Countdown bis Mitternacht - Dale Brown - E-Book

Countdown bis Mitternacht E-Book

Dale Brown

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Beschreibung

Der ehemalige US-Luftwaffenoffizier Nick Flynn wird in einem Schattenkrieg gegen Russland und den Iran verwickelt – ein Duo, das über eine schreckliche neue Waffe verfügt. Nick Flynns neuer Auftrag wird beinahe zu seinem letzten. Während eines Treffens mit einem hochrangigen iranischen Dissidenten gerät Flynn in einen Hinterhalt und entkommt dem Tod nur knapp ... Doch er hat erfahren, dass der Iran und Russland gemeinsam an einem geheimen Projekt arbeiten: Codename MIDNIGHT. Flynn ist entschlossen, die tödlichen Geheimnisse von MIDNIGHT aufzudecken. Aber es ist ein Wettlauf mit der Zeit, um zu verhindern, dass die zerstörerische Waffe gegen die Vereinigten Staaten eingesetzt wird und Millionen Menschen tötet. Die Chancen stehen schlecht für Flynn und sein Team ... Aber das hat Nick noch nie aufgehalten. Clive Cussler: »Der beste Autor von Militär-Thrillern, den es derzeit gibt.«

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Seitenzahl: 549

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Amerikanischen von Andreas Decker

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Countdown to Midnight

erschien 2022 im Verlag William Morrow.

Copyright © 2022 by Creative Arts and Sciences, LLC

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Festa Verlag GmbH

Justus-von-Liebig-Straße 10

04451 Borsdorf

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Titelbild: E-Django / 99design

eISBN 978-3-98676-235-3

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Dieser Roman ist meinen Kollegen gewidmet, die mich alle mit ihrem Einfallsreichtum und Können erstaunen und inspirieren. Die Kunst, ein geopolitisches »Was-wäre-wenn« in eine glaubhafte und spannende Geschichte zu verwandeln, treibt mich an. Machen wir weiter und sehen, was wir noch erschaffen können. Die Möglichkeiten sind endlos.

Die hohe Kiefer wird am häufigsten vom Wind geschüttelt, große Türme stürzen mit lauterem Getöse, und der Blitz trifft den höchsten Gipfel.

Horaz

Nicht der tosende Donner vernichtet, sondern der lautlose Blitz.

Ivan Panin

Russischer Emigrant und Gelehrter

Danksagung

Wieder mal tausend Dank an Patrick Larkin für all seine harte Arbeit, sein Sachwissen und sein Können.

PROLOG

An Bord der IRIS Damavand, südliches Kaspisches Meer

Juli

Vor der nordiranischen Küste lag eine schlanke, 1500 Tonnen schwere Raketenfregatte vor Anker und bewegte sich in den niedrigen Wellen des weiten Binnenmeers auf und ab. Auf dem offenen Meer wäre die Damavand von den größeren Zerstörern, Kreuzern und Flugzeugträgern im Dienst der großen Seemächte der Welt in den Schatten gestellt worden. Im Kaspischen Meer war das grau gestrichene iranische Kriegsschiff, das mit Marschflugkörpern, einem 76-Millimeter-Geschütz und Torpedos bewaffnet war, das lokale Äquivalent eines mächtigen Schlachtschiffs aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Flotten der meisten Nachbarländer, Aserbaidschan, Turkmenistan und Kasachstan, stellten kaum mehr als eine Ansammlung noch kleinerer und veralteter Raketenboote und anderer Patrouillenboote dar. Selbst die russische Kaspische Flottille, die in Astrachan, mehr als 1000 Kilometer nördlich, stationiert war, verfügte über keine einsatzbereiten Kriegsschiffe, die größer als die Damavand waren.

Trotzdem wusste Pawel Woronin, dass diese Fregatte, der Stolz der iranischen Nordflotte, als Beobachtungsplattform für den heutigen Test weitaus nützlicher als in einem echten modernen Krieg sein würde. Bei einem Kampf zwischen Nationen, deren Raketen Ziele in der halben Welt treffen konnten, waren Marinegeschütze und Kurzstrecken-Marschflugkörper nur Spielzeug. Und trotz ihrer strengen religiösen Inbrunst verstanden viele der theokratischen Herrscher des Iran diese Realität besser als die meisten anderen. Aus diesem Grund waren auf fast jedem verfügbaren Quadratmeter des Decks des kleinen Kriegsschiffs Videomonitore und Computerkonsolen untergebracht, die mit weiß gekleideten Technikern und Wissenschaftlern besetzt waren.

Innerlich lächelnd ging der schlanke, durchtrainierte Russe zu den Fenstern auf der einen Seite der Brücke der Damavand, gefolgt von seinen iranischen Gastgebern, einer Gruppe bärtiger Offiziere der Revolutionsgarde. Woronins elegant geschneiderter Anzug aus der Savile Row und seine handgefertigten italienischen Schuhe hoben sich deutlich von den dunkelgrünen Uniformen, den Schulterklappen mit Rangabzeichen und den breitkrempigen Mützen ab. Umgeben von diesen hartgesottenen Männern, deren brutale Taktiken das radikale islamische Regime im Iran an der Macht hielten und Terror in der ganzen Welt verbreiteten, schien er nichts weiter zu sein als ein kultivierter und wohlhabender Geschäftsmann. Er hielt das für eine nützliche Fassade, die sein wahres Wesen verbarg – skrupellos, raubtierhaft und absolut eigennützig.

»Der Countdown verläuft normal«, meldete einer der Techniker, die auf der Brücke hinter ihnen stationiert waren, auf Persisch. Seine Worte wurden von einem Woronin zugeteilten Übersetzer auf Russisch wiederholt. »Das Testfahrzeug vollzieht den Übergang in eine vertikale Startposition.«

Woronin hob ein Fernglas an seine blassgrauen Augen und spähte durch die Fenster. Mehrere Kilometer entfernt fuhr ein großer Lastkahn über das Meer. Eine strahlend weiße Rakete mit einer schwarzen Spitze wurde von einem leistungsstarken Hydraulikkran auf seinem Deck in Position gehievt und richtete sich langsam auf. Augenblicke später ragte sie mehr als 25 Meter über den Lastkahn hinaus.

Er nickte anerkennend über den reibungslosen Ablauf dieser heiklen Operation. Im Vergleich zu den riesigen Schwerlastraketen, die von den Vereinigten Staaten, Russland und der Volksrepublik China entwickelt worden waren, war die Trägerrakete Zuljanah zwar nicht besonders groß, wog aber dennoch mehr als 52 Tonnen. Die Feststofftriebwerke in den ersten beiden Stufen und das Flüssigtreibstofftriebwerk der obersten Stufe konnten eine große Nutzlast bis zu 500 Kilometer hoch ins All befördern.

»Die Stabilisatoren und Bewegungskompensatoren der Startrampe sind aktiviert«, sagte der Techniker ruhig und wiederholte damit die Meldungen, die von der Steuermannschaft, die die Operation von einem gepanzerten Container aus kontrollierte, der am Heck des Lastkahns befestigt war, an die Damavand gefunkt wurden. »Start in 60 Sekunden.«

Noch immer auf die ferne Rakete konzentriert, nickte Woronin erneut, diesmal erfreut über die demonstrierte Effizienz seiner iranischen Gastgeber. Teheran hatte diesen Test umsichtig für ein relativ kurzes Zeitfenster angesetzt, in dem keine amerikanischen oder chinesischen Spionagesatelliten in der Lage waren, den Start zu beobachten. Ihre Infrarot-Frühwarnsatelliten in der geosynchronen Umlaufbahn würden sicherlich den Raketenschweif der Zuljanah erkennen, wenn sie in die Höhe stieg, und Daten über ihre Flugbahn liefern. Aber das Fehlen von Echtzeit- und Radarbildern würde bestimmte Schlüsselelemente dieses geplanten Testflugs sowohl vor Washington als auch vor Peking verbergen.

Die letzten verbleibenden Sekunden vergingen in einem monotonen Durcheinander von Triebwerksstatus- und anderen Systembereitschaftsmeldungen, die von der Steuermannschaft übermittelt wurden. Woronin spürte einen plötzlichen Anstieg der Spannung um sich herum, als der kritische Moment näher rückte. Schließlich rief der Techniker: »Fünf … vier … drei … zwei … eins … Zündung!«

Der Kahn verschwand plötzlich in einer grauen Rauchwolke, die von innen heraus von einem hellen orangefarbenen Licht erleuchtet wurde. Augenblicke später tauchte die strahlend weiße Rakete über der Wolke auf, ritt auf einer funkelnden Feuersäule und stieg mit einer Abgasfahne in den Himmel. Sie schoss in Richtung Nordosten und wurde von einem lauten, knisternden Dröhnen begleitet, als die ersten Geräusche des Starts schließlich die iranische Fregatte erreichten.

Woronin verfolgte die Rakete, während sie immer höher stieg, und lächelte nun offen. Der Abschuss der Zuljanah nach Nordwesten statt nach Nordosten hätte einen Einsatz besser simuliert, das wusste er. Aber das hätte auch die Nutzlast der Rakete in einem hohen Bogen über die Ukraine und Polen fliegen lassen, offenbar auf dem Weg nach Berlin oder London. Und es gab keinen Grund, die Menschen im Westen zu alarmieren. Zumindest jetzt noch nicht.

Nachdem die Rakete aus dem Blickfeld verschwunden war, richtete er seine Aufmerksamkeit auf einen Monitor, der im hinteren Teil der Brücke des Kriegsschiffs aufgestellt war. Der Bildschirm zeigte flackernde Bilder der Zuljanah, die von Langstreckenkameras aufgenommen worden waren, während sie sich durch die oberen Bereiche der Atmosphäre bewegte. Weiße Dampfwolken blühten abrupt um den Mittelteil des schnell beschleunigenden Flugkörpers auf. Plötzlich löste sich das untere Drittel und stürzte kopfüber zur Erde zurück.

