammen mit einem Forschungsteam war er ins südamerikanische Gebirge aufgebrochen, um eine verschollene Stadt der Nazca-Kultur zu finden. Er war davon überzeugt gewesen, dass es dort, tief versteckt in den Bergen, eine unentdeckte Zuflucht gab, welche die Ureinwohner einst als Versteck für ihre Schätze nutzten. Cody wollte ihn unbedingt begleiten, doch er war damals noch zu jung gewesen. Sein Vater hatte ihm jedoch versprochen, ihn eines Tages auf eine seiner Reisen mitzunehmen. Aber dazu war es nie gekommen.

Die Rettungskräfte hatten tagelang mit Hubschraubern und Suchtruppen die Umgebung durchkämmt, doch das Forschungsteam blieb verschwunden. Es gab keine Leichen, kein Gepäck – nichts. Ein gewaltiger Sturm hatte wenige Tage nach Beginn der Expedition im Gebirge getobt und möglicherweise war die gesamte Gruppe dabei in eine Felsspalte gestürzt oder sie hatte in einer Höhle, die dann eingebrochen war, Zuflucht gesucht. Nach einem Monat der Suche wurden alle für tot erklärt. Cody war damals erst sechs Jahre alt gewesen, er hatte jedoch verstanden, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde. Seine Mutter hatte noch wochenlang einen Hoffnungsschimmer im Blick, wenn das Telefon läutete oder jemand an der Tür klopfte, als ob sie fest daran glaubte, ihr Ehemann würde jeden Moment durch die Haustür spazieren. Mit der Zeit hatte auch sie akzeptiert, dass sie nun nur noch zu zweit waren.

»Heute wollen wir nicht traurig sein, Cody«, sagte sie und strich mit einer Hand durch sein braunes Haar. »Opa freut sich schon seit Wochen auf uns. Und er hat gesagt, dass der Weihnachtsmann dieses Jahr ein ganz besonderes Geschenk für dich hat.«

Cody glaubte schon lange nicht mehr an den Mann mit dem roten Mantel und dem weißen Bart, aber auf das Geschenk freute er sich dieses Jahr mehr als sonst. Bisher hatte er von seinem Opa nämlich stets seltsame Dinge bekommen. Es war nicht so, dass er sie nicht mochte, aber er bekam nie das, was er sich gewünscht hatte.

Letztes Jahr lag ein Überlebensset unter dem Weihnachtsbaum. Es enthielt einen Feuerstein, wasserfeste Streichhölzer, Feueranzünder, eine Notsignalpfeife, einen Schlingendraht und sogar ein Messer. Ganz offensichtlich sprach Opa seine Geschenke nicht mit seiner Schwiegertochter ab, denn diese nahm Cody das Messer sofort ab (»Das bekommst du, wenn du älter bist!«).

Im Jahr davor hatte Opa ihm eine Angelrute geschenkt. Das fand Cody gar nicht so übel, obwohl er sich eigentlich einen Fernseher gewünscht hatte. Als Opa England ihm zeigte, wie man Fische fing, machte es ihm sogar Spaß. Nun verstaubte die Angel allerdings daheim in der Garage, denn keiner seiner Freunde wollte mit ihm fischen gehen, und somit war auch dieses Geschenk eigentlich nutzlos.

Dieses Jahr war Cody sich sicher, dass er bekommen würde, was er haben wollte. Denn vor ein paar Wochen hatte er heimlich ein Telefonat belauscht. Seine Mutter hatte lange mit Opa England gesprochen und ihm deutlich gesagt, dass Cody sich eine Spielkonsole wünsche.

Er freute sich auf den Besuch bei seinem Opa, und das nicht nur wegen des Geschenks. Bei Opa England hatte er ein eigenes Zimmer im oberen Stockwerk, mit Blick auf einen See, und er durfte immer so lange wach bleiben, wie er wollte. Außerdem war da noch Buster, Opas Hund, mit dem Cody oft stundenlang spielte.

Buster war eine Deutsche Dogge und Cody konnte sich nicht daran erinnern, wie er als Welpe ausgesehen hatte. Er war ein lieber Hund, der sich über jeden Besucher freute. Irgendwo hatte er mal gehört, dass Doggen nicht sehr alt werden; Buster jedoch schien überhaupt nicht zu altern. Dabei musste er mindestens doppelt so viele Jahre zählen wie Cody, wenn man den Geschichten seines Opas Glauben schenken durfte.

»Cody, wir sind gleich da, siehst du?«, holte ihn seine Mutter aus seinen Gedanken zurück.

Die Scheinwerfer erhellten ein Schild am Straßenrand. »St. John – 15 Miles« stand darauf. Opa England wohnte abseits von diesem kleinen Ort, nahe an einem See, in einem Holzhaus aus kanadischer Fichte.

»Warum lebt Opa eigentlich so abgeschieden? Er könnte doch auch mal zu uns kommen?«, sagte Cody, mehr zu sich selbst als zu einer Mutter. Früher waren Cody die Eigenarten seines Großvaters kaum aufgefallen, doch je älter er wurde, desto häufiger nahm er sie wahr.

»Er mag die Stadt nicht«, war die einfache Antwort seiner Mutter, »dafür aber die Abgeschiedenheit. Außerdem kann er doch Buster nicht alleine lassen.«

Opa England hatte kein Internet, nicht einmal einen Fernseher, sondern nur ein altes Radio. Überall in seinem Haus standen alte Möbel und Bilder herum, auch ein paar skurrile Geräte, die nicht funktionierten und von denen Cody keine Ahnung hatte, wozu sie einmal gut gewesen waren. Außerdem roch es in den Räumen nach verschiedenen Ölen und der Duft von Pfeifenrauch hing in jeder Ecke.

Sie bogen in einen kleinen Schotterweg ein, der unter einer dicken Schneeschicht begraben lag. Der alte Toyota war für solche Verhältnisse nicht gebaut und so kamen sie nur noch im Schritttempo voran. Nach einigen Minuten erblickte Cody das Schimmern des zugefrorenen Sees und die Silhouette des Holzhauses erschien in der Dunkelheit. Er sah, dass jemand ein Loch in den See gehauen hatte, vermutlich um zu angeln. Es gab darin große Forellen und sogar Hechte, das wusste Cody. Im vergangenen Sommer hatte er dort seinen ersten Fisch gefangen und Opa England wollte ihm zeigen, wie man ihn zubereitet. Er hatte jedoch Mitleid mit dem Fisch, der verzweifelt zappelte, und anstatt ihn mit Zwiebeln und Zitrone zu grillen, so wie sein Opa es vorgeschlagen hatte, warf er ihn zurück ins Wasser. Sein Großvater hatte sich darüber sehr amüsiert.

»Du hast ein sanftes Wesen, Cody. Verliere diese Eigenschaft nicht. Denn Mitgefühl ist etwas Wichtiges, etwas, das im Alter vielen verloren geht«, hatte er ihm damals gesagt.

Seine Mutter parkte das Auto direkt neben dem Gartenhaus. Noch ehe sie ausstiegen, hörten sie ein freudiges Bellen. Cody packte seinen Rucksack und sprang aus dem Auto; es war ein gutes Gefühl, nach der langen Fahrt endlich wieder seine Beine zu spüren.

Die Tür des Hauses öffnete sich, und bevor Cody reagieren konnte, hatte er eine lange, feuchte Zunge im Gesicht und der Speichel der Dogge lief seine Jacke hinunter.

»Hör auf, Buster!«, rief er lachend und schubste den riesigen schwarzen Hund mit beiden Händen sanft zur Seite.

In der Tür wartete bereits Opa England und winkte mit seinen bunten, selbstgestrickten Ofenhandschuhen.

»Willkommen, ihr beiden! Kommt rein, kommt rein!«, begrüßte er sie. »Ihr kommt genau rechtzeitig. Der Braten ist fast fertig!« Er umarmte Cody. »Ach, mein guter Junge, was hab’ ich dich vermisst«, sagte er und drückte seinen Enkel an sich. »Und schau dich an, toll siehste aus, Liane!«, rief er seiner Schwiegertochter zu und küsste sie auf die Wangen.

Wohlig warme Luft strömte aus dem Haus und der Geruch des Weihnachtsbratens erfüllte die Nacht. Für einen Moment konnte Cody seine Sorgen vergessen, und er freute sich auf die kommenden Tage.

Weihnachtszeit

Opa England hatte sich Mühe gegeben, das ganze Haus weihnachtlich zu dekorieren. Überall hingen Sterne in verschiedenen Größen und Farben, einige davon aus Glas, andere aus Holz. Aus dem großen, alten Radio ertönte ein Weihnachtschor und alles war mit weißer Watte überzogen. Die Watte am Kamin war etwas angebrannt (offensichtlich hatte sein Opa es dort zu gut gemeint mit dem künstlichen Schnee). Es gab natürlich auch einen Tannenbaum, allerdings hatte sich sein Großvater wohl in der Höhe verschätzt, denn die Baumspitze wurde von der Decke abgeknickt. Trotzdem war mit Klebeband ein Stern auf der Spitze befestigt worden, was sonderlich aussah, weil dieser nun Richtung Boden zeigte. Unter dem Baum lagen bereits Geschenke, und bei einem davon – Cody war sich sicher – handelte es sich um die begehrte Spielkonsole.

Mit seinem Rucksack auf den Schultern lief er die kleine Wendeltreppe hoch in das obere Stockwerk und übersprang dabei je eine Stufe. Buster folgte ihm schwanzwedelnd. In seinem Zimmer angekommen, warf er den Rucksack aufs Bett und stellte sich ans Fenster. Müde blickte er auf den See hinaus, während er Busters Ohr kraulte. Er gähnte hörbar; die Fahrt hatte wegen des Wetters länger gedauert als sonst und er verspürte den Drang, sich hinzulegen. Doch der Geruch des Weihnachtsbratens durchströmte bereits das ganze Haus und sein Hunger war größer als seine Müdigkeit. Cody wollte sich gerade vom Fenster abwenden, da reflektierte der vereiste See plötzlich ein Licht. Er blickte zum Himmel und sah, dass schon wieder eine Sternschnuppe die Dunkelheit durchbrach, dieses Mal noch größer und heller als die erste. Vielleicht täuschte er sich auch, doch er hätte schwören können, dass sie sich von der Erde wegbewegte.

»Buster, hast du das gesehen?«, rief er dem Hund laut zu, da niemand sonst da war, den er hätte fragen können.

Die Dogge allerdings hechelte und sabberte nur vor sich hin. Ungläubig schaute Cody aus dem Fenster. Es war die zweite Sternschnuppe an diesem Abend. Beide erschienen ihm unglaublich hell. Und beide waren mehrere Sekunden lang zu sehen.

»Cooody, wo steckst du, mein Junge? Es wird Zeit! Der Braten wartet!«, rief sein Opa aus der Küche.

Er blieb noch einen Moment stehen und starrte in den Himmel. Doch dann ließ ihn der verführerische Duft des Essens sogar die Sternschnuppen vergessen.

Angetrieben von seinem Hunger, rannte er zur Treppe und rutschte das Geländer aus poliertem Eichenholz hinunter, so wie er es immer tat, wenn keiner hinguckte.

Opa England deckte gerade den mit Kerzen dekorierten Tisch. So wie alles im Haus war auch dieses Möbelstück alles andere als alltäglich. Es bestand aus einer großen Holzplatte, die aussah, als wäre sie aus dem Stamm eines riesigen Baumes herausgesägt worden. Wenn man am Tisch saß, konnte man die unzähligen Alterslinien erkennen; und immer, wenn Cody zu Besuch war, versuchte er, sie zu zählen. Doch es gelang ihm nie und er fragte sich, aus welchem Baum der Tisch wohl gemacht war.

»Hier noch der Auflauf aus Süßkartoffeln und Räucherspeck«, präsentierte Opa die Beilage.

Henry Tuttle war ein guter Koch. Vor vielen Jahren hatte er sich das Kochen selbst beigebracht, nachdem seine Frau gestorben war. So hatte es zumindest Codys Vater erzählt. Und heute war er besser darin als irgendjemand sonst in der Familie. Cody wusste nicht, wie alt sein Opa eigentlich war. Doch wenn er ihn fragte, bekam er stets spaßige Antworten.

»Ich bin so alt, ich habe schon George Washington gewählt«, sagte er dann. Oder: »Ich bin älter als die Freiheitsstatue!«

Das war natürlich Unsinn, so viel verstand Cody. Geschichte war zwar nicht sein Lieblingsfach in der Schule, aber er wusste, dass George Washington vor über zweihundert Jahren Präsident gewesen war. Und so alt konnte Opa unmöglich sein. Sein tatsächliches Alter aber konnte Cody nur raten. Vermutlich jünger als Opa Detroit, denn der war schon zweiundachtzig und auf einem Ohr taub. Im Unterschied zu ihm war Opa England ein großer Mann, mit stämmigen Armen und dickem, rundem Bauch. Seine Haare waren schneeweiß und sein kantiges Gesicht schmückte ein ebenfalls weißer Bart, der kurz und spitz rasiert war. Cody musste schmunzeln – wäre der Bart seines Opas länger, dann hätte er eine ziemliche Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann. Doch das Auffälligste waren seine grünen Augen. Die gleichen Augen, die auch Cody hatte. Aber die seines Opas schimmerten im Kerzenlicht wie Smaragde und schienen immer wach zu sein, hellglänzend und voller Aufmerksamkeit, als würden sich dahinter tausend Geheimnisse verstecken. Wenn Henry Tuttle seine Geschichten erzählte, konnte man glauben, dass diese tatsächlich wahr waren, so seltsam sie auch klangen.

»So, nun lasst mich noch ein wenig Holz in den Kamin geben und dann essen wir endlich diesen köstlichen Braten«, sagte der Opa freudig und legte ein paar Scheite ins Feuer.

Codys Augen wanderten zu dem Schild, der über dem offenen Kamin hing. Er sah aus wie der Schild eines Ritters. Auch wenn die Farben über die Jahre verblichen waren, konnte man erkennen, dass die eine Seite einst ganz in Blau, die andere in Gelb gehalten war. Darüber war in dunklen Linien ein Löwe gezeichnet. Cody hatte sich zuvor nie darüber Gedanken gemacht, doch in der Schule hatten sie über das Mittelalter gesprochen, und nun fragte er sich, ob der Schild echt war und woher sein Opa ihn wohl hatte.

»Was ist das eigentlich für ein Schild, Opa?«

Henry Tuttle zog eine Braue hoch und schaute seinen Enkel mit wachen Augen an.

»Gefällt er dir? Nun … dieser Schild gehörte einst einem Ritter, Cody, einem tapferen Mann. Und das ist sein Wappen. Er war bekannt dafür …«

»Du kannst Cody nachher eine deiner Geschichten erzählen«, unterbrach ihn Liane lachend, »lass uns endlich essen, Henry, ich verhungere sonst noch!«

Opa England nickte und versprach, seine Erzählung später fortzusetzen. Mit einem langen Messer schnitt er den glänzenden Braten an.