»Stufen funktionieren nominal«, meldete der Techniker. Und als eine neue Flammenwolke an der Basis der nun verkürzten Rakete erschien: »Zündung der zweiten Stufe«. Augenblicke später wiederholte sich der Vorgang, als das Triebwerk der zweiten Stufe der Zuljanah seine geplante Brenndauer beendete und sich ablöste, sodass das Triebwerk der viel kleineren dritten Stufe die Nutzlast den Rest des Wegs ins All befördern konnte.

Woronin sah zu, wie die schwankenden, verschwommenen Bilder auf dem Monitor verschwanden und durch eine digitale Karte mit einem hellen grünen Pfeil ersetzt wurden, der die Rakete hoch über der zentralen Wüste Kasachstans zeigte. Die schnell fliegende Rakete hatte die Reichweite der iranischen Überwachungskameras weit hinter sich gelassen. Von nun an würde die Mannschaft, die den Flug überwachen sollte, auf die Telemetrie des Flugkörpers selbst angewiesen sein. »Nutzlastausbringung bestätigt«, hörte er den Techniker sagen. »Das Flugobjekt befindet sich jetzt in einer Entfernung von mehr als 320 Kilometern und nähert sich rasch dem geplanten Endpunkt dieses suborbitalen Testflugs.«

Aufgrund eines früheren Briefings zur Missionsplanung durch seine Gastgeber von der Revolutionsgarde wusste Woronin, was zu erwarten war. Daher war er von den nächsten Meldungen nicht überrascht.

»Die Telemetrie zeigt Probleme an Bord der Rakete an«, sagte der Techniker plötzlich und klang dabei immer noch ruhig. »Schlüsselkontrollsysteme zeigen Anzeichen eines kaskadierenden Hardware- und Softwareausfalls.«

Woronin bemerkte das verschmitzte Lächeln um ihn herum. Die Telemetriedaten, die die iranische Rakete derzeit sendete, waren völlig falsch. Sie sollten die Feinde des Iran täuschen, die inzwischen jedes Signal dieses unangekündigten Raketentestflugs genauestens überwachten.

Mohsen Schirazi, der ranghöchste Offizier an Bord, trat vor. Als Kommandeur der Luft- und Raumfahrttruppen der Revolutionsgarde hatte der graubärtige Brigadegeneral dieses Raketenprojekt von Anfang an begleitet und jedes Detail des Entwurfs, der Konstruktion und der Flugtests genehmigt. Er zeigte mit dem Finger in Richtung des wartenden Technikers. »Selbstzerstörung einleiten«, befahl er.

Sekunden später sah Woronin, wie die Telemetrieübertragung abrupt abbrach. Dem äußeren Anschein nach war das »versagende« iranische Raumgefährt aus Sicherheitsgründen mit konventionellen Sprengladungen zerstört worden, sodass seine Trümmer beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre harmlos verglühen würden. In Wirklichkeit war diese letzte Detonation sorgfältig geplant worden. Die genau getimte Zerstörung der Nutzlast war eines der entscheidenden Elemente dieses gesamten Testflugs.

Schirazi wandte sich ihm zu. »Nun, Herr Woronin?«, fragte er.

»Höchst beeindruckend«, antwortete Woronin ehrlich und mit einem schmalen Lächeln. »Ihre Zuljanah-Rakete ist alles, was Sie versprochen haben … und mehr. Ich werde Moskau empfehlen, dass wir mit POLNOTSCH – MIDNIGHT – wie vereinbart fortfahren.«

Schirazi und seine Kameraden nickten mit großer Zufriedenheit. Obwohl Woronin in der Öffentlichkeit kein großes Profil zeigte, wussten sie, dass er ein reicher russischer Unternehmer war, ein Privatmann, dessen zwielichtige Firma – Sindikat Worona, das Raven Syndicate – militärisches und geheimdienstliches Know-how, Dienstleistungen und Ausrüstung an die Meistbietenden in Krisengebieten rund um den Globus lieferte. Seine engen Beziehungen zum Kreml und insbesondere zu Russlands autokratischem Präsidenten Pjotr Schdanow waren weniger bekannt, aber sie machten ihn zum idealen Mittelsmann für diese risikoreiche Geheimoperation, bei der viel auf dem Spiel stand.

Russland und der Iran teilten zwar keine gemeinsamen Ideologien, aber beide Regierungen wussten nur zu gut, dass sie in den Vereinigten Staaten und deren globalem Netzwerk von Verbündeten einen gemeinsamen Feind hatten. Und in der düsteren, amoralischen Welt der Realpolitik zeigte das alte Sprichwort »der Feind meines Feindes ist mein Freund« Moskau und Teheran den Weg. Die beiden Länder waren sich auch schmerzlich bewusst, dass die Zeit nicht auf ihrer Seite war. Obwohl sie nach außen hin militärisch stark, selbstbewusst und aggressiv auftraten, sahen sie sich im Innern mit wachsenden Herausforderungen und Schwächen konfrontiert – Problemen, die selbst das repressivste Regime zu Fall bringen konnten, wenn sie nicht unter Kontrolle gebracht wurden. Ihre wachsende Angst vor der Zukunft hatte Woronins Herren in Moskau und die Theokraten in Teheran so begierig gemacht, einen Weg zu finden – irgendeinen Weg, so gefährlich und tödlich er auch sein mochte –, das bestehende Gleichgewicht der Kräfte in der Welt zu zerstören.

In Pawel Woronins blassen Augen flackerte kalte Belustigung. Präsident Schdanow, Schirazi und all die anderen, die an diesem Plan beteiligt waren, waren überzeugt, dass MIDNIGHT die Antwort auf ihre Gebete war. Und so war es auch. Unausgesprochen blieb die Tatsache, dass dies auch seinen persönlichen Weg zu noch mehr Reichtum und Macht ebnen würde.

1

Kitzbühel, Skigebiet, Österreich

Januar

Die untergehende Sonne warf Schatten auf eine lange, gewundene Skistrecke, die von schneebedeckten Kiefern gesäumt wurde. Unten im schmalen Tal am Fuß des Berges des Kitzbüheler Horns brannten die ersten Lichter und zeigten die Straßen und Gebäude von einem von Österreichs populärsten Alpendörfern. Die bewaldeten Hügel eines anderen Gipfels, des Hahnenkamms, stiegen auf der anderen Seite der Stadt in die Höhe. Weiße Loipen kreuzten einander auch auf den Hängen dieses Berges. Kitzbühel war das Zentrum eines der größten Skigebiete in den Tiroler Alpen und zog während der Wintermonate ganze Horden von Skifahrern und Jetsettern an.

Nicholas Flynn glitt aus der Kurve einer Piste und hielt an der Seite an. Seine Ski schickten eine kleine Schneewolke bergab. Er schob kurz die Skibrille hoch und spähte mit zusammengekniffenen Augen den Hang hinunter. So spät am Tag verlor das Licht seine Schärfe, was es erschwerte, Unebenheiten oder Vertiefungen zu erkennen. Glücklicherweise war diese Piste für Freizeitskifahrer konzipiert und keine dieser steilen, zerklüfteten Abfahrten, wie sie von Experten oder Amateuren mit guter Krankenversicherung und Todessehnsucht bevorzugt wurden.

Er blickte hinüber zum Hahnenkamm. Eine der steilen, kurvigen Pisten, die zu sehen waren, war als die Streif bekannt. Seit 1937 war sie der Schauplatz des anspruchsvollsten Weltcuprennens. Die Skifahrer, die sich die 3312 Meter lange Piste hinunterstürzten, erreichten routinemäßig Geschwindigkeiten von mehr als 140 Kilometern in der Stunde – und zwischen ihnen und einem katastrophalen Sturz stand nichts außer ihrem eigenen Können, ihrer Geschicklichkeit und ihrer Erfahrung.

Flynn grinste trocken. Der Nahkampf gegen russische Speznas-Spezialkommandos und mit dem Fallschirm in Winterstürmen abzuspringen, war eine Sache, aber auf keinen Fall würde er jemals so verrückt sein, zu glauben, ein Rennen auf so etwas wie der Streif bewältigen zu können. »Ein Mann muss seine Grenzen kennen«, murmelte er. Als Kind aus dem weitgehend schneefreien Zentral-Texas hatten ihm die Winterurlaube mit der Familie in Colorado und Utah genug beigebracht, um den Berg herunterzukommen, ohne sich auf die Nase zu legen … und um zu erkennen, dass jeder Gedanke daran, die örtliche Entsprechung einer doppelten Black Diamond Piste geradewegs hinunterzurasen, reiner Größenwahn war.

Zum Glück war er nicht hier, um anzugeben. Das genaue Gegenteil traf zu.

Etwa 100 Meter weiter entdeckte Flynn einen anderen Skifahrer, der auf der gleichen Seite der Piste angehalten hatte und offenbar mit seinem Handy Fotos von der spektakulären Aussicht machte. Der weiße Parka, die dunkelgrüne Skihose und die rote Strickmütze des Mannes verrieten, dass er Flynns Kontaktperson für dieses geheime Treffen war. Arif Khavari war ein hochrangiger Beamter der staatlichen iranischen Schifffahrtsgesellschaft. Er war als Mitglied einer Delegation zu einem OPEC-Treffen in Wien nach Österreich gekommen. Ein kurzer Skiausflug hatte dem Iraner die Möglichkeit verschafft, sich der ständigen Überwachung durch seine Landsleute und deren offizielle Sicherheitsleute zu entziehen.

Flynn warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Es war niemand in Sicht. Die Lifte würden um 16 Uhr schließen, und da das Licht schwächer wurde und die Temperaturen schnell fielen, verließen die meisten Skifahrer bereits den Berg, um sich auf einen ausgelassenen Après-Ski-Abend mit Trinken, Essen und Tanzen in Kitzbühel und den noch kleineren Nachbardörfern vorzubereiten. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie so allein waren, wie es an einem öffentlichen Ort möglich war, drehte er sich um und fuhr auf den Ski hinunter zu dem Iraner. Wenige Meter unterhalb von Khavari – unweit des Waldrands, der die Piste säumte – hielt er erneut an.