»Niemand soll sagen, ihr würdet nichts zu essen bekommen, meine Lieben!«

Er verteilte die saftigen Bratenstücke und Liane gab jedem einen großen Löffel Süßkartoffelauflauf. Plötzlich erinnerte sich Cody wieder an die Sternschnuppen.

»Eben, als ich mit Buster oben war, habe ich noch eine Sternschnuppe gesehen. Schon die zweite heute«, erzählte Cody. »Ob das etwas bedeutet, Opa?«

Opa England schaute amüsiert hinter seinem riesigen Bierkrug hervor. »Nun, Sternschnuppen sieht man hier sehr oft. Der Himmel ist viel klarer als bei euch in Chicago«, sagte er und setzte den Krug lächelnd ab. »Vielleicht war es aber auch der Weihnachtsmann, wer weiß. Auf jeden Fall darfst du dir etwas wünschen.«

Der Braten war zart wie Butter und hatte eine leichte Schärfe, die Kruste schmeckte süß nach Honig und Nüssen. Opa trank zum Essen dunkles Bier und für Liane hatte er süßen, roten Wein aus dem Keller geholt. Für Cody gab es einen selbstgemachten Weihnachtspunsch, der nach Traube, Apfel, Zimt und allerlei unbekannten Gewürzen roch. Immer, wenn niemand hinsah, gab Cody dem Hund schnell ein Stück vom Braten ab. Nachdem die Dogge Codys Hose komplett vollgesabbert hatte, ließ er es allerdings bleiben.

Obwohl alle nach dem Hauptgang schon satt waren, brachte Opa noch Bratäpfel mit Eis und Eierpunsch als Nachtisch.

»Cody, was hältst’n davon, wenn wir dieses Jahr ’n paar Tage über die Grenze nach Kanada fahren und zelten?«, fragte Opa. »Die Fische dort sind noch größer und ich könnte dir Fliegenfischen beibringen.«

»Fliegenfischen?«

»Genau! Mit den Fliegen kriegen wird die richtig dick’n Brocken.«

Cody fand diese Idee aufregend, er war noch nie in Kanada gewesen. Seit Codys Vater verschwunden war, hatte Opa England jedes Jahr einen Teil der Sommerferien mit seinem Enkel verbracht.

Nachdem sie zu Ende gegessen hatten, war es bereits spät und Cody müde. Trotzdem wollte er noch nicht schlafen gehen.

»Du wolltest mir doch von dem Ritter mit dem Schild erzählen?«, sagte er in der Hoffnung, noch ein wenig länger wach bleiben zu dürfen. Auch wenn er die Geschichten nicht mehr so gerne hörte wie früher, war es doch allemal besser, als ins Bett gehen zu müssen.

Opa gefiel die Idee und auch Liane hatte nichts dagegen, aber sie mahnte ihren Schwiegervater, die Geschichte kurz zu halten.

Cody und seine Mutter setzten sich auf die große alte Couch aus rissigem, braunem Leder. Opa England legte noch eine Platte in sein Grammophon und leise ertönte aus dem Trichter weihnachtliche Musik. Den Gesang verstand Cody nicht, vermutlich war es irgendeine europäische Sprache, vielleicht Italienisch oder Französisch. Er entschied sich, Opa England später danach zu fragen. Dieser setzte sich in seinen Ohrensessel und zündete sich seine lange, nussbraune Pfeife mit dem elfenbeinfarbenen Ende an.

»Du solltest nicht mehr rauchen, Henry, schon gar nicht in deinem Alter«, mahnte Liane vorwurfsvoll. »Das ist nicht gut für dich.«

Cody wusste, dass sie recht hatte, aber er mochte den torfigen Geruch und die dicken Rauchkringel, die Opa England immer machte.

»Also«, flüsterte Henry Tuttle mit tiefer Stimme, »ich erzähle euch die Geschichte von einem König, dem vielleicht bekanntesten aller Herrscher.«

»Wie hieß er?«, wollte Cody wissen.

»Nun, er hat vor sehr langer Zeit gelebt. Wenn ich mich recht erinnere, war sein Name Philipp. In anderen Legenden heißt er Arthus, wieder andere sagen, Arthus sei sein Vater gewesen und Urvater aller Könige«, begann Opa England.

Seine Geschichten waren immer spannend, wenn auch manchmal etwas abenteuerlich. Cody stellte sich jedes Mal vor, er selbst sei der Held darin.

»Ihr müsst wissen, dass König Philipp zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, bereits sehr alt war. Er herrschte über ein riesiges Reich im hohen Norden. Es lag hinter großen Bergen und eisigen Gewässern und hieß Avalon.«

Cody hatte schon mal von Avalon gehört, und er erinnerte sich an ein altes Kinderbuch über Ritter und Drachen. Doch ein Schild war darin nicht vorgekommen.

»Nun«, fuhr Henry Tuttle fort, »angesichts seines hohen Alters war es an der Zeit, über die Nachfolge in seinem Reich nachzudenken. Damals war es so, dass der älteste Sohn den Thron erbte. Doch da gab es ein kleines Problem: Philipps Söhne waren Zwillinge und niemand konnte sich mehr erinnern, welcher zuerst geboren worden war. Der eine, Prinz Riwan, war unglaublich tapfer, hatte schon allerhand Schlachten gewonnen und die Frauen im Reich liebten ihn sehr. Die Männer bewunderten ihn angesichts seiner Taten. Doch Riwan war auch verschwenderisch. Er kaufte sich die teuersten Pferde, die besten Rüstungen und hielt Turniere ab, die er selbstverständlich alle gewann.

Der andere Bruder, Prinz Simbar, war von gänzlich anderer Natur. Er war ruhig und zurückhaltend, oft vergaßen die Leute daher, dass der König zwei Söhne hatte. Simbar war jedoch äußerst klug, verbrachte viele Tage in der großen Bibliothek Avalons, in welcher abertausende Bücher standen, und ließ sich nur zu besonderen Anlässen am königlichen Hof blicken.

Wie du dir denken kannst, Cody«, unterbrach Henry Tuttle die Geschichte, zog an seiner Holzpfeife und blies einen dicken Rauchkringel in den Raum, bevor er fortfuhr, »war es für König Philipp nicht leicht, einen Nachfolger zu bestimmen. Keiner der beiden schien gänzlich als König geeignet zu sein. Doch er hatte einen Plan.

Eines Tages ließ er Simbar und Riwan zu sich rufen, um ihnen seine Entscheidung zu verkünden: Sie sollten gemeinsam, als Brüder, Avalon regieren. So reichte er Riwan das Schwert des Königs, damit er auch in kommenden Kriegen siegreich sein würde. Und Simbar erhielt seinen Schild, als Zeichen der Besonnenheit, um das Reich in friedlichen Zeiten zu führen.«

»Und hat es funktioniert?«

»Nein. Es kam anders, als König Philipp es sich erhofft hatte. Macht und Gier kann selbst das Band zwischen Brüdern vergiften, Cody«, flüsterte sein Opa. Er blickte nachdenklich zu dem Schild über dem Kamin, während er einen tiefen Zug aus seiner Pfeife nahm. Langsam blies er dicke Rauchkringel in die Luft, die sich an den Balken der Decke auflösten.

Cody kam es wie eine Ewigkeit vor, bis Opa England seine Geschichte fortsetzte.

»Keiner der beiden Brüder wollte das Reich mit dem anderen teilen und Missgunst breitete sich zwischen ihnen aus. Ihr Streit führte so weit, dass sie einander stets misstrauten und überall Verschwörungen und Intrigen sahen. Auch König Philipp, mitt lerweile alt und schwach, konnte die beiden nicht miteinander versöhnen und schließlich kam es, wie es kommen musste.«

»Ich wette, Riwan hat Simbar getötet«, platzte es aus Cody hervor.