Der Iraner, der ein paar Zentimeter kleiner war und dunkle Augen hatte, sah nervös aus. Flynn setzte ein freundliches Lächeln auf. »Entschuldigen Sie?«, fragte er in klarem Englisch mit amerikanischem Akzent. »Können Sie mir sagen, wie spät es ist?« Er nickte über seine Schulter. »Ich habe um fünf einen Geschäftstermin, aber ich würde gern noch einmal den Berg hinunterfahren, wenn ich kann.«

Khavari warf einen Blick auf sein Handydisplay. »Die Hornbahn fährt in wenigen Minuten nicht mehr«, sprudelte er den vereinbarten Kennsatz für dieses Treffen förmlich heraus. »Ich glaube nicht, dass Sie sie rechtzeitig erreichen können, um wieder nach oben zu fahren.«

»Schade, da kann man nichts machen«, antwortete Flynn schulterzuckend und beendete das Protokoll. Sein freundliches Lächeln wurde etwas schmaler. »Okay, Mr. Khavari, jetzt, wo wir uns gegenseitig unsere Identität bestätigt haben, können Sie mir ja vielleicht verraten, warum Sie auf einer persönlichen Begegnung bestanden haben, statt über die üblichen sicheren Kanäle zu kommunizieren. Wir können uns hier nicht viel Zeit lassen.« In der Schattenwelt der Spionage und Spionageabwehr war jeder persönliche Kontakt höchst riskant, egal, wie viele Vorsichtsmaßnahmen die Beteiligten trafen. Er sollte nur dann stattfinden, wenn es absolut notwendig war. Und jedes Treffen so kurz und präzise wie möglich zu halten, war eine Möglichkeit, diese unvermeidlichen Gefahren zu minimieren.

Der Iraner schluckte schwer. »Sie vertreten Ihre Entscheidungsträger in Washington?«, fragte er leise.

Flynn nickte und entschied sich für Zurückhaltung statt der ganzen Wahrheit. Wenn Khavari den falschen Eindruck hatte, dass er mit einem offiziellen Nachrichtendienst der US-Regierung in Kontakt stand, war das für die operative Sicherheit umso besser. Was der Iraner nicht wusste, konnte nicht aus ihm herausgepresst werden, falls die Schläger der Revolutionsgarde jemals herausfanden, dass er sich gegen das Regime gestellt hatte.

Außerdem hatte Flynn bis vor etwa einem Jahr für die Regierung gearbeitet – als Captain, der dem Geheimdienst der U. S. Air Force zugeteilt war. Leider hatte sich sein mutiges Eingreifen, um die Karre aus dem Dreck zu ziehen, als die CIA nicht nur eine, sondern gleich zwei verdeckte Operationen in Folge vermasselt hatte, als ein wirklich schlechter Karriereschritt erwiesen. Die Bürokraten in Langley hatten einen Sündenbock gebraucht, dem sie die Schuld für die eigenen Fehler geben konnten. Und Nick Flynn, ein junger Offizier ohne einen Funken Einfluss in den politischen Kreisen von Washington, musste wie geschaffen für diese Rolle erschienen sein.

Und so hatte er also unter Bewachung in einem Militärkrankenhaus gelegen und sich von seinem letzten Zusammenstoß mit einem der »brillanten« Pläne der CIA erholt, als der geheimnisvolle Mr. Fox aufgetaucht war, um ihn für einen »kleinen, privaten Nachrichtendienst« zu rekrutieren, wie es der ältere Mann bescheiden bezeichnet hatte. Monate später, nach intensiven Kursen zur Verbesserung seiner Sprach-, Spionage- und Waffenkenntnisse, hatte Flynn begriffen, dass das Quartet Directorate – von Eingeweihten nur »Four« genannt – in Wirklichkeit etwas viel Größeres und Wichtigeres war. Dieses Treffen mit Arif Khavari in den Bergen war sein erster Solo-Einsatz für seinen neuen Arbeitgeber.

»Ich habe einen Freund, einen guten Freund«, sagte der Iraner und senkte seine Stimme noch weiter. »Wie ich verachtet er insgeheim die korrupten Männer, die unser Land ruinieren.« Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Zunächst sollten Sie wissen, dass wir beide unser Land und unser Volk lieben. Wir sind keine Verräter. Die wahnsinnigen Mullahs in Teheran und ihre bösen Diener sind die wahren Verräter.«

Flynn nickte verständnisvoll. Niemandem außer einem gewissenlosen Söldner oder Soziopathen würde es leichtfallen, seinem Heimatland die Treue aufzukündigen, ganz gleich, wie abscheulich die derzeitige Regierung auch sein mochte. Er kämpfte gegen den Drang an, sein Gegenüber erneut zur Eile zu drängen. Khavari jetzt zu verschrecken oder ihn unabsichtlich zu beleidigen, würde mehr schaden als nützen.

»Mein Freund ist Schiffsbauingenieur«, fuhr der Iraner fort. »Er arbeitet in unserer Staatswerft westlich von Bandar Abbas. Vor Kurzem hat er mir seltsame Dinge über eines ihrer aktuellen Projekte erzählt. Seltsame und beunruhigende Dinge.«

Flynn verbarg seine Überraschung. Das anscheinend immerwährende Streben des Iran nach Atomwaffen war das heiße Thema in westlichen Geheimdienstkreisen, nicht seine Schiffsbaupläne. »Fahren Sie fort«, forderte er ihn auf.

Khavari erklärte es schnell. Seinem Freund Nawid Daneschwar zufolge waren für einen großen Öltanker namens Gulf Venture, der zurzeit in der Schahid-Darvischi-Werft repariert wurde, umfangreiche Modifikationen in Auftrag gegeben worden – Modifikationen, die für ein Schiff, das tatsächlich Erdölprodukte zu Häfen in aller Welt transportieren sollte, keinen Sinn ergaben. Kein kommerzieller Öltanker brauchte verborgene Kabinen, hydraulische Kräne, spezielle Schiffsstabilisatoren und zusätzliche Hochgeschwindigkeitspumpen.

Ebenso beunruhigend waren die strengen neuen Sicherheitsmaßnahmen, die dieses Projekt offenbar in absolute Geheimhaltung hüllen sollten. Unter anderem hatte Teheran den Bau eines riesigen provisorischen Dachs über dem größten Trockendock der Werft angeordnet, um jegliche Satellitenaufnahmen von den laufenden Arbeiten zu verhindern.

Das gesamte Werftpersonal, das mit dem Projekt betraut war, wurde in speziellen Unterkünften unter strenger Bewachung gehalten, und es war ihm verboten, mit seinen Familien oder anderen Personen außerhalb der Werft zu kommunizieren, außer unter sehr eingeschränkten Umständen. Die einzigen Ausnahmen waren eine Handvoll leitender Angestellter, die als absolut loyal gegenüber dem Regime galten. Wie sein Freund Daneschwar. Schließlich waren zahlreiche Kommandosoldaten der Quds-Einheit der Revolutionsgarde zur Bewachung des Darvischi-Komplexes abkommandiert worden – unterstützt von ausländischen »Söldnern«, wahrscheinlich Russen.

»Russen?«, sagte Flynn, der sein Erstaunen darüber nicht verbergen konnte, dass die notorisch xenophobischen Herrscher des Iran bewaffneten Ausländern gestatteten, auf ihrem eifersüchtig gehüteten Territorium zu operieren.

Khavari nickte düster. »Das sagt Daneschwar. Entweder Russen oder vielleicht andere Osteuropäer. Auf jeden Fall irgendwelche Slawen.«

Flynn dachte einen Moment lang nach und fragte dann: »Können Sie an Blaupausen herankommen, aus denen hervorgeht, welche Umbauten an diesem Schiff vorgenommen werden? Dann hätten unsere Analysten eine bessere Chance, herauszufinden, was Ihre Regierung plant.«

Khavari schüttelte bedauernd den Kopf. »Es hat sich als unmöglich erwiesen, irgendwelche Unterlagen aus dem Werftkomplex herauszuschmuggeln. Jeder wird beim Betreten und Verlassen gründlich durchsucht. Und es ist strengstens verboten, etwas mitzunehmen, ob auf Papier oder einem USB-Stick. Auch das Mitbringen von Datenspeichern ist verboten. Sogar die wichtigsten Computersysteme sind mit einem Air Gap versehen worden – von jeglicher physischen oder drahtlosen Verbindung zum Internet abgeschnitten. Bislang war Daneschwar gezwungen, mir jede Information nur mündlich zu übermitteln. Und selbst das ist ungemein gefährlich.«

»Ja.« Flynn runzelte die Stirn. Wenn nur die Hälfte der Sicherheitsmaßnahmen, die der Iraner beschrieben hatte, tatsächlich vorhanden waren, ging Teheran kein Risiko ein. Die Sperrung des physischen Zugangs und des Internetzugangs zu den Computern der Werft wäre nicht nur ein Schutz gegen Spionage, sondern würde auch Cyberangriffe verhindern, wie sie von den Israelis und anderen feindlichen Ländern regelmäßig zur Sabotage der iranischen Atom- und Raketenentwicklungsanlagen eingesetzt wurden. Nachdenklich grub er einen seiner Skistöcke ein wenig tiefer in den Schnee. »Wie sieht der Zeitrahmen für dieses Projekt aus? Wann sollen die Modifikationen an diesem Tanker abgeschlossen sein?«

»Bald«, sagte Khavari mit ernster Miene. »Vielleicht in wenigen Wochen. Höchstens zwei Monate. Die Werft arbeitet rund um die Uhr, um die Arbeiten an der Gulf Venture abzuschließen. Verzögerungen werden nicht geduldet.«

Flynns Kiefermuskeln spannten sich an. »Ein paar Monate? Das ist nicht viel Zeit, um …« Abrupt hielt er inne, sich bewusst, dass sein Unterbewusstsein soeben ein Warnsignal gesendet hatte. Irgendetwas stimmte nicht, irgendwo. Er starrte über die Schulter des Iraners, musterte den Hang weiter oben auf der Piste. War da eine Bewegung in den Bäumen auf der anderen Seite? Vielleicht in ein paar Hundert Metern Entfernung?

Plötzlich explodierte Khavaris Brust direkt über seinem Herzen und spritzte hellrotes Blut und pulverisierte Knochenstücke auf die weiße Schneedecke. Er war in den Rücken geschossen worden.

Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte Flynn wütend. Er warf sich auf den Bauch, gerade als eine weitere Kugel an seinem Kopf vorbeiflog und weiter unten in einen Baum einschlug. Ein dritter Schuss traf den Iraner, der bereits tot war. Sein Leichnam kippte zur Seite und fiel in einen Schneehaufen.

Flynn reagierte, ohne zu zögern. Khavaris Leiche war keine gute Deckung. Jedenfalls nicht für lange. Derjenige, der ihnen gerade aufgelauert hatte, würde nicht mehr als ein paar Sekunden brauchen, um einen neuen Aussichtspunkt zu finden, der einen klaren Blick auf ihn bot. Also hieß es, sich zu bewegen, und zwar schnell. Oder gleich hier sterben.

Er stieß die Spitze eines seiner Stöcke in die Auslöser der Skibindungen – sie sprangen auf. Dann drehte er sich um, packte beide Ski und warf sie seitwärts zwischen die Bäume am Rand der Piste. Hastig wälzte er sich hinter ihnen den Hang hinunter. Ein weiterer Beinahetreffer spritzte ihm Eiskristalle ins Gesicht.

Fluchend erreichte Flynn die Waldgrenze und warf sich hinter den Stamm einer Kiefer, deren schwere, schneebedeckte Äste fast den Boden berührten. »Verdammter Mistkerl«, murmelte er durch die zusammengebissenen Zähne. Beschossen zu werden, wurde schnell langweilig. Zumal er im Moment selbst nicht bewaffnet war. Die österreichischen Waffengesetze waren zwar lockerer als die vieler anderer europäischer Länder, aber er war trotzdem davon ausgegangen, dass die örtlichen Behörden bei einem ausländischen »Unternehmensberater«, der eine verdeckte Waffe bei sich trug, keinen Spaß verstehen würden, wenn man ihn erwischte. Diese Entscheidung konnte er als Triumph der übertriebenen Vorsicht über den gesunden Menschenverstand verbuchen, dachte er bitter.

Dann wurde ihm klar, dass der Attentäter, der gerade Khavari getötet hatte und nun versuchte, ihm das Hirn wegzupusten, ein Gewehr mit Zielfernrohr benutzen musste. Und noch dazu mit einem verdammt effektiven Schalldämpfer. Selbst in der kristallklaren Alpenluft war das Geräusch der Schüsse bemerkenswert gedämpft, eher wie das mechanische Einrasten eines Gewehrschlosses als wie der scharfe Knall, der normalerweise von einem aus einem Gewehrlauf hervorschießenden Hochleistungsgeschoss erzeugt wurde. Also selbst wenn er jetzt eine Faustfeuerwaffe gehabt hätte, wäre es ein äußerst dummer Plan gewesen, durch den Schnee den Berg hinaufzustürmen, um sich mit einem ausgebildeten Scharfschützen anzulegen. Der Feind würde ihn in dem Moment festnageln, in dem er die Deckung verließ und ins Freie trat.

Nein, entschied Flynn. Es gab Situationen, in denen ein Angriff bei einem Hinterhalt die am wenigsten schlechte Option war. Aber dies war ganz sicher keine davon. Sosehr er es auch hasste, es war das klügste Vorgehen, sich aus dem Staub zu machen.

Schnell rutschte er bergab zu der Stelle, an der seine Ski gelandet waren, wobei er darauf achtete, die Bäume zwischen sich und dem unsichtbaren, weit entfernten Schützen zu halten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, den festgebackenen Schnee von seinen Stiefeln und den Bindungen zu fegen und die Ski wieder anzuschnallen. Er hielt noch ein paar Sekunden inne, um sich zu orientieren. Er war in den Wald am nordwestlichen Rand der Piste gesprungen. Und laut den Loipenkarten, die er vor dem Treffen mit Khavari studiert hatte, gab es gleich auf der anderen Seite dieses schmalen Waldstreifens eine weitere Piste, die ihn vom Berg runterbringen würde.

Flynns Mund verzog sich zu einem selbstbewussten Grinsen. So viel zu seinem früheren Plan, den einfacheren Weg über das Kitzbüheler Horn zu nehmen. Die von ihm gewählte Alternativroute war als anspruchsvollere Piste markiert, viel steiler und schroffer als jene, die er normalerweise gewählt hätte. Dennoch war er bereit, das Risiko einzugehen, sich vor erfahreneren Skifahrern auf den Hintern zu setzen, wenn er dadurch aus dem Visier eines Attentäters herauskam. Vorsichtig bewegte er sich durch den weicheren, tieferen Schnee unter den Bäumen und glitt schräg in Richtung der benachbarten Piste.

Kurz bevor er wieder ins Freie kam, hielt er erneut an. Sowohl seine angeborene Vorsicht als auch seine Ausbildung verlangten, dass er schnell ein paar Änderungen an seinem Aussehen vornahm. Zum einen war die hellblaue Außenseite seiner Skijacke mit Khavaris Blut bespritzt. Das würde unweigerlich unerwünschte Aufmerksamkeit erregen, ob beim Sicherheitspersonal des Skigebiets, den Touristen oder, was durchaus denkbar war, anderen Mitgliedern des Killerkommandos, die möglicherweise bereits in der Nähe der unteren Lifte nach ihm Ausschau hielten.

Schnell öffnete Flynn den Reißverschluss der Jacke und drehte sie dann um, sodass das schwarze Innenfutter zum Vorschein kam. Als Nächstes nahm er seine Schutzbrille ab und verstaute sie außer Sichtweite in einer Tasche. So spät am Tag war sie ohnehin eher hinderlich als hilfreich. Schließlich setzte er eine Skimütze auf. Für sich genommen war keine dieser winzigen Veränderungen eine wirklich große Maßnahme zur Tarnung. Aber zusammen hoffte er, dass sie sein optisches Profil gerade so weit verändern würden, dass sie jeden verwirrten, der nach dem Mann suchte, der mit Khavari gesprochen hatte, kurz bevor er erschossen wurde.

Zufrieden, dass er für den Moment alles getan hatte, was er konnte, hob Nick Flynn die Schultern und glitt auf den Ski aus der Baumgrenze.

Einige 100 Meter weiter oben auf dem Kitzbüheler Horn beendete Wiktor Skoblin die Demontage des VSS Wintorez-Scharfschützengewehrs, mit dem er den iranischen Verräter ausgeschaltet hatte. Die Einzelteile der schallgedämpften Waffe, die ursprünglich für die russischen Speznas-Einheiten entwickelt worden war, passten problemlos in einen unauffälligen Rucksack, wie ihn viele Skifahrer tragen. Er schloss den Reißverschluss des Rucksacks und schob ihn über die breiten Schultern.

Dann blickte er zu seinem Spotter, ebenfalls ein ehemaliger Speznas-Offizier wie er. »Irgendwelche Anzeichen von Bewegung?«

Der andere Mann, schlanker und kleiner als der stiernackige Skoblin, senkte sein Fernglas. »Nein. Unser zweiter Vogel ist weggeflogen. Wir haben keine Chance mehr, ihn einzuholen.«

Skoblin runzelte die Stirn. Pawel Woronins Befehle waren eindeutig: Das Sicherheitsleck, das Arif Khavari darstellte, musste mit allen Mitteln dauerhaft geschlossen werden. Tote Männer, so hatte der Chef des Raven Syndicate sie säuerlich erinnert, können keine Geschichten mehr erzählen. Deshalb war dieser gescheiterte Versuch, den unbekannten ausländischen Kontaktmann des iranischen Regierungsbeamten zu töten, äußerst beunruhigend. Woronin war nicht dafür bekannt, dass er denen, die ihn enttäuschten, verzieh.

Dennoch, so erinnerte sich der Russe, führte nur eine begrenzte Anzahl an Wegen aus Kitzbühel heraus. Eher früher als später würden sie ihr zweites, schlüpfrigeres Ziel wieder ins Visier bekommen. Und in der Zwischenzeit hatten er und sein Spotter hier auf dem Berg noch eine Aufgabe zu erledigen. Er stieg wieder in seine Ski. Dann fuhr Skoblin zusammen mit dem anderen Mann des Raven Syndicate den Hang hinunter in Richtung des rot gefärbten Schneeflecks, auf dem Khavaris von Kugeln über zerfetzte Leiche lag.

2

Kitzbühel, Österreich

Kurze Zeit später

Nick Flynn winkte dem Personal freundlich zu und verließ den Laden, in dem er gerade die gemieteten Ski, Stöcke und Stiefel wieder abgegeben hatte. In der kalten Abendluft dampfte sein Atem, ein kurzes Aufwallen von Nebel, der in dem warmen goldenen Licht der Straßenlampen und Schaufenster sichtbar war. Aus dem Himmel rieselten Schneeflocken und dämpften alle Geräusche.

Nach einem schnellen Blick in beide Richtungen, um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wurde, gesellte sich Flynn zu den anderen Touristen, die durch die schmalen Straßen der kleinen Stadt schlenderten. Hell erleuchtete, in Grün, Gelb, Hellblau und anderen Farben gestrichene Gebäude erschufen eine fröhliche Atmosphäre. Er schnappte viele Gesprächsfetzen in den verschiedensten Sprachen auf; die meisten der Leute wollten in den Lokalen und Bars zu Abend essen oder einen Drink nehmen. Ein paar Pärchen gingen Hand in Hand, aber die Mehrzahl bewegte sich in größeren Gruppen, in denen nach einem vergnüglichen Tag auf den Skipisten fröhlich geplaudert und gelacht wurde.

Flynn war sich bewusst, dass jemand, der inmitten dieser geselligen Szene offensichtlich ganz allein war, unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, darum hielt er sich an eine Gruppe Männer und Frauen in Freizeitkleidung, die ungefähr in seinem Alter waren. Gemütlich ging er ein paar Schritte hinter ihnen über den Bürgersteig – nahe genug, dass es für jeden Beobachter den Anschein erwecken würde, dass er dazugehörte, aber gerade weit genug entfernt, dass sich keiner von ihnen von einem Fremden bedrängt fühlen würde. Und wenn sie stehen blieben, um sich ein Schaufenster anzusehen oder vor einem der vielen Restaurants die am Eingang präsentierte Speisekarte zu studieren, folgte er ihrem Beispiel.