Doch sein Großvater schüttelte den Kopf. »Es war genau andersherum! Eines Nachts schlich sich Simbar durch ein Fenster in die gut bewachten Gemächer seines Bruders und erdolchte ihn im Schlaf. Riwan entwich ein letzter Schrei und die Wachen stürmten herein und erwischten Simbar auf frischer Tat. König Philipp war außer sich vor Zorn und von solcher Trauer erfasst, wie sie nur ein Vater kennt, der einen Sohn verloren hat. Dennoch liebte er Simbar noch immer. Den Thron konnte er ihm angesichts seiner unglaublichen Tat natürlich nicht mehr überlassen und er verbannte ihn aus Avalon. König Philipp wandte sich an Avalons Geheimgesellschaft der Handwerker. Diese schufen einen seltenen und wunderschönen Stein. Den Legenden nach wurde Prinz Riwans Schwert von Philipp selbst in den Stein gestoßen und somit versiegelt. Nur einem wahren König könne es gelingen, das Schwert aus dem Stein zu ziehen.

Noch in derselben Nacht starb Philipp. Von nun an versuchten tapfere Ritter, listige Gauner, Tunichtgute und Abenteurer von überallher das Schwert aus dem Philippstein zu befreien. Niemand war in der Lage, es an sich zu nehmen. Und mit der Zeit verfiel Avalon in Unruhen, denn es hatte keinen Herrscher, und mächtige Lords kämpften um den Thron, ohne dass ihn einer für sich beanspruchen konnte. Nach und nach zerfiel Avalon und geriet in Vergessenheit.«

»Und Simbar?«

»Wie ich bereits sagte, wurde er verbannt. Einige meinen, er sei einsam in einem fernen Land gestorben, andere behaupten, durch List und Geschick sei er zu großem Reichtum gelangt und hätte sein eigenes Königreich errichtet. Sein Schild jedenfalls tauchte über die Jahrtausende immer wieder auf«, beendete Opa Eng land seine Geschichte mit einem Kopfnicken zu dem blau-gelben Schild über dem Kamin.

Cody musste ungläubig lachen, doch etwas in Opas Stimme klang so ernst, dass er ihm fast glaubte.

»Du denkst, ich lüge?«

»Ich … nun … ich meine, wie bist du an den Schild gekommen?«

»Das, mein lieber Enkel, ist ’ne andere Geschichte«, sagte er und klopfte die Asche aus seiner Pfeife.

Die Geschichte hatte Cody gefallen, aber er war sich sicher, dass Opa England sie frei erfunden hatte. Zumindest den Teil, der mit dem Schild über dem Kamin zu tun hatte. Den Rest hatte sich der Großvater vielleicht aus alten Legenden zusammengereimt. Avalon gab es nicht; es war nur ein Märchen, eine Lektion, so wie jede von Opas Geschichten. »Sei nicht gierig«, »Streite dich nicht«, wollte er ihm damit sagen. Dennoch, sein Opa würde nie zugeben, dass es nur eine Geschichte war.

Cody gähnte laut, während Opa England den letzten Schluck aus seinem Bierkrug trank. Die Pfeife war mittlerweile verdampft und die Musik aus dem Grammophon verstummt.

»Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, Cody«, sagte seine Mutter und streichelte seinen Kopf.

Er leistete keine Widerworte. Er war tatsächlich müde. Außerdem wollte er schnell einschlafen, damit der nächste Tag kam und er endlich seine Spielkonsole auspacken konnte. Er sagte seiner Mutter und Opa England gute Nacht, ging die Treppe hoch und Buster folgte ihm, denn der große Hund schlief immer bei ihm. Cody putzte sich rasch die Zähne, und bevor er sich versah, lag er im Bett und war eingeschlafen.

Die Sternenurkunde

Cody wurde vom Duft frischer Waffeln geweckt. In der Nacht hatte er seltsame Träume gehabt, von Drachen, singenden Barden, Rittern und fernen Ländern, aber er hatte gut geschlafen. Er schaute auf die Uhr neben seinem Bett; es war bereits zehn. Dann erst fiel es ihm ein: Es war Weihnachten, und das bedeutete vor allem eines – Geschenke.

Schnell sprang er aus dem Bett, stolperte dabei fast über den noch schlafenden Buster und rannte die Treppe hinab. Seine Spielkonsole, endlich war es so weit! Der Tisch war bereits gedeckt und sein Opa machte gerade belgische Waffeln mit Schlagsahne, Zimt und Früchten. Aber dafür hatte Cody jetzt keine Zeit.

»Guten Morgen«, sagte der Großvater gut gelaunt. »Ich dachte, du würdest vor allen anderen aufstehen, um deine Geschenke auszupacken.«

Cody rieb sich den restlichen Schlaf aus den Augen und setzte sich sofort vor den Weihnachtsbaum. Opa England, der soeben eine große Platte Waffeln auf den Tisch gestellt hatte, stand nun neben ihm und schaute zu.

Das erste Geschenk war ein Buch über die Milchstraße. Cody blätterte kurz darin. Es war voller Informationen zu allen Planeten des Sonnensystems, mit Bildern und Steckbriefen. Das zweite Geschenk war ein grau-weißer Rucksack, der Cody gut gefiel. Daran war ein kleiner, sehr leichter Schlafsack gebunden. Er war ganz neu, nicht alt und gebraucht wie die meisten Sachen von Opa England.

»Der Rucksack ist absolut wasserdicht. Wenn wir zelten gehen, kannst du da deine Sachen reintun«, erklärte sein Opa fröhlich.

Nun war nur noch ein Geschenk übrig. Darin musste die Kon sole sein! Gierig riss Cody das rote Papier auf. Doch statt eines Pappkartons mit Spielkonsole kam eine uralte, seltsam riechende Holzkiste zum Vorschein. Cody konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Er blickte in Opa Englands Gesicht und sagte zunächst nichts.

»Mach sie ma’ auf«, ermutigte ihn der Großvater und seine Stimme klang ungewöhnlich aufgeregt. »Ich glaube, der Weihnachtsmann hat dieses Jahr etwas ganz Besonderes für dich gebracht.«

Seufzend öffnete Cody den kupfernen Verschluss und blickte dabei auf die seltsame Schrift, die sich über den Deckel zog. Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte, doch sicher nicht das, was nun zum Vorschein kam. Es war ein – so viel musste Cody sich eingestehen – interessant aussehender … Stein. Er war schwarz. Vielleicht war es auch ein sehr dunkles Silber, Cody konnte es im Licht des Weihnachtsbaumes nicht genau erkennen. Goldene, unregelmäßige Linien durchzogen ihn. Doch es war nur ein Stein, nichts weiter.

Cody spürte ein wenig Wut in sich aufsteigen. Er beherrschte sich jedoch und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den anderen Gegenstand in der Kiste – einen Brief. Er sah alt aus und war aus Pergament. Cody nahm ihn vorsichtig in die Hand und versuchte, ihn zu lesen. Er war in einer fremden Sprache geschrieben.

»Was ist das?«, fragte er und versuchte dabei, nicht zu enttäuscht zu klingen.

»Es ist eine sehr, sehr alte Urkunde, Cody, auf Latein geschrieben. Auch die Kiste ist antik! Die Gravur auf dem Deckel ist in arabischer, lateinischer und altnordischer Schrift sowie mit Runen längst vergessener Kulturen Südamerikas«, erklärte sein Opa ihm. »Die Worte bedeuten, dass alle Völker eins sind. Eine wichtige Lektion, Cody!«

Nun ärgerte er sich wirklich. Er wollte keine weitere Lektion von seinem Opa. Warum, um alles in der Welt, hatte er nicht wenigstens etwas Neues bekommen oder zumindest etwas, das er lesen konnte?

»Was ist das denn für eine Urkunde?«, fragte er genervt.

»Es ist eine Sternenurkunde. Wenn du sie unterschreibst, dann gehört dir ein Planet, weit, weit, weit weg in der Milchstraße«, erklärte Opa England stolz und streckte bei jedem »weit« die Arme ein Stück auseinander. »Auf der Urkunde steht, dein Planet heißt Ignotus. Der Stein ist ebenfalls sehr alt, er kommt aus den Tiefen des Kosmos.«

Cody schwieg. Er wusste nicht, was das alles sollte. Irgendein uraltes Stück Papier und ein Stein, der angeblich aus dem Weltraum kam? Was konnte man damit schon anfangen?

»Stimmt was nich’, Cody?«, fragte Opa. »Gefällt dir dein Geschenk nicht?«

Cody wusste, dass sein Großvater es nicht böse meinte, aber er war trotzdem sauer. Seit Wochen hatte er sich darauf gefreut, gemeinsam mit seinen Freunden auf der Konsole zu spielen. Nun würde er der Einzige sein, der keine hatte. Und statt Verbrecher auf seinem Fernseher zu jagen, würde er seine Zeit damit verbringen können, einen Stein anzustarren! Kurz fragte er sich, ob er den Stein nicht gegen eine Konsole eintauschen konnte. Doch er verwarf den Gedanken rasch wieder. Niemand würde solch einen Tausch mit ihm eingehen.

»Ich dachte, ich bekomme dieses Jahr eine Konsole«, sagte Cody, etwas wütender als beabsichtigt.

»Ach, Cody«, begann sein Opa freundlich, »es tut mir leid, dass dir dein Geschenk nicht gefällt. Aber wenn du älter bist, wirst du sehen, dass es wertvoller ist als irgend so ein Spielzeug.«

»Frohe Weihnachten!«, rief Codys Mutter. Sie trug noch ihren Pyjama. Offensichtlich hatte der Waffelduft auch sie geweckt. »Naa, Cody, was hat der Weihnachtsmann dir gebracht?«

Cody saß noch immer vor der Holzkiste und blickte seine Mutter stumm an.

»Stimmt was nicht?« Ihr Gesicht nahm einen irritierten Ausdruck an.

Cody zeigte ihr die Truhe und deren Inhalt. Liane schaute grimmig zu Opa England und Cody verstand, dass sie keine Ahnung davon gehabt hatte. Sie war wohl auch davon ausgegangen, dass Opa ihm, wie vereinbart, die Konsole schenken würde. Henry Tuttle begriff nun, dass die beiden von ihm enttäuscht waren.

»Liane, Cody«, sagte Opa England sanft, »lassen wir uns die Weihnachtslaune doch nicht wegen irgendwelcher Geschenke vermiesen. Es gibt Waffeln mit Ahornsirup, Sahne und Obst«, meinte er in seiner gewohnt fröhlichen Art. »Schließlich geht es an Weihnachten doch um die Familie.«

Cody stand auf, nahm das Buch über die Planeten und setzte sich schweigend an den Tisch. So enttäuscht er auch war, kaum probierte er die Waffeln mit kanadischem Ahornsirup, besserte sich seine Laune ein wenig. Während des gesamten Frühstücks sprach er dennoch kein Wort, sondern blätterte in seinem neuen Buch. Lange schaute er sich ein Bild der Milchstraße an und fragte sich, ob es möglich war … Kam der Stein tatsächlich von irgendwo weit her, aus den Tiefen des Weltalls? Er aß seine Waffel auf und klappte das Buch wieder zu.

»Kann ich eine Runde mit Buster um den See laufen?«, fragte er, denn er hatte keine Lust, den ganzen Tag im Haus zu bleiben.

»Ich dachte, wir gehen später gemeinsam«, meinte sein Großvater überrascht.

»Nun lass ihn doch«, sagte Liane, »wir beide räumen inzwischen die Reste vom Weihnachtsessen auf.«

»In Ordnung, geh aber nicht auf den See. Er ist zwar zugefroren, aber ich habe einige Löcher zum Eisangeln reingeschlagen, die man leicht übersieht, wenn sich dort Schnee gesammelt hat«, warnte sein Opa.

Cody sprang vom Stuhl auf und lief, gefolgt von Buster, in sein Zimmer, um sich umzuziehen.

Bevor er nach draußen ging, steckte er sich, als niemand hinschaute, den Stein in die Jackentasche. Kaum hatte er die Tür geöffnet, rannte Buster schon an ihm vorbei und schubste ihn fast um. Cody konnte sich gerade noch am Holzgeländer der Veranda festhalten.

Er entschied sich dazu, einmal um den See herumzugehen. Auf dem Weg formte er Schneebälle und warf sie weit von sich. Buster jagte ihnen freudig bellend hinterher. Der Hund fing die Bälle mit seinem Maul, und wenn sie zersprangen, rannte er zurück zu Cody, in voller Erwartung auf einen neuen Wurf.

Bereits nach kurzer Zeit fiel Cody ein, dass er seine Handschuhe vergessen hatte. Er schob seine Hände in die Jackentaschen, um sie aufzuwärmen, zuckte aber mit seiner rechten Hand sofort wieder zurück. Seine Finger hatten den Stein ertastet, der viel wärmer war, als es normal gewesen wäre.

Vorsichtig holte Cody den Stein hervor und betrachtete ihn genauer. Er war etwas kleiner als ein Tennisball und nicht ganz rund. Sanft strich er mit seiner Hand über die Kanten und Unebenheiten. Cody wunderte sich, denn selbst an der Luft, bei kaltem Wind, kühlte der Stein nicht ab. Die Oberfläche war inzwischen fast heiß und es sah so aus, als würden die goldenen Linien das Sonnenlicht viel stärker reflektieren als gewöhnlich. Cody blickte sich um und bemerkte, dass er recht hatte. Der Stein warf das Sonnenlicht in alle Richtungen. Jetzt hatte er sogar das Gefühl, dass der Stein seine Wärme auf ihn übertrug. Er fror überhaupt nicht mehr. Im Gegenteil, ihm war auf einmal so warm, als säße er im Haus vor dem Kamin.

Cody war das nicht geheuer. Kurz überlegte er, ob er den Stein einfach in den See werfen sollte. Nur einige Meter von ihm entfernt befand sich eines der Löcher, von denen sein Opa gesprochen hatte. Mit großen Schritten ging er darauf zu und schaute in das dunkle Wasser. Eine dünne Eisschicht hatte sich über der Öffnung gebildet, aber Cody war sich sicher, sie zerschmettern zu können. Er müsste den Stein nur fest genug darauf werfen. Mit zittrigen Händen hielt er ihn über das Loch. Doch er konnte den Stein nicht loslassen. Irgendetwas in ihm wollte ihn behalten. Vielleicht war er ja tatsächlich aus dem Weltall? Ohne weiter darüber nachzudenken, steckte Cody ihn zurück in seine Jackentasche.

Augenblicklich spürte er wieder den kalten Wind in seinem Gesicht und seine Hand begann zu frieren. Vielleicht war der Stein doch kein so schlechtes Geschenk gewesen? Was aber hatte es mit dieser seltsamen Urkunde auf sich? Es war unmöglich, einen Planeten zu besitzen. Und selbst wenn, wie sollte man denn bitte dort hinkommen?