Soweit er es aufschnappte, arbeiteten diese Leute – ein paar Briten, Franzosen sowie Deutsche oder Schweizer – alle für verschiedene Niederlassungen eines großen multinationalen Konzerns und befanden sich für ein Betriebsseminar mit dem Thema »Teambuilding« in Kitzbühel … also nichts anderes als ein Ski-Wochenende, bei dem bis spät in die Nacht ordentlich einer draufgemacht wurde. Ein netter Zeitvertreib, wenn man ihn arrangieren konnte, entschied er amüsiert und mit einem Hauch von Zynismus. Vielleicht sollte er Mr. Fox, seinem scharfsichtigen Boss beim Quartet Directorate, eine ähnliche Veranstaltung vorschlagen. Aber bei dem Gedanken an die absehbare Reaktion seines neuen Arbeitgebers verzog Flynn den Mund. Betrachtete man das fragwürdige Ergebnis seines ersten Auftrags – ein toter iranischer Informant aus Regierungskreisen und mindestens ein unbekannter Attentäter, der hier irgendwo in der Gegend lauerte –, war es vermutlich klüger, im Moment auf dumme Bemerkungen zu verzichten.

Während er vorgab, sich für die neuesten Skijacken und andere Wintersportkleidung im Schaufenster zu interessieren, vibrierte sein Handy. Das wiederholte sich im nächsten Moment. Diese aufeinanderfolgenden abgebrochenen Anrufe waren das Signal, dass Four seinen kurzen Statusbericht über die Mission erhalten hatte. Als Routinegeschäftsbericht strukturiert hatte seine SMS gelautet: Das Treffen mit dem Klienten war produktiv, aber es gab keine verbindliche Einigung. Leider reagierte die Konkurrenz schnell und schlug unseren Preis. Das war alles. Kurz, simpel und völlig langweilig. Die Nachricht enthielt keine verborgenen Verschlüsselungen, aber die gewöhnlich klingenden Worte, die er gewählt hatte, reichten aus, um Fox wissen zu lassen, dass seine Begegnung mit Arif Khavari interessante nachrichtendienstliche Erkenntnisse, aber keine soliden Beweise gebracht hatte … und dass der Iraner getötet worden war, bevor er mehr enthüllen konnte.

Flynn hoffte, dass zumindest der ältere Engländer, der ihn in den geheimen Kommunikationsprotokollen des Quartet Directorate unterwiesen hatte, seine Technik gelobt hätte – wenn auch vermutlich nicht das übermittelte Ergebnis. »Sagen Sie mir, was ist Ihrer Ansicht nach der beste Code?«, hatte der alte Mann gleich zu Beginn ihres Unterrichts in seinem trockenen, nach Oxford klingenden Tonfall gefragt.

»Einer, der nicht wie ein Code aussieht«, hatte Flynn geantwortet.

»Volle Punktzahl«, hatte der Engländer mit einem schmalen Lächeln erwidert. Die großen Geheimdienste der Welt wie seine vorherigen Arbeitgeber bei der größten Aufklärungsorganisation des Vereinigten Königreichs, den Government Communications Headquarters (GCHQ), durchsiebten routinemäßig sämtliche Anrufe, SMS und E-Mails mit leistungsstarken Supercomputern, um nach Anomalien, Schlüsselsätzen und -wörtern zu suchen. Und nach ungewöhnlich starken Verschlüsselungen. »Darum wird bei Four bei der Kommunikation untereinander sorgfältig darauf geachtet, auf solchen Unsinn zu verzichten. Nachrichten in einfachen Worten, die völlig unschuldig erscheinen, absolut uninteressant sind und perfekt zur aktuellen Tarnung passen, sind die sicherste Methode, unter dem Radar unsympathischer Leute wie meiner ehemaligen Kollegen in Cheltenham oder Ihrer NSA zu bleiben, ganz zu schweigen von den Beschäftigten von Russlands SWR und GRU oder Chinas Ministerium für Staatssicherheit.«

Die unerfreuliche Erinnerung an das, was danach gefolgt war, ließ Flynn innerlich zusammenzucken. Wie bei den meisten Dingen, die mit dem Quartet Directorate zu tun hatten, war alles, was zuerst so simpel erschienen war, in Wahrheit teuflisch kompliziert. Beim Feldeinsatz erforderte die Kommunikationsmethode, alles »in der Öffentlichkeit zu verbergen«, Aberhunderte auswendig gelernte scheinbar völlig gewöhnliche Phrasen und Wörter in verschiedenen Sprachen, die alle eine bestimmte geheime Bedeutung hatten, die davon abhing, wie man sie in einem Satz benutzte. Er hatte es einem fast perfekten Erinnerungsvermögen und seinem guten Ohr für solche Dinge zu verdanken, dass er es geschafft hatte, diese mühsame Aufgabe im Verlauf einiger Wochen intensiver Übungen zu bewältigen, und es hatte ihn nur eine erstklassige Migräne und trockene, blutunterlaufene Augen gekostet.

Er schaute auf, sich plötzlich bewusst, dass die internationale Gruppe aus Endzwanzigern, an die er sich angehängt hatte, sich endlich für ein Lokal entschieden hatte. Mit lautstarker Fröhlichkeit betraten sie ein kleines asiatisches Restaurant. Was bedeutete, dass er gerade seine Haupttarnung verloren hatte.

Ohne die geringste Eile sah sich Flynn erneut um und musterte unauffällig die Umgebung. Die Zahl der Abendgäste wurde definitiv kleiner, aber noch immer schienen etliche Leute in Richtung von Kitzbühels Bahnhof unterwegs zu sein – sein Ziel. Er warf einen Blick auf das Handy. Der letzte Zug, der ihn heute Nacht nach Wien bringen würde, sollte in einer halben Stunde abfahren. Und er wollte darin sitzen, wenn er den Bahnhof verließ.

Er steckte das Handy wieder ein und ging hinter einem älteren Paar, das Koffer hinter sich herrollte. In Gedanken drückte er sich die Daumen. Bis jetzt war die ganze Operation, die ursprünglich so unauffällig hatte sein sollen, anscheinend von Anfang an verhext gewesen. Jetzt war es Zeit für etwas von dem Glück, das sein irischer Einwanderer-Großvater immer beschworen hatte.

Fünf Minuten später kam Flynn zu dem Schluss, dass er nicht so viel Glück haben würde. Von einem im Schatten liegenden Beobachtungsposten auf der dem Bahnhof gegenüberliegenden Straße entdeckte er Ärger, der auf dem hell erleuchteten Bahnsteig auf ihn wartete. Er konnte zwei hartgesichtige Männer ausmachen, die sich alle Mühe gaben, innerhalb der bereits wartenden Passagiere nicht aufzufallen. Obwohl sie die gleiche Skikleidung trugen wie die meisten anderen auch, unterschied sich ihr Verhalten von ihnen. Für Flynn war es offensichtlich, dass sie die kleine Menschenmenge insgeheim überwachten … nach jemandem Ausschau hielten.

Nach ihm, da war er sich sicher.

Er verwarf die Möglichkeit, dass es sich bei den Männern um Beamte der österreichischen Bundespolizei in Zivil handelte, die Touristen vor Taschendieben und anderen Kleinkriminellen schützen sollten. Ihnen fehlte das richtige Auftreten. Hätte er sein Leben darauf verwetten müssen – was in der Tat zutraf –, wäre er davon überzeugt gewesen, dass die beiden Teil des gegnerischen Teams waren, das Khavari so effektiv und permanent ausgeschaltet hatte. Allerdings wirkte keiner von ihnen iranisch oder arabisch. Stattdessen rief etwas an ihrer Gesichtsstruktur und ihren Manierismen seinem nervösen Unterbewusstsein förmlich »Made in Moskau« zu. Ein deutlicher Hinweis, dass es weitere der ausländischen Söldner waren, vor denen Khavari gewarnt hatte.

Flynn runzelte die Stirn. Seiner Einschätzung nach hatte er nur zwei Möglichkeiten, an den Beobachtern vorbeizukommen und unentdeckt in den Zug zu steigen – eine geringe Chance oder keine. Und er wollte auf keinen Fall zulassen, dass sie ihn während der mehr als vierstündigen nächtlichen Zugfahrt in die österreichische Hauptstadt noch einmal ins Visier nahmen, zumal er unterwegs umsteigen musste. Vielleicht konnte er einen von ihnen in einem Kampf besiegen. Vielleicht. An einem guten Tag. Aber gegen zwei von ihnen in der Enge eines Eisenbahnwaggons oder auf einem so gut wie menschenleeren Umsteigebahnhof antreten? Ausgeschlossen, dachte er grimmig. Wenn er Selbstmord begehen wollte, würde er eine weitaus weniger blutige und weniger öffentliche Option wählen.

Leider blieb da immer noch das Problem, wie er heil aus Kitzbühel herauskommen sollte. Wenn die bösen Jungs über ein Überwachungsteam verfügten, das den Bahnhof im Auge behielt, hatten sie wahrscheinlich auch jemanden, der den Busbahnhof und sogar die Autovermietungen in dieser kleinen Stadt überwachte – alle beide.

Plötzlich hakte sich der warme Arm einer Frau bei ihm ein. Gleichzeitig sagte ihre fröhliche, freundliche Stimme laut auf Deutsch: »Da bist du, Max! Ich habe mich schon gefragt, wo du bist.« Ihr Deutsch war perfekt, mit nur den geringfügigen Vokal- und Konsonantenänderungen, die sie für jeden geschulten Linguisten, der sie belauschte, als Österreicherin ausweisen würden.