Als er zurück zum Haus kam, saß seine Mutter draußen auf der Veranda, eingewickelt in eine dicke Decke, und trank Tee.

»Komm her«, rief sie ihm zu, »setz dich zu mir.«

Cody stieg die kleinen Stufen hinauf und nahm neben ihr auf der Bank Platz. Sie reichte ihm ein Stück von der Decke und goss ihm Tee ein.

Cody trank einen Schluck. Der Tee war mit Honig gesüßt, genauso wie er ihn mochte, und schmeckte nach Pfefferminz.

»Es ist immer so ruhig hier«, meinte seine Mutter, »ganz anders als bei uns zu Hause.«

Er antwortete nicht. Stattdessen beobachtete er Buster, der sich im Schnee wälzte.

»Sei nicht sauer auf Opa«, sagte sie. »Er ist nun mal alt und versteht nicht, was die Konsole dir bedeutet hätte. So ist er eben.«

Cody nickte nur. Er wusste, dass seine Mutter recht hatte. Opa besaß seinen eigenen Willen, dies war schon immer so gewesen, auch als Codys Vater noch gelebt hatte. Bei der Trauer um ihn vergaß Cody manchmal, dass er nicht nur seinen Vater verloren hatte, sondern Opa England auch einen Sohn.

Cody wollte nicht im Streit mit Opa England auseinandergehen, schließlich hatten sie ja vor, im Sommer gemeinsam nach Kanada zu fahren.

Er saß noch eine Weile mit seiner Mutter draußen und trank Tee. Von drinnen hörten sie Opa laut zur Musik aus dem Grammophon singen. Keiner der beiden sagte etwas. Sie schwiegen oft, wenn sie zusammen waren; Worte waren nicht nötig, denn sie verstanden sich auch so.

Schließlich war der Tee leer und trotz der Decke froren sie.

Kaum hatten sie das Haus betreten, hörten sie Opa England rufen: »Buster, nein! BUSTER, NEIN! Geh auf deinen Platz, du machst alles dreckig!«

Die Dogge hatte sich nass und voller Schnee auf die Couch gelegt. Jetzt trottete sie beleidigt auf die Hundedecke neben dem Kamin.

Den restlichen Tag verbrachten Cody und sein Großvater mit alten Brettspielen. Opa England hatte keine Spiele wie »Mensch ärgere dich nicht« oder »Monopoly«. Stattdessen spielten sie etwas, das er »Nimm die Festung ein« nannte. Auf einem großen Holzbrett war in der Mitte eine Burg eingezeichnet. Außenherum befanden sich mehrere Felder, auf denen der Angreifer seine Figuren platzierte. Wie beim Schach hatten die Figuren verschiedene Fähigkeiten. Der Verteidiger postierte seine Truppen wiederum in der Burg. Um zu gewinnen, musste man geschickt vorgehen und etwas Würfelglück haben.

Sie spielten drei Partien und Cody trug immerhin zweimal den Sieg davon. Seine Mutter las unterdessen ein Buch, das ihr der Großvater zu Weihnachten geschenkt hatte.

Abends las auch Cody in seinem Buch. Nach einer Weile nahm er seinen Stein, den er auf den Nachttisch gelegt hatte, und betrachtete ihn. Er fühlte sich weder warm noch kalt an in seiner Hand und auch das Licht der Nachttischlampe wurde nicht ungewöhnlich reflektiert. Das, was am See passiert war, musste Zufall gewesen sein. Es war eben nur ein Stein, redete er sich ein, ein ganz normaler Stein. Nichts daran war besonders.

Am nächsten Morgen packte Cody seine Sachen für die Rückreise. Inzwischen war er sich sicher, dass ihm seine Einbildung gestern einen Streich gespielt hatte. Seine Kleidung verstaute Cody nicht in seinem alten, sondern in seinem neuen Rucksack. Er freute sich darauf, ihn in Zukunft auch in der Schule zu benutzen.

Seine Wut auf seinen Opa war fast verflogen. Immerhin hatte er schöne Weihnachten gehabt und im Sommer würde er nach Kanada zum Campen fahren, während seine Freunde die Ferien wahrscheinlich in einem langweiligen Hotel oder sogar daheim verbringen würden.

Nach dem Frühstück half er seinem Opa beim Enteisen der Scheiben des Toyotas.

»Noch immer traurig wegen dieser Spielkonsole, Cody?«, fragte Opa England.

»Nein, diese Urkunde und der Stein, das … ähm … waren gute Geschenke«, log er. »Mit der Konsole kann ich auch bei meinen Freunden spielen«, fügte er hastig hinzu.

Opa England schien glücklich über die Antwort seines Enkels und umarmte ihn zum Abschied.

»Für deinen Geburtstag habe ich sogar jetzt schon ein Geschenk«, sagte er geheimnisvoll und fügte lachend hinzu: »Und nein, es ist keine Spielkonsole.«

Da musste auch Cody lachen.

An diesem Tag entschied er sich dazu, keine besonderen Ge schenke mehr von seinem Opa zu erwarten; er musste akzeptieren, dass dieser seinen eigenen Willen besaß.

Opa England verabschiedete sich von seiner Schwiegertochter und die beiden fuhren zurück auf die zugeschneite Straße, von der sie gekommen waren. Cody hatte wie immer das Gefühl, als würde ihn die kleine Schotterstraße von einer Welt in eine andere führen. Ja, es kam ihm so vor, als würde er eine unsichtbare Wand durchschreiten, die ihn zurück in die echte Welt holte. Bei Opa England schien die Zeit fast stehen zu bleiben und es war stets ruhig und gemütlich. Daheim in Chicago wiederum warteten seine Freunde, die Schule und der Alltag auf ihn.

Der Diplomat

Fünf Jahre später

Sie lachten ihn aus. Cody wäre das egal gewesen, doch selbst seine Lehrerin, Mrs. Smith, schmunzelte, als er sein Referat in Physik vortrug. Mrs. Smith war eine kleine, untersetzte Frau mit Brille und sonderbarem Kleidungsstil. Heute trug sie einen pinken Rollkragenpullover und einen furchtbaren Rock mit Blumenmuster.

Cody hatte der Klasse gerade erklärt, dass es theoretisch möglich sei, durch Wurmlöcher in andere Galaxien zu reisen, oder sogar in die Zukunft und in die Vergangenheit.

»Dann gibt es noch etwas, das ›die vierte Dimension‹ genannt wird«, fuhr er fort. »Dort verhält es sich so …«

»Lass gut sein, Cody«, unterbrach ihn Mrs. Smith und schaute hinter ihren dicken Brillengläsern hervor. »Ich glaube, drei Dimensionen reichen uns für heute. Du hast deine Zeit ohnehin schon überschritten.«

Cody ärgerte sich. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, wochenlang Bücher gelesen und sogar einen Brief an Michio Kaku, einen der bekanntesten Physiker, geschrieben. Der hatte ihm allerdings nicht geantwortet. Cody hatte auch nicht wirklich damit gerechnet. Der Wissenschaftler hatte sicher Wichtigeres zu tun, als E-Mails an vierzehnjährige Jungen zu schreiben. Ein wenig enttäuscht war Cody dennoch gewesen. Aber auch ohne Michio Kakus Antwort war sein Vortrag der einzige gewesen, der einigermaßen spannend war. So fand er jedenfalls.

Jeder in der Klasse musste dieses Jahr ein Referat in Physik halten. Fast alle hatten sich langweilige Themen wie die Schwerkraft oder den Aufbau des Sonnensystems ausgesucht. In Physik konnte Cody stets glänzen, in den anderen Fächern war er zumindest mittelmäßig. Auch in Sport konnte er einigermaßen mithalten. Er war nicht unsportlich, nur waren die meisten anderen Jungen größer und stärker als er. Seinem Tischnachbarn, Sam Meyer, ging es da deutlich schlechter. Denn der konnte nicht einmal eine Runde um den Sportplatz laufen, ohne dabei mehr Schweiß zu verlieren als der Rest der Klasse zusammen. Allerdings war Sam der Einzige, der nach Codys Referat geklatscht hatte. Ob es aus Mitleid war oder weil nur er verstanden hatte, worüber Cody redete, blieb offen. Auf jeden Fall war Sam ein echter Freund. Sie unternahmen viel zusammen, machten gemeinsam ihre Hausaufgaben oder spielten Videospiele. Cody hatte sogar einmal versucht, Sam fürs Angeln zu begeistern. Sein beleibter Freund fand es allerdings öde, stundenlang darauf zu warten, dass ein Fisch anbiss.

»Außerdem, was soll ich dann damit? Essen? Ich hasse Fisch«, hatte er damals gesagt.

Cody setzte sich zurück auf seinen Platz, zwischen Sam und Helen, die nun aufstand, um ihren Vortrag zu halten. Cody hatte Helen bei ihrem Referat geholfen, obwohl er genau wusste, dass sie ihn ausnutzte. Sie rief ihn nur dann an oder schrieb ihm Nachrichten, wenn sie die Hausaufgaben brauchte oder, wie letzte Woche, Hilfe für das Referat. Er hatte sich vorgenommen, ihr dieses Mal wirklich nur zu helfen. Tatsächlich hatte er ihr aber fast die gesamte Arbeit abgenommen, sodass sie jetzt nur noch ihren Text ablesen musste.

FLATSCH … Irgendetwas Nasses traf Codys Nacken. Er drehte sich um. Dieser Mistkerl! Sean Gallagher hatte aus einem Kugelschreiber ein Blasrohr gebastelt und schoss feuchte Papierkugeln auf Cody und Sam. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte ihm das blöde Rohr direkt ins Gesicht geworfen. Doch er ließ es lieber. Sean war nicht nur über einen Kopf größer als er, sondern auch einer der besten Spieler des Footballteams. Würde Cody sich wehren, so viel war sicher, käme Übles auf ihn zu. Sean und seine Freunde würden ihn in der Pause verhauen oder ins Klo stecken … und zwar mit dem Kopf voran. Es wäre nicht das erste Mal und Cody war klug genug, derlei aus dem Weg zu gehen. Stattdessen zog er die Kapuze seines Pullovers hoch, sodass er Sean wenigstens diesen Spaß vermiesen konnte.

Pünktlich mit dem Ende von Helens Referat bimmelte die Schulglocke und somit begann das Wochenende.

»Cody, Helen, ihr kommt noch mal zu mir«, erklang die Stimme von Mrs. Smith, »der Rest darf gehen. Vergesst nicht, wir schreiben am Montag einen Geschichtstest! Also, nutzt das Wochenende und lernt.«

Einige protestierten lautstark, allen voran Sean Gallagher, der tönte, er hätte am Sonntag ein Spiel.

»Dann hast du ja heute und am Samstag genug Zeit zum Lernen«, entgegnete ihm Mrs. Smith.

Cody musste grinsen, allerdings nur so lange, bis Sean ihm mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf schlug.

»Halt’s Maul, Tuttle.«

Mrs. Smith bekam davon natürlich, wie immer, nichts mit. Als die anderen gegangen waren, begann sie mit der Besprechung der Referate.

»Helen, das war wirklich gut. Wenn deine Tests doch nur genauso wären …«, seufzte sie. »Dir hat doch nicht etwa jemand geholfen, oder?« Sie blickte forschend über ihre Brille hinweg, die bis zur Nasenspitze vorgerutscht war.

»Nein, ich habe mich nur gut vorbereitet«, sagte Helen frech, direkt ins Gesicht der Lehrerin.

Mrs. Smith schien das zu genügen, sie konnte Helen ohnehin nichts abschlagen. So ging es den meisten. Mit ihrem unschuldigen, runden Gesicht, den großen, braunen Augen, dem kastanien braunen Haar und ihrem strahlenden Lächeln konnte Helen jeden um den Finger wickeln.

»Nun gut, Helen, du hast eine Eins«, sagte Mrs. Smith, wenn auch etwas ungläubig. »Ihr dürft gehen.«

»Was ist mit meiner Note?«, hakte Cody ungeduldig nach.

»Ach ja, ganz vergessen. Dein Referat war … nun … interessant«, meinte sie. »Aber Zeitreisen, Cody, und Beamen durchs Weltall?« Beim Wort »Beamen« zeichnete sie mit zwei Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Das ist schon sehr makaber, oder?«

»Nicht Beamen, es geht um interstellares Reisen durch Wurmlöcher!«, widersprach er laut und man hörte deutlich seinen Ärger über diese Ungerechtigkeit.

»Genau das ist dein Problem, Cody. Du erklärst es nicht so, dass alle es verstehen«, gab sie zur Antwort.

»Ich erkläre es nicht zu kompliziert«, verteidigte er sich, »die anderen sind einfach zu dumm!«

Sie rückte ihre Brille von der Nasenspitze nach oben und schaute ihn böse an. Besser gesagt, sie versuchte es. Die Gläser vergrößerten ihre Augen so stark, dass sie wie eine Eule aussah. Trotzdem wusste Cody, dass er zu weit gegangen war.

»Genug davon. Nächstes Mal suchst du dir ein Thema aus, welches alle verstehen. Aber weil du dir Mühe gegeben und dich mit deinem Thema auseinandergesetzt hast, gebe ich dir trotzdem noch eine Drei.«

Cody sah sie verdutzt an. Eine Drei hatte auch Sean Gallagher bekommen – und dessen Referat hätte ein Grundschüler besser halten können. Er wollte etwas sagen, aber Mrs. Smith unterband das sofort.

»Ich will nichts mehr hören. Und sei froh, dass du nicht nachsitzen musst, weil du deine Freunde als dumm bezeichnet hast.«

Sie griff nach ihrer Tasche und ging hinaus. Cody konnte sich gerade noch verkneifen, etwas Wichtiges klarzustellen. Seine Mit schüler waren nicht seine Freunde, sondern nur irgendwelche Menschen, mit denen er zufällig in einer Klasse war.

»Tut mir leid, Cody, ich fand dein Referat gut«, sagte Helen.

Er ärgerte sich zwar über sie – schließlich hatte Helen eine bessere Note bekommen als er, dabei hatte ER ihr Referat vorbereitet –, doch er konnte ihr nie lange böse sein. Er kannte sie schon ewig. Sie hatten bereits als Kindergartenkinder zusammen gespielt, und als sein Vater verschwunden war, hatte sie ihm ihren Teddy geschenkt. Er war braun und ihm fehlte ein Auge, dennoch hatte er Cody oft Trost gespendet. Noch heute stand der flauschige Bär auf seinem Nachttisch, aber Cody räumte ihn immer schnell unter sein Bett, wenn Besuch kam.

»Schon okay«, sagte er und zog die Schultern hoch, »lass uns heimgehen.«

Helen, Sam und Cody gingen fast immer zu dritt nach Hause, schließlich lagen ihre Häuser in derselben Straße – der Dickel Street.

»Oh, heute nicht, Cody«, sagte sie. »Ich bin noch verabredet. Montag gehen wir wieder zusammen.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging Richtung Tür.

»Verabredet?«, rief er ihr hinterher. »Mit wem?«

Sie drehte sich noch mal kurz um und schaute ihn mit ihren großen, braunen Augen an. »Mit Sean.«

Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Mit diesem Arschloch?, wollte er sagen, tat es aber nicht. Sein Gesichtsausdruck schien seine Gedanken allerdings zu verraten.