Überrascht schaute Flynn nach unten. Laura Van Horn blickte mit einem schelmischen Ausdruck auf ihrem attraktiven Gesicht zu ihm hoch. Als er sie kennengelernt hatte, war sie Co-Pilotin einer verunglückten C-130J der Air National Guard gewesen, die an seinem letzten Dienstort, einem einsamen Radar-Außenposten an der eisigen Nordküste Alaskas, notgelandet war. Später hatte er erfahren, dass sie im Hauptberuf eine der Top-Spezialagentinnen von Four war. Und es war ihre Empfehlung, die zu der endgültigen Entscheidung geführt hatte, ihn für das Quartet Directorate zu rekrutieren.

Blieb die Frage, was sie hier in Kitzbühel zu suchen hatte. Dies hatte eine Ein-Mann-Operation sein sollen, und Flynn hatte dieser Mann sein sollen. Aber das war nicht der richtige Moment, um dumme Fragen zu stellen, das wusste er, zumindest nicht, solange sie unter freiem Himmel und wahrscheinlich unter Beobachtung standen. Stattdessen war es Zeit für eine Show für alle mutmaßlichen Beobachter. Augenblicklich ging er auf ihr vorgetäuschtes Gespräch ein und benutzte das gleiche idiomatische österreichische Deutsch. »Ach, ich wollte nachschauen, ob Karl und Clarissa schon da sind. Dann müssen wir unsere Reservierung für das Abendessen ändern.«

Van Horn lachte leise und spielte mit. »Die beiden? Du machst wohl Witze. Die lassen sich eher massakrieren, als in einen Zug zu steigen. Ich wette, sie kommen heute Abend noch mit dem Auto an. Jetzt habe ich dich erst einmal ganz für mich allein.« Sie packte seinen Arm fester und drehte ihn so, dass sie direkt vom Bahnhof weggingen.

Einen Block weiter blickte Flynn zu ihr hinunter. »Okay, Laura, was ist hier los?«, fragte er leise. »Und keinen Scheiß.«

»Scheiß? Ich?«, sagte sie mit übertriebener Unschuldsmiene. Als sie seinen gequälten Gesichtsausdruck sah, zuckte sie mit den Schultern. »Ich bin nur vorsichtshalber bei der Mission dabei, gewissermaßen als Notfallreserve«, sagte sie. »Br’er Fox wollte, dass jemand Ihnen Deckung gibt, nur für den Fall, dass die Kacke am Dampfen ist.« Sie sah ihn von oben bis unten an. »Und nach den Schlägern zu urteilen, die ich am Bahnhof gesehen habe, ist das wohl der Fall.«

Flynn nickte nachdenklich. Schnell informierte er sie über den Scharfschützenüberfall während seines Treffens mit Arif Khavari.

Van Horns Augen verengten sich. »Wie schätzen Sie die Stärke des Gegners ein?«

»Kann ich nicht sagen«, gab er zu. »Auf jeden Fall die beiden Männer am Bahnhof.«

»Es sind mehr als drei«, sagte sie. »Ich habe einen weiteren entdeckt, der den Bahnhofsparkplatz im Auge behält. Wer auch immer diese Typen sind, sie wollen Sie unbedingt erwischen.«

»Ich war schon immer beliebt«, sagte Flynn ernsthaft.

Van Horn schnaubte leise. »Beliebt ist nicht gerade das Wort, das ich gewählt hätte, Nick.«

»Und was jetzt?«

Sie grinste schelmisch. »Ganz einfach. Wir verschwinden aus diesem Kuhdorf und lassen die bösen Jungs in der Kälte stehen; dort können sie sich fragen, wo Sie geblieben sind. Mein Wagen steht nicht weit von hier vor einem wirklich süßen kleinen Gasthaus.«

Flynn starrte auf sie hinunter. »Sie haben ein Auto?Und ein Hotelzimmer?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Mir hat Four nur ein Bahnticket für die zweite Klasse gegeben.«

»Ich habe den Status einer Senior-Agentin, Nick, schon vergessen?«, murmelte Van Horn amüsiert. »Es gibt ein paar Vorteile – zusammen mit den gelegentlichen Unannehmlichkeiten, wenn man beauftragt wird, einen verirrten Neuling einzusammeln.«

Kurz stieg Ärger in Flynn auf. Damit konfrontiert zu werden, wie sehr man ihn bei diesem Auftrag im Dunkeln gelassen hatte, machte ihn wirklich sauer. Aber dann zwang er sich, sich zu entspannen. Unter den gegebenen Umständen hatte sich Direktor Fox’ Entscheidung, Van Horn für den Fall, dass die Dinge schiefgingen, als diskrete Unterstützung zu positionieren, als eine sehr vernünftige Sicherheitsmaßnahme erwiesen. Mit einem innerlichen Seufzer beschloss er, sich dem Unvermeidlichen zu beugen und retten zu lassen. »Muh«, murmelte er zustimmend und ahmte einen verirrten Ochsen nach, den sie gerade angeseilt hatte.

Eine halbe Stunde später verließen sie Kitzbühel in dem viertürigen Mercedes, den Van Horn nach ihrer Landung in Wien gemietet hatte. Normalerweise bevorzugte sie etwas Auffälligeres in knalligem Rot, aber für diesen Auftrag hatte sie sich für eine dezentere dunkelblaue Limousine entschieden. »Das ist nur eines der grausamen Opfer, die ich für die Undercoverarbeit bringe«, hatte sie Flynn mit einem theatralischen Seufzer und einem selbstironischen Lächeln gesagt, als sie eingestiegen waren. »Es hört nie auf.«

Auf ihr Drängen hin setzte er sich ans Steuer und folgte ihrer Anweisung, eine zweispurige Landstraße in Richtung Nordosten zu nehmen, die nach Salzburg und Wien führte. Außerhalb der Stadt lagen die schneebedeckten Felder und kleinen Baumgruppen, die die Straße säumten, in Dunkelheit. Die steilen Hänge auf beiden Seiten des Tals waren mit hellen Lichtern – Skihütten und Bergrestaurants – gesprenkelt. Es schneite immer noch leicht, und die fallenden Flocken, die von den Scheinwerfern aufgefangen wurden, glitzerten kurz, als sie vorbeiflogen.

Abgesehen von den winzigen roten Rücklichtern eines Autos, die kurz vor ihnen zu sehen waren, bevor sie um eine Kurve verschwanden, schienen sie die Straße ganz für sich allein zu haben. Sosehr Flynn auch Abstand zwischen sich und das Killerkommando des unbekannten Feindes bringen wollte, sosehr widerstand er der Versuchung, das Gaspedal durchzutreten. Der Schnee blieb nicht lange genug liegen, um das Fahren gefährlich zu machen, aber es machte auch keinen Sinn, durch überhöhte Geschwindigkeit unnötig aufzufallen.

Trotz seiner vorsichtigen Fahrweise befanden sie sich nur wenige Kilometer nördlich von Kitzbühel, als Flynn plötzlich ein Paar blaue Blinklichter im Rückspiegel entdeckte, die hinter ihnen auf die Straße einbogen. Es war ein einsamer Motorradfahrer. Er schloss schnell die Lücke zwischen ihnen.

»Wir haben Gesellschaft«, murmelte er.

Van Horn drehte den Kopf und blickte durch die Heckscheibe. »Ja. Wie schön.«

»Ist das ein Polizist?«

Mit einem Stirnrunzeln sah sie wieder nach vorn. »Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.« Ihre rechte Hand glitt in die Jacke. »Aber irgendwie glaube ich nicht, dass Br’er Fox sehr erfreut sein würde, wenn wir nach einer rasanten Verfolgungsjagd durch die Alpen in einem österreichischen Knast landen.« Mit einem knappen Nicken nahm Flynn den Fuß vom Gaspedal, fuhr auf den schmalen Seitenstreifen und blieb dann stehen. Er tippte auf einen Schalter, um das Fahrerfenster nach unten zu lassen. Ein kalter Luftzug pfiff herein, zusammen mit ein paar Schneeflocken, die im Wageninneren herumwirbelten, bevor sie schmolzen.

Im Rückspiegel verfolgte er, wie der Motorradfahrer hinter ihnen anhielt und von der Maschine stieg. Die blauen Lichter blitzten rhythmisch und erhellten die Nacht um sie herum auf unheimliche Weise. Der Motorradfahrer nahm seinen weißen Plastikhelm ab und hängte ihn an den Lenker. Dann setzte er sich selbstbewusst in Bewegung, eine Hand auf der Pistole im Holster an seiner Hüfte.

Flynns Augen verengten sich vor Konzentration. Trug der Mann eine Polizeiuniform? Oder nur einen Mix aus dunkler Zivilkleidung? In dem seltsamen Licht- und Schatten-Spiel der blinkenden Beleuchtung konnte man kaum sicher sein, was davon zutraf. Der Motorradfahrer erreichte das Fenster und beugte sich hinunter, um hineinzuspähen.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Flynn höflich auf Deutsch.

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Nur eine Routineüberprüfung. Ihren Führerschein, bitte.«

Flynn sträubten sich die Nackenhaare. Er hatte in der Stimme des Mannes den Hauch eines Akzents – eines falschen Akzents – wahrgenommen. Ein Adrenalinstoß durchflutete seinen Körper, eiskalt sogar in der ohnehin schon kalten Winterluft. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Ein Teil seines Gehirns registrierte, wie die rechte Hand des Mannes zu der Waffe an seiner Hüfte schnellte. O verdammt.

»Nick, zurücklehnen«, sagte Laura Van Horn im Plauderton. Dann feuerte sie zweimal mit ihrer Pistole, und der Klang der Schüsse war im Inneren des Wagens ohrenbetäubend laut.

Beide Schüsse trafen den Motorradfahrer in den Körper, er taumelte vom Fenster zurück. Sein Mund klappte vor Schreck weit auf. Rote Flecke breiteten sich von den Löchern in seiner schwarzen Lederjacke aus. Er fummelte erneut an seinem Holster herum. Ohne zu zögern, schob sich Van Horn weiter an Flynn vorbei und drückte noch zweimal ab. Ihr dritter Schuss schlug in der Brust des Mannes ein. Ihr vierter Schuss traf ihn im Gesicht und barst aus seinem Hinterkopf.

Er brach auf der Straße zusammen und blieb reglos liegen.