»Er ist eigentlich ganz in Ordnung, wenn man ihn besser kennt. Und außerdem sieht er gut aus«, meinte sie lachend und verschwand.

Sie wollte ihn damit nicht ärgern, das wusste er. Er war für sie »so was wie ein Bruder«, wie sie immer sagte. Trotzdem regte es ihn auf. Sie hätte mit jedem ausgehen können und suchte sich diesen rothaarigen Vollidioten aus? Cody konnte Sean noch nie leiden, aber jetzt empfand er geradezu Abscheu, wenn er nur an ihn dachte.

Draußen vor der Schule wartete Sam bereits.

»Hey Kumpel, alles klar?«

Cody zog die Schultern hoch. »Ja, alles klar, lass uns gehen.«

Auf dem Heimweg lästerten die beiden ausgiebig über Sean und Mrs. Smith und Codys Laune besserte sich. Als sie an Codys Haus in der Dickel Street 23 ankamen, verabschiedete er sich von Sam, nicht ohne sich mit ihm für das Wochenende zu verabreden. Sein bester Freund winkte ihm zu und verschwand hinter der nächsten Kreuzung. Codys Wut über Helen und Sean hatte etwas nachgelassen, als er die weiße Haustür mit dem blauen Knauf öffnete.

In der Küche saß seine Mutter vor einer Kaffeetasse und starrte ins Leere. Cody merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Gesicht war verschmiert und ihm war klar, dass sie geweint hatte.

»Mum, was ist los?«

Sie schaute erschrocken auf, so als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass ihr Sohn gerade nach Hause gekommen war. Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.

»Setz dich, Cody, ich muss dir was sagen.«

Er blieb aber an der Tür stehen, zog lediglich seinen Rucksack ab und legte ihn auf den nussfarbenen Parkettboden.

»Sag schon, was ist passiert?«

Irgendetwas in ihm glaubte, nach all den Jahren hätte man nun die Leiche seines Vaters gefunden. Doch das war albern.

»Cody«, begann seine Mutter langsam, »es geht um Henry … Opa England. Er … er ist tot.«

Nun musste er sich doch setzen, direkt auf den Boden vor der Tür. Noch vor drei Tagen hatte er mit seinem Großvater telefoniert, er klang überhaupt nicht krank. Wie konnte das sein? Sie hatten doch für den Sommer einen großen Ausflug geplant. Cody spürte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Für ihn war Opa England immer mehr gewesen als bloß sein Großvater. Er hatte so viele Urlaube bei ihm verbracht, von ihm gelernt, wie man angelt, Feuer macht, und letztes Jahr hatten sie sogar ein kleines Floß gebaut und hatten damit den See vor Opas Haus befahren. Diesen Sommer wollten sie es durch einen Segelmast erweitern.

»Wie ist das passiert?«, fragte Cody. »Es ging ihm doch immer gut.«

Seine Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Die Ärzte wissen es nicht, er wurde in seinem Pick-up gefunden. Er hatte keine äußeren Verletzungen. Vielleicht ein Herzinfarkt.«

Cody schluckte. Ihm war immer klar, dass sein Großvater eines Tages sterben würde. Er war schließlich alt. Doch er hatte gedacht, er hätte noch Zeit.

Schließlich stand er auf, ging zu seiner Mutter und nahm sie in den Arm.

»Ich werde seine Geschichten vermissen«, sagte er und weinte.

Nach einer Weile nahm er die Tasse, die auf dem Tisch stand, und machte seiner Mutter neuen Kaffee, nur um irgendetwas zu tun.

Plötzlich fiel ihm etwas ein.

»Was ist mit Buster?«, fragte er und reichte seiner Mutter die dampfende Tasse. »Wir können ihn doch zu uns holen, oder?« Schließlich hatten sie einen Garten und ein großes Haus. »Ich könnte mich um ihn kümmern, wenn ich aus der Schule komme, und du könntest ihn nach draußen lassen, wenn er dich bei der Arbeit stört.«

»Ja«, sagte seine Mutter. Sie schien sich etwas gefangen zu haben, ihre Stimme klang fester. Sie nahm einen Schluck von dem Kaffee. »Ich werde nachher losfahren und Buster am Sonntag mitbringen. Übers Wochenende werde ich in St. John bleiben, um die Formali täten zu klären. Opas Sachen müssen verwaltet werden … und ich muss mich um die Beerdigung kümmern. Willst du mitkommen?«

Cody überlegte kurz. »Ich weiß nicht, ich … ich …«, stotterte er, da er keine Ahnung hatte, was er in diesem Moment wollte und was nicht.

»Schon gut, du musst nicht mit«, sagte seine Mutter, denn sie kannte ihren Sohn.

Cody war dankbar dafür. Er wollte Opas Haus, den See und alles andere so in Erinnerung behalten, wie er es gewohnt war. Ohne Opa England wäre es fremd für ihn. Außerdem war Cody jemand, der mit seiner Trauer lieber alleine war. So war es auch gewesen, als man seinen Vater für tot erklärt hatte.

Cody saß auf der Couch und starrte vor sich hin. Seine Mutter war bereits vor einigen Stunden losgefahren. Im Fernsehen lief irgendeine Dokumentation über antike Bauwerke. Unter anderen Umständen hätte es Cody vielleicht interessiert, aber er war mit seinen Gedanken woanders. Ihm fiel ein, dass er sich für morgen mit Sam zum Lernen verabredet hatte. Doch nun wollte er das Wochenende lieber alleine verbringen. Er schrieb Sam eine Nachricht mit seinem Smartphone. Sein Freund antwortete sofort.

»Tut mir leid mit deinem Opa. Kopf hoch, Kumpel. Melde dich, wenn du was brauchst.« Sam hatte die Nachricht mit einem traurigen Smiley verziert.

Cody beschloss, sich schlafen zu legen. Er war zwar kaum müde, so früh am Abend, doch er hoffte, durch ein wenig Schlaf einen klareren Kopf zu bekommen. Er stand auf und ging in die Küche, um noch ein Glas Wasser zu trinken.

Nachdenklich schaute er durchs Fenster und plötzlich erblickte er einen hellen Schweif am Himmel. Wie damals, an Weihnachten vor vielen Jahren. Cody wünschte sich allerdings nichts, ihm fiel nichts ein. Trotzdem hatte die Sternschnuppe seine Gedanken für einen Moment in andere Bahnen gelenkt.

Als er schließlich im Bett lag, starrte er an die Wand und sein Blick verharrte auf dem Schild, der über dem Schreibtisch hing. Cody musste unweigerlich lachen. Wieder eines dieser seltsamen Geschenke seines Großvaters. Vor fünf Jahren hatte ihm Opa England die Geschichte von König Philipp und seinen zwei Söhnen erzählt. Und zum nächsten Geburtstag hatte er ihm den gelb-blauen Schild mit dem Löwenmotiv überreicht. Cody hatte sich darüber sehr gefreut. Sicherlich, der Schild war nutzlos, und dennoch war er etwas Besonderes.

Cody stand auf und nahm ihn von der Wand. Er war voller Staub und schwerer, als er es in Erinnerung hatte. Außerdem war er viel zu groß für ihn. Cody stellte sich damit vor den Spiegel und musste an Simbar denken, den in Ungnade gefallenen Prinzen. Wieder musste er grinsen. Er sah unglaublich lächerlich aus mit dem viel zu großen Schild. Aber es fühlte sich gut an, etwas zu haben, das ihn an Opa England erinnerte.