Flynn wartete nicht ab, um mehr zu sehen. Er legte den Gang ein und fuhr los. Er warf Van Horn einen Blick zu.

»Kein Polizist«, murmelte sie. Ihre Ohren klingelten noch immer von dem scharfen Knall der vier Schüsse, die kurz hintereinander abgefeuert worden waren.

Er nickte grimmig. Wer auch immer diese Kerle waren, sie hatten alles darangesetzt, ihn zu finden und zu töten – hatten offenbar an allen Ausfahrten von Kitzbühel Wachen aufgestellt. Er beschleunigte. Je mehr Kilometer sie zwischen sich und den Toten legten, der zusammengekrümmt auf dem Asphalt lag, desto besser.

Etwas weiter die Straße hinauf ließ Van Horn ihn an einer Abzweigung nach links abbiegen – auf eine Autobahn, die sie in Richtung Westen nach Innsbruck, dann nach Süden zum Brennerpass und von dort nach Italien führen würde. »Planänderung«, sagte sie und las die SMS vor, die sie gerade von Fox erhalten hatte. Er wollte, dass Flynn so schnell wie möglich in die Staaten zurückkehrte, und es hatte sich gerade herausgestellt, dass Österreich für sie beide zu heiß war. Nach dem Tod von Arif Khavari und der noch nicht identifizierten Opposition, die Blut sehen wollte, wäre eine Rückkehr nach Wien ein dummer Schachzug gewesen.

3

Mercury City Tower, Moskau, Russland

Am nächsten Tag

Pawel Woronin stand ganz entspannt da und blickte aus den nach Osten gerichteten, raumhohen Fenstern, die eine ganze Wand seines geräumigen Privatbüros bildeten. Von hier aus, 44 Stockwerke hoch im Mercury Tower, einem der sechs ultramodernen Wolkenkratzer, die das Moskauer internationale Geschäftszentrum »Moskwa City« bildeten, konnte er über die gefrorene Moskwa bis zu den roten Backsteinmauern und Türmen des Kremls und darüber hinaus sehen. Ein wolkenloser blauer Himmel kündigte das Eintreffen einer massiven Hochdruckfront aus Sibirien an, die die Temperaturen in der russischen Hauptstadt auf weit unter null sinken lassen würde. Im hellen Sonnenlicht leuchtete das bronzefarbene, reflektierende Glas des Mercury Tower wie eine aufsteigende Feuersäule in der Moskauer Skyline.

Es war eine protzige Zurschaustellung, die den selbst ernannten Status der wohlhabenden Mieter des Gebäudes widerspiegelte – Fünfsternerestaurants, Eigentümer von Luxuswohnungen, hochwertige Einzelhandelsgeschäfte und die Geschäftsräume einiger der erfolgreichsten Unternehmen Russlands. Dazu gehörte auch Sindikat Worona, sein Raven Syndicate, das jetzt drei ganze Stockwerke des glänzenden Wolkenkratzers belegte.

Mit einem schmalen, kalten Lächeln, das nie seine blassgrauen Augen erreichte, blickte Woronin auf die eisigen Straßen Moskaus hinunter, die voller winzig wirkender Autos und Lastwagen sowie eiliger, ameisenhafter Fußgänger waren. Es war ein Anblick, den er genoss – vor allem, da dieses Büro einst Dimitri Grischin gehört hatte, einem der mächtigsten und reichsten Oligarchen Russlands, dem Mann, der mehr als ein Jahrzehnt lang sein Mentor gewesen war.

Grischin hatte sowohl Woronins äußeres Erscheinungsbild – er hatte die besten Schulen und Universitäten im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten besucht – als auch seine absolute Skrupellosigkeit geschätzt. Und er hatte den jüngeren Mann für seine illegalsten Unternehmungen eingesetzt, die in dem gewagten Plan gipfelten, den Diebstahl von Russlands modernstem Tarnkappenbomber einzufädeln und ihn dann an den Höchstbietenden zu verkaufen. Am Ende hatten sie von Moskau und Washington, D. C. hohe Lösegeldsummen erhalten – aber dann war das Flugzeug unerwartet abgestürzt und mitten in der unerforschten Wildnis Alaskas explodiert, was es unmöglich gemacht hatte, das technische Wunderwerk wie versprochen in die Heimat zurückzubringen.

Doch in diesem scheinbaren Rückschlag hatte Woronin sofort die Gelegenheit erkannt, nach der er sich schon lange gesehnt hatte: die Chance, seine Lehrzeit bei Grischin endgültig zu beenden. Er hatte den Oligarchen eiskalt an den russischen Staatssicherheitsdienst und die tödliche Rache des autoritären Herrschers des Landes, Präsident Pjotr Schdanow, verraten. Dann gab er sich als Patriot aus, der über die »Verbrechen« des Oligarchen entsetzt war, und half dem Kreml, die Hunderte von Milliarden Rubel zurückzuholen, die dieser auf einige von Grischins Geheimkonten eingezahlt hatte. Natürlich behielt er, nachdem er nun in Schdanows Gunst stand, die drei Milliarden Dollar, die die amerikanische CIA so unklugerweise auf andere geheime Konten eingezahlt hatte. Damit hatte er das Raven Syndicate gegründet, seine eigene private militärische und geheimdienstliche »Beratungsfirma«.

Bei der Erinnerung an die von Kugeln zerfetzte Leiche von Dimitri Grischin, die auf das Meer hinaustrieb, wurde sein Lächeln etwas breiter. Dieser eine kleine, perfekte Akt des Verrats hatte ihm die Freiheit gegeben, seinen tiefsten Ambitionen nachzugehen … und ihm gleichzeitig den dazu nötigen Reichtum verschafft. In etwas mehr als einem Jahr hatte er eine tödliche und effiziente Organisation aufgebaut und viele der am besten ausgebildeten russischen Kommandosoldaten und Geheimdienstspezialisten der berühmten Speznas-Kommandogruppen dem Auslandsgeheimdienst SWR und dem militärischen Nachrichtendienst GRU abgeworben und in seinen eigenen Dienst übernommen. Mit der Abwerbung so vieler ihrer besten Leute hatte er sich keine Freunde im russischen Verteidigungsministerium oder in den offiziellen Geheimdienstorganisationen gemacht. Aber das war ihm scheißegal.

Schließlich war Pawel Woronin dank MIDNIGHT, der kühnen, verdeckten Operation, die er ersonnen hatte, und dank der unumkehrbaren strategischen Veränderungen, die sie einer ahnungslosen Welt zu bringen versprach, wie von Anfang an geplant für Präsident Schdanow unentbehrlich geworden.

Bei einem diskreten Klopfen an seiner Bürotür drehte er sich um. Es ertönte ein bestimmter Ton, der anzeigte, dass es sich bei dem Besucher um seinen obersten Abteilungsleiter, Wassily Kondakow, einen ehemaligen Oberst der GRU, handelte. Er tippte auf ein kleines Symbol auf seiner Smartwatch, um das Sicherheitsschloss der Tür zu entriegeln. Die Tür öffnete sich, und Kondakow eilte mit einer Mappe herein. Der ehemalige Geheimdienstoffizier war fast so groß wie Woronin, hatte eine Glatze und trug eine Hornbrille.

»Und?«, fauchte Woronin.

»Unser Kurier des Teams in Wien ist soeben eingetroffen«, berichtete Kondakow. Er hielt die Mappe hoch. »Mit Skoblins vollständigem Bericht über die Khavari…affäre.«

Woronin verbarg seine Belustigung. In mehr als einem Jahrzehnt im Dienst der berüchtigten GRU-Einheit 29155 waren Agenten unter Kondakows direktem Befehl für den Tod einer Reihe von Dissidenten, Überläufern und sogar Ausländern verantwortlich gewesen, die man als Gefahr für Russlands nationale Sicherheit eingestuft hatte. Trotzdem war er immer noch seltsam zimperlich und zog vage Euphemismen wie »Affäre« stumpfen, genaueren Begriffen wie »Anschlag« oder »Mord« vor.

Woronin setzte sich hinter seinen Schreibtisch und bedeutete Kondakow, auf dem einsamen Stuhl auf der anderen Seite Platz zu nehmen. »Und?«

Sein Abteilungsleiter runzelte die Stirn. »Wie befohlen, haben Skoblin und seine Leute Khavari vom Brett genommen. Und zwar für immer.«

Woronin nickte. Der iranische Schifffahrtsbeamte hatte schon seit einigen Wochen unter Verdacht und Beobachtung gestanden. Sein plötzlicher Versuch, ein offensichtlich verdecktes Treffen zu arrangieren, während er Teil einer Delegation bei einer OPEC-Konferenz in Österreich war, hatte die schnelle Entscheidung zur Folge gehabt, ihn zu töten. Da die letzten Vorbereitungen für MIDNIGHT kurz vor dem Abschluss standen, war es unbedingt erforderlich, jede mögliche Sicherheitslücke zu schließen. »Wo liegt also das Problem, Wassily?«

»Khavari hat es geschafft, mit einem feindlichen Agenten Kontakt aufzunehmen, bevor sie ihn zum Schweigen bringen konnten«, antwortete Kondakow.

Woronins Lippen verzogen sich irritiert. Er lehnte sich vor. »Dann nehme ich an, dass dieser Agent ebenfalls tot ist?«

»Leider nicht«, sagte Kondakow grimmig. »Irgendwie ist er den Bemühungen des Teams, ihn zu eliminieren, entkommen. Er hat sogar einen unserer eigenen Leute ausgeschaltet, den Skoblin zur Bewachung der nördlichen Ausfallstraße von Kitzbühel abgestellt hatte.«

»Wie ausgeschaltet?«, verlangte Woronin zu wissen.

»Skoblins Team hat unseren Agenten tot auf der Straße gefunden. Auf ihn wurde vier Mal aus nächster Nähe geschossen.«

Woronin lehnte sich zurück. Sein Kiefer spannte sich an. »Und ist dieser mysteriöse Ausbund an Chaos identifiziert worden?«

»Noch nicht«, gab Kondakow zu. Er öffnete die Mappe und schob mehrere Fotos auf den Tisch. Sie waren durch das Zielfernrohr von Skoblins Scharfschützengewehr und das Fernglas seines Spotters aufgenommen worden und zeigten nur einen Teil des Gesichts des unbekannten Agenten. Eine dunkel getönte Skibrille verdeckte die Augen und einen Teil der Stirn des Mannes, was die Identifizierung zusätzlich erschwerte. »Dank Ihrer Autorisation durch den Präsidenten können wir diese Bilder durch die Datenbanken von SWR und GRU laufen lassen, ohne sie einweihen zu müssen. Aber ich erwarte keine endgültigen Ergebnisse.«

Woronin nahm eines der Fotos und studierte es kurz. Er verstand Kondakows Standpunkt. Es wäre fast unmöglich, diese Teilbilder mit denen eines bekannten feindlichen Agenten zu vergleichen. Nach den wenigen Informationen, die sie hatten, zu urteilen, könnte Khavaris Kontaktperson für einen von einem halben Dutzend westlicher Geheimdienste arbeiten.

Das sagte er auch laut.

Kondakow nickte langsam. Er tippte auf das beste Foto des Stapels, auf dem das Profil des Mannes deutlicher zu erkennen war. »Er könnte Amerikaner sein«, sagte er zögernd. »Da ist irgendetwas an seinem Kinn …«

»Arbeitet er für die CIA?« Woronin schnaubte. »Oder für einen ihrer anderen Geheimdienste?« Er schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich, Wassily. Ich bezweifle, dass einer ihrer Leute so schnell und rücksichtslos gegen Skoblins Beobachter hätte vorgehen können. Die amerikanischen Geheimdienste sind zu risikoscheu. Sie missbilligen die Anwendung von ungeplanter Gewalt durch ihre Leute, nicht wahr?«

Wieder nickte sein Besucher. Die fiktiven Darstellungen in so vielen Filmen und Thrillern, in denen CIA-Offiziere im Alleingang feindliche Spione und Terroristen ausschalteten, waren für die Moskauer eine Quelle der Belustigung, denn sie wussten, dass die Hände ihrer Rivalen oft eng gebunden waren. Woronin betrachtete das Foto, das Kondakow ausgesucht hatte, genauer. »Die Israelis hingegen sind keine so alten Weiber. Sie haben keine Angst, falls nötig entschlossen zu handeln«, sinnierte er leise. Er blickte auf. »Und Israel befindet sich bereits seit Langem in einem verdeckten Krieg mit dem Iran. Das gibt ihnen ein starkes Motiv, einen Verräter wie Khavari zu kultivieren.«

»Sie glauben, dieser Mann könnte vom Mossad sein?«

»Mossad oder ein Angehöriger der Sajeret Matkal«, sagte Woronin und bezog sich dabei auf die Spezialeinheit, die vom AMAN, dem militärischen Geheimdienst Israels, kontrolliert wurde. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wenn man alles in Betracht zieht, ist das die wahrscheinlichste Möglichkeit.«

»Und was jetzt?«

»Sagen Sie Skoblins Team, es soll die israelische Botschaft in Wien genau überwachen«, befahl Woronin. »Ich will nicht, dass diese Leute etwas unternehmen können, ohne dass wir davon wissen. Das ist wichtig für den Fall, dass sie erneut versuchen, die Sicherheit von MIDNIGHT zu gefährden – indem sie zum Beispiel einen von Khavaris Regierungskollegen ins Visier nehmen. Wir können keine weiteren Sicherheitslücken riskieren. Nicht so spät im Spiel.«

Kondakow sah besorgt aus. »Es wäre vielleicht besser, diese Aufgabe der SWR oder der GRU zu überlassen«, schlug er vor. »Lückenlose Überwachungsoperationen sind sehr personalintensiv. Und wenn einer ihrer Leute entdeckt und identifiziert wird, könnten wir es als routinemäßige Informationsbeschaffung ausgeben.«

»Auf keinen Fall«, sagte Woronin kalt. »Wenn Sie Ihre alten Kameraden oder diese Clowns von der SWR einschalten, müssen Sie sie über die mögliche Lücke in unserer operativen Sicherheit informieren. Im Moment vertraut uns Präsident Schdanow vollkommen. Deshalb haben wir auch völlig freie Hand, MIDNIGHT so durchzuführen, wie wir es für richtig halten. Natürlich gibt es in unserer Regierung viele engstirnige Männer, die auf unsere wachsende Macht und unseren Einfluss neidisch sind. Sie würden die Gelegenheit nutzen, mich und das Syndikat zu diskreditieren. Ich habe also nicht die Absicht, ihnen eine solche Gelegenheit zu bieten.« Sein Blick verhärtete sich. »Ist das klar, Wassily?«

Kondakow nickte eilig.

»Dann teilen Sie Skoblin mit, dass diese Angelegenheit ausschließlich intern erledigt werden soll«, befahl Woronin. »Mit unseren eigenen Leuten und unseren eigenen Mitteln.«

»Und wenn sie den Agenten entdecken, mit dem Khavari gesprochen hat?«, fragte Kondakow.

»Ich will, dass er eliminiert wird«, sagte Woronin barsch. »Auf der Stelle. Ohne Verzögerung. Und ohne weitere Fehler.«

4

Winter Park, in der Nähe von Orlando, Florida

Ein paar Stunden später

Nick Flynn bog in eine ruhige Wohnstraße ab und fuhr eine lange Privatauffahrt hinauf, die von Reihen hoher Palmen beschattet wurde.

Zwischen weiteren Bäumen hindurch sah er das grelle Sonnenlicht, das sich auf dem ruhigen Wasser eines kleinen, fast kreisrunden Sees spiegelte. Er folgte dem Weg durch eine halbe Schleife und parkte vor einem zweistöckigen Herrenhaus mit Blick auf den See. Mit seinen roten Dachziegeln, die aus Barcelona importiert worden waren, den mattgelben Stuckwänden, den dunklen Holzverkleidungen, den hohen Bogenfenstern und dem schmiedeeisernen Eingangstor, das zum Haupteingang führte, hätte es auch in Spanien stehen können.

Avalon House war in den frühen 1920er-Jahren für eine wohlhabende New Yorker Bankiersfamilie als Winterdomizil in Florida erbaut worden und hatte nun andere Mieter. Verwitterte Bronzetafeln in der Nähe des Haupteingangs informierten Besucher darüber, dass das Gebäude derzeit das Concannon Language Institute, die Sobieski Charitable Foundation und Sykes-Fairbairn Strategic Investments beherbergte. Ihre verblassten, altmodischen Schriftzüge vermittelten den Eindruck von solider Seriosität, wie es sich für Organisationen gehörte, die in den späten 1940er-Jahren gegründet worden waren.

Flynn unterdrückte ein Lächeln. In Wahrheit war natürlich keine der drei Firmen wirklich seriös … zumindest nicht in dem Sinne, wie die meisten Leute den Begriff verwenden würden. Tatsächlich waren es Tarnorganisationen für das Quartet Directorate – einige der vielen verschiedenen Firmen, die man geschaffen hatte, um die geheimen Rekrutierungs-, Ausbildungs- und Einsatzaktivitäten zu verschleiern. Avalon House war Four von einem der Gründungsmitglieder, einem Erben derselben prominenten New Yorker Bankiersfamilie, vermacht worden. Er hatte im Zweiten Weltkrieg als Mitglied des Office of Strategic Services (OSS), des Vorläufers der CIA, gedient. Aufgrund seiner Empfehlung war das Herrenhaus zum Hauptquartier der amerikanischen Station von Four umgebaut worden.

Zunächst hatte Flynn es für seltsam gehalten, dass das Quartet Directorate beschlossen hatte, eines seiner wichtigsten operativen Zentren so nahe bei Orlando anzusiedeln. Einst berühmt für seine Orangenhaine und als Zufluchtsort vor den strengen Wintern des Nordens, war die Gegend heute ein Touristenmekka, das weltweit für Disney World, die Universal Studios, andere große Themenparks und weitläufige Ferienanlagen bekannt war. Ein privater Geheimdienst schien in einem solchen Umfeld völlig fehl am Platz. Aber im Laufe der Zeit hatte er die schlauen Überlegungen, die dahintersteckten, durchschaut.

Schon vor über 70 Jahren hatte es in Washington, D. C. und Umgebung nur so von US-Geheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden, ausländischen Agenten, neugierigen Journalisten und politischen Wichtigtuern gewimmelt. Die Situation hatte sich in den letzten Jahrzehnten nur noch verschlimmert. Inmitten des toxischen Mahlstroms aus Intrigen, Spionen und Spionageabwehr in Washington wäre es für das Quartet Directorate praktisch unmöglich gewesen, unentdeckt zu bleiben. Im Gegensatz dazu war Orlando – vor allem mit seinem jüngsten Schwerpunkt auf globalem Tourismus und Geschäfts- und Reiseverkehr – ein idealer Standort für eine Geheimorganisation, die vermeiden wollte, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Der überlaufene internationale Flughafen der Region bot außerdem gute Verbindungen zu und von praktisch jedem Ort der Welt, wie die Flüge, die Flynn in der Nacht zuvor von Mailand über den Londoner Flughafen Heathrow zurückgebracht hatten.

Zu guter Letzt war nach Flynns persönlicher Ansicht das wärmere und sonnigere Klima Floridas ein großer Vorteil. Nach seinem Einsatz im hohen Norden Alaskas und seiner abgebrochenen Mission in den österreichischen Tiroler Alpen hatte er genug Schnee und Eis für ein ganzes Leben gesehen.

Er drückte fest auf die Klingel und blickte in die Überwachungskamera, die über ihm angebracht war, damit ihre biometrischen Sensoren die Konturen seines Gesichts scannen und seine Identität bestätigen konnten. Nach einem Moment schwang die Tür auf und gab den Blick auf ein braun gefliestes Foyer mit einem großen Empfangstresen frei. Weitere Türen auf beiden Seiten führten tiefer in das Gebäude hinein. Am anderen Ende des Foyers führte eine breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock des Anwesens hinauf.